Kapitel 4
Deutschland, Sachsen, Leipzig
Tycho saß mit Elisabeth in der Vodkaria und blickte kurz zur viel befahrenen Kreuzung hinaus. Er wählte immer den großen Tisch zur Käthe-Kollwitz-Straße hinaus, weil er gerne Bewegung um sich hatte. Dann gab es was zu schauen, wenn seine Gedanken stockten und er Ablenkung benötigte, die wiederum in neue Motivation mündete.
Gerade grübelte Tycho und sah der vorbeirumpelnden Tram nach, während seine Gefährtin in der Karte blätterte und einen Wodka für sich aussuchte. Neben ihr lag das Tablet, auf dem sie nebenbei die PDFs las.
Die SMS, die von der Osten dem Tschechen geschickt hatte, war drei Tage vor dem Mord am Unterweltboss eingegangen.
Keinerlei Aktivitäten gegen SN vorgesehen.
Sie konnten die anonyme Nachricht des Prepaid-Handys nur zuordnen, weil die Standortabfrage zum Aufenthaltsort des Bundestagsabgeordneten führte. Dessen Smartphone zeichnete genau auf, wann sich von der Osten wo befand.
Horák hatte ihm geantwortet:
DANKE! Melden, wenn was gebraucht wird.
Was kryptisch daherkam, ergab für Elisabeth sofort Sinn: SN konnte für SexNights stehen, ein recht neuer Sexschuppen, den der Cousin des Tschechen eröffnet hatte.
Anscheinend beschäftigte von der Osten einen Informanten bei der Polizei, der ihn gelegentlich mit Antworten versorgte, wenn der Abgeordnete seines Wahlkreises fragte. Das harmlose Wort Aktivitäten war gleichzusetzen mit Razzia oder Polizeikontrolle der Mädchen.
Oder Steuerfahndung. Tycho glaubte nicht, dass es einen Zusammenhang zwischen der SMS und dem Tod des Abgeordneten gab. Der Name des Tschechen tauchte in den PDFs nicht auf. Sicherlich hatte ein krummer Hund wie von der Osten seine Eisen in vielen Feuern. Tycho lächelte, als Elisabeth ihre Hand auf seine legte.
»Neue Erkenntnisse?«, erkundigte er sich bei ihr. Vor ihr stand ein klarer Schnaps, in dem zwei Eiswürfel und ein geriebenes Gewürz samt feinen Spänchen von Zitronenschale schwammen. »Du wirst mir immer ein Rätsel bleiben. Du hast Glück, dass dich mein Vater nicht Psycho-Tycho nennt.«
Er lachte. »Verdient hätte ich es vielleicht.«
Elisabeth zeigte auf das Tablet. »Alles sehr aufschlussreich, aber keinerlei sonstige Verbindung, würde ich sagen.«
»Sollte das nächste Opfer …«, setzte er an.
»Das nächste?«
Tycho lehnte sich nach vorne, um ihrem schönen Gesicht näher zu sein. »Ich wette um eine Million, dass es der Auftakt ist. Dieser Satz ›Gott mit uns‹ ist ein Zeichen, dass jemand im Hintergrund die Fäden zieht und seine Soldaten ausschickt, um Menschen umbringen zu lassen, die es verdient haben.« Er küsste sie flüchtig auf den Mund und schmeckte Kardamom, Zitrone, Honig und noch was anderes, das im Wodka eingerührt war. »Riedelmayer hat mir bestätigt, dass die Mörderin von der Ostens das Gleiche sagte.« Er zeigte auf ihren Drink. »Was ist das?«
»Wodka India«, erwiderte sie und nahm das Glas, nippte daran, ohne ihm etwas anzubieten. »Und auch wenn ich es hasse, dir fast immer – fast«, betonte Elisabeth, »recht geben zu müssen: Das BKA hat sich bei uns gemeldet. Sie meinten, es könne sein, dass sie die Ermittlungen an sich ziehen werden, je nach den Erkenntnissen der Kollegen aus Berlin.«
Tycho lachte kurz und hart auf. »Und was sagten sie noch?«
»Nichts. Noch haben sie ja nicht übernommen.«
»Das werden sie müssen.«
Elisabeth setzte zu einer Erwiderung an, als ihr Smartphone einen Signalton von sich gab. Sie sah nach, ihre Augenbrauen hoben sich.
