Zweites Kapitel
Schlagende Wetter
Bei der Ankunft im Gerichtsgebäude, an welchem sich das Gefängniß befand, hatte der Staatsanwalt dem Wachtmeister die beiden Gefangenen mit einer leisen Weisung übergeben, und sich dann entfernt. Der Wachtmeister warf einen theilnehmenden Blick auf sie und sagte dann: »Kommen Sie mit mir. Ich habe den Befehl erhalten, Ihnen Ihre Lage möglichst zu erleichtern. Sie werden gute Zellen erhalten.«
Engelchen wurde der Wachtmeisterin übergeben. Sie erhielt von derselben einen warmen Kaffee und die Beruhigung: »Seien Sie nicht bange, mein Kind! Es ist schon Mancher gerechtfertigt von hier fortgegangen, den seine Mitmenschen zu früh verurtheilt hatten. Weshalb hat man Sie denn eigentlich hierher gebracht?«
Statt der Antwort liefen dem Mädchen die Thränen über die jetzt erbleichten Wangen.
»Fassen und beruhigen Sie sich! Eigentlich darf ich solche Fragen gar nicht stellen; aber ich weiß, daß Mittheilung das Herz erleichtert. Wessen wird man Sie anklagen?«
»Mein Gott, mein Gott! Ich glaube, des Mordversuches!«
»Des Mordversuches? Ah! Das ist schlimm!«
Sie betrachtete das Mädchen mit dem forschenden Blick einer Kennerin und sagte dann:
»Aber das begreife ich nicht. Sind Sie denn –«
Engelchen erhob den Blick fragend zu ihr, und dieser Blick war so rein und unschuldig, daß die Frau gleich fortfuhr: »Nein, das ist es nicht! Einen Geliebten haben Sie nicht!«
»O doch!«
»Wirklich? Hm! Und – und wohl auch – ein Kindchen?«
Engelchens Gesicht überzog sich mit einer tiefen Gluth.
»Nein, nein!« lautete die rasche Antwort.
»Ich dachte, weil Sie von einem Mordversuche sprachen.«
»Ein Kind morden? O Himmel, das könnte ich nicht!«
»So haben Sie einen Erwachsenen tödten wollen?«
»Ich wollte nicht, es kam ohne Absicht; ich war so fürchterlich aufgeregt.«
»Aber er ist nicht todt?«
»Nein. Ein Schrotkorn hat ihn am Ohre gestreift.«
»So haben Sie auf ihn geschossen? Wohl auf den Geliebten? Aus Eifersucht?«
»Nein. Mein Geliebter ist mit hier – der Bursche, welcher mit mir gekommen ist. Der, auf welchen ich geschossen habe, wollte mich zwingen, seine Geliebte zu werden.«
»Ach so! Nun verstehe und begreife ich Alles! Sie Ärmste! Na, Sie können versichert sein, daß Ihre Strafe recht gelind ausfallen wird. Wer ist es denn, auf den Sie geschossen haben?«
»Fritz Seidelmann.«
»Der? Wegen dem auch die junge Beyer hier ist?«
»Ja, derselbe. Sie ist unschuldig; alle Leute wissen und sagen das.«
»Sie ist wohl eine Freundin von Ihnen?«
»Ja. Wir sind miteinander confirmirt.«
»Schön! Da werde ich Sie Beide zusammen thun. Kommen Sie!«
Sie führte sie nach einem verschlossenen Corridore, auf welchen zu beiden Seiten die Zellen mündeten. Sie öffnete eine desselben und sagte hinein: »Schlafen Sie?«
Es wurde ihr keine Antwort.
»Sie bekommen eine Gesellschafterin!«
Auch jetzt blieb es still.
»Kommen Sie heraus, und helfen Sie ihr den Strohsack hineintragen!«
Aber drinnen in der Zelle rührte sich nichts.
