Sieben

Das zweite Axiom des Klatsches besagt: »Wenn es logisch plausibel ist, dann ist es wahr.« Unter professionellen Lästermäulern braucht man keine Beweise, um das Urteil zu fällen; wenn ein Ereignis glaubhaft rekonstruiert und allen Personen kohärente Verhaltensweisen zugeschrieben werden können, also dann sind die Dinge auch so passiert, wie wir das sagen, daran ist nichts zu deuteln.

In seiner Rolle als Richter, nur mit dem Billardstock anstatt des Hammers in der Hand, rekapitulierte Aldo die Lage: »Mir scheint alles ziemlich klar. Carpanesi muss Pater Adriano gebeichtet haben, dass er Giacomos leiblicher Vater ist. Und jetzt, mit dem ganzen Durcheinander, das da rausgekommen ist, geht der gute Bruder Adriano zu Fusco, um es ihm zu sagen.«

»Ja, klar«, fuhr Ampelio fort. »Er ist sein Sohn, also erpresst sie ihn. All die ganzen Moneten auf den Konten können nichts anderes bedeuten. Und an einem bestimmten Punkt kann er nicht mehr und bringt sie um!«

»Ja, aber eins hab ich noch nicht verstanden«, wandte Pilade ein. »Man macht doch so was nicht ohne Motiv. Also, ich sag’s dir noch mal: Erklär mir bitte, warum die Corucci es deiner Meinung nach nötig gehabt haben soll, den Carpanesi zu erpressen?«

»Na, weil sie an die Kohle wollte. Manche Leute kriegen den Hals eben nie voll.«

»Also, ich weiß nicht. Mir kommt das reichlich seltsam vor.«

»Ich bin mir gar nicht mal so sicher, ob die Corucci wirklich so reich war«, warf Rimediotti ein. »Diese Leute sind doch hinter schönen Dingen her. Autos, um nur eins zu nennen. Und die fuhr mit einem Fiat Punto in der Gegend herum, und dazu noch in einem von vor zehn Jahren.«

»Wie kommst du denn darauf?«

»Sieh mal«, sagte Gino und nahm die Zeitung, wo das Foto von Marina Coruccis um eine Kiefer gewickeltem Wagen abgedruckt war. »Das da ist das Auto. Das Kennzeichen fängt mit BC an. Also ist es bestenfalls von 2000.«

»Na gut, aber das ist normal«, sagte Aldo. »Reiche Leute haben oft einen Kleinwagen. Zum Beispiel, um einkaufen zu fahren.«

»Tss, Aldo, da kanntest du den Fabbricotti aber schlecht. Der war arm und ist dann reich geworden, und auf bestimmte Sachen hat der sehr viel Wert gelegt. Der hat immer zeigen wollen, dass er Kohle hat. Hat sich angezogen wie Keri Gränt. Du glaubst doch wohl nicht, dass er seine Frau einen Punto hätte kaufen lassen. Wenn seine Frau einen Kleinwagen hätte haben wollen, hätte er ihr eine Mercedes-A-Klasse gekauft, keinen Punto. Wenn ihr mich fragt, also …«

Überraschtes Schweigen. Rimediotti hatte recht. Das geschah nicht oft.

»Dieses Auto hier ist zehn Jahre alt«, sagte Ampelio nachdenklich. »Wann ist der Fabbricotti noch mal gestorben?«

»Hm, vor fünf oder sechs Jahren, maximal. Das war in dem Jahr mit den Quallen, glaube ich.«

»Also 2002«, sagte Pilade entschieden.

