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Riedwaan Faizal hatte nach Clares Anruf nachdenklich ins Leere gestarrt. Er konnte sie sich so deutlich vorstellen, als stünde sie vor ihm. Sie war hochintelligent und besessen von jedem Fall, zu dem sie hinzugezogen wurde, aber es war schwierig, mit ihr zusammenzuarbeiten. Sie mochte keine Teams und vertraute niemandem. Ihre Beziehung zur Justiz war sehr flexibel, Recht oder Unrecht jedoch waren für Clare absolute Größen. Das alles störte Riedwaan nicht. Aber sie ging ihm unter die Haut, rührte an etwas in ihm, das er nicht benennen konnte und das ihn irritierte. Er klappte das Handy zu und steckte es wieder in die Tasche. Man wusste bei ihr nie, woran man war. In dem Augenblick, in dem man glaubte, ihr näher zu kommen, zog sie sich zurück. Und das eine Mal, als sie die Hand nach ihm ausgestreckt hatte, hatte er sich abgewandt. Nichts konnte daran mehr etwas ändern, deshalb tat er die Gedanken an sie achselzuckend ab und stand auf.
Stattdessen konzentrierte er sich auf die Mädchenleiche. Sie war noch nicht identifiziert, aber er war sich sicher, dass es sich um das Mädchen handelte, das seit Freitag verschwunden und seit Sonntag als vermisst gemeldet war. Heute war Dienstag. Er mochte nicht daran denken, was in den vier Tagen seit Freitag mit ihr geschehen war, aber er würde es herausfinden müssen. Er trank seinen Kaffee aus und griff nach seinen Schlüsseln. Die Sache würde unangenehm werden. Für den Fall war eigentlich Frikkie Bester zuständig, weil er die Vermisstenmeldung entgegengenommen hatte. Natürlich hatte Bester schon eine Akte angelegt, und es würde ihm gar nicht gefallen, wenn Riedwaan Faizal am Fundort der Leiche auftauchte. Obwohl der Revierchef Superintendent Phiri im Allgemeinen stocksauer darüber war, dass ihm Faizal aufgehalst worden war, hatte er ihm vor ein paar Minuten den Fall übertragen, was darauf schließen ließ, dass er einen bestimmten Grund dafür hatte. So gut durchschaute Riedwaan Phiri inzwischen: Wenn er ihm den Fall überließ, machte er sich offenbar Hoffnungen auf eine Aufklärung durch ihn. Andernfalls ging Phiri kein besonders hohes Risiko ein, denn sollte Riedwaan nicht erfolgreich sein, konnte sich Phiri bei Kritik jederzeit auf Riedwaans Personalakte berufen: Ungehorsam gegenüber Vorgesetzten und Alkohol. Wenigstens hatte er sich bereiterklärt, Bester anzurufen und es ihm selbst zu sagen.
Riedwaans schrottreifer Mazda sprang laut rasselnd an und hielt anstandslos die drei Straßenkreuzungen bis zu der Stelle durch, an der Harry Rabinowitz die Mädchenleiche gefunden hatte. An der Absperrung um den Fundort drängten sich inzwischen viele Menschen. Riedwaan sah Bester telefonieren. Sein Stiernacken lief rot an vor Wut. Das konnte nur Phiri sein, der Bester gerade darüber informierte, dass er ihn von dem Fall abzog. Bester stolzierte auch schon auf Riedwaan zu und schleuderte ihm einen schmalen Ordner vor die Füße.
»Viel Glück, Faizal. Hoffentlich bleiben Sie so lange nüchtern, bis Sie rauskriegen, welcher Mistkerl das getan hat.« Riedwaan schob die Papiere in der Mappe zusammen und sagte nichts. Eine von Besters gefürchteten Rechten forderte man lieber nicht heraus.
»Danke, Frikkie.« Der Mann zuckte zusammen, als er seinen Vornamen hörte. Riedwaan unterdrückte ein Lächeln. Er warf einen kurzen Blick in die Akte und vergewisserte sich, dass alles enthalten war, was er brauchte. »Sieht tadellos aus. Danke.« Er schlüpfte unter dem Absperrband durch und ging dann neben der Leiche in die Hocke.
»Wer hat sie zugedeckt?«, fragte er.
»Der alte Mann, der sie gefunden hat«, antwortete ein junger, weiblicher Constable. Es war Rita Mkhize.
