DRITTES KAPITEL
Lebendig begraben
„Trau nicht dem heitren Sonnenlicht,
Das mild hernieder leuchtet,
Und trau der Tauesperle nicht,
Die den Flur befeuchtet!
Hast du denn nicht des Donners Hall
Von weitem schon gehöret?
Bald wird der Tau zum Wogenschwall,
Der Feld und Fluß zerstöret.
Trau nicht dem Menschenangesicht,
In dem du Treu' gelesen,
Und trau auch selbst dem Freunde nicht,
Der dir stets lieb gewesen!
Es kann wohl über Nacht schon sein,
So wird der Freund zum Feinde;
Es war die Liebe ja nur Schein,
Die ihn mit dir vereinte.“
In Mexiko, der Hauptstadt des alten Aztekenreiches, stand in der Nähe des Paseo einer der reichsten Paläste, den die Stadt Montezumas aufzuweisen hatte. Und dieser Palast gehörte einem der bedeutendsten Großgrundbesitzer des Landes, nämlich dem Grafen Ferdinando de Rodriganda y Sevilla.
Dieser saß in seinem Arbeitskabinett, umgeben von allem Luxus eines exotischen Landes, und ging die Rechnungen durch, die ihm sein Sekretär vorgelegt hatte.
Wer den Advokaten Gasparino Cortejo in Manresa oder Rodriganda kannte und hier diesen Sekretär in Mexiko erblickte, der würde über die Ähnlichkeit beider erstaunt gewesen sein – und wirklich: Der Sekretär hieß Pablo Cortejo und war der Bruder des Advokaten Gasparino Cortejo.
Er schien sich gegenwärtig in keiner rosigen Laune zu befinden. Seine lange, hagere Gestalt war demütig zusammengeknickt; seine bleichen, schmalen Lippen preßten sich unmutig nach innen, und aus seinen kleinen Augen funkelte zuweilen unbemerkbar, aber desto giftiger ein Blick zu dem Grafen hinüber, der mit gerunzelten Brauen auf die Papiere schaute.
„Wahrlich, das ist nicht gut“, sagte Don Ferdinando, „das kann ich nicht billigen!“
„Junges Blut hat keine Tugend, Erlaucht!“ entgegnete Cortejo entschuldigend.
Der Graf sah ihn ernst an und antwortete:
„Oh, ich denke, daß junges Blut zwar rauscht und schäumt, aber doch auch Tugend besitzen muß. Und ist das Tugend, was ich hier sehe?“
„Es ist eine kleine Schwäche!“
„So, Ihr nennt es also eine kleine Schwäche, wenn mein Neffe an einem einzigen Abend zwölftausend Pesos im Spiel verliert?“
„Er hat auch oft ähnliche Summen gewonnen, Don Ferdinando.“
„Ah, also spielt er oft? Also ist er ein Gewohnheitsspieler?“ fragte der Graf in zorniger Verwunderung. „Ich werde ihm die Zügel kürzen lassen.“
Er blätterte weiter.
„Was ist das?“ fragte er. „Ist diese Angelegenheit nicht geordnet worden?“
„Don Alfonzo hat die Summe, die Sie ihm dazu gewährten, anderweitig verwenden müssen.“
„Wozu?“
„Er hat mir das nicht mitgeteilt; er ist mir ja keine Rechenschaft schuldig.“
„Rechenschaft allerdings nicht“, sagte der Graf, „aber ich glaube, er könnte es Euch so im Vertrauen mitgeteilt haben. Es will mir überhaupt scheinen, als ob mein Neffe Euch mehr Vertrauen schenkte als mir.“
„Oh, Don Ferdinando, das scheint nur so! Ich erfreue mich allerdings einigen Vertrauens von Seiten Don Alfonzos, aber –“
„Und als ob Ihr“, fuhr der Graf mit scharfer Stimme fort, „von diesem Vertrauen nicht den rechten Gebrauch machtet!“
„Erlaucht!“
„Schon gut. Wenn mein Neffe in so vielen Stücken nicht mein Wohlgefallen besitzt, so seid Ihr allein es, auf den ich die Schuld zu schieben habe. Wollt Ihr etwa nach so langjähriger Dienstzeit entlassen werden?“
Die Brauen des Sekretärs zogen sich wie drohend zusammen, nahmen aber im nächsten Augenblick wieder einen gewöhnlichen Ausdruck ein. Und auch die Antwort erklang im untertänigsten Ton:
„Darf ich mir vielleicht die Ansicht erlauben, daß Durchlaucht sich irren?“
„Ich irre mich nicht“, sagte der Graf streng. „Warum liegt mein Neffe während des ganzen Tages bei Euch? Warum seid Ihr bei ihm, sobald ich Eurer bedarf? Ihr wißt, daß ich nicht gern und nicht viel spreche, wenn ich aber einmal rede, so weiß ich auch, was ich sage. Warum entschuldigt Ihr seine Leidenschaft für das Spiel?“
„Andere junge Herren tun auch so.“
„Das ist für ihn kein Grund, mein Geld zu vergeuden. Und warum gibt er Wechsel mit meiner Unterschrift?“
„Ein kleiner Zufall, Erlaucht!“
„Was!“ brauste der Graf auf. „Das nennt Ihr einen Zufall? Ist der Kredit meines Neffen so gefallen, daß man seine Wechsel nicht mehr honoriert, sondern meinen Namen verlangt? Wer hat meinen Namen auf das Papier gesetzt, er oder Ihr?“
„Er.“
„Er soll es zum letzten Mal getan haben. Und auch Ihr werdet niemals wieder ein Blankett von mir in die Hand bekommen. Hier die letztere Angelegenheit“ – der Graf deutete auf einen der Briefe – „war meinerseits mit fünftausend Piaster beigelegt. Wem habe ich diese Summe gegeben?“
„Mir“, antwortete der Sekretär in kleinlautem Ton, aber mit kochendem Blut.
„Wozu?“
„Ich sollte sie dem Mädchen auszahlen.“
„Jetzt sagt Ihr, daß mein Neffe sie anderweit verwenden mußte, so habt Ihr also ihm das Geld gegeben?“
„Er bat mich darum.“
„Ach so! Der Wunsch des leichtsinnigen Neffen gilt mehr als der Befehl des Oheims, in dessen Dienst Ihr steht! Ich werde meine Maßregeln ergreifen müssen, um mir Gehorsam zu verschaffen. Verstanden?“
Der Graf nahm die anderen Skripturen, eine nach der anderen, auf, um sie durchzulesen. Da plötzlich schoß ihm ein dunkler Blutstrom in das aristokratisch bleiche Angesicht; es war die Röte der Scham und der Entrüstung. Er sprang empor und trat dem Sekretär mit blitzendem Auge entgegen.
„Wißt Ihr, wo Alfonzo sich jetzt befindet?“ fragte er.
„Auf der Hacienda del Erina.“
„Weshalb?“
„Das entzieht sich meiner Kenntnis.“
„Oh, ich wußte es auch nicht, weshalb er auf einmal eine so plötzliche Sehnsucht nach der fernen Hacienda verspürte und warum Ihr die Erfüllung dieser Sehnsucht befürwortetet; jetzt aber sehe ich klar!“
Der Sekretär war doch bleich geworden. Der Graf aber schritt in höchster Erregung im Zimmer auf und ab, dann wandte er sich plötzlich um und fragte:
„Was ist es mit dem Duell?“
„Mit welchem Duell?“ fragte der Sekretär mit der unschuldigsten Miene.
„Cortejo!“ donnerte ihn der Graf an.
„Ich weiß wirklich nichts!“
„Gut! Aber Ihr täuscht mich nicht. Wenn Ihr nicht redet, seid Ihr augenblicklich entlassen. Entschließt Euch kurz!“
Cortejo sah sich in die Enge getrieben. Er konnte nicht weichen und entgegnete also in bittendem Ton:
„Verzeihung, Don Ferdinando! Don Alfonzo hat mir das strengste Schweigen anbefohlen.“
„Wer hat Euch zu befehlen, ich oder mein Neffe? Heraus mit der Sprache!“
„Don Alfonzo ging nach der Hacienda, um einem Streit auszuweichen.“
„Erklärt Euch deutlicher. Graf Embarez schreibt mir hier folgendes:
‚Don Ferdinando!
Ich ersuche Euch, Euren Neffen zu veranlassen, heute über acht Tage auf dem Rendezvous zu erscheinen. Die Zeit ist bereits seit drei Wochen um. Eine solche Angelegenheit erlaubt keine Minute Aufschub. Ist Don Alfonzo nicht zur angegebenen Zeit zur Stelle, so werde ich den Fall ohne alle weitere Rücksicht im ‚Diario oficial‘ und in ‚La Sociedad‘ veröffentlichen. Ich hoffe, daß Euch mehr an der Ehre Eures Hauses als an einem Fetzen Haut Eures Neffen gelegen ist.
Almanzo, Graf Embarez.‘“
„Nun sagt, wie es steht! Liegt etwa eine Forderung zum Duell vor, wie ich nach dem Wortlaut dieser ehrenrührigen Epistel schließen muß?“
„Der Graf hat Don Alfonzo beleidigt.“
„Ah, und mein Neffe hat ihn gefordert?“
„Nein. Der Graf hat Don Alfonzo gefordert.“
„So ist es umgekehrt, mein Neffe hat ihn beleidigt. Gebt Euch um Gottes willen keine Mühe, auch diese Sache zu bemänteln. Hat mein Neffe die Forderung angenommen?“
„Er mußte.“
„Ah! Er mußte! Das heißt, eigentlich wäre er feig genug gewesen, sie nicht anzunehmen! Welch eine Schande! Wo ist das Rendezvous?“
„Am Ufer des Sees von Tezcuco.“
„Und Alfonzo ist nicht erschienen?“
„Graf Embarez ist als der gewandteste Fechter und Schütze bekannt und gefürchtet“, entgegnete der Sekretär mit sichtbarer Verlegenheit.
Da fuhr der Graf mit der Hand nach dem Herzen, es war ihm, als ob er einen Stich in dasselbe bekommen hätte.
„Barmherziger Gott!“ stöhnte er. „Mein Neffe ein solcher Feigling! Meine Ehre ist vernichtet. Er hat eine Forderung akzeptiert und ist aus Angst geflohen! Der Name Rodriganda ist befleckt und geschändet für ewige Zeiten, wenn nichts geschieht, um ihn zu retten.“
Er wanderte abermals im Zimmer auf und ab, dann blieb er stehen und sagte:
„Hört, was ich Euch befehle! Es gehen sofort zwei Kuriere nach der Hacienda ab.“
„Zwei?“
„Ja, damit die Botschaft sicher läuft. Sie haben meinem Neffen zu sagen, daß er sogleich nach Mexiko komme. Hört Ihr? Sogleich!“
„Erlaucht wollen bemerken, daß er binnen drei Tagen unmöglich hier sein kann!“
„Ich weiß das. Ich werde nachher zu dem Grafen fahren und ihm mitteilen, daß ich die Angelegenheit im Namen meines Sohnes ausfechten werde. Nach dem Wortlaut des Briefes hat Alfonzo sich für Säbel entschieden?“
Über das Gesicht des Sekretärs zuckte ein freudiger Blitz.
„Ja“, antwortete er.
„So feig und doch so unvorsichtig. Hätte er Pistolen auf weite Distanz genommen, so brauchte er nicht auszureißen. Geht jetzt schnell und sendet mir die alte Maria Hermoyes.“
Der Sekretär ging, es war ihm, als sei er aus der Hölle erlöst worden. Nach einiger Zeit trat eine alte Frau von sehr würdigem Äußeren bei dem Grafen ein. Sie verneigte sich ehrerbietig und blieb an der Tür stehen.
„Tritt näher, Maria, und setze dich!“ empfing sie Don Ferdinando im leutseligsten Ton, denn die alte Maria Hermoyes war als die treueste Dienerin des Hauses bekannt und wurde als solche vom Grafen behandelt.
Er schritt noch immer im Zimmer auf und ab, es kostete ihm Mühe, seinen Zorn zu besiegen oder zu verbergen. Endlich sagte er:
„Maria, du bist mir treu. Nicht wahr?“
„Don Ferdinando“, beteuerte sie. „Sie wissen, daß mein Leben Ihnen gehört.“
„Ich weiß es. Wirst du mir die Wahrheit sagen?“
„Ich habe Sie noch nie belogen.“
„Ich glaube es, aber es gibt Dinge, bei denen selbst der treueste Diener meint, daß es für seinen Herrn das beste sei, das Richtige und Wahre nicht zu erfahren. Du jedoch wirst mir die Wahrheit sagen?“
„So als ob ich vor dem Beichtvater oder vor Gott stände.“
„Nun gut! Du hast mir damals meinen Neffen von Spanien herübergebracht. Sage mir aufrichtig, ist er wirklich mein Neffe?“
Die Dienerin erschrak sichtlich.
„Mein Gott, welche Frage!“ stammelte sie.
„Antworte!“
„Warum sollte er es nicht sein, Don Ferdinando?“
„Du sollst mir nur mit einem einzigen Wort antworten“, gebot er. „Ja oder nein!“
„Das kann ich nicht!“
„Warum?“
„Gnädiger Herr, darf ich wirklich reden?“
„Ja, ich habe es dir sogar befohlen.“
„Das ist ein Punkt, der mir erst wenig Sorge machte, mit der Zeit sich mir aber immer mehr auf das Herz gelegt hat!“
„Ah! Hast du bereits darüber gesprochen?“
„Zu keinem Menschen“, erwiderte die ehrliche Alte.
„Nun, so rede.“
„Es fiel mir auf, daß Don Alfonzo dem Señor Pablo Cortejo so ähnlich sieht –“
„Bei Gott, das ist mir auch aufgefallen, das eben hat mich auf Gedanken gebracht, die ich nicht wieder loswerden kann.“
„Sodann fiel es mir auf, daß er und Cortejo stets beisammen sind und immer Heimlichkeiten haben.“
„Das weiß ich. Es wird aber anders werden.“
„Und sodann –“ Sie stockte, trotz ihres Alters errötend.
„Nun?“ fragte der Graf.
„Sodann fiel mir noch ein Drittes auf“, fuhr sie fort. „Ich muß nämlich sagen, daß der Bruder des Señor Pablo –“ Wieder stockte sie.
„Sprich nur weiter. Was du sagst, ist nur für mich. Du meinst den Advokaten Gasparino Cortejo in Manresa?“
„Ja. Er ging mir in früheren Jahren ein wenig nach, obgleich ich älter war als er, und da schenkte er mir sein Bild, das ich noch besitze.“
„Und dieses Bild?“
„Es ist das leibhaftige Konterfei des Grafen Alfonzo.“
„Ah, darf ich es einmal sehen?“
„Ja, Erlaucht.“
„So bringe es mir.“
Die Dienerin eilt fort und brachte darauf ein Porträt in Kreidemanier. Kaum hatte der Graf einen Blick auf dasselbe geworfen, so rief er erschüttert:
„Mein Gott, es stimmt! Das ist Alfonzo, wie er leibt und lebt!“
„Ja, das sah ich auch, Don Ferdinando, und das drückte mir fast das Herz ab!“
„Ist jener Gasparino Cortejo verheiratet?“
„Nein.“
„Hat er nie ein ernstes Verhältnis gehabt?“
„Hm! Man spricht nicht davon.“
„Du sollst aber davon sprechen!“ gebot er.
„Sie werden mir zürnen!“
„Warum?“
„Weil – weil –“ antwortete sie stockend, „weil es eine Verwandte von Ihnen betrifft!“
„Ah! Wer ist es?“
„Señorita Clarissa, die später Schwester Clarissa genannt wurde.“
Der Graf fuhr mit dem Bild wieder empor zu den Augen und warf einen langen, scharf prüfenden Blick auf dasselbe.
„Wahrhaftig, es stimmt“, sagte er endlich. „Ich kannte diese Cousine sehr genau. Und jetzt bemerke ich, daß dieser Alfonzo ihr ebenso ähnlich sieht!“
„Das ist auch mir aufgefallen, gnädiger Herr!“
„So? Gut, so laß uns einmal prüfen. Woher weißt du, daß jener Cortejo ein Verhältnis mit dieser frommen Cousine Clarissa hatte?“
„Ich habe sie im Park von Rodriganda überrascht, wo sie miteinander spazierengingen.“
„Weiter weißt du nichts?“
„Oh“, entgegnete die Alte verschämt, „ich war damals eifersüchtig und ging ihnen nach. Ich überraschte sie, als sie sich küßten.“
„Das könnte genügen.“
„Es traf sich stets, daß sie miteinander auf Rodriganda waren. Sie kam aus ihrem Stift und er aus Manresa.“
„Gut. Das wäre also erwiesen. Wie aber nun weiter? Du warst die Amme des kleinen Alfonzo?“
„Ja, sechs Monate, dann entwöhnte ich ihn. Ich sollte auf dem Schloß bleiben, aber es gab da einen Tischler, der mich heiraten wollte, und so wurde ich seine Frau und zog zu ihm.“
„Weiter.“
„Mein Mann war kränklich und starb. Nun stand ich wieder allein. Das war zu der Zeit, in der Sie um den kleinen Alfonzo gebeten hatten. Ihr Wunsch wurde erfüllt, da damals noch ein älterer Knabe lebte, und man fragte mich, ob ich nicht Lust habe, das Kind nach Mexiko zu begleiten. Ich sagte zu, denn ich hatte niemand, der mir lieb war.“
„Wer stellte diese Frage an dich?“
„Gasparino Cortejo.“
„Ah, er wollte eine Zeugin seiner Liebschaft entfernen.“
„Jedenfalls, obgleich ich daran erst später gedacht habe.“
„Du kamst also von da an bis zur Abreise nicht wieder auf das Schloß?“
„Nein, denn viel Zeit gab es nicht, da das Schiff segelfertig war. Ich wurde erst am Morgen der Abreise auf das Schloß verlangt und saß dann mit dem Grafen, der Gräfin und Alfonzo im Wagen, der uns nach Barcelona brachte. Dort fanden wir Señor Pedro Arbellez, der jetzt Haziendero ist, damals aber noch Ihr Inspektor war. Ihm wurde ich mit dem Kind übergeben.“
„Wurdet ihr von dem Grafen und der Gräfin auf das Schiff begleitet?“
„Nein. Beide fuhren gegen Abend wieder ab, da der Abschied die liebe gnädige Frau so sehr anzugreifen schien. Dann bin ich von dem Kind nicht wieder fortgekommen. Aber am Morgen schien es mir, als ob der Kleine ein anderes Gesicht habe.“
„Ah! Weiter nichts?“
„O doch, noch etwas, aber nur eine Kleinigkeit. Wenn man arm ist, so ist man neugierig auf die Sachen, die reiche Leute besitzen. Als ich den Knaben zur Ruhe legte und entkleidete, sah ich mir alles, was er trug, genau an. Und am anderen Morgen war es mir, als ob das Hemdchen eine andere Nummer habe als am Abend vorher.“
Der Graf horchte auf.
