Sonntag. Blutsonntag
Sunday, Bloody Sunday, U2
Das Licht im Pentland Hills National Park kann wunderschön sein. Es ist ein herrlicher Sonntagmorgen. Es hat endlich aufgehört zu schneien. Diesen Winter wird es nicht noch einmal schneien, jedenfalls nicht mehr so viel. Es wird weiterhin Frost geben, aber dann wird es tauen; man muss nur noch ein paar Wochen durchhalten.
Heute früh könnte man fast glauben, dass es jetzt leichter wird. Die Wolken haben sich verzogen und die Sonne ist ein knallroter Ball, der vorsichtig hinter dem Horizont hervorlugt und langsam höher steigt; ein wanderndes Blutgerinnsel.
Der Bus ist verschwunden, nichts deutet mehr auf den Unfall im Wald hin. Dafür haben die Schneestürme gesorgt und die Leute, die hierhergekommen sind und aufgeräumt haben. Wie man erwarten sollte, haben sie gute Arbeit geleistet.
Die verlorenen Seelen, die sich von dem Gelände entfernt haben, sind eingefangen worden. Die meisten jedenfalls. Damit wir uns nicht falsch verstehen – einige sind entkommen, sind ins Freie gestolpert, ob nun lebendig oder untot, und sie setzen ihre Reise fort.
Bei der Burg ist alles ruhig. Der Cheery Chomper hat seinen letzten Burger gebraten, sein letztes Spiegelei. Die Tankstelle – schon von der Explosion fast dem Erdboden gleichgemacht, ihr erinnert euch – ist bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Das Säuberungsteam war gründlich. Wer zufällig durch dieses Gebiet kommt, wäre völlig ahnungslos.
***
Lucy ist nicht ahnungslos; sie ist sich zum Beispiel absolut darüber im Klaren, dass sie nicht ewig in der Jontis Avenue 19 bleiben kann. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis man sich bei Xanthro denken kann, wo sie sich versteckt hält.
Es kommt ihr zwar nicht so vor, aber wenn sie an Dienstag denkt – der schon einige Tage zurückliegt –, dann hat sie wirklich Glück gehabt. Sie hat das Zeug in der Belüftungsanlage überlebt, sie hat die Abriegelung und die Männer in Schwarz mit den Gasmasken überstanden, sie ist über das Parkdeck geschlittert, die Pumps ihrer Schwester in der Hand, hat das Auto gefunden und ist davongebraust, bevor die sie wieder einfangen konnten.
Das war alles Glück. Aber die Zukunft wird davon abhängen, dass sie Köpfchen beweist.
Mit Tränen in den Augen, die vom Gas und von der Sorge um das Schicksal ihrer Eltern herrührten, ist sie vorsichtig auf die Autobahn gefahren, den Kopf noch voller gellender Sirenen und Korridore, in denen reglose Körper lagen. Auf der Straße kam man nur langsam voran. Ohne Schneeketten ist der Wagen immer wieder ausgebrochen und aus den fluffigen Schneeflocken wurde plötzlich Hagel, der auf die Windschutzscheibe prasselte. Lucy musste all ihre Konzentration zusammenraffen. Sie konnte definitiv nicht in das Haus ihrer Eltern zurück. Sollte sie zu ihrer Schwester fahren, sie warnen und einiges von ihren Sachen mitnehmen? Nein, zu gefährlich für beide. Dass sie dort hinfuhr, konnten die sich denken. Aber wohin sollte Lucy dann?