»Erinnerst du dich so gut daran?«

»Ja, ich erinnere mich. Die Sterbeurkunde hab ich archiviert.«

»Also dann …«

»Dann hat ihr der Fabbricotti diesen Wagen gekauft«, schloss Del Tacca bitter. »Er hat ihn gekauft, weil er im Jahr 2000 noch am Leben war.«

»Du bist mir vielleicht einer«, mischte sich Ampelio ein, liebenswürdig wie immer. »Denk mal, es gibt auch so was wie Gebrauchtwagen auf der Welt.«

»Ampelio hat recht«, sagte Aldo. »Die Corucci hätte sich den Wagen auch erst hinterher kaufen können, und zwar gebraucht. Und sie hat ihn gekauft, weil …«

»Weil sie am Ende war!«, schloss Ampelio. »Die war arm wie eine Kirchenmaus und konnte sich so einen Wagen nicht leisten. Wenn du kurz vor der Pleite stehst, kaufst du dir keinen Mercedes.«

»Also mir kommt das doch sehr seltsam vor.«

»Komm, ich erklär’s dir. Wenn …«

Siebzig Prozent der menschlichen Kommunikation ist nonverbal. Als Bill Clinton sagte: »Ich habe niemals Sex mit dieser Frau gehabt«, sagten seine Hände, die sich mit nach unten gedrehten Handflächen vom Körper entfernten: »Ich erzähle eine Lüge.« Wenn unsere Exfreundin mit fest verschränkten Armen und Beinen auf dem Sofa saß, während wir ihr erklärten, warum wir den ganzen Nachmittag das Handy ausgeschaltet hatten, dann sagte sie: »Nimm dich in acht, mein Hübscher, ich bin nicht so dumm, wie du glaubst. Ich weiß ganz genau, mit wem du zusammen warst und was du gemacht hast, und sobald du aufhörst zu reden, nagele ich dich fest.«

Als Tiziana Massimo flüchtig ansah und ihr Blick immer wieder zwischen den Alten, die weiter diskutierten, ob die Corucci nun reich oder arm gewesen war, und Massimo und sich selbst hin und her flog, sagte sie unüberhörbar: »Massimo, ich bitte dich. Ich weiß, ich habe versprochen, nichts zu sagen, aber ich weiß doch, wie die Dinge wirklich gewesen sind, ichbittedichichbittedichichbittedichlassesmichihnensagen.«

Und dann konnte Massimo Tizianas bettelndem Blick nicht mehr widerstehen.

»Tiziana erklärt euch jetzt, was passiert ist«, sagte Massimo, während er wieder hinter den Tresen zurückging.

»Tiziana?«, fragte Aldo.

»Ja. Genießt die Vorstellung, ich hab sie schon bei der Premiere gesehen.«

Zehn Minuten waren vergangen. Tiziana hatte von dem Nachmittag beim Notar erzählt und die Alten zum Schweigen gebracht, die mit hingerissen triumphierenden Gesichtern lauschten. Am Ende hatten sie ein, zwei Berechnungen zu Fabbricottis Einnahmen und Ausgaben angestellt. Sie hatten ausgerechnet, wie hoch das zu erwartende Erbe gewesen sein müsse, hatten das Leben der Verstorbenen beschrieben und kommentiert und dann das Urteil gesprochen.

Die Corucci war arm gewesen. Davon zeugten ihr Lebensstil, das günstige Auto und vor allem die ungeheure Verformung der Realität, die sich der Überzeugung verdankt. Und folglich war das Verdikt ergangen. Das Gericht hat gesprochen.

Während die Richter ihre eingebildeten Togen ablegten, um sich wieder in einfache Senatoren mit einer Schwäche fürs Billardspiel zu verwandeln, nahm Aldo die Zeitung und betrachtete sie kopfschüttelnd.

»Schon seltsam, wie das Gehirn funktioniert. Vorgestern hab ich diese Bilder bestimmt zehn Mal angeschaut und mir dabei überhaupt nichts gedacht.«

Unmittelbar nach dieser Bemerkung zog er seine Zigaretten hervor und zündete sich nonchalant eine an. Massimo, der sowieso erkannte, dass heute nicht der Tag war, um auf Regeln zu pochen, streckte die Hand aus und nahm sich beinahe mechanisch ebenfalls eine.

