Vier

»Pinetas letzter Gruß an Giacomo. Von Pericle Bartolini. In der Kirche des Konvents Santa Luce fanden gestern die Begräbnisfeierlichkeiten für den kleinen Giacomo Fabbricotti statt, der infolge des schrecklichen Unfalls auf der Statale Aurelia verschieden war, in den auch seine Mutter, Marina Corucci, Witwe des Bauunternehmers Sirio Fabbricotti, verwickelt war. Die Zeremonie, die an sich schon herzzerreißend war, wurde noch schmerzlicher durch die Nachricht, dass auch die Mutter ihren wichtigsten Kampf verloren hat. Marina Corucci ist im Laufe der Nacht auf der Intensivstation des Santa-Chiara-Krankenhauses, wo sich ihr Gesundheitszustand zunächst gebessert hatte, den Verletzungen, die sie bei dem Unfall davongetragen hatte, erlegen. Die Nachricht, die zunächst nur unter den Trauergästen kursierte, wurde durch den Offizianten selbst, Pater Adriano Corucci, im Laufe der Beisetzungsfeierlichkeiten bestätigt. Der Geistliche, Bruder von Marina und Onkel von Giacomo, hatte zu Beginn der Homilie mit gebrochener Stimme die Trauergemeinde über die plötzliche Verschlechterung des Zustandes seiner Schwester und ihr darauf folgendes Dahinscheiden informiert, welches sich am Vortage ereignet hatte.«

In der üblichen tonlosen Stimmlage las Rimediotti den Bericht über die Beisetzung des bedauernswerten Giacomo Fabbricotti und die Nachricht vom plötzlichen, wenn auch nicht unerwarteten Hinscheiden seiner Mutter vor. Die drei übrigen Alten lauschten ihm mit gequälten Gesichtern, wobei sie betreten zu Boden blickten oder eine nicht vorhandene Mücke von den Hosen schnippten.

»Nach einem berührenden Gedenken an seinen Neffen wandte sich Pater Adriano im zweiten Teil der Predigt an jene, ›die dem hässlichen Laster erlegen sind, falsche Gerüchte in Umlauf zu bringen, an jene, die sich am Unglück anderer weiden, jene, die reden, ohne etwas zu wissen, und die sich nicht darum scheren, welches Leid sie auf die Schultern und Herzen derjenigen bringen, die sowieso schon unter der ungeheuren Last des Verlustes eines Verwandten leiden‹. Damit bezog sich Pater Adriano auf die leider im Dorf kursierenden Gerüchte, welche aufgrund eines Lapsus, bei dem er ertappt wurde, auf eine mögliche Verwicklung Stefano Carpanesis in den Unfall spekulieren. Derselbe Carpanesi, der bei der Trauerfeier anwesend und sichtlich bewegt war, dankte Pater Adriano am Ende der Zeremonie in wenigen tränenerstickten Worten.«

Als Rimediotti endete, herrschte allgemeines Schweigen. Ein Schweigen, das ausnahmsweise auch noch eine Weile anhielt.

»Also haben sie die Beerdigung im Konvent gemacht …«, sagte Ampelio, nur um etwas zu sagen.

»Klar«, antwortete Rimediotti. »Wo hätten sie es denn deiner Meinung nach sonst machen sollen? Im Grunde ist Pater Adriano ja ein Angehöriger.«

»Was das betrifft, wenn ich mal sterbe, werd ich mich auch in den Konvent tragen lassen«, sagte Del Tacca, während er Zucker in seinen Kaffee rührte. »Was denn sonst? Ich bitte dich, bevor ich mich von Don Graziano antatschen lass …«