Am Ende ist sie zum Flughafen Heathrow gefahren und hat den Wagen auf einem riesigen Parkplatz stehen lassen, weil sie instinktiv wusste, dass die danach suchen würden. Sie hat bibbernd auf einen Shuttlebus gewartet, dann das Flughafengebäude betreten und mit den Kreditkarten ihres Vaters so viel Geld abgehoben, wie sie konnte. Die bei Xanthro sollen denken, dass sie das Land verlassen hat; sie hat nicht vor, die Kreditkarten noch einmal zu benutzen. Anschließend ist sie in die U-Bahn gesprungen und hat den Rest des Tages in den hellen großen Geschäften der Londoner City verbracht. Diese Normalität war ein richtiger Schock. Lucy hat Stiefel, Jeans, ein Sechserpack billige Slips, zwei T-Shirts, einen Wintermantel und eine Mütze gekauft und die schicken Pumps am Oxford Circus traurig in einen Mülleimer geworfen. Sie hat überlegt, von einer Telefonzelle aus ihre Schwester anzurufen, bloß hatte sie keine Ahnung, was sie sagen sollte. Mum und Dad sind tot? Ich lebe noch, bin aber auf der Flucht? Bei Xanthro haben sie sich garantiert schon eine Verschleierungstaktik ausgedacht und werden ihrer Schwester bestimmt bald einen Besuch abstatten. Von nichts zu wissen dürfte für ihre Schwester das Sicherste sein. Wenn die auch nur einen Moment lang glauben, dass sie irgendetwas weiß, bringen sie sie auch noch um.
Darum hat Lucy dem Impuls nicht nachgegeben, sondern sich in ein Café gesetzt, schwarzen Kaffee getrunken und eine Einkaufsliste mit Lebensmitteln und Sachen zur Selbstversorgung zusammengestellt. Es gab natürlich nur einen Ort, wo sie hinkonnte.
Ihre Familie hat das Reihenhaus in Südlondon erst vor ein paar Monaten erworben, zunächst mit der Absicht, es zu vermieten. Damals hat Lucy gehofft, dass ihr Vater ihr irgendwann die Schlüssel überreichen würde. Sie hätte nie damit gerechnet, sie ihm einmal aus seiner erschlafften Hand klauben zu müssen.
Eine weitere U-Bahn-Fahrt und einen anstrengenden Marsch durch den Schnee später kam sie in der Jontis Avenue 19 an. Das Haus war leer, kalt und feucht. Wegen der Arbeitsbelastung ihrer Eltern ist es weder zur Renovierung noch zur Vermietung gekommen. Möbel gibt es nicht viele. Ein Klappbett, das der Vorbesitzer zurückgelassen hat, und im Wohnzimmer einen kleinen Teppich, mit dem sie sich beim Schlafen zudeckt. Gott sei Dank funktioniert die Heizung. In den ersten Tagen hat es noch fließend Wasser gegeben, aber als sie heute früh den Hahn aufgedreht hat, ist nichts mehr gekommen. Eine zugefrorene Wasserleitung oder ein Grund, misstrauisch zu werden?
Ohne den Teppich hat das Wohnzimmer nicht mehr zu bieten als einen guten Blick auf die Straße und Vorhänge, hinter denen man sich verstecken kann. Lucy hat ihre Tage dicht am Heizkörper verbracht und Ausschau gehalten. Die Jontis Avenue ist eine ruhige Straße und der beständige Schneefall tut sein Übriges. Die Leute bleiben in ihren Häusern.
In einem Küchenschrank hat Lucy ein altmodisches batteriebetriebenes Radio gefunden, das sie täglich für ein, zwei Stunden einschaltet. Sie kennt die Nachrichten aus Schottland – von dem Geisterzug, von den Ausschreitungen während eines Rugbyspiels und von verschiedenen, nur teilweise aufgeklärten Zwischenfällen, bei denen Leute angegriffen worden sind; im Laufe der Woche haben »Aufstände«, soziale Unruhen und chaotische Zustände weiter zugenommen. Xanthro ist es nicht gelungen, die Sache einzugrenzen. Das empfand Lucy aus irgendeinem Grund als tröstlich; vielleicht hatte man dort viel zu viel zu tun und dachte gar nicht mehr an sie.