»So seltsam ist das doch gar nicht. Um etwas zu sehen, muss man wissen, wonach man gucken soll.«

»Sicher«, antwortete Aldo. »Wie diese beiden armen Zeugen Jehovas, die einfach nur versucht haben, dir das Paradies zu schenken. Und du hast sie zur Hölle geschickt.«

»Nun, bei denen warst du aber wirklich sehr unhöflich«, sagte Tiziana. »Die Ärmsten, die wollten doch nichts Böses. Was haben die dir getan?«

»Es sind Fanatiker. Ich kann dermaßen Überzeugte nicht ertragen.«

»Dann pass aber auf, dass du nicht in den Spiegel schaust«, versetzte Aldo und legte den Stock auf ein Tischchen.

»Nimm den sofort da weg. Und den Nächsten, der einen Stock herumliegen lässt, den hänge ich an den Daumen auf.«

Aldo ging hinaus, um den Stock an seinen Platz zu bringen, und Massimo trank seinen Tee aus, während er wartete, bis er zurückkam.

»Ich habe mich nicht klar ausgedrückt, Aldo. Es sind religiöse Fanatiker. Ich ertrage die Religionen nicht. Das eigene Leben auf etwas aufzubauen, ohne jemals auch nur den Hauch eines Zweifels zu spüren, das ist doch schwachsinnig. Und es dann noch auf religiöse Dogmen zu bauen, ist noch viel schlimmer. Ohne Religionen wäre die Welt wesentlich besser.«

»Du kommst mir dumm vor«, mischte sich Del Tacca ein, spuckte mit der gewohnten Höflichkeit die Worte förmlich wie Projektile durch das Blasrohr seiner filterlosen Stop. »Die Welt wäre eine bessere ohne Religionen, pah. Es braucht Regeln. Es kommt halt darauf an, was für welche. Du musst doch zugeben, dass die Welt ein ganzes Stück besser wäre, wenn alle sich wie Christenmenschen verhalten würden.«

»Richtig«, sagte Tiziana. »Es wäre eine perfekte Welt.«

»Und wer sagt das?«, fragte Massimo, während er sich ein weiteres Glas Eistee einschenkte.

»Gott, logischerweise«, sagte Rimediotti. »Du stellst Regeln auf, und wenn die Regeln gut sind und alle sie befolgen, dann muss zwangsläufig alles gut werden. Und wenn niemand sie befolgt, gibt es Chaos.«

»Genau«, sagte Ampelio. »Wenn man die Regeln nicht befolgt, gibt es Chaos. Ich zum Beispiel dürfte eigentlich nicht rauchen. Und weil ich Diabetes habe, müsste ich auch Diät halten. Wenn’s nach dem Doktor ginge, müsste ich schon seit zehn Jahren erledigt sein. Stattdessen bin ich dreiundachtzig und pfeife auf ihn und seine Regeln und bin immer noch hier.«

»Was allerdings nicht unbedingt positiv zu bewerten ist«, sagte Massimo. »Wie dem auch sei, es ist das Prinzip, das nicht stimmt. Es ist nicht gesagt, dass aus guten Regeln zwangsläufig Gutes entsteht.«

»Entschuldige, aber wie meinst du das?«, fragte Tiziana.

Massimo stellte das Glas ab und zündete sich eine weitere Zigarette an. Es kam sowieso nicht mehr darauf an. Na gut, sagten die Gesichter der Alten reihum, jetzt sind wir mit der Vorlesung dran.

»Ich bin Mathematiker. Die Mathematik beschäftigt sich mit Regeln und den Implikationen, die diese Regeln beinhalten. Nehmen wir irgendein beliebiges Spiel, was weiß ich, Schach oder Monopoly.«

»Oder Sexspielchen«, schlug Ampelio vor.