Pilades Worte gaben wieder, was ein guter Teil der Einwohner Pinetas empfand, ja wovon sie überzeugt waren. Dass Gott zwar überall in der Welt präsent ist, ganz besonders an allen geweihten Orten, aber dass er in den verschiedenen Kirchen Unseres Herrn von seinen weltlichen Verwaltern nicht im selben Maße geachtet wird. In Pineta stellte sich das Problem doppelt. Einerseits gab es die Gemeinde Buon Pastore, die von Don Graziano Riccomini behütet, beschützt und vor allem verwaltet wurde; was der durchschnittliche Einwohner von Letzterem hielt, ist durch Pilades Kommentar gut zusammengefasst worden. Daneben gab es den Franziskanerkonvent Santa Luce, geleitet von Pater Agostino, einem ehemaligen Arzt, der sich vor sehr vielen Jahren in das klösterliche Leben zurückgezogen hatte, welcher gut zehn Brüder beherbergte, die nach den Regeln des heiligen Franziskus den Weg der vollkommenen Freude gingen. Jene Männer gaben sich in der Tat voll und ganz dem klösterlichen Leben hin, das für sie in der Meditation und der Herstellung von Honig, Käse und Gemüse aus dem Klostergarten bestand, Güter, mit denen sie sich selbst versorgten und die Armen, die an ihr Tor klopften. Darüber hinaus waren sie stets bereit zu helfen, egal was von ihnen erbeten wurde, von Nachhilfestunden in Latein über Hilfe im Haushalt kranker alter Leute bis hin zu materieller Unterstützung von Reparaturen an vom Unwetter abgedeckten Dächern; das Ganze in vollkommener Bescheidenheit, ohne jedwede Ansprüche auf Gegenleistung und stets mit einem Lächeln auf den Lippen, das von einer beinahe unmenschlichen Heiterkeit zeugte. Pater Adriano Corucci, vor etwa zwanzig Jahren aus dem umbrischen Hinterland hereingeschneit, war ein würdiger Vertreter jener Gemeinschaft; ein Hüne mit friedlicher Miene, gebrochener Nase und den für Boxer typischen Blumenkohlohren, der so gut wie nie in Zorn geriet. Und falls doch einmal, war es, wie bei allen Pazifisten, besser, sich von ihm fernzuhalten.

Eines Tages war ein Typ mit unübersehbaren Entzugserscheinungen in den Konvent gekommen, der, nachdem er am Tisch der Ordensbrüder gegessen hatte, auf die brillante Idee gekommen war, von jenen Geld zu erbitten. Der Grund, aus dem er sie angebettelt hatte, war so unübersehbar, dass der Bruder, an den er sich gewandt hatte, gezwungen war, ihm das Geld zu verweigern; woraufhin der Kerl wütend wurde, begann, den Bruder zu beleidigen, und sogar so weit ging, dass er versuchte, ihm eine Ohrfeige zu versetzen. Leider war der fragliche Ordensbruder Pater Adriano, der sich danach verpflichtet sah, dem armen Kerl im Rettungswagen beizustehen, während man ihn mit einem doppelten Bruch des Ober- und Unterkiefers ins Krankenhaus fuhr, wobei er den Sanitätern erklärte, dass er ihm nur zwei Ohrfeigen verpasst habe und es nicht seine Schuld sei, wenn der Kerl so schwächlich sei.

Während die Alten sich mühten, das Gespräch in Gang zu bringen, das wahrscheinlich schon bald für ein hübsches Spielchen wieder eingestellt würde, klingelte laut das Telefon. Tiziana war gerade dabei, die Spülmaschine einzuräumen, und kauerte, den Korb in der Hand, unter dem Tresen. Massimo, der dem Apparat am nächsten war, hob beim zweiten Klingeln den Hörer ab und meldete sich mit einem entspannten: »BarLume, guten Tag.«

»Pronto, hier Kommissariat Pineta. Spreche ich mit Viviani Massimo?«

Was ist das, ein Scherz?

»Am Apparat.«

»Ich schalte Sie zu Dottor Fusco durch. Einen Augenblick bitte.«

Kurze Stille, es knackte.

»Signor Viviani?«

»Immer noch derselbe.«

»Ich müsste mit Ihrem Großvater sprechen.«

Hä?

»Sicher. Ich gebe ihn Ihnen sofort.« Massimo bedeckte die Sprechmuschel mit der Hand. »Rekrut Viviani Ampelio, zum Rapport.«

»Sag deiner Großmutter, ich komme gegen eins, und wenn sie mir nur die Reste von gestern auftischt, dann schmeiß ich den Teller zum Fenster raus«, antwortete Ampelio lakonisch.

»Ich fürchte, du irrst dich, Großvater. Fusco ist am Telefon.«

»Fusco? Und was will er?«

»Keine Ahnung. Warum fragst du ihn nicht selbst?«

Da das Telefon an der Wand befestigt war, musste Ampelio sich von seinem Stuhl erheben und mit seinem Stock zum Apparat gehen. Am Telefon angekommen, nahm er den Hörer von Massimo entgegen und bellte hinein: »Pronto!«

Kurzes Schweigen.