Sie ist hübsch geblieben, wo sie war. Und weinen kam überhaupt nicht in Frage. Wenn sie sich das nur ein einziges Mal durchgehen ließ, würde sie nicht wieder aufhören können. Sie konnte sich keine Gefühlsausbrüche leisten. Nicht jetzt.
Am Freitag dann tat sich weiter unten in der Straße etwas. Es gibt hier kaum Durchgangsverkehr; es hat nur ab und zu irgendein abgehärteter Nachbar seinen Wagen freigeschaufelt und versucht in dem meterhohen Schnee irgendwohin zu fahren – um zumeist kurz darauf entmutigt wieder zurückzukehren. Doch am Freitag tauchte frühmorgens ein Schneepflug auf. Lucy kniete hinter dem Vorhang und sah zu, wie der gelbe Räumpflug sich daranmachte, die obere Hälfte der Straße frei zu räumen. Es machte sie nervös; irgendwie hatte sie sich in der eingeschneiten Straße deutlich sicherer gefühlt. Der erste Straßenabschnitt war im Nu geräumt und dann passierte etwas Merkwürdiges: Der Schneepflug fuhr davon.
Lucy runzelte die Stirn. Hatte er aufgegeben? Oder wollte er den Rest der Straße vom anderen Ende aus räumen? Sie sah nach links, aber er blieb verschwunden. Lucy gab ihren Beobachtungsposten auf und bereitete sich ein Frühstück aus altbackenem Brot und Marmelade. Bald würde sie irgendwo Lebensmittel auftreiben müssen.
Eine Stunde später leuchtete ihr das mit dem Pflug plötzlich ein. Vor der Nummer 12 hielt ein Umzugswagen, ein Transporter. Männer in Overalls stiegen hinten aus und verschwanden im Haus. Im Ernst? Jemand wollte bei diesem Wetter umziehen? Lucy bekam ein ungutes Gefühl. Die Männer hatten nicht geklingelt und gewartet, dass jemand öffnete, sondern waren einfach hineingegangen. War das normal? Außerdem hatten sie zwar ein paar große Kartons ins Haus getragen, waren aber nicht wieder herausgekommen. Was machten sie dort drin?
Lucy hielt den ganzen Tag und den Großteil des Abends Ausschau, bis das Bett rief. Der Transporter stand immer noch da, aber es rührte sich nichts. Auch am Samstagmorgen war er noch da. Sie bezog wieder ihren Posten am Fenster und lenkte sich zeitweise mit Radiohören ab. Am frühen Nachmittag wurde ihre Geduld belohnt. Die Männer in den Overalls tauchten wieder auf, anscheinend mit denselben Kartons, die sie am Vortag hineingetragen hatten. Aber dann gingen sie erneut ins Haus und holten noch mehr Sachen – weiße Kästen, die nach Computern aussahen, Festplatten oder so, an denen manchmal noch die Kabel hingen. Merkwürdig.
Sonntagnacht gegen zwei Uhr ereignete sich dann die Explosion. Lucy lag im Bett unter dem Teppich und träumte gerade, dass sie an einer riesigen Klippe baumelte und unten eine Menschenmenge die Hände nach ihr ausstreckte. Sie rutschte langsam ab, sah nach oben und erblickte die Hand, die ihr Vater nach ihr ausstreckte, um sie vor ihrem Sturz zu bewahren. Dann wackelte das ganze Haus und sie wachte auf.
Sie wusste sofort, dass es die Nummer 12 gewesen war. Sie stolperte ins Wohnzimmer und sah die Straße hinauf. Flammen und Rauch drangen aus dem Erdgeschoss. Aus der Nummer 14 lief ein Mann auf die Straße und rutschte fast aus in seinen Gummistiefeln. Mehr Leute kamen hinzu; auf einmal hatte Lucy einen guten Blick auf ihre Nachbarn. Jemand hatte die Feuerwehr gerufen, aber es dauerte eine gute halbe Stunde, bis sie eintraf. Inzwischen hatte sich das Feuer im gesamten Haus ausgebreitet, das Dach stürzte ein und die Fenster zerbarsten.