»Nein, halten wir uns an Schach, das ist besser. Die Regeln des Schachspiels sind überaus einfach: In erster Linie dürfen die Figuren sich nicht gegenseitig überholen. Der Bauer bewegt sich immer nur ein Feld nach vorne, bei der Eröffnung zwei. Der König ein Feld in alle Richtungen, der Läufer in der Diagonalen, so viele Felder, wie er will, das Pferd muss ein L beschreiben aus zwei Feldern in der einen und einem Feld in der anderen Richtung. Und die Dame schließlich kann sich in jede Richtung und über so viele Felder, wie sie will, bewegen. Einfacher geht’s nicht, oder? Und dennoch ergibt sich aus diesen Regeln eine Partie Schach. Oder besser gesagt, eine unendliche Menge an möglichen Kombinationen, Myriaden von Taktiken und sinnvollen Strategien, ein Haufen Komplexität, der seinesgleichen sucht. In wenigen Worten: ein ungeheures Chaos, das zu beherrschen überaus schwierig ist.«

»Kommt mir noch untertrieben vor«, meinte Ampelio. »Ha. Wo die Frau machen kann, was sie will, gibt’s immer ein Chaos, von dem schon die Hälfte mehr als genug wäre, und das ist so, seit die Welt die Welt ist.«

»Also, wenn du eine Gesamtheit von Objekten erschaffen musst, deren Verhalten von Regeln bestimmt sein soll, dann gibt es, selbst wenn alle Objekte oder Individuen diese Regeln buchstabengetreu befolgen und sie nicht verletzen können, keine Einfachheit. Aus klaren Regeln kann ein Durcheinander entstehen, das unmöglich vorhersehbar ist, wenn man einfach nur auf Basis der Regeln denkt, nach denen es erschaffen wurde. Du kannst nur zusehen, wie das System, das die Regeln erschaffen haben, sich entwickelt, aber du kannst nicht a priori voraussagen, wie es sich entwickeln wird.«

Massimo schenkte sich noch etwas Tee ein und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Säule hinter dem Tresen. Ampelio nutzte den Augenblick des Schweigens und sagte: »Während die Dinge sich entwickeln, würdest du mir einen Espresso machen?«

»Abgesehen davon gefällt mir an der Religion nicht, dass sie nicht freigeistig ist: Der Wahlspruch der katholischen Religion ist: ›Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu‹, was aber oft zu ›Behandele die anderen nach deinen eigenen Überzeugungen‹ umgedeutet wird«, fuhr Massimo fort, während er Ampelio den Espresso servierte. »Folglich, auf die Spitze getrieben, ist es dir schnurzegal, was die anderen denken: Was gut für dich ist, muss auch gut für die anderen sein. Das nennt man Intoleranz. Und die Tatsache, dass im Prinzip ein Gläubiger nach, theoretisch, nur den allerbesten Maßstäben urteilt, beruhigt mich da nicht wirklich. Aus den gerechtfertigsten Prinzipien, gerechten und – in der Theorie – idealen Prinzipien heraus, können Menschen mit ihrem alltäglichen Verhalten, das nicht von theoretischen Regeln, sondern von Problemen, Leidenschaften und Wünschen bestimmt wird, wahre Abscheulichkeiten begehen. Ein bisschen so wie der reale Sozialismus. Also, das geht alles in Ordnung, wenn du ein normaler, ausgeglichener und guter Mensch bist. Aber wenn du ein Masochist bist? Wenn du Vegetarier bist? Wenn du einfach nur ein riesiges Arschloch bist?«

Massimo kehrte hinter den Tresen zurück.

»Du kannst nicht davon ausgehen, dass das, was für dich gut ist, für die anderen auch gut sein muss. Diese Haltung beruht auf der Voraussetzung, dass das, was für dich gut ist, richtig ist, dass also deine Werte die richtigen sind. Erstens, wer sagt denn, dass es die richtigen sind?«

»Die Bibel«, wagte Del Tacca sich vor.