Das war eine Geste, die er an ihr liebte: sexy, attraktiv und ein sicherer Indikator, dass sie etwas von ihrer Dienststelle geschickt bekommen hatte, was für ihn interessant sein mochte.
»Lass mich raten: ein neuer Mord, bei dem der Mörder oder die Mörderin meinen Satz sagte?«, platzte es förmlich aus ihm heraus.
Sie blickte ihn ernst an. »Du musst dem BKA sagen, was du vermutest.«
»Ach, die sind clever genug und haben Profiler, auf deren Tricks ich niemals käme«, wehrte er bescheiden ab. »Ich mache das hier nur als Hobby.« Er zeigte auf ihr Smartphone. »Und?«
Elisabeth sah nicht freudig aus. »Erinnerst du dich an den Mord am Rentnerpaar?«
Damit vermochte er nichts anzufangen. »Wo?«
»In Golm, bei Potsdam.« Sie nahm einen weiteren, längeren Schluck vom aromatisierten Wodka.
»Ah, der Verrückte, der sich als Frau tarnte?«
Elisabeth nickte. »Zeugenaussagen brachten zutage, dass er deinen Satz rief.« Sie seufzte. »Damit ist er entweder ein Fan von Rotmann, oder er gehört in die Reihe derer, die losziehen und vermeintlich böse Menschen umbringen. Ich wollte es dir zuerst nicht sagen, weil du sonst schrecklich überheblich wirst.«
»Unsinn. Zu dir niemals.« Tycho fühlte das Jagdkribbeln überall in ihm, und das hatte nichts mit dem Rückenleiden zu tun oder dass ihm von zu vielen Schmerztabletten schon mal der Arm oder das Bein einschliefen. »Das Rentnerpaar wurde demnach überprüft?«
»Die Kollegen gingen dem aufgrund des Hinweises unserer Ermittlungsgruppe nach.« Elisabeth leerte ihr Getränk. »Kinderpornografie.«
»Hatte der Alte oder die Alte auf dem Rechner?«
»Schlimmer. Sie organisierten das Verschicken von DVDs nach ganz Europa. Im Keller fand die Spusi diverse Computer und DVD-Brenner, die als Kopierstationen dienten.« Sie steckte das Smartphone ein. »Das BKA hat sich gerade eben gemeldet. Sie übernehmen den Fall.«
Er sah ihr an, dass noch etwas geschehen war. »Warte, warte! Sie haben den Täter schon?« Er schlug mit der Linken auf den Tisch. »Nein, er ist tot!«
»Es wurde eine Nachrichtensperre verhängt. Das muss unter uns bleiben.« Sie senkte die Stimme, was den Klang ihrer Worte unfassbar anregend machte, auch wenn sie vom Inhalt her nicht schön waren. »Riedelmayer ist gestern von einem Junkie vor seiner Tür erstochen worden. Der bewusstlose Mörder starb wenige Minuten danach an Organversagen, sozusagen unter den Händen der eintreffenden Beamten.« Sie sprach noch leiser. »Eine Obduktion hat ergeben, dass seine Leber vollkommen zerstört war. Er hatte Aids, das nicht behandelt wurde. Aber sein Blut strotzte vor Aufputschmitteln und illegalen Substanzen.«
»Wie bei der Unbekannten und Rotmann.« Tycho machte sich Notizen in sein kleines Notizbuch mit dem farbenfrohen Einband. Bald wollte er nach Wien, um den Arzt zu besuchen.
Elisabeth schüttelte den schwarzen Lockenkopf. »Du müsstest dich mal sehen. Du strahlst regelrecht.«
»Ich kann kramen.« Er grinste sie an. »Sag mal, kennst du jemanden beim BKA?«
Ihre Augen blitzten wütend.
»Schon gut. Ich versuche, mich dort einfach als Berater reinzuschmuggeln.«
»Sicherlich.« Elisabeth lachte ihn aus.