„Es schien dir nur so?“ fragte er gespannt. „Oder war es dir gewiß?“
„Gewiß nicht. Ich hatte die Nummer zwar ganz genau gesehen, aber nicht die Absicht gehabt, sie mir zu merken; dennoch aber möchte ich jetzt behaupten, daß sie eine andere geworden war.“
„Das wäre nun freilich von der allerhöchsten Wichtigkeit. War deine Tür verschlossen?“
„Nein.“
„In welchem Gasthof war es? Ich habe den Namen wieder vergessen.“
„Im Gasthaus ‚L'Hombre grand‘ in Barcelona.“
„Weißt du nicht, wer an diesem Abend noch dort logierte?“
„Ich erkundigte mich am Morgen, aber ganz zufällig und nicht etwa, weil ich an eine Verwechslung des Kindes gedacht hätte. Aber was ich erfuhr, erschien mir in späterer Zeit doch auffällig.“
„Wieso?“
„Es hatte nicht weit von uns ein Mann logiert, zu dem später zwei andere Männer kamen; sie alle drei waren unbekannt und hatten bereits am frühesten Morgen das Haus wieder verlassen. Der eine hatte dabei ein Bündel unter dem Arm getragen.“
„Wer hat dies gesehen?“
„Eine Magd, die Zahnschmerzen hatte und nicht schlafen konnte.“
„Danach könnte also der Knabe samt der Wäsche, wenigstens samt dem Hemd, verwechselt worden sein. Hätte Cortejo auf Rodriganda zu der Kinderwäsche gekonnt?“
„Er nicht, aber die Schwester Clarissa.“
„Das ist ganz dasselbe. Gibt es noch etwas, was du über diese Angelegenheit zu sagen hättest?“
„Sicheres nicht, aber Kleinigkeiten, die man erst nicht beachtet, die später aber dennoch auffällig erscheinen.“
„Nenne sie mir getrost. In solchen Fällen sind Kleinigkeiten oft von hohem Wert.“
„Nun, der kleine Knabe sprach nie von seinen Eltern, während er doch der Trennung wegen gerade nach ihnen hätte weinen sollen.“
„Ah!“
„Ja, es war, als sei er gar nicht bei Eltern gewesen.“
„Das ist ein wichtiger Punkt.“
„Und wenn ich einmal von dem Grafen und der Gräfin begann, so sagte er selten Papa und Mama, sondern meist nur Vater und Mutter.“
„Auch das ist wertvoll!“
„Er redete überhaupt nicht gern von der Heimat. Es war, als sei es ihm verboten, von ihr zu sprechen. Ferner hörte er sehr oft nicht auf den Namen Alfonzo, und es war, als sei er bisher mit einem anderen gerufen worden.“
„Mein Gott, das alles sagst du mir erst jetzt?“
„Oh, das fiel mir alles zuerst gar nicht auf. Ich war ein einfaches, dummes Ding und hatte gar keinen Verdacht. Hier in Ihrem Haus wurde ich ein klein wenig klüger, und als ich dann später die wunderbare Ähnlichkeit bemerkte, von der wir vorhin gesprochen haben, dann erst stellte sich der Verdacht ein, und ich begann nachzudenken, aber zu spät!“
„Vielleicht ist es noch nicht zu spät. Gottes Wege sind sehr oft wunderbar und unerforschlich.“
„Ferner fiel mir auf, daß der Knabe während der Reise mehr nach Señor Pablo Cortejo als nach Ihnen fragte, und endlich habe ich hier bemerkt, daß beide sich duzen, wenn sie denken, daß sie allein sind.“
„Wirklich?“ fragte der Graf hastig.
„Ja. Ich habe sogar einmal gehört, daß der junge Graf den Sekretär Onkel nannte.“
„Sagst du die Wahrheit?“
„Ja. Es war im Garten, und die beiden hatten keine Ahnung davon, daß ich sie beobachtete.“
„Weiter!“
„Das ist alles, Don Ferdinando. Ich weiß nichts weiter.“
„Oh, es ist genug. Ich habe jetzt die Überzeugung, daß hier ein Schurkenstreich begangen ist. Aber wehe ihnen!“
„Ich soll doch schweigen über das, was wir soeben gesprochen haben, nicht wahr, gnädiger Herr?“
„Natürlich! Sie dürfen nicht erfahren, daß wir eine Ahnung haben, sonst würden sie den Faden zerreißen, der uns durch das Geheimnis leiten soll. Aber wenn es so ist, wie wir denken, wo ist dann der richtige Knabe Alfonzo?“
„Den haben jene drei Männer mit fortgenommen.“
„Und wohl gar getötet?“
„O mein Gott!“
„Ich werde es erfahren, ich muß es erfahren!“ sagte der Graf zornig. „Also darum ist dieser Alfonzo so aus der Art geschlagen, und darum konnte in mir kein verwandtschaftliches Gefühl für ihn aufkommen. Aber er ist mein Neffe vor den Augen der Welt, ja, ich habe ihn stets meinen Sohn genannt und nennen lassen; ich muß also auch heute wieder für ihn eintreten. Gehe, meine gute Maria, und sage dem Kutscher, daß er anspannen soll. Wenn ich dich in dieser Angelegenheit wieder brauche, werde ich dich rufen lassen.“
Die Alte entfernte sich.
Der Graf aber schloß die Papiere, die ihm so viel Ärger bereitet hatten, wieder in seinen Schreibtisch ein und ging hinab vor das Portal, um in die kostbare Equipage zu steigen.
„Zum Grafen Embarez!“ gebot er dem Kutscher.
Die Karosse des Grafen Rodriganda hielt bald vor dem Haus des Grafen. Don Ferdinando ließ sich melden und wurde angenommen. Der Graf, ein noch junger Mann, empfing ihn mit ausgesuchter, aber dabei doch kalter Höflichkeit und bot ihm einen Sessel an, während er selbst stehen blieb.
Dies gab dem Grafen Rodriganda Veranlassung, den Sessel auszuschlagen und auch stehen zu bleiben.
„Ich erhielt heute eine Zuschrift von Ihnen“, begann er.
Embarez verbeugte sich zustimmend.
„Und hatte Veranlassung, mich über den Ton, in dem sie verfaßt ist, zu wundern.“
„Oh, dieser Ton ist sehr natürlich.“
„Ihnen vielleicht, mir aber nicht. Ich pflege höflich zu sein gegen jedermann.“
„Ich ebenso, wenn er es wert ist.“
Rodriganda trat einen Schritt zurück.
„Sie wollen sagen, daß ich den Wert, den Sie meinen, nicht besitze?“ fragte er scharf.
„Von Ihnen war keine Rede.“
„Aber der Brief war an mich gerichtet.“
„Und handelte von Ihrem Neffen.“
„Ich bitte um Aufklärung. Was haben Sie mit ihm?“
„Eine Ehrensache, denn er beleidigte meine Schwester, darauf forderte ich ihn auf Degen, und er nahm die Forderung an.“
„Wann sollte das Duell stattfinden?“
„Drei Tage später. Leider erschien er aber nicht, und ich vermute, daß es ihm scheint, als ob seine Ehre nicht einen Degenstoß wert sei. Oder vielleicht ist er auch feig. Ich muß es wenigstens glauben.“
Rodriganda war bis in die tiefste Seele getroffen, dennoch behauptete er seine Ruhe und erwiderte:
„Sie irren, Graf, und ich muß Ihnen bemerken, daß es mir nicht edel erscheint, einen Unschuldigen, wie ich doch in dieser Sache bin, zu kränken. Ich teile Ihnen mit, daß mein Neffe gezwungen war, einen Ausflug in einen verrufenen Teil des Landes zu machen. Unter solchen Umständen kann man die ganz feste Absicht haben, sich zur rechten Zeit zu stellen, und doch daran verhindert sein. Ich an Ihrem Platz hätte höflich bei dem Oheim angefragt, ehe ich gewagt hätte, einen Ehrenmann zu kränken, der Sie niemals beleidigt hat und an dessen Namen nicht der geringste Makel haftet.“
Diese Worte machten Eindruck auf den Gegner. Er erwiderte:
„Was ich schrieb, galt dem Neffen!“
„Das ist keine Ausrede. Sie halten mich für den Vertreter des Neffen. Nun wohl, wenn Sie die Worte an mich richten, die ihm gelten, so ersuche ich Sie, auch die Säbelhiebe gegen mich zu richten, die Sie ihm zugedenken.“
„Ah! Sie meinen –?“
„Daß ich an Stelle meines Neffen Ihre Forderung akzeptiere.“
„Graf, das war nicht meine Absicht“, sagte Embarez schnell.
„Aber die meinige.“
„Ich bitte Sie, zurückzutreten!“
„Und ich ersuche Sie, anzunehmen!“ versetzte Rodriganda ernst, fast drohend.
„Wohl! Wenn Sie darauf beharren, so bin ich ja gezwungen.“
„Wann beliebt es Ihnen?“
„Wann Sie Zeit haben.“
„Morgen?“
„Haben Sie es so eilig, zu sterben, Don Ferdinando?“ fragte Embarez sarkastisch.
„Mein Leben steht in Gottes Hand“, antwortete der Gefragte ruhig.
„Welche Waffen wählen Sie?“
„Als Stellvertreter meines Neffen muß ich an seiner Wahl festhalten, also Degen, auch den Ort bestimme ich, den mein Neffe gewählt hat.“
„Der Sekundant?“
„Welcher Herr diente meinem Neffen?“
„Vicomte de Lorriére.“
„Ich werde Ihnen diesen Herrn sofort senden.“
„Und ich werde ihn erwarten.“
„So sind wir zu Ende, und ich bitte Sie, mich zu entlassen.“
Don Ferdinando ging und fuhr nach der Wohnung des Vicomte de Lorriére. Dieser war fürchterlich darüber aufgebracht, daß Alfonzo nicht erschienen war, doch nahm er Rücksicht auf die Ehrenhaftigkeit Don Ferdinandos und erklärte sich bereit, worauf der Graf Rodriganda nach Hause zurückkehrte.
Er schrieb noch während des ganzen Nachmittags und ließ am Abend die treue Maria zu sich rufen. Sie glaubte, daß er sie wieder wegen des Kindestausches sprechen wolle, fand sich aber enttäuscht.
„Maria“, sagte er, „ich werde dir ein Geheimnis anvertrauen, und du wirst es nicht verraten!“
„O Herr, ich werde gewiß schweigen“, erwiderte sie.
„Du weißt doch, was ein Duell ist?“
„Ja.“
„Ich werde mich morgen früh schlagen.“
„Ist's wahr?“ fragte sie erschrocken. „O mein lieber Don Ferdinando, das werden Sie nicht tun.“
„Ich muß“, antwortete er. „Dieser Alfonzo hat eine Forderung erhalten und ist feig entflohen. Um nun die Ehre meines Namens zu retten, muß ich für ihn eintreten.“
„O mein Gott, er wird der Mörder seines Oheims sein.“
„Nein. Ich verstehe den Degen gut zu führen, wenn ich auch kein Raufbold bin. Ich hoffe, daß ich unverletzt bleibe. Aus Vorsicht aber habe ich mein Testament gemacht –“
„Ich denke, das ist bereits längst fertig?“ fragte sie naiv.
„Ja, das, worin ich Alfonzo zum Universalerben einsetzte. Das wird jedoch jetzt anders. Ich habe Mißtrauen gefaßt und andere Bestimmungen getroffen. Hier ist das neue Schriftstück. Du sollst es mir aufbewahren.“
„Ich? Ach, gnädiger Herr, ich armes Weib –!“ sagte sie weinend.
„Du bist treu und die einzige, auf die ich mich verlassen kann. Kehre ich morgen zurück, so gibst du es mir wieder. Bleibe ich aber, so übergibst du es dem Gouverneur, der dann die nötigen Schritte tun wird. Gute Nacht.“
Die Alte wollte Widerspruch erheben, er aber schob sie hinaus, um nicht in eine weiche Stimmung zu geraten, die ihm ja nichts nützen konnte. –
Als Pablo Cortejo vorher den Grafen verließ, fertigte er zunächst die beiden Kuriere ab, dann begab er sich nach seiner Wohnung.
Er war verheiratet gewesen, und sein längst verstorbenes Weib hatte ihm ein einziges Kind, eine Tochter, hinterlassen. Diese war sein Abgott, obgleich sie überhaupt nichts Göttliches an sich hatte.
Sie war lang und hager wie ihr Vater, starkknochig, mit scharfen Gesichtszügen und eckigen Bewegungen. Ihr Teint war wachsgelb, die Zähne fehlten ihr bereits zur Hälfte, und ihre Augen glichen den Augen der Eule, wenn sie im Sonnenlicht sitzt und gezwungen ist, sie zu öffnen.
Pablo Cortejo ging nicht in seine Arbeitsstube, sondern suchte seine Tochter auf, die auf dem Hofgang des Hauses, wo eine erquickende Kühle herrschte, in einer Hängematte lag und Zigaretten rauchte.
„Ah, Papa, was wollte der Graf zu so ungewöhnlicher Stunde?“ fragte sie.
„Mir die Faust in das Auge schlagen“, antwortete er grimmig.
„Worum handelte es sich denn?“
„Um was anderes als um Alfonzo?“
„Hm! Er ist doch sein Neffe!“
„Wie es scheint. Oh, wüßte der Alte, wie es steht. Ich möchte ihn sehen. Zunächst kam die Spielschuld aufs Tapet, dann diese verdammte Abfindungssumme für die damalige Liebelei und endlich gar die Duellgeschichte, an der nur du allein die Schuld trägst.“
„Ich?“ fragte das Mädchen verwundert. „Habe ich etwa zu der Forderung Veranlassung gegeben?“
„Nein, aber du gabst nicht zu, daß Alfonzo sich stellte, dir war um sein teures Leben bange – und ihm selbst wohl noch mehr.“
„Was hat dies mit der heutigen Affäre zu tun?“
„Graf Embarez hat Don Ferdinando geschrieben.“
„Donnerwetter!“
Dem Sekretär fiel dieser unweibliche Fluch seiner Tochter nicht auf, er fuhr fort:
„Ja, das Donnerwetter habe ich bekommen. Er sprach vom Absetzen, Fortjagen und allem möglichen.“
„Das wagt er nicht!“ sagte sie geringschätzig. „Alfonzo würde es nicht zugeben.“
„Pah! Der Graf will ihm die Zügel kürzer ziehen. Er behauptet geradezu, daß ich ihm seinen Neffen verderbe.“
„Du nicht, aber ich“, meinte die Dame mit Selbstbewußtsein.
„Da hast du vollständig recht. Übrigens hat der Brief des Grafen Embarez eine Wirkung gehabt, an die ich nie gedacht hätte. Es kann zu unserem Glück sein: Don Ferdinando wird sich an Alfonzos Stelle duellieren.“
Das Mädchen war mit einem Sprung aus der Hängematte heraus.
„Wann?“ fragte sie.
„Ich weiß es nicht, jedenfalls aber baldigst, denn der Graf ist nicht gewöhnt, solche Sachen aufzuschieben.“
„Viktoria, wenn er erschossen würde, Vater!“
„Erstochen.“
„Ah, es ist ein Säbelduell? Das ist unter Umständen noch gefährlicher.“
„Wir hätten dann sofort gewonnen. Das Testament ist ja gemacht, und Alfonzo ist der Erbe.“
„Und ich mit!“ lachte das Mädchen.
„Ja, du mit. Oh, es ist ein schlauer Plan, den sich mein guter Bruder Gasparino da drüben in Rodriganda ausgedacht hat. Er will für sich und seinen Sohn alles haben, und für uns soll nur so ein Gnadenteilchen abfallen, aber wir sind ihm an Schlauheit gewachsen. Du erbst mit, dabei bleibt es.“
„Ich bin neugierig, was Alfonzo zu unserem Vorschlag sagen wird.“
„Ja sagt er sicherlich nicht.“
„Warum nicht? Meinst du vielleicht, daß ich nicht schön genug bin?“ fragte sie pikiert.
„Das meine ich nicht“, erwiderte er. „Aber wer ein Graf wird, der heiratet eine Gräfin!“
„Will ich denn etwas anderes? Wenn er mich nimmt, so bin ich ja eine Gräfin.“
„Hm, deine Schlüsse sind nicht ganz so dumm, dennoch aber wird es Kampf geben, ehe er einwilligt.“
„Er muß sich ergeben, entweder der Liebe oder dem Zwang.“
„Aber wenn nun Don Ferdinando im Duell nicht fällt?“
Cortejos Tochter blickte lange zu Boden und erwiderte:
„Oh, ihr Männer, was seid ihr doch für Schwächlinge!“
Das Auge ihres Vaters blickte einen Moment forschend in ihr Gesicht, dann sagte er:
„Du meinst, er muß fallen?“
„Ja.“
„Wenn nicht durch den Säbel –“
„Dann durch etwas anderes. Wie lange soll man warten?“
Es zuckte ein Zug grausamer, diabolischer Habgier über ihr häßliches Gesicht.
„Ja, warten“, meinte ihr Vater. „Wer länger wartet, der wird vielleicht gar fortgejagt.“
„So handle!“
„Meinst du?“
„Jawohl! Soll ich dir helfen?“
„Vielleicht“, antwortete er geheimnisvoll.