»Die Bibel, sicher. Dasselbe Buch, das auch behauptet, dass die Sonne um die Erde kreist, welche ungefähr zehn Millionen Jahre alt ist. Entschuldige, aber in einen Text, der diese Informationen liefert, habe ich kein bedingungsloses Vertrauen. Und glaub bloß nicht, dass ich einfach nur so daherrede, denn die Bibel kenne ich gut. Ich glaube, das hab ich dir schon letzte Woche bewiesen.«

»Und wie kommt es, dass du die Bibel so gut kennst?«

»Weil ich den Katechismus gelernt habe. Ich habe die Taufe mitgemacht, die Kommunion und die Firmung, und ich hab alle drei Prüfungen bestanden.«

»Wenn’s darum geht, so hast du dich sogar verheiratet, und zwar in der Kirche«, mischte sich Ampelio ein. »Aber mir ist, als hätten sie dich im September doch nicht in die nächste Klasse versetzt.«

»Außerdem«, fuhr Massimo fort, während er seine Zigarette ungerührt in Ampelios Kaffee ausdrückte, »habe ich sie gelesen, die Bibel. Im Gegensatz zu den vielen Frömmlern, die nur in die Kirche rennen, um Rosenkränze zu murmeln. Sie ist ein interessantes Buch. Teilweise wunderschön. Und von fundamentaler Bedeutung, denn ein großer Teil unserer Kultur und unserer Erziehung beruht darauf.«

»Ah, und steht in der Bibel auch, dass du deinem Großvater den Kaffee versauen darfst?«

»Nein«, sagte Aldo, während er sich hinsetzte. »Darin steht, dass es eine Zeit zu reden gibt und eine Zeit zu schweigen. Das ist eine sehr bedeutsame Passage, die kann ich dir nur ans Herz legen.«

»Also«, nahm Massimo den Faden wieder auf, »das Prinzip, nach dem du das Leben der anderen auf Grundlage deiner Maßstäbe bestimmen darfst, gefällt mir nicht. Denkt nur an eine Nation, in der sich alle so benehmen müssten, wie es meinem Großvater gefällt. Erstens würde überhaupt niemand mehr ein Buch lesen. Zweitens würde die Nation innerhalb von genau zwölf Sekunden untergehen, wenn man bedenkt, wie mein Großvater über die Arbeit denkt.«

»Sieh an! Der Genosse Stakanow hat gesprochen! Ich habe dreißig Jahre gearbeitet, um deine Mamma zu ernähren und sie studieren zu lassen.«

»Drittens«, fuhr Massimo fort, »würde niemand die Existenz der anderen zur Kenntnis nehmen. Das wäre das Hauptproblem.«

»Hört sich ein bisschen komisch an, ausgerechnet aus deinem Mund«, bemerkte Del Tacca.

»Ganz und gar nicht«, antwortete Massimo. »Ich habe überhaupt nichts gegen andere Menschen, solange sie sich rational verhalten und mich in meiner Freiheit nicht einschränken. Was ziemlich häufig geschieht, das muss ich zugeben. Aber darum geht es nicht. Es geht darum, dass man, wenn man auf der Welt sein möchte, zwangsläufig die Tatsache bedenken muss, dass es mehr oder weniger noch sechs Milliarden andere Menschen gibt, die dieselben Rechte wie man selbst haben sollten. Wenn man also wirklich irgendeinem Prinzip folgen muss, dann scheint es mir wichtig, das im Kopf zu behalten. Deine Freiheit endet da, wo die der anderen beginnt. Das scheint mir vielversprechender zu sein, so als Prinzip.«

»Schöne Worte, Massimo, wirklich«, sagte Del Tacca. »Also dann erklär mir doch mal, warum einer, der zur falschen Zeit bei dir einen Cappuccino bestellt, wenn er Glück hat, einen Eistee bekommt, und wenn er Pech hat, zum Teufel gejagt wird?«