»Wollen wir wetten? Um eine Million?«
»Tycho, du bist der einzige Mensch, den ich kenne, der Millionär ist. Da ich folglich keine Million habe, wie sollte ich da einsteigen?«
»Du kannst ja eine Million Mal Sex mit mir einsetzen«, sagte er und ließ seine Reibeisenstimme etwas tiefer, verruchter klingen.
»Ich überschlage das mal kurz. Also, wenn wir es jeden Tag einmal treiben, müsstest du mich mehr als … zweieinhalbtausend Jahre vögeln«, erwiderte sie.
»Und bei dreimal am Tag?«
»Stirbst du in einem Monat, alter Mann.« Elisabeth lachte herrlich laut und von Herzen, sodass er nicht anders konnte, als sie im Nacken zu packen, zu sich zu ziehen und zu küssen. Sie ließ es zu, musste aber noch immer kichern.
»Kommst du mit?« Er stand auf.
»Damit ich dir zusehen kann, wie du deine Denkerwand umbaust?« Sie lehnte mit einer Handbewegung ab. »Ich mache dem BKA noch Unterlagen fertig.«
»Schick sie mir auch.« Er warf ihr wie gewohnt eine Kusshand zu und bezahlte am Tresen, dann verließ er die Kneipe.
Die Haltestelle der Tram war nur wenige Meter von der Vodkaria entfernt.
Dass es für einen Millionär nicht unbedingt als standesgemäß galt, mit dem ÖPNV zu reisen, interessierte Tycho nicht. Er konnte unterwegs grübeln, im Netz suchen, mailen und Nachrichten versenden.
Tycho eilte durch den Nieselregen, begab sich unter das Vordach zu den Wartenden und nahm sein Smartphone heraus.
Jason hatte ihm geschrieben:
Grüße, Krämer!
Die Community erkennt so was doch sofort. :)
Anbei die Adresse des Ladens, in dem das Motiv des schreienden Gesichts gestochen worden ist. Mehr musst du selbst rausfinden – wüsste nicht, was ich in deinem Namen hätte fragen sollen.
Immer weiter!
Jason & les Argonoi
Der Laden befand sich in Homburg, was bedeutete, dass Tycho reisen würde. Am besten nach Homburg und von da nach Wien. Oder wie es sich gerade ergibt und dringender ist.
Er hatte sich zwar Mühe gegeben, bei Elisabeth zuversichtlich zu klingen, aber sich in ein BKA-Team reinzudrängeln, war ein Ding der Unmöglichkeit.
Gelegentlich griffen Ermittler auf externe Berater oder Spezialisten zurück, wenn die Untersuchungen es erforderlich machten, aber er besaß keinerlei Qualifikation, die ihn dafür interessant machte.
Mal sehen, was ich im Studio erreiche. Tycho hörte die Bahn nahen mit dem klassischen Geräusch, als würde ein kleines Gewitter auf den Schienen heranrollen.
Zu gerne wollte er sich im Domizil des Junkies umsehen, der Riedelmayer und die Kinderpornosenioren umgebracht hatte. Doch dazu müsste er bestimmt in die Wohnung einbrechen – falls er überhaupt rausbekam, wo die war.
Jason feuerte eine zweite Nachricht hinterher, als Tycho in den mittleren, alten Tramwaggon einstieg und sich einen Platz auf den hartschaligen Sitzen suchte. Er hatte keine Lust, zu stehen und die Schwankungen beim Lesen und Schreiben auszugleichen. Seinem Rücken tat der Platz allerdings nicht gut.
Ach ja, Krämer. Du weißt es sicherlich schon. Geht ja gerade durch die Schmutzpresse: Die Unbekannte heißt Sybille Martinés. Anbei die Datei, in der ich zusammengetragen habe, was auf die Schnelle zu finden war.
Und auch der Arzt ist dabei. Hat aber Urlaub, sagt der AB. Ich habe ihn via Computer umprogrammiert, sodass wir das Ding zu Hause und das in seiner Praxis abhören können. Wie das geht, steht auch im File.
rouge vert et rougevert!
Jason & les Argonoi
Verrückter Hund. Tycho wurde auf seinem Sitz durchgeschüttelt und sandte seinem Freund einen stillen Dank. Die Denkerwand bekäme einige neue Zettel.