„Ah! Du hast bereits einen Entschluß gefaßt?“ fragte sie. „Welchen?“
„Ich wollte schon, ehe ich zum Grafen gerufen wurde, mit dir darüber sprechen. Hier, lies einmal diesen Brief meines Bruders Gasparino.“
Sie riß ihm den Brief, den er aus der Tasche gezogen hatte, förmlich aus der Hand. Ihre Augen flogen über das Papier hinweg und glühten bei jeder weiteren Zeile immer unheimlicher. Endlich legte sie das Papier zusammen, gab es dem Vater zurück und sagte:
„Also sterben soll er. Gut.“
„Der Plan hat deinen Beifall?“
„Nicht ganz, mir gefällt nicht, daß er wieder aufwachen soll. Weg mit ihm, für immer.“
„Aber er wird ja fortgeschafft.“
„Das ist nicht so sicher wie der Tod.“
„Oh, wer einmal dem Seeräuberkapitän Henrico Landola in die Hände fällt, der ist noch schlimmer als tot. Wer weiß, was Gasparino noch nebenbei bezweckt, aber auch ich scheue mich, zum Mörder, gerade zum Mörder an einem Mann zu werden, dem wir doch so viel zu verdanken haben.“
„Zu verdanken? Wo denkst du hin? Du arbeitest doch für ihn! Aber ich will hier nichts weiter dagegen sagen, als daß überhaupt nichts daraus werden kann, auch wenn wir wollen. Wer gibt uns denn ein solches Gift?“
„Der Apotheker allerdings nicht.“
„Gibt es denn überhaupt ein Gift, das so tötet, daß der Tote nach einer bestimmten Zeit wieder erwacht?“
„Es tötet nicht, sondern es versetzt nur in Scheintod. Ich kenne einen, dem alle Gifte bekannt sind und der einen geheimen, einträglichen Handel damit treibt.“
„Wer ist es?“
„Ein alter Indianer draußen in Santa Anita. Ich werde mit ihm sprechen.“
„Aber erst nachdem das Duell entschieden ist! Wie steht es mit Alfonzo?“
„Ich habe ihn bereits vor zwei Tagen durch einen Boten von dem Nötigen benachrichtigt. Heute befahl der Graf, gleich zwei Kuriere nach ihm zu senden, diese werden ihn bereits unterwegs treffen. Er kommt also wieder, und zwar in einigen Tagen.“
„Gott sei Dank, so habe ich ihn wieder.“
Ihre Augen glühten freudig auf. Man sah, dieses Mädchen hatte Alfonzo wirklich lieb, aber in ihrer Seele steckte ein Vulkan von Leidenschaften verborgen. Wehe ihm, wenn er diese Liebe von sich wies. –
Am anderen Morgen hatte die Sonne den Tau noch nicht von der Erde geküßt, als Graf Ferdinando de Rodriganda mit seinem Sekundanten, dem Vicomte, die Stadt Mexiko verließ, um nach dem See von Tezcuco zu reiten. Die beiden Señores trugen ihre mexikanische Nationaltracht, den großen lichten Sombrero, den Hut mit steifer, breiter Krempe, der, mit Goldschnüren verziert, die Schultern überragte, die dunkle Jacke mit den vielen kleinen Silberknöpfen, die reich in Gold und Silber gestickten Zapateros, die über das gewöhnliche Beinkleid von unten her über das Knie gezogen und mit einem Gurt um den Leib befestigt werden.
Auch der Sattel war mit Gold und Silber verziert, der große Sattelknopf aber und die Rücklehne mit Silber beschlagen, Mundstück und Kopfzeug ebenso geschmückt. Die Zügel bestanden aus einer bunten seidenen Schnur und die großen Radsporen aus Silber. Hinter der Sattellehne war die bunte Serape (Decke) festgeschnallt, und hinter derselben fiel zu beiden Seiten des Pferdes ein Bocksfell tief herab, das den Pistolen zum Schutz diente. Auch das Lasso hing am Sattel.
Die beiden Señores sprachen kein Wort miteinander. Was zu sprechen gewesen war, das hatte man gesprochen, und der Vicomte ahnte nur zu wohl, was in der Seele des Grafen vorgehen müsse, als daß er ihm durch seine leichte Unterhaltung hätte beschwerlich fallen mögen.
Als sie die bestimmte Stelle des Sees erreichten, war der Gegner bereits da. Er hatte den Arzt, seinen Sekundanten und einen Unparteiischen mitgebracht. Beide Gegner verbaten sich jeden Versuch der Aussöhnung und standen sich bald mit den blanken Waffen gegenüber. Das Zeichen wurde gegeben, und der Kampf begann.
Wenn Graf Embarez geglaubt hatte, mit Rodriganda schnell fertig zu werden, so hatte er sich geirrt. Don Ferdinando war ein geschickter Fechter, es gelang ihm bereits im ersten Gang, den Gegner zu verwunden, was diesen aber nur mutiger machte, so daß er im zweiten Gang alle Geschicklichkeit und Kraft anwandte, um Revanche zu nehmen. Er war geübter als Rodriganda, es gelang ihm eine Finte, und sein Degen fuhr Don Ferdinando in die Brust.
„Ich bin verwundet!“ rief dieser und sank zur Erde.
Der Arzt, der rasch hinzusprang und die Wunde untersuchte, erklärte sie für nicht lebensgefährlich, aber doch bedeutend genug, um den Kampf zu beenden. Graf Embarez erklärte sich nun mit dieser Satisfaktion zufrieden und ritt davon. Don Ferdinando wurde darauf sorgfältig verbunden und in den Wagen des Unparteiischen gesetzt, in dem man ihn nach Hause fuhr.
Als er dort ankam, wollte Cortejo mit seiner Tochter ein Klagegeschrei anstimmen, doch wurden sie auf einen Wink des Grafen vom Arzt hinausgewiesen. Der Graf wünschte bloß die alte Marie bei sich zu sehen. Diese erschien und wurde mit seiner Pflege betraut. Als der Arzt ihr die nötigen Instruktionen gegeben und sich entfernt hatte, sagte sie:
„Ich habe das Testament mit, gnädiger Herr.“
„Es war unnötig“, lächelte er. „Hier hast du den Schlüssel. Schließe es ein.“
„Wo?“
„Dort im mittleren Fach des Schreibtisches.“
Marie tat es mit einer Sorgfalt und Umständlichkeit, die ebenso groß war wie das Vertrauen, das sie genoß.
Anders war es in der Wohnung des Sekretärs. Dort saßen Vater und Tochter in düsterem Groll beisammen.
„Was haben wir ihm getan!“ zürnte Josefa, die Tochter.
„Nichts, gar nichts!“ antwortete der Vater. „Diese alte Amme hat es verstanden, sich einzuschmeicheln, ohne daß ich eine Ahnung hatte.“
„Und dieser Graf Embarez, der ein so guter Fechter sein soll, ist ein ausgezeichneter Tölpel. Konnte er seinen Stich nicht etwas tiefer richten!“
„Ich werde jetzt gleich hinaus nach Santa Anita reiten.“
„Ja, man braucht uns ja nicht.“
„Und die Wunde gibt uns die beste Sicherheit gegen Entdeckung.“
„Ja, reite hinaus! Es ist jede Stunde für uns verloren.“
„Ich wollte eigentlich erst die Rückkehr Alfonzos abwarten.“
„Das Gift kannst du doch bestellen?“
„Das ist richtig. Also fort, hinaus!“
Pablo Cortejo ließ satteln und ritt die lange Straße des Paseo de Bucareli hinab und immer weiter, bis er im Süden der Stadt den Paseo de la Viga erreichte, auf dem man zu den beiden Dörfern Santa Anita und Ixtacalco gelangt, die ausschließlich von Indianern bevölkert sind.
Diese roten Leute fuhren auf flachen Kähnen, mit denen sie den Kanal von Chalco befahren, Früchte und Blumen, Mais und Heu nach der Stadt. Frauen in grellroten Röcken liegen nebst Kindern und Hunden neben der reichen Ladung. Eine Decke, an zwei Stöcken befestigt, schützt sie gegen die glühenden Strahlen der Sonne.
Links davon dehnen sich die berühmten Chinampas, die schwimmenden Gärten der Indianer. Der Spiegel des Sees von Chalco war ursprünglich hell und klar; die Indianer aber bedeckten ihn mit Flößen und Strohmatten, auf die sie Erde legten, um sie mit Gemüse und Blumen zu bepflanzen. Diese Pflanzen haben mit ihren Wurzeln festen Fuß gefaßt, so daß die Flöße nicht mehr von den Wellen getrieben werden können und nun kleine, von Rosenhecken umgebene Inseln bilden, auf denen das schönste Gemüse und Früchte geerntet werden.
Diese Indianer sind nicht wild, sondern eifrige Katholiken und werden Indios fideles genannt, im Gegensatz zu den Indios bravos, den freien, wilden Indianern. Sie haben aus ihrem früheren Glauben manche Anschauung und manchen Brauch mit herüber in ihr Christentum gebracht, es gibt welche unter ihnen, die mehr zu fürchten sind als ein freier Comanche oder Apache.
Ein solcher war Benito, der Giftdoktor, der eigentlich Malito hätte genannt werden sollen, denn er hatte die Kenntnis aller inländischen Gifte, ihrer Zubereitung, Anwendung und Wirkung von seinen Vätern ererbt, war gewissenlos genug, einen ausgedehnten Handel damit zu treiben, und hatte vielleicht mehr Menschen ermordet, als unter den Waffen ‚Büffelstirns‘ und ‚Bärenherzens‘ im ehrlichen Kampf gefallen waren.
Seine Hütte war jedermann bekannt; auch Cortejo kannte sie. Er lenkte jetzt sein Pferd in den kleinen Hof, der neben ihr lag, damit die Besucher hier unbeachtet absteigen konnten, und klopfte an.
Es wurde ihm erst nach wiederholtem Klopfen geöffnet. Das häßliche Gesicht eines alten Weibes grinste ihm entgegen und fragte:
„Was wollt Ihr?“
„Ist Benito, der Arzt, zu Hause?“
„Nein. Ich weiß auch nicht, wo er ist und wann er zurückkommt.“
Da griff Cortejo in die Tasche, zog einen blanken Peso hervor, zeigte ihn der Alten und fragte zum zweiten Mal:
„Ist Benito zu Hause?“
„Vielleicht. Ich will einmal nachsehen. Gebt das Geld her!“
„Das bekommst du nur dann, wenn er zu Hause ist.“
„Er ist da“, sagte sie nun rasch. „Her damit!“
„Kann ich zu ihm?“
„Ja. Kommt.“
Cortejo reichte der Alten das Silberstück und trat ein. Sie schloß hinter ihm wieder zu und führte ihn in einen kleinen Raum, der einem Ziegenstall ähnlicher sah als einer menschlichen Wohnung.
„Setzt Euch nieder“, sagte sie. „Ich werde ihn holen.“
Als sie verschwunden war, sah er sich in dem Loch nach einem Ding um, auf das er sich der erhaltenen Aufforderung nach setzen konnte, fand aber nichts als einen Haufen weicher Pflanzen, auf den er sich nun niederließ.
Er mußte wieder einige Zeit warten, bis der Indianer erschien. Er war ein kleiner, hagerer Kerl mit scharfen Zügen und einer fürchterlichen Habichtsnase, auf der eine riesige Brille saß.
„Was wollt Ihr?“ fragte er.
„Kann man offen mit Euch sprechen?“ antwortete der Sekretär.
„Ja, aber auch heimlich.“
„Ihr verkauft Arzneien?“
„Ja.“
„Gute und böse?“
„Sie sind alle gut.“
„Ich meine giftige und nicht giftige.“
„Ja. Wollt Ihr etwa über die giftigen mit mir reden?“
„Allerdings.“
„Da muß man vorsichtig sein. Wer seid Ihr?“
„Das zu wissen ist nicht nötig; aber daß ich kein Alguacil (Polizist) bin, das kann ich Euch beschwören.“
„Gut! Habt Ihr Geld? Wer mit mir über die Gifte reden will, hat zehn Pesos (45 Mark) zu geben. Wollt Ihr sie bezahlen?“
„Ja.“
„Her damit!“
Cortejo griff in die Tasche, nahm die Summe aus dem Beutel und gab sie ihm. Der Indianer steckte die Summe mit einem freundlichen Grinsen in seine weiten Hosen und sagte dann:
„Nun könnt Ihr fragen!“
„Gibt es ein Gift, das nur scheintot macht?“ fragte Cortejo.
„Ja, es gibt sogar mehrere. Wer soll es erhalten?“
„Ein Mann, der ungefähr fünfzig Jahre alt und sehr reich ist.“
„Soll er wieder erwachen?“
„Ja, nach einer Woche.“
„Wann wollt Ihr es haben?“
„Gleich heute, jetzt; ich gebe, was Ihr verlangt.“
„Es kostet hundert Pesos.“
„Ich gebe sie.“
„Gut; das ist ein kurzer, schöner Handel. Wartet ein wenig, bis ich es hole und bringe.“
Benito entfernte sich und war dieses Mal über eine Stunde fort. Als er wiederkam, hatte er ein kleines Tütchen in der Hand, das er dem Sekretär entgegenstreckte.
„Hier ist es!“ sagte er.
Cortejo nahm das Tütchen, das kaum den vierten Teil eines Fingerhutes faßte, und fragte:
„Das ist es wirklich? Darf ich es öffnen?“
„Meinetwegen!“
Cortejo machte das Papier auf. Es enthielt eine geruch- und farblose Masse, die fast aussah wie zu Mehl zerstoßenes Glas.
„Darf man es ohne Schaden berühren?“
„Es wirkt nur im Magen“, lautete die Antwort.
„Und wie habe ich es zu geben?“
„Ihr löst es in Wasser auf und tut dieses Wasser in das Essen oder Getränk; es kann sein, was es wolle; es wirkt bereits in einer Nacht.“
„Gibt es ein Mittel dagegen?“
„Nein. Auch ist der Genuß anderer Arzneien der Wirkung nicht hinderlich.“
„So werde ich es behalten und bezahlen. Ihr aber haftet mir für die Wirkung. Versteht Ihr?“
„Ich schwöre nicht, aber Ihr werdet sehen, daß dieses Pulver hält, was ich verspreche!“
„Wäre dies nicht der Fall, so würde ich mir mein Geld wiederholen und Euch außerdem noch als Giftmischer anzeigen. Ihr wißt, daß darauf die Todesstrafe steht!“
Der Giftmischer lächelte überlegen und entgegnete:
„Wer ist schuldig, Señor? Derjenige, der das gemacht hat, oder der, welcher es dem Menschen eingibt? Ich denke, der zweite noch mehr als der erste. Gebt mir das Geld und geht!“
Cortejo zog nun hundert Pesos hervor, die etwa 450 Mark betragen, und gab sie ihm; dann steckte er das Gift sorgfältig zu sich, verließ das Haus und bestieg draußen sein Pferd, um eiligst davonzureiten, denn wen man aus Benitos Wohnung kommen sah, den hatte man sofort in Verdacht, ein unheimliches Geschäft abgeschlossen zu haben.
Als Cortejo den Paseo de la Viga zurückritt, kam ihm ein Reiter entgegen, der den Sitz auf dem Pferd nicht gewöhnt zu sein schien. Er hielt überrascht sein Pferd an. Diesen Mann kannte er und hatte ihn hier nicht vermutet. Er trug eine leichte Sommerkleidung und auf dem Kopf einen riesenhaften Sombrero.
„Ist es möglich! Seid Ihr es, oder seid Ihr es nicht, Señor Henrico Landola?“ fragte er.
„Ja, ich bin es“, antwortete der Gefragte.
„Aber was tut Ihr hier auf dem Paseo?“
„Ich reite Euch entgegen.“
„Mir?“ fragte Cortejo erstaunt.
„Ja. Wißt Ihr denn nicht, daß ich in Vera Cruz gelandet bin? Habt Ihr den Brief Eures Bruders nicht erhalten?“
„Ich habe ihn erhalten.“
„Nun, so ist ja alles richtig. Ich bin durch das verdammte Räuber- und Fieberland geritten, um das Geschäft mündlich mit Euch zu besprechen. Ich suchte Euch auf und fand aber nur Eure Tochter, die mir sagte, daß ich Euch auf dem Paseo sicher begegnen würde. Das ist auch geschehen.“
„Wie unvorsichtig!“
„Unvorsichtig? Inwiefern?“
„Insofern, als Euch niemand sehen darf. Es kennt Euch hier zwar niemand, aber der Teufel treibt sein Spiel oft wunderbar. Zwei Männer, die ein Geschäft wie das unsrige abzumachen haben, dürfen von keinem Menschen zusammen gesehen werden.“
„Gut! Mir auch recht!“
„Reitet jetzt spazieren, wohin es Euch beliebt, und kommt heute abend um zehn Uhr an dieselbe Stelle, an der wir uns hier getroffen haben!“
„Schön, ich werde mich einfinden!“
Landola ritt weiter, und der Sekretär trabte seiner Wohnung zu. Als er zu Hause ankam, erwartete ihn seine Tochter mit Spannung und fragte:
„Hast du ihn getroffen und das Mittel erhalten?“
„Allerdings. Aber verteufelt teuer ist es!“
„Erzähle!“
Der Sekretär berichtete Josefa nun von seinem Besuch bei Benito, dem Giftdoktor, in kurzen Worten und sagte dann:
„Aber wie kannst du den Fehler machen, mir den Kapitän entgegenzuschicken!“
„Einen Fehler? Inwiefern?“
„Es darf mich kein Mensch hier mit ihm sehen!“
„Ein größerer Fehler wäre es gewesen, wenn ich ihm erlaubt hätte, hier auf dich zu warten.“
„Wollte er das?“
„Ja freilich!“
„Unvorsichtiger Mensch!“
„Oh, nicht unvorsichtig, sondern dreist!“ sagte sie sehr indigniert.
„Dreist? Weshalb?“
„Der Kerl wollte mich küssen!“
„Küssen?“ Der Sekretär machte nicht etwa ein zorniges, sondern ein ganz erstauntes, sogar ein geradezu verdutztes Gesicht, denn er hatte noch nie einen Menschen gekannt, der den sonderbaren Appetit gehabt hatte, seine Tochter zu küssen. „Was fällt ihm ein!“
„Ja, was fällt ihm ein!“ rief diese. „Mich, eine spätere Gräfin, küssen zu wollen!“
„Na, na“, beschwichtigte er, „ein Kuß ist doch nichts gar so Schlimmes!“
„Wie? Ich glaube gar, du hilfst ihm!“
„Laß gut sein!“ lachte er. „Ich meine, der Kapitän hat nur Spaß gemacht.“
„Spaß? Er streckte bereits die Arme nach mir aus!“
„Hättest du es doch darauf ankommen lassen. Ich wette, er hätte dich nicht geküßt.“
„Nicht?“ fragte sie. „Meinst du etwa, daß ich nicht hübsch genug zum Küssen bin?“
„Wer sagt denn, daß ich dieses meine?“ entschuldigte er sich. „Diese Seeleute sind Spaßvögel. Man darf ihnen nichts übelnehmen. War er allein?“
„Ja.“
„Sprach er von unserem Geschäft?“
„Nein, kein Wort.“
„Und auch du nicht?“
Josefa wurde ein wenig verlegen und antwortete:
„Ich fing davon an, aber er ging nicht darauf ein.“
„Das glaube ich. Ein Mann wie Henrico Landola spricht über solche Dinge nicht mit Frauen. Ich glaube, daß er eher ein Schiff mit Mann und Maus auf den Grund treiben läßt, ehe es ihm einfällt, ein Weib zur Mitwisserin eines Geheimnisses zu machen. Sagtest du ihm, wo ich war?“
„Das fällt mir gar nicht ein. Ich sagte ihm nur, daß er dich auf dem Paseo treffen könne. Ihr habt euch also wirklich gesehen?“
„Ja, und er teilte mir mit, daß er bei dir gewesen sei. Ich habe übrigens nur einige Worte mit ihm gewechselt und ihn für heute abend auf dem Paseo wieder bestellt.“
„Das ist recht“, sagte sie, und stolz setzte sie hinzu: „Ich müßte gewärtig sein, er böte mir abermals einen Kuß an. Mein Mann soll mich einst vollständig ungeküßt bekommen!“
„Da bist du eine außerordentliche Seltenheit“, lachte ihr Vater ironisch.