»Nun, ich hab dir das Prinzip erklärt. Aber ich hab nicht gesagt, dass es leicht anzuwenden wäre oder dass ich es immer wortwörtlich befolge. Ich bin ja schließlich nicht der Messias oder der Papst. Ich bin ein Barmann. Du hingegen bist frei, in eine andere Bar zu gehen. Ist ja nicht so, dass ich dir nachlaufen und dich daran hindern würde, deinen Kaffee in einer anderen Bar oder zu Hause zu trinken. Ich geh dir auf die Nerven, weil du gegen meine Überzeugung verstößt, dass nur Prokarioten auf die Idee kommen, nach der Mittagsstunde noch Cappuccino zu trinken, aber ich hindere dich an gar nichts. Wenn ich aber katholisch bin und der Meinung, dass die künstliche Befruchtung eine Sünde ist, was mache ich dann? Dann fordere ich die Leute auf, nicht für das Referendum zu stimmen, sodass du, aufgrund meiner Überzeugung, keine künstliche Befruchtung machen kannst. Das ist genauso, als würde ich dir nach Hause folgen und dich daran hindern, Kaffee zu trinken. Ich schränke deine Freiheit ein, oder nicht?«

»Der Junge hat recht«, sagte Ampelio. »Die Kirche ist ja inzwischen schon zur Schwiegermutter des Staates geworden. Kaum kommt ein Gesetz raus, sind die schon dabei, es zu bequatschen. Dieses hat man schon immer so gemacht, jenes macht man nicht und das auch nicht. Kaum machst du mal was auf eigene Rechnung, ist es schon eine Sünde. Als hätten die nichts anderes zu tun, als über Embryonen nachzudenken.«

»Aber das sind ihre Überzeugungen. Daran glauben sie. Du kannst ja wohl kaum vom Papst verlangen, nicht vom Recht auf Leben zu sprechen, er vertritt nur seine Position.« Tiziana hörte auf, einige Tabletts abzuwischen.

»Es kommt mir aber vor, als täte er das auf ziemlich seltsame Weise. Um es gelinde auszudrücken. Erlaubt mir eine Frage: Tiziana, warum will der Papst nicht, dass wir Sex mit Kondomen machen?«

»Weil dann keine Kinder mehr geboren würden«, mischte sich Aldo ein. »Was eine Sünde wäre, wenn man sich nur mal Tiziana anguckt, und eine Erleichterung, wenn man an dich denkt. Folglich scheint mir das eine ausgewogene Position.«

»Richtig. Es würden keine Kinder mehr geboren. Wir würden uns nicht fortpflanzen. Aber …« – und hier war Massimo versucht zu sagen, dass man sich dafür umso mehr vergnügen würde, aber die Gefahr, von Tiziana das Tablett um die Ohren gehauen zu bekommen, war greifbar –, »also, es bliebe nur noch der Genuss. Der Genuss ohne den Zweck, für den er gedacht ist. Richtig?«

»Genau.«

»Folglich, entschuldige, wenn ich darauf herumreite, wenn ich etwas nur zu meinem persönlichen Vergnügen tue, ohne jeden anderen Zweck, dann hat die Kirche etwas dagegen?«

»Sicher. Sie nennt es Sünde«, sagte Aldo.

»Und wenn dieser Akt, der mir Vergnügen bereitet, auch noch mein Leben und das der anderen gefährden würde, was machen wir dann? Ich bin ein Sünder, und ich riskiere das Leben anderer. Ist das nun schlimmer, als mit Kondom zu ficken oder nicht? Da steht es zwei zu eins.«

»Na ja, ich würde sagen, es ist schlimmer.«

»Also warum geht mir dieser Oberarsch von einem Papst dann mit dem Kondom auf die Nerven und sagt mir stattdessen lieber nicht, ich soll aufhören zu rauchen? Warum ist er nur so besessen vom Sex? Ich genieße ihn, die Person, mit der ich ihn mache, genießt ihn, wir sind alle beide fröhlich, haben niemandem ein Leid zugefügt. und das soll dem Papst zufolge Gott nicht gefallen? Aber wie zum Teufel soll das denn möglich sein? Wenn man so denkt, muss man ja zu dem Schluss kommen, dass Gott, vertreten durch den Papst, was gegen uns hat. Das ist doch nicht logisch. Das leuchtet mir nicht ein. Sollten wir nicht eigentlich seine Lieblingskinder sein? Also, wenn mein Sohn mit seinen kleinen Freunden spielen würde, ohne beim Nachbarn die Scheiben einzuwerfen oder dem Großvater die Nerven zu ruinieren, dann wäre ich doch zufrieden. Und wie muss das erst für Gott sein, der sechs Milliarden davon hat! Wenigstens zwei, um die er sich keine Sorgen zu machen braucht.«