Deutschland, Sachsen, Leipzig
»Bist du noch mit diesem Krämer zusammen?«
Elisabeth saß am Schreibtisch und ordnete die letzten Ausdrucke zum Rotmann-Fall, die zusammen mit den Dateien ans BKA gingen. Sie kannte die eiskalte Stimme in ihrem Rücken und fühlte sich jedes Mal wie das kleine Mädchen, das von ihrem Vater bei etwas erwischt worden war, was gegen die Regeln verstieß. »Wir sind im Büro, Papa.«
Alexander Friedrich Allmann ging um sie herum und stellte sich vor sie, dann nahm er auf der Platte Platz. »Ebendeswegen.« Er trug einen Markenanzug, die Sorte von eintausend Euro aufwärts, weil er der festen Überzeugung war, dass man als Kriminalmann nicht klischeehaft Lederjacke und Oberlippenbart tragen musste. Glatt rasiert, durchtrainiert, fokussiert von Anfang an in seiner Karriere.
Elisabeth kam sich in ihrer Jeans, der Bluse und – natürlich – der Lederjacke daneben immer noch vor wie ein Azubi, obwohl sie schon längere Zeit bei der Polizei arbeitete und zu den Besten gehörte. In seinen Augen war dies ein Makel: Sie musste die Beste sein. Gerade wegen des Namens.
»Wie kann ich dir helfen?«
»Die Kollegen aus Berlin haben sich bei mir über Tycho Krämer erkundigt, weil er bei ihnen mit PDF-Dateien hereinspazierte. Woher auch immer er sie bekommen hat.«
»Und?« Sie wartete auf den Knall.
»Ihr wart vorhin essen.«
»Ja?«
»Hat er was erwähnt?« Er sah sie an wie eine Verdächtige bei der Befragung.
»Was genau, Papa?« Sie legte die Ausdrucke in das Paket. »Ich verstehe nicht, auf was du hinausmöchtest.«
»Weiß er mehr, als er zugibt? Dazu hätte ich gerne deine Einschätzung gehört.«
Elisabeth schloss den Deckel des Kartons und nahm das braune Klebeband heraus. »Wirst du ihm in diesem Fall ein MEK auf den Hals hetzen, die ihn ins Präsidium schleifen?«, erwiderte sie halb im Scherz, denn zuzutrauen wäre es ihm durchaus. Da er nicht antwortete, versah sie den Karton mit Klebestreifen. Das ratschende Abrollgeräusch erklang in der Stille überlaut. »Ich weiß nicht, was er vorhat, und auch nicht, was er schon in Erfahrung brachte. Es ist seine Angelegenheit.«
»Solange du ihn nicht mit Informationen versorgst«, fügte er behutsam, aber unmissverständlich hinzu. »Das wäre das Ende deiner Karriere.«
Sie unterdrückte den Impuls, »Und deiner« hinzuzufügen – denn darum ging es bei der Unterhaltung wirklich.
»Da der Fall an das BKA geht, gerätst du nicht mehr in Versuchung.« Seine kühlen Augen fixierten sie. »Du warst damals mit Steffen Rülker in der Ausbildung. Er ist beim BKA, das weiß ich. Komm nicht auf den Gedanken, ihn um einen Gefallen zu bitten.«
Rülker. Elisabeth hatte ihn ganz vergessen. Er war ein Unsympath durch und durch. Ohne die Bemerkung ihres Vaters hätte sie ihn ausgeblendet, wie man unschöne Dinge und Erlebnisse verdrängt. »Was soll ich dazu sagen?«
»Nichts. Aber ich habe alles gesagt.« Er erhob sich vom Schreibtisch und steckte die rechte Hand in die Hosentasche, was ihm durch das kantige Gesicht und die Figur das Auftreten eines Models oder eines Filmbösewichts verlieh. Ihr Vater war nicht umsonst gefürchtet. »Eine Sache noch: Du weißt, dass es deinen Krämer erst seit elf Jahren gibt?«
Sie warf die schwarz gelockte Mähne zurück und sah ihn erstaunt an. »Bitte?«
Er sah sie kopfschüttelnd an. »Du hast niemals eine Abfrage gemacht?«
»Nein. Ich vertraue ihm.«
»Deswegen gibt es Eltern.« Sein kalter Ausdruck erhielt für die Dauer eines Herzschlags einen freundlichen Hauch. »Ich habe ein Amtshilfegesuch an die französischen Behörden …«
»Französische Behörden?«, fiel sie ihm überrascht ins Wort.