»Ich hab nicht verstanden. Ich soll zu Ihnen kommen?«

Kurzes Schweigen.

»Ah, alle vier? Und wer sagt das?«

Vielsagendes Schweigen.

»Und wenn er da ist, grüßen Sie ihn von mir! Ich hab immer noch nicht verstanden, was ich damit zu tun haben soll.«

Bedrohliches Schweigen.

»Wie?«, fragte Ampelio in ganz anderem Ton, der vom Kämpferischen ins Ungläubige gewechselt war. »Ah. Verstehe. Jetzt gleich? Ja, einen Augenblick, ich sag’s ihm. In Ordnung. Wiedersehen.«

Und dann legte er mit zweifelnder Miene auf.

Massimo war tief beeindruckt. Was auch immer Fusco gesagt hatte, es war nicht jedem gegeben, seinen Großvater zum Schweigen bringen zu können.

Ampelio verharrte kurz am Telefon, dann drehte er sich um: »Fusco hat gesagt, dass wir aufs Kommissariat kommen sollen. Alle vier. Ich, Aldo, Gino und Pilade.«

Es folgte ein Augenblick ungläubigen Gelähmtseins. Tiziana stellte den Korb ab und richtete sich hinter dem Tresen auf.

Ampelio betrachtete den Hörer, als sei der an allem schuld, bevor er erklärte: »Dieser Hurensohn von Carpanesi ist zu Fusco gelaufen und hat ihm gesagt, dass er ’94 nicht mal gewusst habe, wer die Corucci sei. Er hat auch gesagt, dass er von da direkt zu seinem Anwalt gehen und uns alle vier wegen Verleumdung anzeigen wolle.«

Diverse Weitsichtbrillen wandten sich verwirrt einander zu.

Während Tiziana dem Quartett nachsah, das sich in Richtung des Kommissariats auf den Weg machte, hatte Massimo sich ein Glas kalten Tee eingeschenkt, sich an eines der Tischchen gesetzt und scheinbar ungerührt den »Corriere« aufgeschlagen. Nachdem sie die Alten hinter der Hausecke hatte verschwinden sehen, wandte sich Tiziana mit besorgter Miene an Massimo: »Sag mal, machst du dir denn überhaupt keine Sorgen?«

»Weswegen?«, fragte Massimo und trank einen Schluck Tee.

»Massimo, stell dich nicht dumm. Man hat deinen Großvater aufs Kommissariat einbestellt. Man will ihn verklagen.«

»Und sie tun gut daran. So lernen er und die anderen ein für alle Mal, sich um ihren eigenen Kram zu kümmern.«

»Massimo, das ist eine ernste Sache. Fusco hat sie eben ins Kommissariat zitiert.«

Massimo faltete die Zeitung zusammen.

»Ich weiß. Deshalb mache ich mir keine Sorgen. Fusco hat mir am Telefon gesagt, dass er sie eine spontane Aussage hat machen lassen, aber ins Protokoll nur die Tatsache aufgenommen hat, dass den Alten zufolge Carpanesi und Corucci sich schon vor 1996 kannten. Den ganzen Rest hat er weggelassen.«

Massimo machte eine vielsagende Handbewegung, während er den letzten Schluck Tee austrank.

»Also kann sie jetzt auch niemand dafür verklagen«, fuhr er nach einem kleinen Seufzer fort. »Oder besser gesagt, man könnte, aber kein Richter würde einem dafür recht geben. Übrigens, wenn man’s ganz genau nehmen will, war es zwar irrelevant, was Aldo gesagt hat, aber auf seine Weise begründet.«

»Woher weißt du das denn?«

»Ich hab’s im Internet nachgeschaut.«

»Und warum?«

»Weil ich an diesem Alleswissersyndrom leide, Tiziana. Wenn irgendwer eine Aussage macht, die auf einer Tatsache beruht, muss ich das einfach kontrollieren, denn wenn ich es nicht tue, kann ich nachts nicht schlafen. Das müsstest du inzwischen wissen.«

»Mmmh. Möglich. Auf jeden Fall verstehe ich nicht, warum Carpanesi sie verklagen will, wenn du doch sagst, dass es keinen Sinn hat.«