Sie wünschte dieses Thema abzubrechen und fragte daher:
„Also, du hast das Mittel? Was ist es? Ein Pulver oder eine Tinktur?“
„Ein Pulver.“
„Zeige es.“
Der Sekretär öffnete das Tütchen und zeigte seiner Tochter den Inhalt.
„Ah! Was kostet es?“
„Hundert und zehn Pesos in Summa.“
„Wie! Das ist ja zuviel. Dieser Benito ist ein Schelm!“
„Wenn es wirkt, so mag es sein!“
„Wann wirst du es anwenden? Noch heute?“
„Ich muß warten. Alfonzo ist noch nicht da.“
„Der braucht nicht notwendigerweise dabeizusein!“
„So muß ich wenigstens vorher mit Kapitän Landola sprechen.“
„Dann kann Don Ferdinando das Pulver also morgen bekommen?“
„Möglicherweise!“
„Aber wie?“
„Ich habe auch bereits darüber nachgedacht, doch vergebens.“
„Diese alte Marie läßt keinen Menschen zu ihm. Sie wacht über ihn wie ein Drache.“
„Es muß sich aber irgendein Weg finden lassen. Wir wollen darüber nachdenken.“
„Wie wirkt das Mittel?“
„Es wirkt innerhalb einer Nacht, und die Wirkung hält eine volle Woche an.“
„So wird er vielleicht sterben.“
„Warum?“
„Weil er verwundet ist.“
„Das ist dann meine Schuld nicht. Ich will ihn scheintot machen, stirbt er, so ist mein Gewissen frei von einem Vorwurf. Nur ein Bedenken habe ich. Daß der Arzt es merkt, wenn der Graf bloß scheintot, aber nicht völlig tot ist.“
„Das ist allerdings bedenklich. Er wird ihn nicht begraben lassen wollen.“
„In diesem Klima treten die Kennzeichen des wirklichen Todes schnell ein. Man sieht sie bereits am nächsten Tag.“
„Sind diese nicht künstlich hervorzubringen? Wirkt keine Säure oder ein scharfes Kraut?“
„Vielleicht der Saft des Schöllkrautes oder der Wolfsmilch. Aber unsereiner muß vorsichtig sein. Man ist kein Chemiker, man kennt das nicht und kann sehr leicht einen Fehler begehen.“
„Ah, du bist dumm gewesen!“ erwiderte Josefa. „Benito hätte vielleicht ein Mittel gehabt.“
„Wahrhaftig! Daran habe ich gar nicht gedacht!“
„Du mußt noch einmal hinaus zu ihm, und zwar heute noch.“
„Du hast recht. Ich kann zu ihm gehen, bevor ich mich mit dem Kapitän treffe. Es ist dann bereits dunkel, und man wird mich in Santa Anita nicht zum zweiten Mal sehen.“
Es blieb bei diesem Entschluß. Eine gehörige Zeit vor dem Stelldichein machte Cortejo sich auf und ging hinaus nach dem Dorf. Reiten wollte er nicht, weil dies bei einer Unterredung mit Landola zu unbequem gewesen wäre. Als er bei Benito anklopfte, erschien die Alte wieder und fragte in die Dunkelheit hinein:
„Wer ist da?“
„Ein Bekannter“, antwortete Cortejo, „und zwar der Señor, der heute hier gewesen ist.“
Jetzt erkannte sie den Sekretär an der Stimme.
„Ah, der mir einen Peso gab! Oh, ein Peso ist gut! Was wollt Ihr?“
„Ist Señor Benito zu Hause?“
„Nein, er ist ausgegangen.“
„Wann kommt er wieder?“
„Ich weiß es nicht.“
„Sagt nur die Wahrheit, Señora. Ich habe wirklich sehr notwendig mit ihm zu sprechen.“
„Sehr notwendig?“ fragte sie mit schlauer Betonung. „Das merke ich nun eben nicht.“
„Ah, Ihr wollt abermals einen Peso? Wenn ich ihn Euch nun gebe, ist Benito dann zu Hause?“
„Ja.“
„Nun, da habt Ihr ihn.“
Er zog das Silberstück aus der Tasche und gab es ihr.
„So kommt!“ sagte sie jetzt.
Dann schloß sie die Tür auf, ließ Cortejo eintreten und führte ihn in dasselbe Loch, wo er bereits einmal gewartet hatte. Es dauerte nicht lange, bis der Giftmischer erschien.
„Was wollt Ihr?“ fragte er.
„Ich habe heute etwas vergessen, und zwar die Frage an Euch zu richten: Bekommt ein Scheintoter Verwesungsflecke?“
„Nein.“
„Aber diese müssen doch in meinem Fall vorhanden sein; es ist notwendig.“
„Hm, das ist schlimm!“ entgegnete Benito mit schlauem Lächeln. „Wollt Ihr nicht lieber den Mann gleich töten? Dann werden die Flecke sicher zu sehen sein.“
„Nein, sterben soll er nicht.“
„So müßt Ihr sehen, wie Ihr ohne die Flecke auskommt.“
„Der Arzt wird ohne sie die Leiche nicht begraben lassen.“
„Das ist seine und Eure Sache, aber nicht die meinige.“
„Kann man diese Flecke denn nicht künstlich hervorbringen?“
„Hm, vielleicht.“
„Vielleicht? Ich denke, Ihr müßt so etwas genau wissen?“
„Ich weiß es auch gewiß. Es geht schon, wenn man das rechte Mittel hat, und ich besitze auch dieses Mittel.“
„Kann ich es bekommen?“
„Ich weiß nicht, ob es Euch nicht zu teuer ist.“
„Benito, Ihr seid ein Schelm. Ihr wollt nur Geld von mir erpressen. Was kostet das Mittel?“
„Zehn Pesos.“
„Das ist zu teuer. Ich fürchte, Ihr werdet mir ein paar Tropfen Säure oder Pflanzensaft geben, der kaum einige Tlacos wert ist.“
„Nun, dann geht und macht Euch das Mittel selbst, wenn es Euch bei mir zu teuer ist.“
„Hole Euch der Teufel! Ihr wißt, daß ich nichts davon verstehe. Fünf Pesos will ich geben.“
„Gebt zehn oder geht fort. Anders nicht.“
Benito tat, als wolle er sich entfernen.
„Halt, ich gebe Euch zehn!“ sagte jetzt Cortejo eilig.
„So wartet. Ich werde das Mittel holen.“
Der Indianer ging und kehrte bereits nach einigen Minuten mit einem Fläschchen zurück, in dem sich eine gelbliche Flüssigkeit befand.
„Wißt Ihr die Stellen, an denen sich bei einem Verstorbenen die Verwesungsflecke zeigen?“ fragte er.
„Ja.“
„So tränkt ein Läppchen mit dieser Flüssigkeit und reibt die Stellen damit ein. Je mehr Ihr nehmt, desto dunkler werden sie.“
„Ihr meint, ich müsse in der Mitte mehr nehmen als am Rand?“
„Das versteht sich.“
„So gebt her. Hier habt Ihr das Geld.“
Cortejo gab die zehn Pesos hin, die der Indianer mit einem vergnügten Schmunzeln in seine Tasche versenkte, denn er hatte eine Einnahme gehabt wie selten bisher.
Als der Sekretär ging, stand die Alte bereits an der Tür, um sie zu öffnen. An dieser Höflichkeit waren nicht nur die beiden Pesos schuld, sondern sicher auch der Umstand, daß er sie jetzt bei seinem zweiten Besuch nicht du, sondern Ihr genannt hatte.
Er schritt nun langsam dem Paseo zu, denn er hatte noch Zeit bis zur Stunde des Rendezvous. Dennoch traf er den Kapitän bereits an.
„Ah, pünktlich!“ sagte dieser, als er ihn erkannte. „Das ist recht; das liebe ich!“
„Ich ebenso. Wo habt Ihr Eure Zeit hingebracht, Señor Landola?“
„Ah, es gibt verschiedene Spelunken, in denen man sich Wohlbefinden kann; man spricht aber nicht davon“, lautete die Antwort. „Gebt mir Euren Arm, wir wollen zur Sache kommen!“
Sie schritten, Arm in Arm, dabei leise flüsternd, weiter.
„Also Ihr habt den Brief Eures Bruders Gasparino erhalten?“ begann der Seekapitän.
„Ja. Und Ihr Eure Instruktion, Señor?“
„Nein.“
„Ah, ich dachte doch.“
„Hm, Ihr drückt Euch nur falsch aus, Señor“, sagte Landola mit einem kurzen Lachen.
„Wieso?“
„Weil Kapitän Henrico Landola sein eigener Herr und Meister ist. Er läßt sich von keinem anderen einen Befehl oder eine Instruktion erteilen.“
„So verzeiht! Ich hatte das Wort nicht im Sinn einer Subordination gemeint.“
„Dann ist es gut. So will ich Euch also sagen, daß Euer Bruder mich gebeten hat, eine Fracht aufzunehmen, die Ihr mir abliefern werdet.“
„Welche Fracht ist es?“
„Hm, vielleicht ein Mensch!“ entgegnete der Kapitän leichthin.
„Tot oder lebendig?“
„Mir egal. Ich weiß nur, daß er später wieder lebendig sein wird.“
„Was sollt Ihr mit ihm tun?“
„Ihn verschwinden lassen.“
„Wo?“
„Das steht in meinem Belieben.“
„Wer bezahlt Euch die Kosten?“
„Euer Bruder.“
„Sind sie bereits entrichtet?“
„Ich rechne später mit ihm ab.“
„So habe ich Euch nichts zu bezahlen?“
„Nein. Wann kann ich diese Fracht erhalten?“
„Wie lange liegt Ihr im Hafen?“
„Bis die Sache in Ordnung ist. Doch hoffe ich, daß Ihr mich in dem verdammten Fiebernest nicht auf die Folter spannen werdet, sonst segle ich auf und davon. Ich habe keine Lust, zu sterben.“
„Ich werde mich beeilen. Wißt Ihr, um wen es sich handelt?“
„Nein. Ich nehme meine Fracht auf und bekümmere mich den Teufel darum, wer es ist.“
Wenn es hell gewesen wäre, so hätte Cortejo an der Miene des Kapitäns sehen können, daß er log. Landola durchschaute sämtliche Pläne der beiden Brüder Cortejo und hatte sich bereits längst im stillen vorgenommen, seinen Vorteil dabei zu wahren.
„Aber er wird Euch seinen Namen sagen“, bemerkte der Sekretär.
„Ich werde es ihm nicht glauben.“
„Eure Matrosen werden es hören.“
„Es wird kein einziger ihn zu sehen bekommen.“
„Werden wir später erfahren, wohin Ihr ihn schafft?“
„Vielleicht. Das kann ich jetzt noch nicht wissen.“
„Gut. Ich nehme an, der Mann stirbt morgen –“
„Wann wird er da begraben?“
„In zwei Tagen eigentlich, aber sein Sohn ist nicht da –“
„So begräbt man ihn in dessen Abwesenheit.“
„Das geht nicht gut an.“
„Ah, dann ist es ein vornehmer Mann! Alle Teufel, so wird am Ende gar ein solcher Doktor sagen, daß er ihn konservieren und einbalsamieren wolle.“
„Das werde ich nicht zugeben. Man kann ja vorschützen, daß dies in der Familie nie gebräuchlich gewesen sei oder daß der Verstorbene irgendein Vorurteil gegen dergleichen Manipulationen gehabt habe.“
„Richtig. Wie aber bringen wir ihn nach dem Hafen?“
„Ihr selbst wollt ihn holen?“ fragte Cortejo schnell.
„Nein. Dieses ‚wir‘ galt Euch, aber nicht mir.“
„Hm. Im Sarg doch nicht.“
„Nein. Das wäre zu auffällig.“
„In einem Kasten?“
„Da erstickt er.“
„Man bohrt Löcher.“
„Ist erst recht auffällig.“
„So wird ein leichter Korb das beste sein.“
„Jedenfalls. Aber wie bringt Ihr diesen zur Küste?“
„Auf Maultieren.“
„Und auf das Schiff?“
„Das Einschiffen des Korbes wird Eure Sache sein, Señor Landola.“
„Hm, das ist mir nicht lieb! Aber meinetwegen, ich werde Euch den Gefallen tun. Seht nur zu, daß Euch der Korb unterwegs nicht abhanden kommt.“
„Das macht mir allerdings Sorge. Der Weg von hier zur Küste ist keineswegs sicher. Es treiben da allerhand rote und weiße Kerle ihr Wesen, denen nicht zu trauen ist.“
„Ihr müßt für eine gute Bedeckung sorgen.“
„Das ist schwierig. Man müßte die Leute einweihen.“
„Nicht nötig. Geht doch selbst mit.“
„Ich kann nicht.“
„So habt Ihr ja einen Sohn.“
„Hm! Auch dieser kann eigentlich nicht. Aber ich werde es mir überlegen. Wie aber merkt Ihr, daß wir angekommen sind, Señor Capitano?“
„Sehr einfach; Ihr sendet mir einen Boten auf das Schiff.“
„Ihr kommt dann selbst?“
„Das weiß ich noch nicht! Ihr schafft den Korb doch nicht etwa bis in die Stadt hinein?“
„Fällt mir nicht ein!“
„So sucht Euch einen recht einsamen Platz an der Küste aus, wo ein Boot gut landen kann. Sobald ich höre, daß Ihr dort seid, komme ich des Nachts und hole den Korb ab.“
„Recht so. Auch ich will mich bewaffnen. Nun aber sind wir wohl zu Ende. Oder habt Ihr noch etwas?“
„Ich wüßte nichts.“
„So wollen wir uns verabschieden.“
„Habt Ihr solche Eile?“
„Sagtet Ihr heute nicht selbst, daß man vorsichtig sein müsse?“
„Heute abend sieht uns kein Mensch.“
„Aber ich habe noch eine kleine Zerstreuung vor, Señor Cortejo. Ihr wißt, das Leben zur See ist verdammt langweilig; kommt man dann einmal an Land, so wird man doch kein Esel sein.“
„Ich verstehe. Also gute Nacht, Señor.“
„Gute Nacht. Beeilt Euch also mit dem Begräbnis.“
„Es soll rasch genug gehen.“
Die beiden Biedermänner gingen auseinander.
Graf Ferdinando, der verwundet auf seinem Ruhebett lag, hatte keine Ahnung davon, daß bereits über sein Begräbnis verfügt war.
Das Glück oder vielmehr der Teufel war Cortejo günstig gesinnt. Als er nämlich den Palast seines Herrn erreichte und nach seiner Wohnung gehen wollte, traf er auf die alte Marie Hermoyes, die vom Brunnen kam und ein volles Wasserglas in der Hand trug.
„Wie geht es Don Ferdinando?“ fragte er.
„Er klagt nicht“, entgegnete sie.
„Hat sich das Wundfieber bereits eingestellt?“
„Nein; aber einen schrecklichen Durst hat er. Ich muß ihm fast viertelstündlich ein Glas Wasser holen.“
„Gleich vom Brunnen, wie ich sehe?“
„Ja. Es muß kalt sein.“
„War der Arzt wieder hier?“
„Zweimal.“
„Was sagt er?“
„Daß keine edlen Teile verletzt sind; es ist daher nichts zu befürchten, wenn nicht etwas Unerwartetes dazwischenkommt.“
„Wünschen wir, daß der Graf bald gesund sei. In so heißen Gegenden kann die kleinste Verletzung lebensgefährlich werden.“
„Das ist wahr. Aber ich habe keine Zeit, Señor. Gute Nacht!“
„Gute Nacht.“
Sie hatten vor der Tür zu der Wohnung Maries gestanden. Jedenfalls hatte die Alte in der letzteren schnell zu tun oder etwas zu holen. Sie setzte deshalb das Glas einstweilen in eine nahe Mauernische und trat in das Zimmer.
Cortejo hatte sich kaum von der Stelle gerührt. Das Pulver steckte in seiner Tasche. Ein rascher Blick überzeugte ihn, daß er allein und unbemerkt sei. In fieberhafter, zitternder Eile zog er das Tütchen hervor, öffnete es und schüttete den Inhalt in das Glas; dann entfernte er sich mit schnellen Schritten.
Cortejos Tochter Josefa war noch nicht zur Ruhe gegangen, sondern erwartete ihren Vater. Sie war seine Vertraute, in gewissen Dingen noch raffinierter und entschlossener als er, und er wußte, daß er ihr vertrauen könne. Darum hatte er selten ein Geheimnis vor ihr.
„Hast du ihn getroffen?“ fragte sie.
„Ja.“
Der Ton dieses Wortes war ein eigentümlich rauher und heiserer. Josefa blickte ihn daher verwundert an und sagte:
„Ah, du bist ja ganz erregt, du wechselst die Farbe.“
„Das denkst du nur.“
„Nein, ich sehe es. Was ist's?“
„Nichts als das rasche Gehen.“
„Ja, ich hörte deine schnellen Schritte. Seid ihr klar miteinander?“
„Ja.“
„Wann soll es geschehen?“
„Sobald wie möglich.“
„Und dann?“
„Dann wird er begraben. Wir nehmen die Leiche aus dem Sarg und schaffen sie in einem Korb nach der Küste, wo sie von dem Kapitän in Empfang genommen wird.“
„Das klingt leicht und gut. Aber hast du von dem Indianer das Mittel erhalten?“
„Ja; es besteht in einem Saft, für den ich zehn Pesos habe bezahlen müssen.“
„Dieser Benito ist ein Schuft!“
„Oh, er hält auch mich für nichts anderes“, lachte der Sekretär.
„Ich habe nachgedacht, wie wir dem Grafen das Pulver beibringen werden“, sagte sie, „aber nichts Sicheres gefunden.“
„So bin ich glücklicher gewesen, und zwar durch Zufall.“
Josefa sah ihren Vater an, und als sie den unheimlichen Glanz seines Auges und die Röte seiner sonst so bleichen Wangen bemerkte, sagte sie:
„Du hast etwas, gestehe es mir!“
„Nun“, lächelte er, „ich gestehe, daß du vorhin mit der Behauptung, daß ich erregt sei, recht hattest.“
„Worüber warst du es?“
„Über das Gelingen unseres Anschlages.“
„Ah“, sagte sie, freudig erstaunt, „es ist bereits gelungen?“
„Ja, ich glaube, daß Don Ferdinando in diesem Augenblick das Gift bereits in seinen Adern hat!“
„Nicht möglich!“ rief Josefa, indem ihre Eulenaugen unheimlich erglühten.