Nun wurde ihr Vater wieder kalt. »Du wusstest nicht mal, dass er französischer Staatsbürger ist?« Er gab einen missbilligenden Laut von sich. »Anscheinend nicht«, gab er sich selbst die Antwort. »Ich ließ eine Abfrage dort wegen eines vermeintlichen Verbrechens in Deutschland machen und bekam seine Anschrift in Frankreich sowie seine persönlichen Daten.« Er sah den Blick in den Augen der Tochter und schwächte sogleich mit einer Geste ab. »Ich habe sie eine Stunde später wissen lassen, dass eine Verwechslung vorlag. Keine Sorge, er wird nicht gesucht.«
Was ihm Elisabeth durchaus zugetraut hätte. Als kleine Retourkutsche.
Er zog ganz langsam einen gefalteten Zettel aus der Sakkotasche und legte ihn vor sie. »Es gibt an ihm nichts auszusetzen, außer dass die Anlage seines Registers im zuständigen französischen Meldeamt erst vor elf Jahren geschah.« Er schob den Zettel mit zwei Fingern näher an sie heran. »Doch was hat er vor diesen elf Jahren gemacht? Monsieur Krämer hat selbst Geheimnisse. Ich fand, dass du Bescheid wissen solltest.« Ihr Vater nickte ihr zu und verließ das Büro.
Elisabeth sah auf das Papier, atmete langsam ein und seufzend aus. Auch das noch.
Deutschland, Saarland, Homburg
Tycho fand den Tätowierladen, der zu seiner Überraschung ein wenig abseits lag, in einem Stadtteil nahe am Wald und unmittelbar neben einem kleinen Bauernhof, der gerade renoviert und umgebaut wurde. Zweimal hatte das Taxi sich auf dem Weg verfahren, das Navigationsgerät schien sich ebenso zu wundern wie er.
Seine Bewunderung bekam der davor geparkte, zu einem Gothic-Retro-Modell umgebaute schwarze VW-Käfer, inklusive einer Morgensternkugel als Schaltknüppelknauf. Jemand hatte sehr viel Zeit und Aufwand in die matte Sonderlackierung gesteckt. Sogar Motorhaube und Kotflügel waren verändert worden, sodass der Käfer an die Zwanzigerjahre-Modelle erinnerte.
Tycho verfluchte seinen schmerzenden Rücken, der lange Autofahrten nicht guthieß, und trat in das Vorzimmer, das mit seinen roten Sofas und den alten Deckenbalken gemütlich aussah. Schräg dahinter erkannte er den Raum, in dem tätowiert wurde. Es roch sauber, in einem Aquarium schwammen unaufgeregte Fische.
Eine junge Frau kam aus einem anderen Raum und brachte Kaffeeduft mit. Sie trug ein weites Shirt, knallenge Lederhosen und schwarz-weiße Turnschuhe. Die langen, schwarzen Haare waren auf einer Seite abrasiert, Piercings steckten in Nase, rechter Augenbraue und Unterlippe. Sie war, wie es sich für einen solchen Laden gehörte, sichtbar an Armen, Dekolleté und Hals tätowiert.