Die ganzen frühen Morgenstunden lang hat Lucy beim Fenster gesessen und Radio gehört, dessen Batterien allmählich nachlassen. Sie versucht es immer wieder mit den Lokalnachrichten, aber über die Explosion in der Jontis Avenue wird nicht berichtet. Dafür gibt es wieder seltsame Neuigkeiten aus Schottland. Weitflächige Stromausfälle und Zusammenbrüche der Kommunikationsnetze. Die Regierung hat den Notstand ausgerufen und Militär dorthin entsandt.
Lucy hört sich das alles an und sieht währenddessen zu, wie man den Anwohnern der Jontis Avenue in Wagen mit dunklen Scheiben hilft und sie mit ein paar hastig zusammengepackten Habseligkeiten fortbringt. Und als die Radiobatterien endgültig ihren Geist aufgeben, bricht die Dämmerung an und Lucy weiß, was sie machen muss.
Sofort abhauen. Nach Norden fahren. Rein nach Schottland. Dort spielt sich alles ab, dort muss Xanthro sein. Lucy weiß genug über die Operationen oben im Norden, um einen Anhaltspunkt für ihre Suche zu haben. Sie braucht nur ein Fahrzeug und einigermaßen starke Nerven. Sie wird die Verantwortlichen ausfindig machen und ihnen ein Angebot unterbreiten. Ihr Leben gegen die Festplatte, die ihr Vater ihr gegeben hat.
Entweder das oder sie wendet sich an die Presse. Aber irgendetwas tief in ihrem Innern – in ihren Genen oder so – hält sie davon ab, ihr Wissen zu teilen. Es liegt in ihrer Natur zu verhandeln; irgendjemand da draußen will diese Daten unbedingt und das ist die Chance ihres Lebens, sie muss nur ihre Karten richtig ausspielen. Also wird sie pokern.
Nach einem letzten faden Frühstück packt sie ihren kleinen Rucksack, verabschiedet sich für immer von der Jontis Avenue 19 und sieht sich nach einem Auto um, das sie stehlen kann. Keinen schicken Wagen diesmal – nur irgendeine Karre mit Vierradantrieb und vollem Tank. Bei einem nahe gelegenen Autogeschäft, auf das niemand mehr aufpasst, landet sie einen Volltreffer. Als sie hinter das Steuer des besten Modells schlüpft, dankt sie ihrem Glücksstern dafür, dass sie so etwas draufhat. Übung macht den Meister, aber hallo. Sie ist unterwegs.
Nun heißt es: Schottland oder draufgehen.
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**********AP, Sonntag, 11:31, Edinburgh, Schottland. Neue Augenzeugenberichte von der Tragödie im Rugbystadion Murrayfield deuten darauf hin, dass der Zwischenfall durch eine kleine Gruppe rivalisierender Fans ausgelöst wurde, die anfingen einander zu beißen //?badpathway/error/endtransmission********************
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342.334.543.0920.