Massimo sah die Alten an, die wiederum ihn mit verständlicher Sorge anblickten.

Wenn Massimo sich auf dieses Thema einschoss, war es beinahe unmöglich, ihn aufzuhalten. Einzig eine Atombombe hätte das gekonnt. Rimediotti, ein Optimist von Natur aus, versuchte ein Ablenkungsmanöver, indem er laut aus der »Gazzetta« vorlas: »›Urca, dieser Gourcuff. Dribbling und Klasse im Scheinwerferlicht der Weltmeisterschaft. Über das junge französische Talent besteht Einigkeit.‹ Habt ihr schon gesehen, wie dieser Kerl spielt? Sieh mal, gestern hab ich …«

Massimo setzte sich und hing seinen Gedanken nach, während sein parasympathisches System dem Körper weitere Befehle erteilte, die großen Flaschen hinter die kleinen zu stellen. Wie immer, wenn man sich auf Diskussionen dieser Art einließ, war sich Massimo im Klaren darüber, dass niemand seine Meinung zu dem Thema ändern würde.

Das machte Massimo wütend: feststellen zu müssen, dass es schwierig ist, die Meinung von Menschen zu ändern, auch in den seltenen, überaus seltenen Fällen (zu denen dieser nicht zählte), in denen man hundertprozentig recht hat. Oder besser: feststellen zu müssen, dass die Leute bei bestimmten Themen nicht in der Lage sind, ihre Meinung zu ändern, weil sie nicht bereit sind, darüber nachzudenken. Ernsthafte, direkte Fragen zu stellen und Schlussfolgerungen daraus zu ziehen, die möglicherweise einen großen Teil der Welt infrage stellen, in der man bisher gelebt hat. Über einige Themen – allen voran Religion und Politik – wollen viele Menschen schlicht und einfach nicht nachdenken, weil sie Angst haben.

Angst, herauszufinden, dass die Gewissheiten, auf die sie sich immer verlassen haben, in Wirklichkeit keine Bollwerke der Wahrheit sind, sondern kleine, armselige Dogmen, die von Menschen aufgestellt wurden, die unter moralischem Zwergenwuchs litten, die wundervolle Botschaften voller Hoffnung, wie diejenige von Jesus Christus, nahmen und sie auf Regeln reduzierten, auf Vorschriften und Verbote; Kleingeister, unfähig, den Menschen in all der Pracht seiner Intelligenz zu erkennen, und die nur darin gut waren, den eigenen Bischofsstab den Rädern des Fortschritts in die Speichen zu werfen.

Und anstatt dann vor Wut zu explodieren, wenn ihnen bewusst wird, dass sie von diesen Steuerberatern der Seele ganz gewaltig verschaukelt worden sind, und sich mit einem Tritt in den Allerwertesten von ihnen zu befreien, um endlich das zu tun, was Christus wirklich gesagt hat, haben viele Leute Angst. Angst, eine Religion loszulassen, die häufig reine Gewohnheit ist und die gerade deshalb Sicherheit bietet. Angst, nach denselben fehlerhaften Kriterien von ihren Bekannten verurteilt zu werden. Angst, gerade darin einen Irrtum zu begehen, indem man denkt, sich vorher geirrt zu haben – im Grunde also der Gedanke: wer bin ich schon, über eine Religion zu urteilen –, und folglich Angst davor, sich einem Antidot anzuvertrauen, das schlimmer sein könnte als das Übel.