»Sie redet nicht und thut nichts als weinen,« flüsterte die Wachtmeisterin. »Vielleicht ist es ein Glück für sie, daß Sie kommen. Jetzt müssen Sie sich das Schlafzeug selbst hinein tragen.«
An der Thür lag ein Strohsack und eine wollene Decke, die Letztere allerdings nicht hinreichend bei dieser winterlichen Kälte. Engelchen trug Beides in die enge Zelle. Da lag bereits ein Strohsack auf dem Fußboden und darauf eine in die Decke eingehüllte Gestalt, welche das Gesicht nach der Wand gewendet hatte und sich nicht bewegte.
So viel erblickte Engelchen beim Scheine der Laterne, welche die Wachtmeisterin in der Hand trug. Sie machte sich ihr Lager so gut wie möglich fertig, und dann wurde ihr von der Frau eine »gute Nacht« geboten. Die Thür ging zu. Angeln kreischten, Riegel klirrten; dann war es still.
In der Zelle war es dunkel. Engelchen wickelte sich in die Decke und weinte leise vor sich hin. Wie ganz anders lag es sich doch daheim im warmen Bette! Nach und nach beruhigte sie sich, und ihre Thränen hörten auf zu fließen.
Nun aber beängstigte sie die tiefe Stille. Sie lauschte. Kein Athemzug war zu hören. Es war wie im dunklen Grabe, gerade als ob die andere Gefangene todt sei. Es überkam sie ein Grauen. Sie fürchtete sich, und darum nahm sie sich vor, die peinigende Stille zu unterbrechen.
Es wurde ihr keine Antwort.
»Gustel!« wiederholte sie nach einer Weile, und zwar lauter.
Ihr Ruf hatte ganz denselben Erfolg, nämlich keinen.
»Beyers Gustel!« rief sie zum dritten Mal. »Schläfst Du denn gar so tief?«
Da regte es sich drüben, und eine leise Stimme fragte:
»Wer bist Du denn?«
»Kennst Du mich nicht?«
»Nein.«
»Es war ja Licht hier! Du hast mich wohl gar nicht angesehen?«
»Nein.«
»Ich bin Hofmanns Engelchen.«
Da gab es drüben ein Geräusch, als ob Jemand rasch emporfahre, und dann sagte eine hastige Stimme:
»Das Engelchen? Ist’s wahr? Ist’s möglich?«
»Ja, ich bin es.«
»Herr Jesus Christus! Ja, Du bist es! Jetzt erkenne ich Dich an der Stimme! Ganz gewiß bist Du unschuldig, geradeso wie ich! Wegen wem bist Du denn da«
»Wegen dem auch? Engelchen, ich bin vor Schreck ganz starr. Wie kannst Du wegen dem gefangen sein?«
»Ich habe auf ihn geschossen!«
»Geschossen? Mein Herr Jesus! Warum denn?«
»Er hat den Hauser’s Eduard angezeigt und gesagt, daß er der Waldkönig sei. Sie haben den Eduard gefangen genommen und auf ihn geschossen, so daß er ganz blutig war. Ich bin dazu gekommen, und die Grenzer standen dabei. Da weiß ich nicht, wie es gekommen ist. Ich habe das Gewehr eines Grenzers genommen und auf den Seidelmann abgedrückt.«
»Herrgott! Und hast Du ihn erschossen?«
»Nein. Er ist nur am Ohre gestreift.«
»Allen Heiligen sei Dank! So bist Du also keine Mörderin?«
»Nein. Aber man hat mich dennoch wegen Mordversuch arretirt und hierher geschafft.«
»Das ist gar traurig. Aber warum hat denn Seidelmann den Eduard für den Pascherkönig ausgegeben?«
»Um ihn zu verderben. Seidelmann wollte nämlich – – –«
Sie stockte. Auguste Beyer fragte:
»Was wollte er?«
»Mich. Ich sollte seine Geliebte sein.«
»Du? Er wollte Dich etwa heirathen?«