»Weil er ein Politiker ist. Er ist ein Politiker im Wahlkampf. Und jedweder Angriff auf seinen heiligen guten Ruf verdient eine offizielle Reaktion. Egal ob zu Recht oder nicht. Jedenfalls, ich sag’s noch mal, glaube ich nicht, dass es Grund zur Besorgnis gibt. Fusco wird ihnen einen schönen Tadel verpassen, wird sie ermahnen, damit aufzuhören, Miss Marple zu spielen, und für ein oder zwei Wochen werden wir alle unsere Ruhe haben.«

»Na, hoffen wir’s. Hör mal, wo wir jetzt unter uns sind, kann ich dir erzählen, um welchen Gefallen ich dich bitten möchte?«

»Aber gerne«, antwortete Massimo, obwohl er wusste, dass der Gefallen, um den ihn Tiziana bitten würde, niemals mit den Gefallen übereinstimmen würde, die er gern von ihr erbeten hätte.

»Also, Marchino und ich heiraten im September.«

»Und das weiß sogar ich.«

»Nun, bevor ich heirate, würde ich gern eine Wohnung finden. Aber wir haben noch nichts gefunden, und uns läuft allmählich die Zeit davon. Ich habe einfach die Nase voll vom Suchen. Jedes Mal das Gleiche. Sie erzählen dir was, und wenn du hinkommst, ist alles ganz anders. Ich habe die Nase voll von ›großzügiger Dreizimmerwohnung mit exklusiver Terrasse‹, und wenn du dann davor stehst, ist es eine armselige Hütte mit einem von Tauben zugeschissenen winzigen Hof davor. Ich wollte dich fragen, ob du immer noch Kontakt zu diesem Freund hast, der Immobilienmakler ist. Der, der für dich die Bar gefunden hat. Da er ein Freund von dir ist, kann ich vielleicht gleich Klartext mit ihm reden.«

»Cellai? Sicher. Na klar. Ich hab ihn zwar schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen, aber das heißt ja nichts. Seine Nummer hab ich noch. Ich schreib sie dir gleich auf.«

»Na ja … du könntest ihn nicht zufällig selbst anrufen? Ich kenne ihn ja gar nicht, weißt du? Wenn er dich hört, ist es vielleicht was anderes.«

»Gut, gut. Ich rufe ihn an. Jetzt aber«, sagte Massimo und stand auf, »haben sich da draußen zwei Typen hingesetzt. Gehst du?«

»Ja, Chef«, antwortet Tiziana mit einem breiten Grinsen.

Manchmal braucht es wenig, um jemanden glücklich zu machen.

Es waren zwei Stunden vergangen, und der Morgen war allmählich in die Mittagszeit übergegangen. Massimo nahm an, dass die Alten wohl, nachdem sie sich Fuscos Tadel angehört hatten, jeder für sich nach Hause gegangen waren und er sie erst wieder am Nachmittag wiedersehen würde, wenn nicht gar erst am nächsten Tag. Umso größer war seine Überraschung, als er sie einen nach dem anderen zu Tür hereinkommen sah, in einer Prozession, die von einem mehr denn je schwitzenden und schnaufenden Del Tacca angeführt wurde.

Das glaube ich wohl, dachte Massimo, mit all diesen Hektolitern Speck, die der mit seinen gut anderthalb laufenden Metern herumschleppt. Der kann von Glück reden, dass er noch keinen Herzinfarkt bekommen hat.

Statt nun wie gewöhnlich sofort über die zu kalt eingestellte Klimaanlage zu lamentieren, setzten sie sich, nachdem sie vollzählig in der Bar waren, seltsam still jeder auf seinen Platz und blickten sich an, als hätte es ihnen die Sprache verschlagen.

Massimo überkam ein leises Schuldgefühl. Offensichtlich hatte Fusco ihnen hart zugesetzt. Er setzte seine Miene »kumpelhafter und eilfertiger Barista« auf und fragte: »Kann ich euch helfen? Wollt ihr einen schönen Aperitif? Oder hättet ihr vielleicht lieber was Stärkeres?«

Ampelio richtete den Blick auf ihn und sagte mit einem angedeuteten Lächeln: »Braver Junge. Was Stärkeres, das ist es, was wir jetzt brauchen. Wir machen es so, du nimmst ein Glas und gibst zwei Finger hoch von dem Rum aus der schwarzen Flasche hinein, den du so gerne magst.«

Mist. Ohne sich seine Überraschung anmerken zu lassen, gehorchte Massimo und füllte einen Tumbler zwei Finger hoch mit Demerara.