»Verdammt!«, schimpfte Riedwaan. Er hob den Mantel auf und reichte ihn dem Constable. »Eintüten.« Dann klappte er sein Handy auf und erledigte die nötigen Anrufe. Der Polizeifotograf war bereits unterwegs. Er besah sich die klaffende Wunde an der Kehle genauer. Die Wucht des Schnitts hätte das Mädchen enthaupten können. Riedwaan rief bei der Kriminaltechnik an. Falls die Knochen Kerben aufwiesen, würden die Techniker herausbekommen, was für ein Messer verwendet worden war. Und falls sie die Waffe fanden, die zu der Wunde passte, war er dem Mörder schon einen guten Schritt näher.
Riedwaan sah sich um. Er konnte fast immer innerhalb von Sekunden einen sicheren Tipp abgeben, wer das Opfer umgebracht hatte. Bei weiblichen Toten war es meistens der Ehemann oder der Freund. Er wäre jede Wette darauf eingegangen, dass dieser Mörder nicht aus dem Umkreis des Opfers stammte. Die Leiche war arrangiert worden. Das war eine offensichtliche Botschaft, die er noch dechiffrieren musste. Riedwaan vermutete, dass das Mädchen anderswo ermordet und hier abgelegt worden war. Er würde die Meinung des Pathologen abwarten müssen; seinem Ruf zum Trotz war er ein vorsichtiger Mensch. Er rief Piet Mouton an.
»Tag, Doc. Schon unterwegs?« Er hörte Moutons tiefes Lachen.
»Herrje, kein Wunder, dass man Sie einen Supercop nennt. Drehen Sie sich mal um.«
Riedwaan tat einen Schritt rückwärts und wäre fast gegen den schäbig gekleideten, dicken Pathologen geprallt, der direkt hinter ihm stand. Riedwaan lachte. »Der Leichendoc und seine Trickkiste. Gut, dass Sie da sind.«
»Worum geht’s denn heute?«, fragte Mouton und warf einen ersten Blick auf das tote Mädchen. »Und wo steckt dieser Idiot Riaan?« Er sah sich nach dem Polizeifotografen um. Der rauchte und versuchte, mit Constable Mkhize zu flirten. »Kommen Sie her, machen Sie Ihre Arbeit, und lassen Sie die Pfoten von dem armen Mädchen. Sie jagen ihr bloß Angst ein!«, rief Mouton.
Riaan Nelson schlenderte mit seiner Kamera heran. »Was brauchen Sie denn diesmal für Ihre Nekrophiliensammlung, Doc?« Mouton sagte ihm, was er fotografieren sollte, und Riaan hielt sich an die Vorgaben. Er war gewissenhaft und wusste, wie wichtig seine Fotos für Mouton und Riedwaan und letztlich auch für das tote Mädchen waren. Während Riaan arbeitete, zeichnete Mouton die Leiche. Der Verteidiger würde sich auf jeden nicht ganz präzisen Satz in seinem Autopsiebericht stürzen, falls es zu einem Prozess kam. Mouton inspizierte die Umgebung der Leiche mit größter Genauigkeit. Zwei Marlboros lagen dicht neben ihr, eine war bis zum Filter aufgeraucht, die zweite halb abgebrannt ausgetreten worden. Er tütete die Kippen ein.
»Schwer zu sagen, ob die uns was bringen, aber wir können es versuchen. Wenn es DNS-Spuren an der Leiche gibt, passen sie vielleicht zu denen an den Kippen.«
Riedwaan stand dicht neben Mouton und hörte ihm zu. Er hatte gelernt, in dessen Nähe zu bleiben, damit er alles mitbekam, was ihm nützlich sein konnte, denn Mouton war nicht nur äußerst gewissenhaft, sondern hatte auch die Angewohnheit, leise Selbstgespräche während der Arbeit an einem Tatort zu führen.
»Schauen Sie her.« Mouton nahm einen Abstrich vom Bauch der Leiche. »Das könnte Sperma sein.« Auf dem Rock war eine ähnliche Substanz. Mouton machte einen zweiten Abstrich und beschriftete die Proben.
Allmählich entspannte er sich ein wenig. Er entließ Riaan, der alles fotografiert hatte, was sie brauchten. Ehe Mouton seine Klemmbrettmappe wegpacken konnte, hatte der Fotograf seine Ausrüstung schon in der Tasche verstaut und schwänzelte wieder um Rita Mkhize herum.