»Glaube es ihm nicht, Engelchen! Glaube es ihm um Gottes willen nicht. Er will Dich nur verführen und unglücklich machen, ganz so, wie er es bei mir gemacht hat.«
»Ich habe es ihm auch nicht geglaubt. Er hat gemerkt, daß ich dem Eduard gut bin, und darum hat er ihn verderben wollen.«
»So bist Du jetzt wohl Eduard’s Schätzchen geworden?«
»Ja.«
»Das ist gut; das ist schön! Den Eduard gönne ich Dir. Er ist ein guter, braver und ehrlicher Bursche, und Du wirst mit ihm glücklich werden. Also geschossen haben sie auf ihn! Was ist dann mit ihm geworden?«
»Er ist auch eingesperrt.«
»Auch gefangen? Wohl gar hier?«
»Ja. Wir sind zusammen hergeschafft worden.«
»Welch’ eine Schlechtigkeit! Er ist sicher unschuldig! Darauf kann man getrost zehn Eide schwören. Habe keine Sorge. Seine Unschuld wird an den Tag kommen.«
»Um ihn sorge ich mich auch nicht, desto mehr aber um mich.«
»Warum?«
»Mordversuch! Das klingt gar schrecklich.«
»Es ist aber nicht so schrecklich, wie es klingt. Was haben denn Deine Eltern gesagt, als sie es erfuhren?«
»Die Mutter war nicht da, und der Vater hat kein Wort herausgebracht. Er ist an Allem schuld. Er wollte mich zwingen, zu Seidelmanns zu ziehen.«
»Um Gottes willen nicht, Engelchen! Du siehst ja, wie es mir ergangen ist. Ich bin nur einige Tage dort gewesen, und die Folgen wirst Du wissen.«
»Ist es denn wirklich so anders mit Dir?«
Es entstand eine minutenlange Pause, dann antwortete die Tochter des Schreibers:
»Warum fragst Du? Alle Welt wird es bereits wissen!«
»Du Ärmste!«
»Ja. Und ich bin unschuldig, das kann ich bei allen Heiligen beschwören. Ich habe mich gegen ihn gewehrt wie ein Teufel. Ich habe um Hilfe gerufen, aber Niemand hat es gehört.«
»Das glauben Dir alle Leute!«
»Und den Ring habe ich auch nicht gestohlen!«
»Er hat ihn Dir geschenkt?«
»Nein. Als ich mit ihm rang, blieb mir sein Ring in der Hand. Ich habe ihn behalten, um beweisen zu können, daß er bei mir gewesen ist.«
»Hättest Du ihn doch lieber zurückgegeben.«
»Leider! Ich sehe jetzt auch ein, daß ich da sehr unvorsichtig gewesen bin. Man wird mich als Diebin bestrafen. Und nachher – – –«
Sie schwieg. Engelchen fragte:
»Und vor dem Anderen, was nachher kommen wird, fürchtest Du Dich auch? Nicht wahr?«
»Ja. Mein Leben ist verdorben. Ich bin ein unglückliches Geschöpf und habe nichts mehr zu hoffen!«
»Das darfst Du nicht sagen! Die Leute wissen alle, daß Du unschuldig bist.«
»Gehe mir mit den Leuten! Sie haben für sich selbst zu thun. Und wenn sie zehnmal wissen, daß ich unschuldig bin, so bin und bleibe ich doch ein gefallenes Mädchen. Nach meiner Schuld oder Unschuld wird Keiner fragen.«
»Du darfst Dein Gottvertrauen nicht sinken lassen. Es wird ja Vieles ganz anders, als man sich ursprünglich gedacht hat.«
»Das ist wohl wahr! Aber ich habe keine Hoffnung mehr. Meinen Vater haben sie zwar wieder frei gelassen. Aber was wird er machen? Seidelmanns haben ihn ganz sicher nicht wieder in Arbeit genommen.«
Sie erwartete eine Antwort von Engelchen; da diese aber schwieg, fuhr sie fort:
»Weißt Du vielleicht, ob er wieder bei ihnen ist?«
»Er ist nicht dort,« antwortete die Gefragte leise und langsam.