»So ist es gut«, sagte Ampelio. »Jetzt holst du tief Luft und kippst alles in einem Schwung hinunter. Dann verkraftest du’s besser.«

Wie bitte?

»Dann verkraftest du’s besser«, wiederholte Ampelio. »Weil Fusco uns eben gerade gesagt hat, dass Marina, die Corucci, tatsächlich nun doch ermordet wurde.«

»Der Mann ist weniger dumm, als es scheint«, begann Aldo, während er darauf wartete, dass Massimo aufhörte zu husten, nachdem er den Inhalt des Glases heruntergestürzt hatte. »Nach allem, was er uns erzählt hat, ist gestern Abend der gute Carpanesi mit Anwalt und allem zu ihm gekommen und hat verlangt, eine spontane Aussage machen zu dürfen. Nachdem das erledigt war, hat er erklärt, dass er Marina Corucci 1996 kennengelernt hat und nicht früher. Er hat Ort, Uhrzeit, Zeugen und was weiß ich noch genannt. Danach hat er Fusco daran erinnert, dass Verleumdung eine Straftat ist, und hat ihm gesagt, dass er seinen Anwalt darauf ansetzen würde zu klären, ob der Tatbestand für eine Anklage reicht. Und an dem Punkt ist Fusco wirklich sauer geworden. Soll ich einen Arzt rufen?«

»Nhein, nhein«, keuchte Massimo, der inzwischen blau angelaufen war. »Ist nur der Rum auf nüchternen Magen. Bin ich nicht gewohnt. Mach weiter.«

»Na gut. Also, Fusco hat es nicht gerade gern gesehen, dass ein Politiker ihn darauf hingewiesen hat, was eine Straftat ist und was nicht. Während er immer wütender wurde, ist ihm ein altes lateinisches Sprichwort eingefallen, das besagt ›excusatio non petita, accusatio manifesta‹. Und so …«

»Und so«, mischte sich Del Tacca ein, »hat er sich die Geschichte von Vagli di Sotto mal genauer angesehen und hat gemerkt, dass wir recht hatten.«

»Genau«, eroberte Aldo sich seine Rolle als Erzähler zurück. »Er hat sich den Film angesehen, hat sich über den Ort informiert, und innerhalb einer Stunde ist er darauf gekommen, dass das, was wir ihm gesagt hatten, die Wahrheit ist. Nämlich, dass der Carpanesi diese Frau schon ’94 sehr gut gekannt haben muss. Aber ungeachtet der Tatsache, dass die Schlussfolgerungen über ihre Bekanntschaft durch einen Filmausschnitt untermauert wurden, und in dem Glauben, dass das nur Geschwätz von verrückten Alten sei, hat Carpanesi das Bedürfnis verspürt, aufs Kommissariat zu gehen und dem Offensichtlichen zu widersprechen. Was sagt uns das?«

Dass er in der Politik eine echte Zukunft hat, dachte Massimo bei sich. Stattdessen blickte Ampelio Massimo an und machte mit der Hand die universelle Geste – Handfläche nach oben, alle Finger aneinandergelegt, sodass sie eine Art pulsierende Artischocke bildeten – für »dem geht der Arsch auf Grundeis«.

»Genau«, stimmte Aldo zu. »An dem Punkt hat der gute Fusco kapiert, dass da was stinkt, wusste aber noch nicht, was genau. Um dahinterzukommen, greift er auf die machtvollen Werkzeuge unserer Polizei zurück, was in dem Fall kein Witz, sondern eine Beobachtung ist. Massimo, weißt du, was das SDI ist?«

Nein, sagte Massimos Gesicht, der inzwischen vollkommen von der Geschichte gefesselt war.

»Das ist was ganz Unglaubliches«, mischte sich Del Tacca ein.

»Kann man wohl sagen«, unterstrich Rimediotti.