„Nicht nur möglich, sondern sogar gewiß!“
„Wie hast du es ihm beigebracht?“
„Durch ein Glas Wasser.“
Cortejo erzählte seiner Tochter, wie ihm sein verbrecherischer Streich geglückt war. Sie hörte ihm staunend zu und schlug, als er geendet hatte, in wortlosem Entzücken die Hände zusammen.
„Gott sei Dank“, sagte sie. „Nun haben wir gewonnen; nun ist alle Ungewißheit vorüber; nun weiß ich gewiß, daß ich Gräfin werde! Wann kann Alfonzo hier sein?“
„In einigen Tagen. Hat er sich aber gesputet, so könnte er bereits am morgigen Tag eintreffen.“
„So werde ich diese Nacht vor Freude und Erwartung nicht schlafen.“
„Du wirst aber dennoch wohltun, dein Schlafzimmer aufzusuchen. Wenn mit dem Grafen etwas Ungewöhnliches passiert, wird man natürlich alle wecken. Jedermann wird im Negligé erscheinen, und dann könnte es auffallen, wenn du vollständig angekleidet bist. Wir müssen auch im Kleinsten vorsichtig sein.“
„Du hast recht. Ich setze nun den Fall, der Graf verfällt in Starrkrampf. Wirst du dann dieser Marie die Herrschaft im Krankenzimmer überlassen?“
„Das fällt mir gar nicht ein!“
„Ich wollte es dir auch raten und dich zugleich warnen.“
„Weshalb?“
„Der Graf scheint ein anderes Testament gemacht zu haben.“
„Donnerwetter!“ fluchte Cortejo überrascht.
„Ja, ich vermute es wenigstens.“
„Aus welchem Grund?“
„Nicht wahr, man pflegt vor einem Duell stets erst seine Angelegenheiten in Ordnung zu bringen?“
„Allerdings. Jedenfalls hat dies Don Ferdinando auch nicht versäumt.“
„Er hat sehr lange geschrieben, wie der Diener sagte.“
„Das ist aber doch kein Grund zu der Vermutung, daß er ein neues Testament angefertigt habe.“
„Ich habe noch andere Gründe. Warum hält er das, was er schrieb, so geheim? Warum verschließt er es nicht in seinem Schreibtisch, wo er doch ähnliches aufzubewahren pflegt?“
„Er hat es anderswo aufbewahrt?“
„Ja. In den Händen dieser alten Marie Hermoyes.“
„Alle Teufel!“ rief Cortejo bestürzt. „Weißt du das genau?“
„Ja. Sie ist mit einem großen, fünffach versiegelten Kuvert aus seinen Gemächern gekommen, und als sie nach dem Duell zu ihm gerufen wurde, hat sie dieses Kuvert wieder mitgebracht.“
„Wer sagte dies?“
„Der Kammerdiener.“
„Das ist allerdings auffällig! Mir hat er gestern ein so großes Mißtrauen gezeigt und ihr ein ebenso großes Vertrauen. Er hat sicherlich eine Änderung seines Testamentes vorgenommen.“
„Ich zweifle nicht daran.“
„Aber was sollte er verändern? Alfonzo bleibt doch der Erbe.“
„Oder auch nicht“, meinte Josefa. „Don Ferdinando ist mit ihm nicht zufrieden; er kann ihn enterben, da Alfonzo nur der Neffe ist.“
„Das ist richtig. Und dabei ist auffällig, daß er gerade dieser Amme sein Vertrauen schenkt.“
„Ja, sie hat Alfonzo einst herübergebracht und kann vielleicht etwas ahnen.“
„Sollte sie diese Ahnung dem Grafen mitgeteilt haben?“
„Wir müssen sie unschädlich machen, Vater!“
„Wenn sie uns zwingt, ja.“
„Wo denkst du, daß der Graf das Kuvert aufbewahrt hat?“
„Jedenfalls im mittleren Fach des Schreibtisches, wo alles Wichtige zu liegen kommt.“
„So ist das erste, was du tun mußt, dieses Fach zu öffnen, wenn das Pulver wirkt.“
„Ich werde es möglich zu machen suchen. Jetzt aber gute Nacht!“
„Schlafe wohl! Ich werde nicht schlafen können.“
Cortejo ging zur Ruhe. Auch seine Tochter suchte ihr Schlafzimmer auf, doch fand sie, wie sie vorausgesagt hatte, den Schlummer nicht, sondern sie lag mit wachen Augen auf dem Bett und träumte von künftiger Herrlichkeit und von einem üppigen, glänzenden Leben. Daß dieses Leben nur mit schweren Verbrechen erkauft worden sei, das machte ihr nicht das mindeste Bedenken.
So verging eine Stunde nach der anderen, und Cortejo lag bereits im tiefsten Schlaf, da klopfte es hastig an seine Tür. Er erwachte und fragte, wer draußen sei.
„Amoldo, der Diener“, antwortete es.
„Was willst du?“
„O bitte schnell! Es muß mit Don Ferdinando etwas passiert sein!“
„Gleich!“
Cortejo sprang jäh aus dem Bett, fuhr in den Schlafrock und brannte schnell ein Licht an; dann öffnete er die Tür, und der Diener trat ein.
„Was ist denn mit ihm passiert?“ fragte der Sekretär.
„Ich weiß es nicht. Ich hatte heute die Wache. Ich saß auf dem Stuhl im Vorzimmer und schlummerte ein wenig; da hörte ich einen Schrei. Er kam aus der Krankenstube, die von innen verschlossen ist. Ich fragte, was es gebe, erhielt aber keine Antwort. Die alte Marie klagte und jammerte darauf zum Erbarmen, öffnete aber nicht. Da bin ich dann fortgelaufen, um es Euch zu melden, Señor.“
„Daran hast du recht getan. Wir müssen die Sache sofort untersuchen.“
Cortejo folgte dem Diener nach dem Vorzimmer, wo sie allerdings die Amme klagen hörten. Sie klopften, aber es erfolgte keine Antwort.
„Aufgemacht!“ rief da Cortejo gebieterisch und stieß mit dem Fuß gegen die Tür.
Dies brachte die fast sinnlose Alte zu sich. Sie kam herbei und öffnete.
„Was ist geschehen?“ fragte der Sekretär.
„Oh, der liebe, gute, gnädige Herr!“ jammerte sie weinend.
„Was ist mit ihm?“
„Er ist tot – tot – tot!“
Cortejo trat an das Lager des Grafen und blickte diesen an. Don Ferdinando lag in der Tat bleich und mit eingefallenem Gesicht da wie eine Leiche.
„Wann ist es geschehen?“ fragte er die Amme.
„Ich weiß es nicht“, antwortete sie.
„Du mußt es wissen, du hast ja bei ihm gewacht!“
„Ich schlummerte, und als ich aufwachte, da war er tot. Ich weiß nicht, wie lange ich nachher geweint habe!“
„Unglückliche, du bist vielleicht schuld an seinem Tod!“ donnerte er sie an. „Warum hast du nicht geöffnet, als der Diener hereinwollte? Es wäre wohl noch Rettung möglich gewesen!“
„Nein; er war bereits tot!“ entschuldigte die Alte sich.
Der Blick Cortejos war gleich beim Eintreten nach dem Schreibtisch geglitten, wobei er bemerkte, daß der Schlüssel im Schloß steckte.
„Geht, weckt die Leute und holt den Arzt herbei. Schnell, schnell!“ gebot er.
Auf diesen Befehl eilte der Diener fort, und auch die Amme verließ händeringend das Zimmer. Mit raschen Schritten stand Cortejo nun am Schreibtisch, öffnete das Fach und das Kuvert, nahm dieses, steckte es in seine Tasche und verschloß das Fach wieder. Dann eilte er den beiden nach.
Dies war so schnell gegangen, daß die Amme eben erst die Tür des Vorzimmers erreicht hatte. Hier faßte Cortejo ihren Arm und sagte:
„Halt, Marie! Nicht wahr, Don Ferdinando hatte Vertrauen zu dir?“
„Oh, mehr als zu jedem anderen“, antwortete sie schluchzend.
„Gut, du sollst auch jetzt bei ihm bleiben, bis das Gericht kommt. Du sollst darüber wachen, daß nichts abhanden kommt. Gehe wieder hinein; ich werde die Leute selbst wecken.“
Das war der Alten recht. Sie kehrte in das Krankenzimmer zurück und begann ihr Wehklagen von neuem.
Auf Cortejos Ruf erwachten alle Bewohner des Palastes und eilten herbei, um sich von dem unerwarteten Tod ihres Gebieters zu überzeugen. Es erhob sich ein großes Klagen, das erst endete, als der Arzt erschien.
Dieser war im höchsten Grad bestürzt über das unerwartete Ereignis und jagte zunächst die heulenden Weiber und Diener fort. Nur Cortejo nebst dem Kammerdiener und der Amme erlaubte er, zu bleiben.
Darauf untersuchte er die Leiche, schüttelte den Kopf und sagte:
„Tetanus, Starrkrampf. Er ist noch warm. Wir müssen noch warten.“ Cortejo fürchtete, daß er auf den Gedanken kommen werde, eine Ader zu schlagen; das war aber nicht der Fall. Der Arzt erklärte nur, bis zum Morgen selbst bei der Leiche bleiben zu wollen, und so zog sich denn der Sekretär mit dem Diener zurück. Nur Marie, die Amme, blieb bei dem Doktor.
Als Cortejo in sein Zimmer zurückkehrte, fand er Josefa seiner wartend. Sie war, wie auch die anderen, vorhin im tiefsten Negligé zu der Leiche geeilt, hatte sich aber jetzt wieder angekleidet.
„Hast du den Brief?“ war ihre erste Frage.
„Ja, ich fand ihn im mittleren Fach.“
„Was enthielt er?“
„Es steht keine Adresse darauf. Laß uns sehen!“
Cortejo erbrach das Siegel, zog die Bogen aus dem Kuvert, entfaltete sie und las. Er wurde blaß.
„Was ist's?“ fragte Josefa besorgt.
„Da, lies selbst!“ entgegnete er, als er fertig war.
Seine Tochter folgte der Aufforderung; auch sie entfärbte sich. Als sie zu Ende war, warf sie die Bogen zur Erde.
„Dachte ich es mir doch!“ rief sie.
„Ich auch!“ sagte er.
„Enterbt!“
„Keinen Heller hätten wir bekommen!“
„Dieser Marie hat er einen förmlichen Reichtum ausgesetzt“, zürnte das ergrimmte Mädchen.
„Und wir sollten in eine Untersuchung verwickelt werden. Es sollte nachgewiesen werden, daß Alfonzo wirklich Graf von Rodriganda sei.“
„Wie gut, daß wir diesen Wisch haben!“
„Verbrenne ihn.“
„Es ist doch nicht bemerkt worden, daß du beim Schreibtisch warst?“
„Nein.“
„Auch die Amme hat nichts gesehen?“
„Nein. Es ist so schnell gegangen, daß sie ganz sicher glaubt, ich habe hinter ihr sogleich das Zimmer verlassen.“
„So steht nichts zu befürchten?“
„Nicht das mindeste.“
„Gut. Der Brief wird verbrannt, und damit ist alle Besorgnis verschwunden. Nun fehlt nur noch Alfonzo.“
„Ich werde in seinem Interesse handeln. Die Behörde wird sich zunächst in allem an mich, als den Sekretär des Verstorbenen, wenden müssen.“
„Wie steht es mit den Verwesungsflecken?“
„Es wird sich eine Gelegenheit finden, sie anzubringen.“
„Für dich oder für mich?“
„Für mich. Ich verstehe das besser.“
„Bleibt der Graf im Zimmer liegen?“
„Nein; das wird gerichtlich verschlossen, bis das Testament eröffnet ist.“
„Wann wird dies geschehen?“
„Nach den hiesigen Gesetzen noch heute, um zu sehen, wer der Erbe ist und hier zu gebieten hat.“
„Aber wohin kommt die Leiche?“
„Auf ein Paradebett im großen Salon. Bereite alles Nötige dazu vor. Er wird schwarz ausgeschlagen.“
„Mein Gott, gibt es da zu tun!“
„Für mich ebenso. Ich habe für den Sarg zu sorgen und alles übrige zu leiten. Der Tag graut bereits. Ich werde die Arbeit sogleich beginnen.“
„Ich ebenso, und zwar mit diesem Papier.“
Damit warf Josefa das Kuvert samt Inhalt in den Kamin und verbrannte es.
Nach einigen Stunden wurde Cortejo zu dem Arzt gerufen.
„Sie sind der Sekretär von Don Ferdinando?“ fragte dieser.
„Ja.“
„Sie haben alle seine Angelegenheiten geleitet?“
„Allerdings.“
„So erkläre ich Ihnen, daß der Graf wirklich tot ist.“
Cortejo machte ein sehr erschüttertes Gesicht.
„Ist das möglich!“ klagte er.
„Auch ich hielt es für unmöglich, mußte aber doch endlich daran glauben.“
„Sie sagten, es sei Tetanus?“
„Ja. In unserem südlichen Klima kann die kleinste Verletzung zum Tod durch Starrkrampf führen.“
„O Señor, es ist nicht allein das Klima schuld“, bemerkte Cortejo.
„Was sonst?“
„Die Familie de Rodriganda ist zu Tetanus geneigt.“
„Ah, der Starrkrampf ist erblich in der Familie?“ fragte der Arzt überrascht.
„Allerdings. Der Vater sowohl als auch der Großvater des Grafen starben daran. Dieser traurige Fall ist bereits seit vier Jahrhunderten bei den Rodriganda erblich, wie ich ganz genau weiß.“
„Oh, so bin ich beruhigt, so habe ich mir keine Vorwürfe zu machen.“
„Gewiß nicht, Señor. Aber werden Sie mir gestatten, die Leiche von hier zu entfernen? In einer halben Stunde werden die Vertreter der Behörde erscheinen, um die Nachlaßangelegenheiten zu ordnen.“
„Wollen wir die Leiche nicht öffnen?“
„Ich möchte diese Frage verneinen.“
„Warum?“
„Kein Rodriganda ist geöffnet worden, eben des Starrkrampfes wegen. Es ist das so eine Art von Familientradition.“
„Das müßte man allerdings respektieren.“
„Ich bitte darum, Señor. Ich weiß genau, daß Don Ferdinando, sooft vom Tod die Rede war, stets sehr energisch gegen das Messer protestiert hat. Übrigens frage ich, ob ich mir eine geschäftliche Bemerkung gestatten darf?“
„Sprechen Sie, Señor.“
„Sie erhielten als Hausarzt des Grafen ein Gehalt von vierhundert Pesos?“
„Ja.“
„Es ist Gebrauch der Familie de Rodriganda, beim Todesfall dem Hausarzt ein fünffaches Gehalt auszuzahlen. Sollten Sie im Testament nicht erwähnt sein, so werde ich den Erben veranlassen, sich dieses Gebrauchs zu erinnern.“
Der Arzt verbeugte sich sehr dankbar. Mit dieser Bemerkung hatte der schlaue Sekretär jeden Widerstand von vornherein gebrochen. Der Doktor fragte nur noch:
„Wer wird der Erbe sein?“
„Don Alfonzo, wie ich vermute.“
„Sie waren als Zeuge zugegen, als der jetzt verstorbene Graf sein Testament abfaßte?“
„Ja.“
„So kann ich Ihre Vermutung als Gewißheit nehmen. Wollen Sie die Gewogenheit haben, mich Don Alfonzo zu empfehlen? Ich habe stets das Vertrauen Don Ferdinandos besessen.“
„Ich werde mein Möglichstes tun, Señor!“ antwortete Cortejo bejahend.
„So werde ich Ihnen für die Herren von der Behörde den Totenschein ausstellen, behalte mir aber eine nochmalige Untersuchung der Leiche vor, ehe sie beerdigt wird.“
„Ich bitte sogar darum, Señor.“
Somit war die Hauptsache in Ordnung gebracht.
Man hatte den Toten noch nicht fortgeschafft, als die Gerichte erschienen. Die alte Amme mußte sich entfernen, und nur Cortejo durfte bleiben als derjenige, der zu Lebzeiten des Grafen diesen zu vertreten gehabt hatte.
Don Ferdinando hatte sein erstes Testament bei der Behörde deponiert; dieses wurde jetzt geöffnet. Es stellte sich heraus, daß Alfonzo der einzige Erbe sei. Ferner war hervorzuheben, daß dem Erben anempfohlen wurde, den Sekretär, dem überdies ein höchst beträchtliches Legat zufiel, in seinem Dienst zu behalten. Auch sämtliche Bedienstete waren bedacht, doch sollten sie dies erst nach dem Begräbnis erfahren.
„Und wo befindet sich Graf Alfonzo?“ fragte der Testamentseröffner.
„Auf einer fernen Hacienda.“
„Wann kehrt er zurück?“
„Vielleicht heute, spätestens in einigen Tagen.“
„Lassen Sie mich sein Eintreffen sofort erfahren, Señor. Ich werde ihn besuchen, um das Nötige mit ihm zu bereden. Für jetzt aber erteile ich Ihnen Vollmacht, im Sinn des Testamentes für die Beerdigung zu sorgen und das übrige zu leiten. Wo befinden sich die Papiere des Verstorbenen?“
„In der Bibliothek und hier.“
„Und die Gelder, Wertsachen und dergleichen?“
„In diesem Schreibtisch.“
„So sehe ich mich genötigt, die ganze Wohnung Don Ferdinandos bis auf weiteres unter Siegel zu legen. Sie haften dafür, daß die Siegel respektiert werden!“
Cortejo nickte und erwiderte:
„Ich ersuche Sie, mir zuvor eine Summe zum Zweck der Beerdigung auszuhändigen. Ich werde darüber Rechnung ablegen.“
„Die sollen Sie haben.“
Somit war alles geordnet, und die Zimmer des Grafen wurden versiegelt, nachdem die Leiche nach dem Salon geschafft worden war.
Im Laufe des Tages verbreitete sich die Nachricht von dem Tod des allgemein beliebten Grafen Ferdinando durch die ganze Stadt. Man erfuhr, daß er die Wunde im Duell erhalten habe, und es wurden ausnahmslos von jeder vornehmen Familie Kondolenzkarten abgegeben.
Bereits am Nachmittag gelang es Cortejo, längere Zeit bei dem Toten zu sein, und das benutzte er, die Flecken anzubringen. Sie gelangen so gut, daß selbst ein Kenner getäuscht werden konnte, und als des anderen Tages der Arzt kam, um die Leiche einer nochmaligen Untersuchung zu unterwerfen, erteilte er beim Anblick der Flecken sofort die Erlaubnis zur Beerdigung.