Sie merkte, daß die Tochter noch nichts von dem Tode ihres Vaters wußte, und scheute sich, ihr diese betrübende oder gar wohl erschütternde Nachricht mitzutheilen.
»Nicht?« fragte Gustel. »So hat er wohl gar keine Arbeit?«
»Nein; erarbeitet nicht.«
Sie hatte damit allerdings die Wahrheit gesprochen. Der Schreiber ruhte in einem und demselben Grabe mit seinem Weibe unter der Erde. Sein irdisches Wirken war abgeschlossen; er arbeitete nicht mehr. Seine Tochter aber nahm diese Worte anders und fragte: »O Gott! So ist er daheim bei der Mutter?«
»Ja.«
Auch das war keine Unwahrheit. Er war daheim, in der Heimath, welche uns Alle erwartet. Er war bei der Mutter. Seine Tochter verstand das freilich nicht symbolisch. Sie seufzte tief auf und klagte: »Welch’ ein Elend! Du kennst unsere Armuth, und darum kann ich Dir sagen, daß wir die ganze vorige Woche von einem Topf voll Sauerkraut gelebt haben. Das ist das Allerbilligste, was es giebt. Ich habe gehungert, damit die Mutter nichts davon merken sollte, und wenn sie fragte, ob die kleinen Geschwister gegessen hätten und satt seien, habe ich mit Ja geantwortet, obgleich die armen Kleinen nur eine trockene, harte Brodrinde gehabt hatten. Da stand der Vater noch in Arbeit. Jetzt nun sitzt auch er zu Hause und hat keine Arbeit! Wie soll es da stehen und gehen! Welch’ ein Elend wird es da geben! Sie werden hungern, mehr als zuvor. Und dazu die arme, kranke Mutter!«
Sie weinte leise, aber herzbrechend vor sich hin. Und als Engelchen nichts dazu sagte, fuhr sie nach einer Weile schluchzend fort: »Und nun ich dazu im Gefängnisse!«
»Man wird Dich entlassen,« tröstete Engelchen.
»Entlassen? O nein! Seidelmann wird bei seiner Aussage bleiben, und ich werde wegen Diebstahls bestraft werden.«
Da nahm Engelchen alle ihre Weisheit zusammen und sagte:
»Nein, das wird nicht geschehen! Noch giebt es einen lieben Gott, und noch giebt es gute Advocaten!«
»Ja, wenn man so am lieben Gott festhalten könnte!«
»Das kannst Du! Ich wollte, der alte Papa Hauser wäre da; der würde Dir schon Muth machen. Der hat eine felsenfeste Zuversicht und ist in der Bibel und im Gesangbuche zu Hause. Weißt Du, was er Dir sagen würde?«
»Was?«
»Wo soll ich hingehen vor Deinem Geiste, und wo soll ich hinfliehen vor Deinem Angesichte? Führe ich gen Himmel, siehe, so bist Du da; bettete ich mich in die Hölle, siehe, so bist Du auch da; nähme ich Flügel der Morgenröthe und bliebe am äußersten Meere, so würde doch Deine Rechte mich führen und Deine Hand mich halten! – Gott ist also im Himmel; er ist in der Hölle; er ist am äußersten Meere; er wird also auch hier in der dunklen Zelle bei Dir sein!«
Es war wirklich so Etwas wie Nachbar Hauser’s Geist über Engelchen gekommen. Sie war selbst gefangen; aber sie fühlte, daß ihre Freundin noch unglücklicher sei, und hielt sich verpflichtet, sie zu trösten.
»Ja; Gott kann helfen – wenn er will!« seufzte Gustel vor sich hin.
»O, er kann nicht nur, sondern er will auch! Weißt Du, was Hauser Dir noch sagen würde?«
»Noch einen Bibelvers.«
»Oder einen Liedervers. Etwa:
Hoff, o bedrängte Seele,
Hoff, und sei unverzagt!
Gott wird Dich aus der Höhle,
Da Dich der Kummer plagt,
Mit großen Gnaden rücken.
Erwarte nur die Zeit,