»Hallo«, grüßte sie freundlich und hielt einen Humpen in der Hand, aus dem der leckere Geruch ins Zimmer dampfte. »Was kann ich für dich tun, grande seigneur? Termine, das sage ich dir gleich, erst wieder für das nächste Halbjahr.«
Tycho nickte. »Die Sache ist ein bisschen delikater.«
»Kein Problem. Ich pierce ziemlich viel.« Sie reichte ihm die Hand. »Ich bin Alice.« Sie setzte sich auf die Couch. »Oder geht’s um Bodymods?«
»Bodymods?«
Alice lächelte nachsichtig. »Eher nicht. Verstehe.« Sie hob den Humpen. »Was ist denn delikat?«
Er setzte sich mit etwas Abstand neben sie und legte ein Bild des schreienden Gesichts vor. »Das haben Sie gemacht, richtig?«
Sie warf einen knappen Blick drauf. »Ja.«
»Wir hatten einen One-Night-Stand. Ich weiß, dass sie Sybille heißt, aber mehr leider nicht.«
Alice beobachtete ihn über den Rand des Humpens hinweg. »Ich soll dir die Adresse einer Kundin geben.«
»Wäre nett.«
Sie lächelte wissend. »Es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie man mich verarschen kann, aber das hier funktioniert nicht. Du kannst ein Psycho sein, und Sybille ist froh, dass sie dich nie wieder sehen muss.« Sie nippte. »Außerdem hat sich rumgesprochen, dass jemand das Motiv sucht. Im Netz verbreitet sich das schnell.«
Tycho änderte seine Taktik und lächelte. »Dann die Wahrheit: Das Bild« – er tippte auf das Foto – »wurde bei der Obduktion der Dame aufgenommen. Sie hat einen Mann erschossen und starb beim Verhör.«
Alice zeigte keine Reaktion. »Du bist Reporter?«
»Ein privater Ermittler. Die Reporter werden noch kommen und Ihnen Fragen stellen, schätze ich. Die Polizei unter Umständen auch.« Tycho setzte sich bequemer hin, um sein Kreuz zu entlasten. »Mich interessiert, was sie Ihnen erzählte. Von sich.«
»Nicht viel.« Sie stellte das Gefäß ab. »Außerdem kann ich mir solche Sachen nicht merken. Ich tätowiere so viele Leute, und manche reden wegen ihrer Angst unaufhörlich, dass ich meistens nicht richtig zuhöre. Würde mich zu sehr ablenken.«
»Wann haben Sie ihr das grüne Kreuz gestochen?«
»Das war vor zwei Wochen. Am Kleinzeugstag.« Alice erhob sich mit dem Humpen und ging zum Schreibtisch, der weiter hinten im Raum stand, blätterte im Terminbuch. »Da kann jeder vorbeikommen, der nur Kleinigkeiten tätowiert haben will. Das Kreuz war keine große Sache.«
»Brachte sie eine Vorlage mit?«
»Einen Ausdruck, ja.« Alice lehnte sich an die Tischplatte, schlürfte vom Kaffee. »Boah, hätte ich nie gedacht.«
»Dass sie einen Menschen erschießt?«
Die Tätowiererin nickte. »Sie war ein wütendes Mädchen, hasste Ungerechtigkeit und wünschte ganz vielen Leuten, dass sie an schlimmen Krankheiten verrecken sollten.« Sie legte eine Hand auf die linke Hüfte. »Deswegen das schreiende Gesicht. Sie musste ihrer Wut Ausdruck verleihen.« Alice überlegte. »Das Wort Lyssa hatte auch damit zu tun. Es bedeutet Wut, glaube ich. Zumindest sagte Sybille das. Eines Tages wollte sie was unternehmen.«
»Hat sie auch. Ziemlich spektakulär sogar.«
»Wen hat sie erschossen?«
»Einen korrupten Politiker.« Tycho hätte zu gerne einen Kaffee gehabt. »War sie schlau?«
»Schlau?«
»Würden Sie ihr zum Beispiel Wissen über Technik und Computer zutrauen?«
»Nein. Sie war durchschnittlich schlau, wenn man das sagen kann, ohne Menschen richtig zu kennen. Jedenfalls machte sie sich viele Gedanken. Sie war Erzieherin, soweit ich weiß.«
»Irgendwas, was Ihnen noch ungewöhnlich vorkam?«
Alice kehrte auf die Couch zurück. »Was hast du mit den ganzen Informationen vor?«, stellte sie die Gegenfrage. »Für wen arbeitest du? Die Angehörigen der Politiker?«
»Ich glaube, dass mehr dahintersteckt als der Mord einer wütenden Person an einem korrupten Menschen. Sybille Martinés könnte zu einem Netzwerk gehört haben, das weitere Tote fabrizieren wird.«
»Solange es die Richtigen sind«, warf Alice ein und grinste mit Genugtuung.