Aber dieser zweite Tag brachte noch etwas anderes.
Am Nachmittag saß Cortejo gerade bei der Schreiberei, als er den Hufschlag eines Pferdes hörte, dessen Reiter vor dem Portal anhielt. Er bekümmerte sich nicht um denselben, sondern überließ dies der Dienerschaft, bald aber vernahm er rasche, sporenklirrende Schritte vor seiner Tür; diese wurde geöffnet, und vor ihm stand – Alfonzo.
Er fuhr vom Schreibtisch empor.
„Alfonzo!“ rief er.
„Oheim!“ antwortete der andere.
„Oh, ich habe auf dich gewartet.“
„Und ich habe mich nach Mexiko und euch gesehnt.“
„Weißt du schon, daß der Graf tot ist?“
„Ja“, lachte Alfonzo.
„Du lachst! Worüber?“
„Über deine Allwissenheit.“
„Wieso?“
„Du schriebst, daß Graf Ferdinando sterben werde; ich komme, steige vom Pferd und – erfahre, daß er tot ist. Das nenne ich prompt!“
„Und du fragst nicht, wer der Erbe ist?“
„Nein. Der bin ja ich.“
„Oho!“
Alfonzo erbleichte, als er diesen Ausruf hörte.
„Oder etwa nicht?“
„Na, habe keine Sorge“, beruhigte ihn sein Oheim.
„Du bist der Erbe, aber es fehlte nicht viel, so warst du es doch nicht.“
„Wer sonst?“
„Graf Emanuel in Rodriganda.“
„Der Teufel hole ihn! Wie kam das?“
„Du wirst es sofort erfahren. Vor allen Dingen sage mir, wie du aussiehst!“
Der Angekommene warf einen lachenden Blick auf seinen zerfetzten Anzug und entgegnete:
„Ja, ich komme direkt aus der Wildnis. Doch läßt sich da leicht helfen; ich darf nur nach meinen Zimmern gehen und mich umkleiden.“
Da öffnete sich die Tür, und Josefa trat ein. Als sie den Cousin erblickte, erbleichte sie vor freudigem Schreck, dann trat eine tiefe Glut in ihre Wangen und sie rief, die Arme ausbreitend:
„Alfonzo! Mein Alfonzo! Komm in meine Arme, teurer Cousin!“
Und da er keine Anstalt machte, ihr in die Arme zu fallen, so flog sie auf ihn zu, drückte ihn an ihre busenlose Brust und küßte ihn heiß und stürmisch auf den Mund. Er wollte sie von sich abwehren, da ihm dies aber nicht gelang, so wurde er zornig.
„Laß mich!“ gebot er ihr. „Ich verbitte mir diesen Spektakel! Wie kannst du mich so laut Cousin nennen! Wenn es jemand hört, so sind wir verraten!“
„Oh, ich bin so unendlich glücklich, dich wiederzuhaben!“ rief sie.
„Das ist aber doch kein Grund, mir mit deinem einzigen Zahn die Lippen abzubeißen!“
Das half. Ihre Eulenaugen sprühten plötzlich ein zorniges Feuer, und sie sagte, sich stolz von ihm abwendend:
„Diese Beleidigung wirst du mir abbitten!“
„Heute nicht!“ lachte er.
„Aber morgen!“
„Nie!“
„Warte es ab. Ich lasse mich nicht ungestraft beleidigen.“
„Verschone mich mit deinen Tiraden. Wo sind die Schlüssel zu meiner Wohnung, Cortejo?“
Der Gefragte hatte dieser Empfangsszene mit Spannung zugesehen. Jetzt deutete er mit finsterer Miene auf ein schwarzes Brett, das an der Wand befestigt war und woran an vielen messingenen Haken eine Menge von Schlüsseln hingen.
„Dort sind sie!“ sagte er finster.
Alfonzo blickte ihn überrascht an.
„Was hast du?“ fragte er.
„Nichts!“
„Nun, so kann der Sekretär sich schon die Mühe machen, seinem Herrn die Schlüssel zu reichen.“
Das Gesicht Cortejos wurde noch finsterer, und er antwortete:
„Oder der Neffe kann so rücksichtsvoll sein, seinem Onkel eine solche Handreichung zu erlassen.“
Alfonzo lachte.
„Onkel“, sagte er, „spiele nicht Komödie; ich tauge weder als Mitspieler noch als Publikum!“
„Bis jetzt bist du nur Statist gewesen; es ist allerdings möglich, daß du gezwungen wirst, von der Bühne abzutreten. Nimm deine Schlüssel, gehe auf dein Zimmer und kleide dich um, dann sendest du den Diener und läßt mich zu dir rufen.“
Das war in einem so festen Ton gesprochen, daß der leichtsinnige junge Mann doch den Mut zu einer Entgegnung nicht hatte. Er gehorchte und ging.
Cortejo aber wandte sich an seine Tochter und sagte:
„Josefa, wir haben eine große Dummheit begangen, daß du gestern das zweite Testament verbrannt hast. Dort im Kamin liegt noch die Asche.“
Ihre Augen leuchteten triumphierend auf, aber dennoch erwiderte sie in bedauerndem Ton:
„Ja. Aber warum war es eine Torheit?“
„Weil wir ihn in der Hand hätten, wenn das Testament noch da wäre.“
„Haben wir ihn nicht auch so in der Hand?“
„Sicher nicht.“
„Wir wollen es versuchen.“
Cortejo setzte seine Arbeit fort, und Josefa ging nach ihrem Zimmer. Dort öffnete sie das verborgene Fach eines Schrankes und zog einige Bogen Papier hervor. Es war – das gestrige Testament.
„O wie gut und klug es war“, murmelte sie, „daß ich gestern das kleine Taschenspielerstückchen machte und eine Zeitung anstatt des Testamentes verbrannte. Es ist in meiner Hand und soll mir sicherlich nicht entrinnen.“
Als Alfonzo sich umgekleidet hatte, klingelte er dem Diener und befahl diesem, den Sekretär zu rufen.
Dieser kam sofort, nahm ungeniert auf einem Stuhl Platz und begann die Unterredung:
„Wie ist es dir gegangen, Alfonzo? Du siehst wirklich recht abenteuerlich aus!“
„Miserabel ist es mir gegangen, ganz miserabel! Ich werde es dir erzählen, zuvor aber möchte ich erfahren, was hier geschehen ist, das ist die Hauptsache. Rede also, Onkel.“
Cortejo nickte mit dem Kopf und fragte:
„Meinen Brief hast du erhalten?“
„Ja.“
„Und die beiden Kuriere sind dir auch begegnet?“
„Welche Kuriere?“
„Ah, also du hast sie nicht getroffen?“
„Nein. Ich war zu Umwegen gezwungen.“
„Ich sandte im Auftrag Don Ferdinandos zwei reitende Boten an dich ab, um dich holen zu lassen.“
„Gleich zwei? Da muß die Veranlassung sehr wichtig gewesen sein.“
„Allerdings!“
„Wohl die Krankheit des Grafen?“
„Nein, sondern dein Duell.“
„Donnerwetter. Das mit dem Grafen Embarez?“
„Ja. Embarez schrieb dem Grafen und gab drei Tage Zeit, nach welcher Frist er die Angelegenheit in den Blättern veröffentlichen wollte.“
„Der Teufel soll ihn holen. Ich hätte das Gesicht des Grafen sehen mögen.“
„Ich habe es gesehen, es war nicht vergnüglich.“
„Das glaube ich. Was tat er?“
„Er sandte zunächst die Kuriere ab, die dich holen sollten, und ging dann zu Embarez, um –“
„Um vielleicht eine Frist für mich zu erbitten?“ fiel ihm Alfonzo in die Rede.
„Das fiel ihm nicht ein“, antwortete Cortejo. „Don Ferdinando war ein Ehrenmann und kein Feigling, er hielt auf seinen Namen. Daher ging er zu Embarez, um die Ehrensache für dich auszufechten.“
„Donnerwetter! Ist dies wahr, so ist ja die Angelegenheit beendet!“
„Ganz und gar.“
„So sage ich, daß dieser gute Don Ferdinando in seinem ganzen Leben keinen besseren Gedanken gehabt hat, als sich an meiner Stelle erstechen zu lassen! Denn ich vermute, daß sein Tod die Folge jenes Duells ist.“
„Dies ist die allgemeine Meinung.“
„So starb er aus einem anderen Grund?“
„Allerdings.“
„Du machst mich neugierig. Dein Brief enthielt bereits eine Andeutung. Woran ist er gestorben?“
Cortejo zog den Brief seines Bruders aus der Tasche, den er bereits Josefa gezeigt hatte, und gab denselben dem Neffen.
„Lies diesen Brief“, sagte er.
Alfonzo durchflog das Schreiben und fragte dann gespannt:
„So ist also dieser Brief die Ursache von dem Tod Don Ferdinandos?“
„Ja, aber nicht von seinem Tod. Er lebt.“
Alfonzo sprang auf.
„Er lebt?“ rief er. „Bist du nicht gescheit?“
„Ich hoffe, wenigstens ebenso gescheit zu sein wie du!“ antwortete der Sekretär.
„Aber es ist ja eine Dummheit, ihn leben zu lassen.“
„Ich folge der Weisung meines Bruders, der dein Vater ist.“
„Aber wie stimmt das? Alle sagen, er sei tot, und du behauptest, daß er noch lebe.“
„Das ist sehr einfach, er ist scheintot.“
Alfonzo erbleichte.
„Scheintot! Donnerwetter. Das muß fürchterlich sein!“
„Er liegt im Starrkrampf.“
„So weiß er, was mit ihm und um ihn vorgeht?“
„Vielleicht.“
„Aber wie hast du das fertiggebracht, Onkel?“
„Ich gab ihm ein Gift, das den Starrkrampf hervorbringt. Diese Wirkung dauert eine Woche, dann lebt er wieder auf.“
„Und was geschieht dann mit ihm?“
„Er wird auf dem Schiff unseres guten Henrico Landola erwachen.“
„Der ihn verschwinden läßt?“
„Ja. Ich werde ihn, eingepackt in einem Korb, nach der Küste schaffen.“
„Das ist schwer. Zwischen hier und dem Meer gibt es viel Gesindel.“
„Das ist wahr, denn ich muß eine Bedeckung haben und darf die Leute doch nicht einweihen. Ich befinde mich wirklich in Verlegenheit, woher ich solche Männer nehmen soll.“
Da antwortete Alfonzo rasch:
„Oh, da kann ich dir helfen.“
„Du?“ fragte Cortejo verwundert.
„Ja.“
„Kennst du zuverlässige Leute, die tapfer, verschwiegen und nicht neugierig sind?“
„Ich kenne welche, die diese Eigenschaften in hohem Grad besitzen. Es sind meine Begleiter von der Hacienda her.“
„Ah, Vaqueros! Die taugen nichts.“
„Nicht Vaqueros, sondern Indianer.“
„Das ginge eher. Sind es christliche?“
„Nein, heidnische.“
„Also Indios bravos! Von welchem Stamm?“
„Es sind Comanchen.“
„Comanchen?“ fragte der Sekretär erschrocken. „Du scherzt.“
„Es ist mein Ernst.“
„Aber die Comanchen sind ja fürchterliche Kerle. Sie wohnen gar nicht in Mexiko, sondern an der Grenze, und kommen nur herein, um zu morden, zu rauben und zu plündern. Ich habe noch keinen gesehen.“
„Auch mir waren sie bisher unbekannt. Sie sind allerdings hundertmal fürchterlicher als unsere wilden Indianer, aber trotzdem meine Freunde und werden dir treu dienen.“
„Deine Freunde? Sie haben dich nach Mexiko begleitet?“
„Ja. Sie sind in den Bergen vor der Stadt in einem Versteck.“
„Aber das klingt ja wie ein Abenteuer, wie ein Roman.“
„Es ist auch ein ganzer Roman, den ich erlebt habe. Ich sehe schon, daß ich ihn dir erzählen muß.“
Alfonzo begann nun, seine Erlebnisse auf der Hacienda zu erzählen. Er berichtete von den Comanchen, den Apachen, von der Höhle des Königsschatzes, von den Kämpfen, von seiner fürchterlichen Lage am Baum des Alligatorenteichs. Er erzählte sogar ganz aufrichtig von seinem Angriff auf die Tochter des Hazienderos und sagte dann auch, was er den sechs Comanchen für ihre Begleitung versprochen hatte.
Cortejo hörte mit offenem Mund und starren Gesichtszügen zu, bis Alfonzo beendet hatte. Dann rief er:
„Mein Gott, das ist ja kaum zu glauben! Du hast also diese ungeheuren Schätze wirklich gesehen?“
„Ja.“
„Und sie sind fort?“
„Fort!“
„Wohin?“
„Das weiß nur dieser verdammte ‚Büffelstirn‘ und vielleicht noch seine armseligen Mixtekas.“
„Man muß suchen, nötigenfalls jahrelang suchen!“ rief Cortejo begeistert.
„Das werde ich auch tun, nun ich der Besitzer der Hacienda bin.“
„Und an dem Baum hast du wirklich gehangen?“
„Wirklich! Es waren die fürchterlichsten Stunden meines Lebens. Diese beiden Häuptlinge werden sie mir entgelten müssen.“
„Und diesen ‚Donnerpfeil‘, diesen Deutschen, hast du erschlagen?“
„Ich hoffe, daß er an dem Hieb zugrunde geht.“
„Er muß jedenfalls sterben, denn er ist der einzige Weiße, der den Schatz gesehen hat.“
„Ich werde mit einer Schwadron Lanzenreiter nach der Hacienda gehen.“
„Du wirst die Schwadron bekommen, dem Grafen de Rodriganda wird man sie nicht abschlagen.“
„Dann nehme ich Rache an dem ganzen Gelichter, darauf kannst du dich verlassen.“
„Also du denkst, daß deine Comanchen mich begleiten werden?“
„Ja, denn wir werden sie bezahlen.“
„Wann?“
„Am Abend. Sie erwarten, daß ich ihnen da ihre Belohnung bringe.“
„Ich reite mit.“
„So sorge für alles, was ich ihnen versprochen habe.“
„Wieviel ist es?“
„Ich werde es dir aufschreiben. Aber, vor allen Dingen, wie steht es hier mit der Erbschaft?“
„Du bist der Universalerbe.“
„Ist das Testament eröffnet?“
„Ja. Ich soll den Präsidenten benachrichtigen. Wenn du da bist, will er kommen und die Sache ordnen.“
„So sende gleich zu ihm.“
„Fast wäre uns das Erbe entgangen. Don Ferdinando hatte ein zweites Testament gemacht.“
„Hole ihn der Teufel! Wie kam dies?“
Cortejo erzählte es. Als er geendet hatte, sagte Alfonzo:
„Diese Amme muß man zum Teufel jagen!“
„Das wäre dumm, denn sie würde reden. Man muß sie vollständig unschädlich machen.“
„Das soll heißen?“
„Man stopft ihr den Mund durch Geschenke, oder man läßt sie auf irgendeine Weise verschwinden.“
„Ich habe keine Lust, ein solches Weib noch zu beschenken.“
„So tun wir also das zweite. Jetzt aber hast du zunächst eine heilige Pflicht zu erfüllen.“
„Welche wäre das?“
„Da fragt dieser Mensch, welche Pflicht er hat!“ lachte Cortejo. „Bedenke doch, daß du der Neffe des verstorbenen Grafen bist. Was sollen die Diener sagen, wenn du dich um den Toten nicht bekümmerst.“
„Du meinst, ich soll mir die Leiche ansehen?“
„Ja.“
„Ein wenig weinen?“
„Natürlich!“
„Wohl gar am Sarg beten?“
„Das versteht sich.“
„Gut, ich werde diese saure Arbeit auf mich nehmen. Zuvor aber werde ich dir eins sagen. Es betrifft Josefa.“
„So sprich!“ versetzte Cortejo erwartungsvoll.
„Was hatte dieser überschwengliche Empfang heute zu bedeuten?“
„Überschwenglich? Das habe ich nicht gefunden. Soll die Cousine sich nicht freuen, wenn der Cousin zurückkehrt?“
„Das war nicht cousinenhaft. Ich glaube, das Mädchen ist verliebt in mich!“
„Ich glaube es auch“, sagte Cortejo kalt.
„Ah! Und du verbietest es ihr nicht?“
„Ich kann es ihr nicht verbieten, weil sich die Liebe aus keinem Verbot etwas macht!“
„Aber du siehst doch ein, daß sie hier nicht am Platz ist!“
„Nein, das sehe ich nicht ein.“
„Nicht? Ah! Du meinst also vielleicht gar, Josefa und ich könnten ein Paar werden?“
„Ich halte es für möglich.“
„Aber ich nicht“, rief Alfonzo zornig, „denn sie ist bürgerlich!“
„Du auch!“ erklang es scharf.
„Oh, ich bin von heute an Graf Rodriganda.“
„Und sie kann am Hochzeitstag ebenso sagen wie du: Ich bin von heute an Gräfin von Rodriganda.“
„Das wird niemals geschehen.“
„Ihr seid euch ebenbürtig. Dein Grafentum ist kein Grund zu einer Abweisung.“
„Aber sie ist älter als ich, auch nicht schön, ja nicht einmal hübsch.“
„So wird sie keine Anfechtung zur Untreue zu erdulden haben, das ist viel wert, lieber Alfonzo.“
„Sie hat ferner kein Herz und kein Gewissen.“
„Du auch nicht.“
„Nicht einmal Zähne.“
„Sie läßt sich welche einsetzen.“
„Ich halte sie jedes Verbrechens für fähig.“
„Wir dich auch.“
„Hole euch der Teufel!“ rief Alfonzo grimmig.
„Wenn er uns holt, so nimmt er dich auch mit“, entgegnete Cortejo ruhig. „Wir gehören zusammen. Ja, wir sind vor dem Gesetz alle drei verschiedener Verbrechen schuldig, und Verbrechen bindet mehr als Tugend. Du wirst nie in deinem Leben dich von uns lossagen können, das merke dir.“
„Und wenn ich es dennoch tue?“
„So bist du verloren.“
„Und ihr mit.“
„Ich glaube das nicht. Es kommt sehr auf die Art und Weise an, wie man solche Dinge angreift.“
„Ich kenne diese Art und Weise.“
„Wir auch. Wenn du vernünftig nachdenkst, so wirst du finden, daß wir dir überlegen sind. Was du bist, das bist du durch uns. Du stehst und stürzt mit uns. Übrigens wollen wir dieses Thema fallenlassen.“
„Und zwar für immer, hoffe ich.“
„Wenigstens für jetzt. Gehe zu deinem Oheim und versuche deine Rolle gut zu spielen.“
Das erste Wort in Beziehung auf Josefa war gesprochen. Alfonzo war nun vorbereitet, er wußte, was man von ihm wollte, und nun stand es bei ihm, sich für oder gegen sie zu entscheiden.