»Sie ist bestimmt nicht hier ermordet worden, Riedwaan. Ich überprüfe das alles ganz genau bei der Autopsie, aber ich nehme an, sie ist woanders umgebracht und hier abgelegt worden.«
»Wie lange ist sie schon tot, Doc?«
Mouton legte den Kopf schief. Das Mädchen war kalt und steif. »Schwer zu sagen, bevor ich die Körpertemperatur gemessen habe. Aber ich schätze zwischen acht und sechsunddreißig Stunden, länger wohl nicht. Nach der Autopsie kann ich Ihnen auch genauer sagen, wann sie transportiert worden ist.«
Mouton hob die Hand des Mädchens und nahm Proben unter den Fingernägeln. Er machte auch einen Vaginalabstrich, tütete alles ein und gab es Riedwaan.
»Musste das hier sein, Doc?«
Mouton zog den Rock des Mädchens herunter. »Mann, was sind Sie empfindlich! Es ist schwierig, etwas gegen Beweismaterial vorzubringen, das vor dem Abtransport der Leiche gesammelt worden ist. Wer auch immer ihr das angetan hat, der hat ihr mit dem Leben auch die Würde genommen. Verlieren Sie die Proben unter gar keinen Umständen. Sie bringen das am besten direkt ins Labor in Delft. Und die sollen den Empfang dort sicherheitshalber mit ihrem Blut quittieren!«
Riedwaan antwortete nicht. Er hatte vor Gericht jede Menge Vergewaltiger gesehen, die ihren Opfern ins Gesicht gelacht hatten, nachdem sie freigesprochen worden waren. Wenn in der Beweiskette auch nur ein Glied fehlte – ob Indiz oder Aussage –, sorgte ein gerissener Verteidiger dafür, dass ein Pädophiler unmittelbar nach der Urteilsverkündung bereits das nächste kleine Mädchen treffen konnte. Oft genug war Riedwaan fassungslos vor Wut gewesen. Es war daher völlig ausgeschlossen, dass er dieses Beweismaterial auch nur eine Sekunde lang aus den Augen lassen würde.
Mouton beugte sich tief über die Leiche und sah sich den Schnitt durch die Kehle an. »Sehr weit oben«, sagte er. »Sieht so aus, als hätte er versucht, ihr die Zunge herauszuschneiden. Als hätte er eine kolumbianische Krawatte geplant, aber nicht die Kraft dazu gehabt. Sehr scharfe Klinge, die er benutzt hat, sehr scharf. Vielleicht ein Skalpell.«
»Schauen Sie sich die Augen an, Doc. Bestimmt ist sie noch nicht so lange tot, dass der beginnende Verwesungsprozess dazu geführt hat«, sagte Riedwaan und wies auf die eingesunkenen Augen des Mädchens. Mouton hob eines der Lider an.
»Nein«, sagte er. »Er hat die Iris beider Augen zerschnitten.« Er zeigte auf die Einschnitte, die ein Kreuz auf der Hornhaut bildeten. »Der Augapfel ist nur noch ein Klumpen Gel. Wenn man ihn durchlöchert, wie es dieser Typ gemacht hat, bricht er in sich zusammen.«
»Wann wurde sie misshandelt?«
»Die Verletzung an der Hand wurde ihr zugefügt, als sie noch am Leben war. Das sehen Sie am verkrusteten Blut. Der Schnitt an der Kehle – das wurde nach ihrem Tod gemacht, da ist nämlich so gut wie gar kein Blut ausgetreten.«
»Und die Augen?«, fragte Riedwaan.
»Kurz vor ihrem Tod. Vielleicht, als er sie umgebracht hat.«
Riedwaan erschauerte. »Ich will mir gar nicht vorstellen, was sie gesehen haben muss, wenn es nötig war, das derart brutal auszulöschen.«
Der Kleintransporter der Gerichtsmedizin fuhr vor. Zwei Männer kamen mit einer Bahre zu ihnen. »Fertig, Doc?«, fragte der Fahrer. Mouton nickte. Der andere war kaum älter als das ermordete Mädchen. Dem jungen Mann zitterten sichtbar die Hände, als er half, die Leiche aufzuheben. Mouton schaute sich die Stelle an, wo sie gelegen hatte, aber für das Heraussickern von Körperflüssigkeiten war die Zeit zu kurz gewesen.