»SDI heißt ›servizio di indagine‹«, erklärte Aldo. »Das ist eine Art elektronisches Archiv, in das alle polizeilichen Vorgänge aufgenommen werden. Alle. Von den Strafen aus den Hotelkontrollen über die Straßenkontrollen bis hin zur Übergabe von Gerichtsprotokollen. Alles. Jedes Mal, wenn die Polizei deinen Namen irgendwo aufschnappt, wird das da registriert, präzise und mit allen Informationen.«

»Ich hab’s verstanden«, sagte Massimo.

»Also, was Fusco gemacht hat, ist eine Kreuzabfrage von Daten von Corucci und Carpanesi in diesem SDI. Wie die das in den amerikanischen Fernsehserien machen, wo irgendwelche Hohlköpfe an den Tatort gehen, ein Stückchen Zement aufklauben, es in eine Maschine legen, und zwei Minuten später spuckt sie die Zusammensetzung des Zements aus, den Namen der Herstellerfirma, den Namen des Kerls, der ihn gegossen hat, und das Modell der Mischmaschine, die er benutzt hat. Früher …«

»Nicht abschweifen«, unterbrach Massimo, der wusste, dass Aldo zwar ein hervorragender Geschichtenerzähler war, jedoch dazu neigte, den Faden zu verlieren.

»Entschuldige. Also, aus der Abfrage dieses Archivs ergaben sich zwei Dinge. Einmal, dass Carpanesi drei- oder viermal in einem Hotel übernachtet hat, das sich Hotel des Bains nennt, in San Giuliano Terme, im Sommer ’94. Und rate mal, wer in denselben Nächten im selben Hotel übernachtet hat?«

»Mal ins Blaue geschossen – Marina Corucci?«

»Sehr gut, der Herr gewinnt einen Teddybären. Punkt zwei ist noch viel besser. Im August ’94, nachts, ist eine Polizeistreife einem Paar zu Hilfe gekommen, das sich in einem Wald bei Aulla versteckt hatte. Nachdem sie den Wagen abgestellt hatten, waren die beiden der Faszination des guten alten minniglichen Treibens unter freiem Himmel erlegen und in der Wiese verschwunden. Als sie fertig waren und zum Wagen zurückkamen, mussten sie leider feststellen, dass der weg war. Wenigstens hatte der Kerl unter den paar Sachen, die er bei sich trug, noch sein Handy und rief die Polizei an. Die Beamten kamen, nahmen die Personalien und eine Anzeige auf und haben das Pärchen zum Bahnhof gebracht. Und jetzt rat mal, wer die zwei waren?«

»Ich wage noch einen Schuss ins Blaue. Die Corucci und der Carpanesi?«

»Perfekt. Der Herr gewinnt noch einen Teddybären und eine Spieldose dazu. An dem Punkt angekommen, was tut der emsige Fusco da? Er ruft das Krankenhaus an und fragt nach dem Gesundheitszustand von Marina Corucci. Der am Morgen noch stabil war.«

»Am Abend auch noch«, unterbrach Massimo. »Nur ein ganz klein wenig zu stabil, weil die Signora da doch schon tot war.«

»Genau. Leider sind die Teddybären alle. Jetzt überschlagen sich die Ereignisse. Fusco nimmt still und heimlich unsere ›Niederschrift gesammelter Informationen‹ zusammen mit Carpanesis Erklärung und seinen Entdeckungen und schickt das alles als Straftatbestand an die Staatsanwaltschaft. Der Staatsanwalt ordnet die Beschlagnahmung des Leichnams an, ruft den Gerichtsmediziner an und lässt eine Autopsie durchführen. Schenkst du mir einen Campari ein?«

Pause, eine unwirkliche Stille, nur unterbrochen vom Gluckern der Flüssigkeit, die aus der Flasche ins Glas gekippt wird. Aldo trinkt zufrieden einen Schluck, dann lehnt er sich gegen den Tresen und fährt fort: »Marina Corucci ist an einer Hirnembolie gestorben, verursacht, weil irgendein ganz besonders reizender Mensch ihr Luft injiziert hat, vermutlich über den venösen Zugang. Der offizielle Autopsiebericht ist heute Morgen um neun eingegangen.«

»Und an dem Punkt«, sagte Del Tacca, »hat Fusco uns alle vier zu sich gerufen, um uns zu fragen, ob wir noch was wüssten. Sieh mal einer an, wie seltsam; ab und zu sind sogar diese alten Nervensägen noch zu was nütze.«