Er spielte am Sarg des Grafen den über alle Maßen Betrübten, und seine Tränen flossen so reichlich, daß die Diener Mitleid mit ihm fühlten. Übrigens wurde er bald gestört, denn es kamen Leute, die sich den Toten ansehen wollten. Es ist in Mexiko Sitte, daß in solchen Fällen jedermann Zutritt hat. Man treibt ein förmliches Schaugepränge mit der Leiche, und so kamen Vornehme und Geringe, um die Pracht der Ausstattung sich anzusehen.
Cortejo stand nach einiger Zeit eben im Begriff, einmal sich in dieses Gewühl der Neugierigen zu mischen, um irgend etwas im Saal zu besorgen, als ein Mann aus demselben trat, bei dessen Anblick er bis in das Innerste erschrak. Es war ein Indianer mit einer scharfen Habichtsnase, auf der eine monströse Brille saß – Benito, der Giftdoktor.
Auch er sah Cortejo und trat sofort auf ihn zu.
„Nun“, sagte er, „habe ich Euch betrogen, Señor?“
Der Sekretär zog ihn sofort in ein leeres Zimmer.
„Unglückseliger“, erwiderte er, „was habt Ihr hier zu suchen?“
„Nichts. Ich sehe gern Leichen an“, antwortete der Indianer sehr ruhig.
„Aber wie kommt Ihr hierher?“
„Hm, ich kannte Euch schon längst. Ich ahnte, wer das Gift bekommen sollte, und kam nun, um zu sehen, ob die Gabe gut war.“
„Nun?“
„Sie war richtig.“
„Wann wird er erwachen?“
„In sechs Tagen, er hat jedoch schon jetzt sein volles Bewußtsein.“
„Mein Gott, so hört er, was um ihn vorgeht?“
„Ja, er kann selbst mit dem einen Auge, das Ihr nicht ganz zugemacht habt, sehen.“
„Aber das ist ja gefährlich!“
„Das ist Eure Sache, Señor. Ich sehe Euch nicht in die Karte, aber wenn es Euch einmal gutgehen sollte, so vergeßt den armen Benito nicht!“
Der Indianer sprach diese Worte mit einem Augenwink, der nicht beredter sein konnte, und schlüpfte dann zur Tür hinaus. Cortejo folgte ihm. Draußen ging gerade Alfonzo vorüber.
„Wer war der Kerl? Was hattest du mit ihm?“ fragte er, da gerade niemand zugegen war.
„Alle Wetter, hatte ich jetzt einen Schreck!“ antwortete Cortejo.
„Worüber?“
„Eben über diesen Menschen. Es war Benito.“
„Benito? Welcher Benito?“
Der Sekretär war noch immer ziemlich fassungslos. Er antwortete, nachdem er sich umgeblickt hatte:
„Der Giftdoktor.“
„Donnerwetter! Von wem das Mittel war? Hast du ihm denn gesagt, wer du bist?“
„Nein, er hat mich gekannt.“
„Ahnt er, wer das Gift bekommen hat?“
„Er weiß es nun sogar.“
„Das ist schlimm. Ist er verschwiegen?“
„Wer kann auf die Verschwiegenheit solcher Leute rechnen?“
„Er wird sich wie ein Blutegel an dich hängen.“
„Ich werde ihn abschütteln.“
„Abschütteln und zertreten, das ist das beste.“
„Übrigens habe ich etwas von ihm erfahren, was mir große Sorge machen wird.“
„Was?“
„Der Graf ist bei Besinnung.“
„Nicht möglich.“
„Er hört und sieht alles.“
„Das ist schrecklich“, sagte Alfonzo. Dann aber flog ein höhnisches Lächeln über sein Gesicht, und er fuhr fort: „So möchte ich wissen, was er gedacht hat, als er mich weinen und jammern hörte!“
Da kam ein Diener herbeigeeilt und meldete, daß der Präsident den Grafen zu sprechen wünsche. Alfonzo ließ den Beamten zu sich bescheiden und nahm Cortejo mit. Die Erbschaftsangelegenheit wurde zur größten Zufriedenheit geordnet. Er war nun der Besitzer von Millionen.
Am Abend, als alles zur Ruhe gegangen war und nur die Klagefrauen bei dem Toten wachten, öffnete sich eine Hinterpforte des Palastes, und es wurden drei Pferde herausgeführt. Zwei trugen Reitsättel, und das dritte war mit Waffen und anderen Dingen hoch bepackt. Alfonzo und Cortejo stiegen auf und verließen auf finsteren, unbelebten Straßen die Stadt.
Sie wandten sich nach den Bergen, die im Norden der Stadt liegen, und kamen nach einem Ritt, der über eine Stunde währte, in ein enges Tal, in dem ein kleines Feuer brannte, aber niemand zu bemerken war.
Die Indianer hatten sich vorsichtigerweise zurückgezogen, um zu sehen, wer die Nahenden seien. Als sie Alfonzo erkannten, kamen sie herbei.
„Mein weißer Bruder hält Wort“, sagte der Anführer.
„Was ich verspreche, das gilt“, antwortete Alfonzo stolz.
„Wer ist der andere weiße Mann?“
„Mein Freund.“
„So mag er die Pfeife des Friedens mit uns rauchen.“
„Ist das nicht zu umgehen? Wir haben keine Zeit.“
„Zur Pfeife des Friedens ist stets Zeit. Wer sie nicht mit uns rauchen will, ist unser Feind. Und was der Mann tut, das muß er mit dem Nachdenken des Geistes tun.“
Es blieb den beiden nichts anderes übrig, sie mußten sich in die indianische Sitte fügen.
Man setzte sich also auf die Erde, brannte die Pfeife an und ließ sie von Hand zu Hand gehen. Dann erst fragte der Anführer:
„Meine Brüder haben uns alles mitgebracht, und zwar Gewehre, Messer, Blei und Pulver?“
„Alles, auch Perlen und Schmuck für die Squaws.“
„So.“
Der Comanche hatte nach der vorsichtigen Sitte der Wilden alles einzeln aufgeführt. Jetzt fragte er:
„Und auch genug?“
„So viel, wie wir ausgemacht haben.“
„Wir werden abladen. Haben meine weißen Brüder noch etwas zu sagen?“
„Ja“, antwortete Alfonzo.
„So mag der weiße Graf sprechen.“
„Wollen meine roten Brüder gleich wieder zurückkehren?“ fragte Alfonzo.
„Ja.“
„Wollen sie sich nicht noch mehr Waffen und Schmuck verdienen?“
„Was sollen wir für diese Sachen tun?“
„Den Mann beschützen, mit dem ihr die Pfeife des Friedens geraucht.“
„Ist er in Gefahr, daß er des Schutzes seiner roten Freunde bedarf?“
„Nein. Er will von den Bergen hinabreiten bis an das Meer.“
„Wo das große Wasser ist?“
„Ja. Auf dem Weg dorthin gibt es viele böse Menschen, und darum sollen meine Brüder mit ihm gehen, um ihn zu beschützen.“
„Wie viele Tage muß man reiten, um das große Wasser zu sehen, auf dem die Schiffe gehen?“
„Fünf Tage.“
„Wollen meine weißen Brüder jedem von uns geben noch zwei Messer sowie auch zwei Spiegel, in denen man das Gesicht sehen kann?“
„Ja.“
„Eine hölzerne Pfeife, um Tabak zu rauchen, und dazu ein Paket Tabak, so groß wie der Kopf eines Mannes?“
„Auch das.“
„So werden wir den weißen Bruder bis an das Wasser begleiten. Wann reitet er fort?“
„In zwei oder drei Tagen.“
„So sollen wir hier warten?“
„Ja.“
„Dann müssen uns die weißen Brüder geben etwas rundes Silber, das die Weißen Geld nennen, damit wir nicht zu hungern brauchen, sondern uns in den Häusern der Weißen kaufen können, was wir essen wollen.“
„Auch das sollt ihr haben.“
„Wieviel?“
„Zehn Pesos.“
„Kann man davon sechs Männern zu essen geben?“
„Ja.“
„So gebe mein Bruder das Silber.“
Die Comanchen erhielten das Geld und auch alles, was das Lastpferd herbeigeschleppt hatte. Sie äußerten eine große Freude, und als sie noch einen Pack Zigarren erblickten, der zugegeben worden war, so kannte diese Freude keine Grenzen.
Nach einem nur noch kurzen Aufenthalt ritten Onkel und Neffe wieder davon, der Stadt entgegen.
Als sie nach Hause kamen und sich zur Ruhe begeben wollten, blickte Cortejo noch einmal in den Saal, in dem die Leiche lag. Dort saß die Amme bei den Klageweibern. Als sie den Sekretär sah, erhob sie sich und kam auf ihn zu.
„Verzeiht, Señor! Es ist nicht die rechte Zeit dazu, aber darf ich dennoch eine Frage wagen?“
„Welche?“
„Das Testament ist eröffnet worden, und zwar gestern gleich nach dem Tod des Grafen. War es das Testament, das im mittleren Fach des Schreibtisches lag?“
„Es wird dasselbe wohl gewesen sein. Der Präsident hat alles übernommen und versiegelt.“
„Ich höre, daß Don Alfonzo Haupterbe ist und daß viele ein Geschenk erhalten haben.“
„Allerdings.“
„Habe auch ich etwas erhalten?“
„Ja. Du bekommst tausend Pesos und freie Pflege bis zu deinem Tod.“
Sie machte ein sehr erstauntes Gesicht.
„So stand es im Testament?“
„Ja.“
„Oh, dann ist es nicht das richtige Testament gewesen.“
„Warum denkst du das?“
„Weil Don Ferdinando mir etwas anderes versprochen und auch im Testament hinzugeschrieben hat.“
„Was war das?“
„Ich sollte in meine Heimat nach Spanien zurückkehren dürfen und so viel erhalten, daß ich bis zu meinem Tod ohne Sorgen leben kann.“
„Und er hat dies auch zum Testament hinzugeschrieben? Wann?“
„Am Abend vor seinem Tod.“
„Da konnte er ja gar nicht schreiben; er war verwundet.“
„Oh, er konnte schreiben. Ich mußte ihn emporsetzen und die Feder eintauchen, es ging ganz gut.“
„Und wohin ist dann das Testament gekommen?“
„In das mittlere Fach des Schreibtisches.“
„So muß ich einmal mit dem Präsidenten sprechen, ob das darin steht, wovon du redest.“
„Ja, sprecht mit ihm, Señor. Nun der gnädige Herr tot ist, mag ich nicht länger hierbleiben.“
„Wenn sich aber das Geschriebene nicht im Testament befindet?“
„So ist ein falsches Testament eröffnet worden.“
„Waren denn zwei da?“
„Ja.“
„Woher weißt du das?“
„Don Ferdinando sagte es, als er das zweite schrieb.“
„Ah, warum machte er ein zweites?“
„Das kann ich nicht sagen, aber ich müßte dann mit dem Präsidenten sprechen, damit er das richtige sucht.“
„Laß mich zuvor selbst mit ihm reden, Marie. Du sollst erfahren, was er gesagt hat.“
„Ja?“
„Gewiß.“
Cortejo ging, indem er einen leisen Fluch zwischen den Zähnen murmelte. Dieses Weib konnte ihm noch viel zu schaffen machen. –
Am anderen Morgen wurde Graf de Rodriganda beerdigt. Die ganze Hautevolee beteiligte sich dabei. Don Ferdinando wurde auf dem Friedhof in seinem Begräbnis beigesetzt, das er für sich hatte erbauen lassen. Graf Alfonzo wurde trotz seiner zur Schau getragenen Betrübnis viel beneidet, und nur die reinen Ehrenmänner hätten nicht mit ihm getauscht.
Nach der Beerdigung herrschte tiefe Ruhe im Haus. Alfonzo saß auf dem Diwan und dachte darüber nach, wie er seinen Reichtum nun am besten genießen könne, da wurde die Tür leise geöffnet, und – Josefa trat ein.
Er erhob sich in höchster Überraschung; ein solches Wagnis schien ihm unbegreiflich.
„Du?“ fragte er. „Was willst du?“
„Dich sprechen“, antwortete sie kurz.
„Konntest du dich nicht anmelden lassen?“
„Läßt du dich anmelden, wenn du zu uns kommst?“
„Das ist ein anderer Fall! Was soll die Dienerschaft sagen, wenn sie sieht, daß du zu mir schleichst!“
„Daß wir verwandt sind“, erwiderte sie höhnisch.
„Du! Bist du toll?“
„Still! Ereifere dich nicht. Es weiß noch niemand, aber es ist sehr leicht möglich, daß sie es erfahren, und zwar von mir.“
„Du beliebst zu scherzen!“
„Ich spreche im Ernst, wenn ich auch bei schlechter Laune bin.“
„Willst du wohl die Güte haben, mir zu sagen, wer oder was dich in diese Laune versetzt hat?“
Josefa blickte den Frager zornig an und antwortete:
„Erstens der Umstand, daß du nicht die Höflichkeit hast, mir einen Sessel anzubieten.“
„Setze dich! Und zweitens?“
„Zweitens hast du mich fürchterlich beleidigt!“
„Beleidigt? Und sogar fürchterlich? Das ist schlimm, leider aber bin ich mir nichts davon bewußt.“
„Hast du nicht gesagt, ich sei häßlich und alt, hätte kein Herz und wäre zu jedem Verbrechen fähig?“
„Alles dies habe ich allerdings gesagt.“
Alfonzo sprach diese einsilbigen Antworten in einem kurzen, beinahe lustigen Ton. Josefa aber wurde immer bleicher vor Grimm, und ihre Eulenaugen bohrten sich drohend in die seinigen, als sie ihn zornig fragte:
„Darf ich annehmen, daß du dies im Scherz sagst?“
„Nein.“
„So war es Ernst, wirklicher Ernst?“
„Gewiß! Dein Vater, die alte Plaudertasche, kann es mir bezeugen.“
„Ah, welch eine neue Beleidigung!“ rief sie, indem sie die dürren Hände zur Faust ballte.
„Willst du mich fordern?“ lachte er.
„Nein, denn du wärst so feig, nicht zu kommen. Soll ich dir beweisen, daß ich ein Herz habe?“
„Ja.“
„Hat man ein Herz, wenn man liebt?“
„Natürlich, vorausgesetzt jedoch, daß man mit dem Herzen liebt.“
„Nun wohlan, ich liebe mit dem Herzen, und zwar dich selbst.“
Es war nicht etwa ein inniger, warmer Blick, den Josefa ihrem Vetter bei diesen Worten zuwarf, sondern ein funkelnder Katzenblick, etwa wie der eines Panthers, der im Käfig steckt und sich doch auf jemand werfen möchte.
„Mich?“ fragte er, laut lachend. „Das ist amüsant. Ich habe übrigens ganz und gar nichts dagegen.“
„Das ist deine einzige Antwort?“
„Willst du noch mehr Antworten? Zwei oder gar drei?“
Als Josefa hörte und sah, daß Alfonzo sich über sie lustig machte, zuckten ihre Finger und krallten sich zusammen, als ob sie ihm das Gesicht zerreißen und zerkratzen wolle. Vor Zorn zischend, entgegnete sie:
„Hast du einmal etwas von Gegenliebe gehört?“
„Freilich“, erwiderte er. „Ich habe sogar Gegenliebe gefühlt und gefunden, viele, viele Male!“
„So weißt du, daß zur Liebe Gegenliebe gehört?“
„Ja.“
„Nun wohl, ich verlange Gegenliebe von dir!“
„Pah, du bist toll!“
„Oh, ich bin sehr bei Sinnen, aber es ist möglich, daß ich noch toll werde!“ sagte sie.
„Probiere es doch einmal.“
„Wünsche das ja nicht, denn ich würde dich zerreißen.“
„Hm, die Krallen hättest du in der Tat dazu“, meinte er mit schneidendem Hohn.
„Alfonzo!“ knirschte sie da auf. „Also du liebst mich nicht?“
„Nein, Cousinchen. Du wirst auch nie im Leben einen finden, der sich in dich verlieben möchte.“
Ein jedes seiner Worte war ein spitzer, barbarischer Dolchstoß für sie; sie bezwang sich aber.
„Warum?“ fragte sie. „Hast du bereits einmal gehört, daß man sich Liebe erzwingen kann?“
„Etwa mit einem Liebestrank? Pah!“
„Nein, sondern durch wirkliche Gewalt, wirklichen Zwang.“
„Das träumst du nur.“
„Und doch ist es Wahrheit, das werde ich dir beweisen.“
„Du machst mich neugierig.“
Alfonzo spielte mit Josefa wie die Katze mit der Maus, aber es war nur der Leichtsinn, der ihn dazu verführte, denn er vermochte sich nicht zu denken, welche Folgen eine solche Grausamkeit haben mußte.
„Ich werde dich durch eine Grafenkrone zwingen“, sagte sie.
„Du sprichst in Rätseln.“
„So will ich deutlicher sein: Wenn du mich nicht zur Gräfin machst, so ist es um deine Grafenkrone geschehen.“
Alfonzo erbleichte jetzt doch. Er dachte daran, daß sie eines jeden Verbrechens fähig sei, und antwortete:
„Sei verständig, Josefa! Die Liebe läßt sich nicht geben und nicht nehmen; ich kann ja nichts dafür, daß ich für dich nicht das empfinde, was du für mich fühlst.“
„Du sollst es aber empfinden, ich will es so!“
Dabei stampfte sie den Boden mit ihrem Fuß.
„Bitte beherrsche dich!“ sagte er ernst.
„Ich habe mich beherrscht, jahrelang. Ich habe meine Liebe versteckt, tief in der Brust, bis sie mir das ganze Herz zerrissen hat. Ich habe mich beherrscht auch heute und jetzt, wo du mich mit Ironie zerfleischtest. Und ich beherrsche mich noch einmal, indem ich dich bitte, doch nur den Versuch zu machen, mich zu lieben. Alfonzo, ich beschwöre dich, versuche es!“
Josefa trat auf ihn zu, um seine Hand zu erfassen, er aber entzog ihr dieselbe und entgegnete:
„Spiele nicht Komödie, Cousine, und gehe in dein Zimmer; ich kann dir nicht helfen!“
Josefa blickte ihn mit einem tiefen, unbeschreiblichen Blick an. Hätte er jetzt die Hand nach ihr ausgestreckt, sie wäre unendlich glücklich geworden, sie wäre ein gutes, braves Weib geworden, alles Böse in ihr wäre gewichen vor der einen, unwiderstehlichen Macht der Liebe. Er aber tat es nicht.