»Kommen Sie zur Autopsie?«, fragte Mouton.
»Machen Sie das sofort?«
»Ja«, sagte Mouton. »Ich habe das Gefühl, das könnte eine heiße Sache sein.« Er schaute dem Transporter nach. »Außerdem glaube ich nicht, dass das Ihre einzige Leiche in diesem Fall bleiben wird. Ich habe an den Autopsien mitgearbeitet, als nach dem Serienmörder gefahndet wurde, der ein Leibeigener in Natal war, und daran erinnert mich hier einiges. Dieses Mädchen ist bestimmt kein Einzelfall.«
»Bloß keine übereilten Schlussfolgerungen. Die können in die Irre führen.«
Der Pathologe warf ihm einen verächtlichen Blick zu. »Kommen Sie, oder kommen Sie nicht?«
»Ja, ich komme. Ich will bloß erst diese Proben im Labor abliefern. In einer Stunde bin ich bei Ihnen.« Riedwaan ging mit Mouton zu dessen Auto. »Kann ich jemand mitbringen?«
»Wen?«, fragte Mouton.
»Clare Hart. Ich denke daran, sie das Täterprofil erstellen zu lassen. Wenn Sie recht haben, brauchen wir eins. Sie hat schon früher mit mir zusammengearbeitet.«
Mouton legte die Hand auf Riedwaans Schulter. »Das ist eine seltsame Methode, Frauen nachzustellen, sogar für Ihre Verhältnisse. Aber wenn sie nicht zur Polizei gehört, ist das ausgeschlossen. Sie können ihr das doch später alles erzählen. Sie können ihr auch alle Bilder zeigen, falls Sie sie dazu bewegen können, mit Ihnen essen zu gehen. Aber niemand, der dort überflüssig ist, bekommt meine Show zu sehen.« Mouton machte die Autotür auf und klemmte seinen Bauch hinter das Lenkrad. »Herrje, ich muss unbedingt abnehmen.«
»Bis später auf dem Revier«, rief Riedwaan zu Frikkie Bester hinüber, der tat, als hätte er nichts gehört. Riedwaan zuckte die Achseln. Er stieg in sein Auto und stellte die Abstriche und Proben so behutsam ab, als wären sie Ming-Porzellan. Es war schade, dass Clare nicht bei der Autopsie dabei sein durfte, aber er wusste, dass Mouton seine Meinung nicht ändern würde. Er fuhr zum Labor in Delft und gab die Proben ab. Anna Scheepers würde den Fall übernehmen. Sie war gründlich und sorgfältig beim Erstellen des Beweismaterials und glänzte im Gerichtssaal. Riedwaan freute sich über diese Nachricht, denn er hatte oft erlebt, dass Anna Anwälte, die sich von ihrer üppigen Mähne und ihren langen Beinen beeindrucken und ablenken ließen, durch ihre Beherrschung der Geheimwissenschaft DNS-Test wie stümperhafte Anfänger hatte aussehen lassen.
Unterwegs rief er Clare an. Sie meldete sich nicht, aber er hinterließ ihr eine Nachricht, fragte sie, ob sie für ihn ein Profil erstellen könne. Sie war die Beste überhaupt. Aber er wusste, dass er auch nach einem Vorwand suchte, sie zu sehen. Vielleicht würde er diesmal weniger Mist bauen.
Als Riedwaan zur Gerichtsmedizin in den nördlichen Vorstädten fuhr, wo Mouton in seinem unterirdischen Labor wie Hades in der Unterwelt herrschte, hatte sich der morgendliche Berufsverkehr auf den Straßen beruhigt, so dass er sein Ziel früher erreichte, als ihm eigentlich lieb war.
Riedwaan war nicht sonderlich begeistert von der Aussicht auf die nächsten paar Stunden. Mouton unterrichtete scharenweise Studenten, und sie würden an den anderen Rollbahren beschäftigt sein, während Mouton »sein« Mädchen zerlegte. Mouton hatte die Waffenexperten von der Kriminaltechnik hinzugezogen. Zwei von ihnen standen herum und sprachen über Klingen und Einstichwinkel, während sie darauf warteten, dass Mouton zu den Halswirbeln kam, um zu überprüfen, was ihnen die Spuren auf den zarten Knochen sagten.