Angst, sich zu irren.

Massimos Gedanken begannen abzuschweifen.

Ich verstehe nicht, was so beschämend daran ist, sich zu irren. Irren ist menschlich. Ein Experte ist jemand, der auf seinem Gebiet alle möglichen Fehler gemacht hat und sich an jeden einzelnen davon erinnert. Man wächst an seinen Irrtümern. Warum kann einer zugeben, dass er einen Fehler machen kann, wenn er einen Kuchen backt, und hält sich gleichzeitig für unfehlbar, wenn er die Handlungen der Menschen aus der Perspektive Gottes beurteilt? Oder besser gesagt aus einer Perspektive, zu der er sich als menschliches Wesen eigentlich nicht so mühelos aufschwingen können sollte?

Massimo schüttelte den Kopf, während er weiter Flaschen aus den Kästen hob und sie in den Kühlschrank stellte. Ich habe meine Überzeugungen. Die anderen haben ihre. Solange sie mir damit nicht auf die Nerven gehen oder ich den anderen, kommen doch alle prima zurecht. Orange, Ananas, Papaya, Pfirsich, Tropical. Und den Chinotto, wo stelle ich den hin? Da, hinter alles andere? Ja gut, das geht. Ich bin ja sowieso der Einzige, der den trinkt.

Massimo stellte Chinotto-Fläschchen ganz hinten in den Kühlschrank und begann, eine kompakte Mauer aus Schweppes-Fläschchen zu ihrer Verteidigung davor zu bauen. Vom weniger Verkauften zum Meistverkauften, klar. Folglich Chinotto, Tonic, Coca-Cola.

»Ah, Massimo, entschuldige …«

»Einen Augenblick, Rimediotti, ich mache das hier nur eben zu Ende, dann bin ich gleich bei Ihnen.«

»Ja, aber …«

»Einen Moment, sonst werde ich hier nie fertig. Zwei Minuten. Ist denn Tiziana nicht da?«

»Nein, sie ist an den Tischen draußen. Wenn du in der Zwischenzeit …«

»Nur zwei Minuten, und ich komme.«

Nun hab doch noch zwei Minuten Geduld, du meine Güte. Ich liege hier auf Knien, du weißt doch, dass ich Rückenschmerzen habe, also kannst du doch wohl eine Sekunde warten, oder? Madonna, was für eine Generation von Abhängigen. Haben ihr ganzes Leben lang noch keinen Handschlag getan, haben Sklaven geheiratet, die ihnen im Haus alles hinterhertragen, ohne dass sie auch nur einen Finger krumm machen mussten, und sind es halt so gewohnt. Ich schnippe mit dem Finger, und du rennst. Wie, du machst gerade etwas anderes? Dein Problem. Ich störe dich? Nur die Ruhe. Aber ein bisschen Achtung für das, was du tust? Niemals. Jetzt bin ich gleich fertig, und dann kümmere ich mich um dich, ja?

Massimo stellte die letzte Flasche in den Kühlschrank und bewunderte sein Werk. Schön, präzise, geordnet. Eine Augenweide.

Schade, dass früher oder später jemand ein Fläschchen bestellen und alles ruinieren würde. Der Gedanke beunruhigte ihn ein wenig. In etwa so wie als kleiner Junge, wenn er ein neues Glas Nutella öffnete. Der Anblick der glatten und kompakten Oberfläche mit jener sich kaum abzeichnenden kleinen Blüte in der Mitte, die die Abfüllanlage hinterlassen hatte, hatte Massimo immer dermaßen entzückt, dass er es kaum übers Herz brachte, den Löffel hineinzustecken und diese wunderbare Symmetrie zu zerstören. Gut, hören wir mal, was dieser Alte möchte.

»Bitte, Rimediotti?«

»Aber du wirst jetzt nicht wütend, ja.«

»Warum sollte ich denn wütend werden?«

»Na ja, ich wollte einen Chinotto …«