„Nun wohlan“, sagte sie, „da du mir nicht helfen kannst, so muß ich mir selber helfen. Nicht wahr, mein Vater geht nach Vera Cruz?“
„Ja; er schafft die Leiche fort.“
„Wann kommt er wieder?“
„Es wird über eine Woche dauern.“
„Gut, so gebe ich dir Zeit bis dahin. Nach der Rückkehr des Vaters werde ich dich fragen. Weist du mich dann auch noch zurück –“
„Ich weise dich sicher zurück!“ unterbrach er sie. „Ich werde dich zurückweisen, selbst wenn du mir fünfzig Jahre Bedenkzeit gibst.“
„So haßt und verachtest du mich?“
„Weder das eine noch das andere. Ich scheue dich; das ist alles, was ich für dich fühle. Gib dich damit zufrieden!“
„Er scheut mich!“ sagte sie mit zitternder Stimme. „Ich bin ihm nichts als eine Vogelscheuche!“
„Ja, Cousine, dies ist das richtige Wort!“ lachte er.
Josefa kniff die schmalen Lippen zusammen und ballte abermals die Fäuste.
„Nimm dich in acht, Alfonzo!“ zischte sie drohend. „Du hast mich nun genug beleidigt.“
„So gehe doch!“
„Ja, ich gehe! Du weißt, wie lange ich dir Frist gegeben habe. Adieu.“
„Adieu! Und merke dir, daß du dich anmelden zu lassen hast, wenn du wieder mit mir sprechen willst.“
Josefa ging, und Alfonzo sank lachend in seinen Diwan. Er hatte nach seiner Meinung eine Art Lustspiel durchlebt und dachte gar nicht daran, wie bald dasselbe zum Trauerspiel werden könne. –
Am Abend machten sich zwei Männer auf dem hinteren Hof des Palastes zu schaffen. Es waren Graf Alfonzo und der Sekretär. Dieser Hof stieß mit einer seiner Seiten an den Blumengarten, in dessen Ecke eine Laube stand, der Lieblingsaufenthalt der alten Amme, die hier ihre Schlummerstunde hielt. Seit dem Tod Don Ferdinandos war sie öfters hier. Dieser Tod hatte ihr mehr als den äußeren, er hatte ihr auch den inneren Halt geraubt, den sie durch einsames Sinnen wiederzugewinnen dachte. Auch heute abend saß sie hier, ganz einsam und allein. Sie hörte, daß die beiden Männer Pferde aus dem Stall zogen und sattelten, ferner was sie sprachen, ehe sie das Haus verließen, und erkannte sie an ihrer Stimme.
„Also wie lange wirst du wegbleiben?“ fragte der erstere.
„Acht bis neun Tage.“
„In die Stadt Vera Cruz kommst du nicht?“
„Nicht eher, als bis ich das Paket losgeworden bin. Ich hoffe, daß ich mich auf die sechs Comanchen verlassen kann!“
„Vollständig. Sei nur vorsichtig, daß man dich nicht erwischt!“
Es waren vier Pferde, die durch das hintere Tor den Palast verließen, zwei Reitpferde und zwei Packpferde. Eines der letzteren trug Lebensmittel, und auf das andere hatte man einen wohl sechs Fuß langen Korb befestigt.
Der kleine Zug ging nach dem Gottesacker. Dort wurden die Pferde angebunden, während die Männer durch das stets offene Tor nach dem Begräbnis der Rodrigandas schritten. Alfonzo öffnete dasselbe. Sie stiegen hinab und öffneten im Finsteren den Sarg. Kein Wort wurde dabei gesprochen. Dann hoben sie den Toten heraus, trugen ihn empor und schlossen Sarg und Mausoleum wieder fest zu. Hierauf schafften sie die Leiche aus dem Friedhof fort, legten sie mit großer Anstrengung in den Korb, dessen Deckel mit mehreren Schlössern befestigt wurde, und trabten fort.
Es war erst gegen Morgen, als Alfonzo durch das hintere Tor zurückkehrte.
Am anderen Abend, fast um dieselbe Zeit, saß Marie Hermoyes wieder im Garten und dachte an den Toten, an das Testament, an das jetzige Leben hier und wie es doch ganz anders gewesen war, als der wackere Pedro Arbellez noch hier gewohnt hatte. Ja, wenn der noch hier wäre, so könnte sie sich bei ihm wohl Rat holen!
Da wurde sie aus ihrem Sinnen durch ein leichtes Geräusch aufgeschreckt. Sie blickte empor und erschrak. Es schwang sich jemand über die Mauer herüber. Ihr Schreck war so groß, daß sie nicht einmal um Hilfe rufen konnte. Nur einen leisen, ganz, ganz leisen Laut brachte sie hervor.
Aber dieser Laut, auf den kein anderer geachtet hätte, genügte, um sie zu verraten. Der Mann sprang nämlich sofort auf sie zu und faßte sie so bei der Gurgel, daß sie nicht schreien konnte.
„Still“, sagte er, „sonst steche ich dich nieder. Wer bist du?“
Er ließ ihre Kehle ein wenig locker, so daß sie antworten konnte.
„Ich war die Amme des jungen Herrn.“
„Ugh! Wie heißt du?“
„Marie Hermoyes.“
„Hermoyes – Hermoyes – den Namen habe ich gehört!“ Der Mann sann nach und sagte dann: „Ugh! Kennst du Pedro Arbellez und Señorita Emma?“
„Ja.“
„Sie haben von dir gesprochen. Du bist ein gutes Weib. Du wirst mich nicht verraten, und ich brauche dir kein Leid zu, tun.“
Hierauf nahm er die Hand von ihrer Kehle und ließ sie frei.
Jetzt erst getraute die Alte sich, den Mann genauer zu betrachten. Er war hoch und stark gebaut und ganz in festes, unverwüstliches Büffelleder gekleidet. Er trug eine schwere Doppelbüchse in der Hand und mehrere Waffen, die sie aber bei der Dunkelheit nicht zu unterscheiden vermochte, im Gürtel. Nun setzte er sich auf die Bank neben sie und sagte:
„Fürchte dich nicht, ich bin dein Freund!“
„Wer seid Ihr?“ fragte sie.
„Ich bin ‚Büffelstirn‘, der Häuptling der Mixtekas.“
„So seid Ihr ein Indianer?“
„Ja.“
Er hatte von ihrem Freund Arbellez und von dessen Tochter gesprochen, seine Stimme klang jetzt mild und weich, sie fürchtete sich nicht mehr.
„Was wollt Ihr hier?“ fragte sie.
„Gib mir erst Antwort auf meine Fragen!“ sagte er. „Wem gehört dieses Haus?“
„Dem Grafen de Rodriganda.“
„Welcher Ferdinando heißt?“
„Nein. Dieser ist vor einigen Tagen gestorben.“
„Wie heißt der jetzige Graf?“
„Alfonzo, der auf der Hacienda war.“
„Ist er ein guter Mann?“
Die Alte schwieg.
„Sage mir die Wahrheit. Ich bin dein Freund. Emma Arbellez sendet mich.“
„Warum fragt Ihr so?“ erkundigte sie sich.
„Weil er auf der Hacienda viel Schlimmes verübt hat. Er ist ein Lügner, ein Betrüger, ein Mörder, ein Feigling.“
„Ja, er ist nicht gut“, entgegnete sie.
„Du liebst ihn nicht?“
„Nein. Niemand liebt ihn.“
„Wer ist noch in diesem großen Haus?“
„Die ganzen Beamten und Diener. Der oberste ist Señor Pablo Cortejo.“
„Cortejo – Cortejo – den Namen habe ich auch gehört. Ich habe mich bei Señor Arbellez nach allen erkundigt. Cortejo ist ein Spanier?“
„Ja, derselbe ist verreist, und zwar nach Vera Cruz.“
„Allein?“
„Nein, mit sechs Comanchen.“
„Ugh!“ stieß der Indianer zwischen den Zähnen hervor. „Hast du die Comanchen gesehen?“
„Nein.“
„Wird auch dieser Graf Alfonzo verreisen?“
„Nein.“
„So ist er mir sicher. Wann ist Cortejo mit den Comanchen fort von hier?“
„Gestern abend um diese Zeit. Oh, Señor, habt Ihr etwas Böses im Schilde?“
„Nein. Ich liebe die Guten und hasse die Bösen.“
„Wie geht es Señor Arbellez?“
„Er ist reich und gut. Er ist gesund und stark und hat ein Kind, das ihn sehr liebt.“
„Ja, er ist glücklich. Ach, könnte ich doch bei ihm sein! Könnte ich hier fort!“
„Es gefällt dir hier nicht?“
„Nein. Sie alle sind böse. Nur Don Ferdinando war gut.“
„Würdest du dich freuen, wenn sie ihre Strafe erhielten?“
„Ja, o wie wollte ich es ihnen gönnen.“
„Hat dieser Alfonzo auch hier Böses getan?“
„Genug.“
Jetzt endlich war ‚Büffelstirn‘ seiner Sache sicher, und nun sagte er aufrichtig zu ihr:
„Ich bin als Rächer gekommen.“
„An dem Grafen?“
„Ja.“
„Straft ihn, Señor, straft ihn! Er hat die schlimmsten Strafen verdient!“
Die gute Frau war mit den Indianergebräuchen zuwenig bekannt. Sie dachte nicht an Tod und das Skalpieren, sie dachte nur im allgemeinen an Strafe.
„Du möchtest gern bei Señor Arbellez sein?“ fragte ‚Büffelstirn‘.
„O wie gern! Ich sehne mich nach ihm und Señorita Emma von ganzem Herzen“, antwortete sie.
„Willst du mit uns zu ihm gehen?“
„Mit Euch? Seid Ihr mehrere?“
„Wir sind zwei.“
„Wer ist der andere?“
„Es ist ‚Bärenherz‘, der Häuptling der Apachen.“
„Ihr geht nach der Hacienda?“
„In einer Woche.“
„Oh, ich ginge so gern mit, aber ich kenne Euch nicht. Ihr seid wilde Indianer.“
Die Alte war naiv genug, sich zu fürchten und doch den Ausdruck ‚wild‘ zu gebrauchen, der ihn beleidigen mußte, wenn er wirklich ‚wild‘ war! Er schien es aber gar nicht gehört zu haben, sondern ergriff ihre Hand und sagte im herzlichsten Ton, dessen er fähig war:
„Du bist eine gute Squaw. Darf ich dir erzählen, was Graf Alfonzo getan hat?“
„Erzählt es, Señor.“
‚Büffelstirn‘ setzte sich nun neben die alte Dienerin hin und berichtete ihr das auf der Hacienda Geschehene insoweit, daß es ihr ein Urteil ermöglichte, wie schlecht der Graf gewesen war und wie sie im Gegensatz hierzu ihm, dem Sprecher, vertrauen könne. Er erreichte diesen Zweck, denn als er geendet hatte, sagte sie zu ihm:
„Señor, Ihr seid ein Roter, aber Ihr seid ein guter Mensch. Ich gehe mit Euch.“
„Uff! Du bist alt; du sollst eine Sänfte haben.“
„Wo ist Euer Gefährte?“
„Draußen vor der Stadt. Er wartet auf mich.“
„Warum kam er nicht mit?“
„Einer ist genug, um auf Kundschaft zu gehen. Er redet die Sprache der Weißen nicht so wie ich. Aber du wirst ihn sehen, wenn wir wiederkommen.“
„Wohin wollt Ihr gehen?“
„An das Meer.“
„Und Ihr kommt wirklich wieder?“
„Ja, wenn du schweigen kannst.“
„O Señor, von mir wird kein Mensch etwas erfahren.“
„Auch nicht, daß ‚Büffelstirn‘ hier gewesen ist?“
„Nein.“
„Halte dein Wort, so werde ich auch das meinige halten. Gute Nacht, du gutes Weib der Bleichgesichter!“
Der Indianer gab der Alten die Hand und war im nächsten Augenblick wieder über die Mauer hinüber.
Sie blieb sitzen, als hätte sie nur geträumt, daß der erst so feindselig auftretende Mann gekommen sei, sie aus diesem Haus zu erlösen. Er aber schritt durch die stille, dunkle Stadt, bis er dieselbe im Rücken hatte.
Dann stieß er einen Pfiff aus, ein zweiter antwortete, und bald tauchte die Gestalt des Apachen vor ihm in der Finsternis auf.
„Wo hat mein Bruder die Pferde?“ fragte er.
„Sie grasen nicht weit von hier“, antwortete ‚Bärenherz‘. „Hat mein Bruder etwas entdeckt?“
„Ich habe das Haus gefunden.“
„Ist es groß?“
„Es gehört zu den größten Häusern der Stadt.“
„Werden wir darin gleich den antreffen, den wir suchen?“
„Wir werden es, denn ich habe eine Führerin, die seine Feindin ist, sie haßt ihn. Sie ist die Freundin von Señor Arbellez und von Señorita Emma. Ich habe ihr versprochen, sie mit nach der Hacienda zu nehmen.“
„Ugh!“ sagte der Apache unmutig. „Ein Weib ist wie der Bach, der stets murmelt!“
„Diese weiße Squaw plaudert nicht“, entgegnete der wackere Cibolero. „Señorita Emma hat mir ihren Namen genannt, als ich ging. Ich kenne sie.“
„So hat mein Bruder weiter nichts erforscht als dieses Weib?“
„Noch viel mehr. Sie hat mir gesagt, wo die Comanchen sind.“
„Ugh! Wo sind sie?“
„Fort, nach Vera Cruz.“
„Und wo ist der weiße Graf?“
„In seinem Haus, wo er bleiben wird.“
„So ist er uns sicher, diese Hunde von Comanchen aber können uns entgehen. Mein Bruder ‚Büffelstirn‘ beeile sich daher, ihnen mit mir nachzufolgen! Wann sind sie fort?“
„Gestern abend. Den Weg, den sie kommen, kenne ich.“
„So wollen wir jetzt, in diesem Augenblick, aufbrechen.“
„Ugh! Ich bin einverstanden.“
Eine Minute später saßen die beiden Helden bereits zu Pferd und ritten dem Osten zu.
Die Comanchen ahnten nicht, daß sie zwei so unversöhnliche Verfolger hinter sich hatten. Sie erreichten die Gegend von Vera Cruz und wandten sich dann nordwärts von der Stadt der Küste zu, wo sie endlich nach längerem Suchen eine kleine, versteckte Bucht fanden, in der ein Boot bequem landen konnte.
Cortejo begab sich dann nach dem Hafen, um zu Landola an Bord zu gehen. Er fand ihn auf dem Schiff anwesend.
„Endlich!“ sagte der Kapitän. „Ich habe auf Euch gewartet wie der Teufel auf die Seele. Ich durfte, um von Euch sogleich getroffen zu werden, das Schiff nicht verlassen, und diese Zeit ist mir verdammt langweilig vorgekommen. Habt Ihr die Fracht?“
„Ja, in einem Korb.“
„Wo befindet sie sich?“
„Nordwärts in einer Bucht.“
„Könnt Ihr uns führen?“
„Ich denke, daß ich den Ort treffen werde.“
„So werde ich sogleich das große Boot in See gehen lassen. Was habt Ihr für Leute zur Bedeckung mit?“
„Sechs wilde Indianer.“
„Donnerwetter, Ihr seid klug! Diese Leute werden schweigen, das ist sicher und gewiß.“
Das große Boot wurde herabgelassen und bemannt. Die Matrosen waren mit Waffen versehen, denn der Kapitän war entschlossen, es mit dem Zollkutter aufzunehmen, wenn dieser ihn stören sollte. Er schlug jedoch vorsichtshalber einen weiten Bogen in die See hinaus und näherte sich erst dann dem Land, als er glaubte, nicht mehr gesehen zu werden.
Cortejo zeigte, daß er ein gutes Ortsgedächtnis besaß. Er fand die Bucht sehr leicht. Sie landeten und nahmen den Korb, von dessen Inhalt weder die Indianer noch die Matrosen eine Ahnung hatten, in das Boot herein. Dann ruderte man zurück, und Cortejo begleitete den Kapitän wieder auf das Schiff, um eine Flasche Wein mit ihm auszustechen, nachdem er den Comanchen die Weisung erteilt hätte, an der Bucht auf ihn zu warten.
An Bord angekommen, wurde der Korb zunächst in die Kajüte des Kapitäns gebracht.
„Was wollt Ihr hier mit ihm?“ fragte Cortejo, als sie dort allein waren.
„Ich muß beobachten, was ein Scheintoter für ein Gesicht macht, wenn er lebendig wird.“
„Aber hier kann er von Euren Leuten entdeckt werden!“
„Tragt keine Sorge. Sobald er lebendig ist, kommt er hinunter in den Raum, wo ihn kein Mensch sehen und hören kann. Kommt und helft mir!“
Neben der Kapitänskajüte befand sich ein enger Raum, der notdürftig von einem kleinen Fensterchen erleuchtet war, das sich an der Seite des Schiffes befand. Hier herein schafften sie den Korb. Da der Raum zu kurz und schmal war, als daß der Korb hätte stehen können, so lehnten sie denselben aufrecht in die von dem Fensterchen beleuchtete Ecke und öffneten ihn.
Der Graf stand in dem schräg anliegenden Korb. Er sah wie eine Leiche aus, und doch hätte man schwören mögen, daß es nur ein Schlafender sei.
„Donnerwetter!“ rief Cortejo, als er ihn erblickte. „Was ist das? Sein Haar ist ergraut!“
„Hat er das Bewußtsein?“ fragte der Kapitän.
„Ja.“
„Dann ist es bei der fürchterlichen Angst, die er auszustehen hatte, kein Wunder, daß das Haar ergraute. Wenn er uns reden hört, so wird er wissen, daß sein Leben nun gerettet ist. Kommt wieder herein, Señor; unser Wein wartet.“
Sie traten in die Kajüte zurück. Während sie dort zechten, lag oder stand der Scheintote in seinem Korb in tiefster Verzweiflung. Sein Herz schlug fast nicht mehr, aber welche Gefühle mußten es trotzdem durchwühlen! Welche Fragen mußten diesen Mann beschäftigen, der nicht wußte, was man mit ihm vorgenommen hatte, und der nun, ohne sich rühren zu können, aus dem Mund des Räuberkapitäns erfuhr, daß es sich wenigstens nicht um sein Leben handle. Welcher dunklen, vielleicht fürchterlichen Zukunft führte man ihn entgegen!
Als Cortejo sich einige Zeit später von dem Kapitän verabschiedete, wurde er von zwei Matrosen an Land gerudert. Am Steuer saß ein Mann, der als zweiter Steuermann auf dem Schiff diente; es war jener Jacques Garbilot, der, wie wir bereits gesehen haben, im Gefängnis zu Barcelona starb und vor seinem Tod dem Pater Dominikaner in Gegenwart Doktor Sternaus beichtete.