Passwort akzeptiert
mackem157: @whedonella, falls du das hier kriegst, möchte ich dir bloß sagen, dass ich in dem Café auf dich gewartet habe, wie wir es mal für den großen Zusammenbruch besprochen haben. Also mehrere Stunden lang. Keine Ahnung, ob du das Ganze für einen Scherz hältst, aber glaub mir, ich kann darüber nicht lachen. Ich versuche online einen alternativen Ort zum Austausch von Informationen einzurichten, aber da ist nicht viel zu machen. Meine Gegend (Nordostengland) ist auch off, und seit ich in Schottland war, hatte ich nur Pech und hüpfe von Café zu Café auf der Suche nach Orten, die noch WiFi haben oder überhaupt geöffnet sind, aber WiFi ist unsicher. Vor einiger Zeit hast du mal einen guten Proxy erwähnt, hast du zu dem immer noch Zugang? Ich schrecke davor zurück, irgendetwas zu machen, das sie vielleicht auf meine Spur bringt. Denn eines kannst du glauben, die halten Ausschau. Nach mir, nach dir. Nach uns allen. Aber wenn wir zusammenhalten, stehen wir das durch. Außerdem hängt es jetzt an uns, die Wahrheit auszusprechen. Sonst tut es ja niemand – die Nachrichtenagenturen halten sich zurück oder lügen, Handynetze und soziale Netzwerke sind off – da bleiben nur Leute wie wir, um darüber zu berichten. Bist du dabei? Pass übrigens bei flumpE auf. Der gehört zum Feind, das habe ich im Urin. Und parapassions kannst du abhaken – die Seite ist off. Bis dahin sind sie anscheinend schon gekommen.
Hey – ich hab außerdem gerade so eine seltsame Datei bekommen, die noch durchgeflutscht ist. Nennt sich »Gelbfieber«. RIESENTEIL. Anscheinend verschlüsselt. Kam die von dir?
MELDE DICH.
Viel Glück, Süße. xxxx
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An: Pillai, Rahul r.pillai@ezmovingco.co.uk
Von: Rothe, Sonja s.rothe@ezmovingco.co.uk
Betr: Umzug
Lieber Rahul, danke für Deine Geduld in Sachen Umzug. Draußen wartet ein Fahrer auf Dich, bitte nimm Deine üblichen Reisedokumente mit. Du solltest sofort zu Deinem neuen Einsatzort aufbrechen. Die Ausrüstung steht bereit, außerdem ein kleines Team, das Dir bei Aufbau und Installation helfen wird. Die Systeme werden in Abstimmung mit unserer Gruppe in Kalifornien auf Dich übertragen, beginnend am Montag um 12:00 PST.
Ich gehe davon aus, dass es Dir an Deinem neuen Einsatzort an nichts fehlen wird.
Von einer Bestätigungsmail abgesehen versuche bitte nicht, mich unter dieser Adresse zu erreichen. Diese Adressen werden am Sonntag um 13:00 WEZ gelöscht. Du bekommst natürlich auf dem üblichen Weg noch die neuen Login-Daten und Adressen.
Viel Glück! Ich freue mich schon auf unsere Zusammenarbeit während dieser spannenden Zeit. Auf den Erfolg unseres Unternehmens!
Sonja
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Szene: Die Gewölbe unter Edinburgh, schätzungsweise 21 Uhr. Ein Bildschirm erwacht flackernd zum Leben. Wir sehen Aufnahmen, die mit einem Handy gemacht wurden. Es ist sehr dunkel, aber dann geht eine Taschenlampe an und plötzlich kann man ein Gesicht sehen. Es ist Dougie.
[Dougie, mit sehr leiser Stimme]
»Das erste Mal, dass ich wieder was sagen kann. Das erste Mal, dass sie mich wieder allein lassen, inklusive aufs Klo gehen. Wir sind die ganze Zeit hier unten gewesen. Das Licht ist jetzt durchgehend aus, aber wir haben ein paar Taschenlampen gefunden.«
Sein Gesicht verzerrt sich.
»Die haben Megan umgebracht. Und ihre Leiche nach draußen geschafft. Keine Ahnung, wie das passiert ist – sie kam zu sich und hat sie angegriffen –, aber die hätten sie trotzdem nicht gleich umbringen müssen.
Todd geht es einigermaßen, glaube ich. Er schläft gerade und Lorna auch. Letzte Nacht haben wir kein Auge zugemacht. Wir haben total Durst – und Hunger auch, aber der Durst ist schlimmer. Weiter oben hat noch ein Wasserhahn funktioniert, aber die Leitung ist jetzt auch abgestellt. Oder eingefroren oder so. Die sagen, dass sie demnächst rauswollen, um Essen und Trinken zu besorgen, und ich soll mitkommen. Sie haben es schon mal probiert, als sie Megans Leiche nach draußen gebracht haben, aber da waren zu viele Irre unterwegs. Wir hängen erst mal hier fest.
Ich glaube nicht, dass da draußen irgendwo Polizei ist. Vor einer Weile waren Schüsse oder so zu hören, aber jetzt ist alles still.«
Er reibt sich die Augen.
»Ich glaube, wir sind auf uns allein gestellt.
Später mehr. Ich werde versuchen, irgendwas zu filmen, wenn ich draußen auf der Straße bin.«
Er zwinkert einmal.
»Wünscht mir Glück, ja? Adios, amigos, und hasta la vista. Ich meld mich bald wieder. Hoffentlich.«
Er fummelt mit dem Handy herum, die Kamera wackelt.
Der Bildschirm geht aus.
***
Er liegt da halbnackt im Dunkeln und ihm ist trotz der Kälte total heiß. Seine tintenschwarzen, verfilzten Haare kleben ihm am Kopf. Schweiß rinnt langsam seine Brust hinab wie die Tropfen an einer beschlagenen Fensterscheibe. Unter dieser klammen Porzellanhaut schlägt sein Herz doppelt so schnell. Und irgendetwas anderes bewegt sich auch noch dort drinnen, wie ein Parasit, ein Summen von Energie, die wummernd durch seine Adern strömt, die ihn am Leben hält und dafür sorgt, dass er ein Mensch bleibt.
»Bist du da?«, hört er ihre Stimme. »Ich brauche dich.«
Er runzelt im Schlaf die Stirn und versucht sich zu erinnern. An den Weg zurück. Zurück ins Leben, zurück zu ihr. Zurück in den Schnee und die gute, herrliche Kälte. Aber er kann sie nicht sehen, er kann niemand von den anderen sehen. Waren sie überhaupt je wirklich da?
Er erinnert sich an einen Kuss. Es hat einen Kuss gegeben. Und dann ist sie von ihm fortgekrochen, ins Licht.
Er dreht sich auf die Seite und unter ihm knarrt Leder; seine Jacke, mehr an Bett hat er nicht. Als er sich streckt, wacht er beinahe auf; ein monochromer Anblick bis auf diese Bisswunden. Rot quillt es durch die Verbände, die schon wieder durchbluten; langsam, aber sicher rinnt das Leben aus den darunter liegenden tiefen Wunden.
Und dann ist sie plötzlich bei ihm. Ihre Hand fährt sein Gesicht entlang, seinen Hals, bleibt auf der Brust liegen. Sie beugt sich über sein Gesicht. Ihr sanfter Atem fühlt sich kühl an auf der Haut. Sie streicht mit den Lippen über seine Wange, ganz zart, es ist noch kein Kuss. Er versucht nach ihr zu greifen, aber seine Arme sind weg, sind irgendwie in den Boden eingesunken. Ihre Wimpern flattern an seiner Stirn und er versucht tief einzuatmen, sie in sich einzuatmen, aber seine Lunge ist voller Eiswasser und er spürt eine dunkle Kraft, die ihn nach unten zieht, zurück in die Tiefen, wo nichts Gutes ist. Er sieht sie – nicht wie in einem normalen Traum, sondern herrlich klar –, ihr blasses, perfektes Gesicht, diesen Knick in ihrer Lippe, wenn sie nicht weiß, ob er sie gerade verscheißert oder nicht, ihre dunklen Haare, die so toll riechen, ihre Leggings mit dem Riss und der Beinwunde, die sie im Bus hat verbinden wollen, ihren Blick, als sie ihm die Spritze gegeben hat.
Aber nun verblasst die Vision. Während er wegtreibt von ihr, hört er ihre Stimme, fern, aber deutlich:
»Mach dich bereit, Smitty. Die Sache ist noch nicht vorbei.«