»Und wenn sich das Netzwerk irrt?«, hielt Tycho dagegen. »Wenn Sie auf der Liste stünden?«
Alice verlor das Amüsement. »Du hast recht.« Dann erhob sie sich, um zum Schreibtisch zurückzukehren. »Irgendwo ist die Vorlage noch«, räumte sie ein. »Habe vergessen, sie wegzuwerfen.« Sie zog eine Schublade auf, wühlte in losen Zetteln. »Hier ist sie.«
Tycho stand auf und nahm das Papier in Empfang, strich eine silbergraue Strähne zurück. »Danke.« Es sah aus, als wäre es aus einem Buch gescannt und ausgedruckt worden. Das inspizierte er in Ruhe. »Wussten Sie von ihrer Krankheit?«
»Nein. Sonst hätte ich Sybille vermutlich nicht tätowiert. Es bedeutet Stress für den Körper, und wenn man eh schon geschwächt ist …« Alice sah nachdenklich aus. »Jetzt hat sie ihre Wut doch noch anders gezeigt.«
»Und sie hat keinen Unschuldigen erwischt.« Tycho verabschiedete sich mit einem Nicken. »Nochmals danke für die Vorlage und die Auskünfte.« Er wandte sich um.
»Sie wohnte nicht mehr hier«, sagte Alice. »Aber gelegentlich besuchte sie ihre Mutter. Talstraße. Das ist ein Altenheim.«
»Danke.« Tycho verließ den Laden und ging über den Hof, an den Pferdeboxen vorbei zum Parkplatz, wo sein Taxi wartete. Er hatte dem Fahrer eine Anzahlung dagelassen, damit der Mann nicht in Panik geriet, weil sein Kunde so lange wegblieb.
Er stieg in den schwarzen Mercedes, nannte dem Mann die Adresse des Altersheims und beschäftigte sich mit dem Begriff Lyssa. Er war so sicher gewesen, dass es sich um einen Spitznamen handelte, dass er gar keine weiteren Nachforschungen angestellt hatte.
Ein Fehler?
Sobald man das Wort Lyssa eingab, spuckte das Internet tonnenweise Ergebnisse aus, angefangen bei Spielernamen von Online-Rollenspielen bis hin zu einem deutschen Schauspieler, Regisseur und Produktionsleiter, der 1950 verstorben war. Es existierte das gleichnamige Hilfswerk für Straßenkinder in Ecuador, die Medizin nutzte es auch als medizinisch-griechischen Namen für Tollwut; es war außerdem ein Bindegewebsstrang in der Zunge von Hunden, aber nicht zuletzt eben: die personifizierte Wut, gemäß der griechischen Mythologie.
Wenn man Sybille als Verkörperung des Wahnsinns und der wütenden Raserei betrachtete, konnte es passen: Sie hatte sich dem Impuls hingegeben, wenn auch vorerst auf eine ruhige Weise.
In Beziehung gesetzt wurden die lateinischen Begriffe ira, furor und rabies, was Wut bedeutete.
Als Gestalt, so behauptete das Internet, erscheine Lyssa als Jägerin, behängt mit Tierfellen und versehen mit hundeähnlichen Attributen, zudem spielten sowohl der Begriff als auch Lyssa als Person eine wichtige Rolle in den griechischen Tragödien.
Passt das zu einer Erzieherin? Tycho wollte dem Berufsstand nicht zu nahe treten, aber wer beschäftigte sich dabei mit Lyssa? Es kam bei den Kleinen bestimmt nicht gut an, wenn man sie in rasender Wut unterwies; spätestens die Eltern fänden es scheiße. Konnte aber sein, dass Sybille gerne Onlinespiele zockte.
Oder sie war Fan griechischer Tragödiendichtung.
Das grüne Kreuz hingegen führte ihn zur ältesten gemeinnützigen Vereinigung zur Förderung der gesundheitlichen Vorsorge und Kommunikation in Deutschland; dann gab es noch das Grüne Kreuz in Form eines österreichweiten eigenständigen Rettungs-, Krankentransport- und Sanitätshilfsdiensts. Nicht zu vergessen, kümmerte sich ein anderes Grünes Kreuz um die Unterstützung und Förderung von schuldlos in Not geratenen beziehungsweise hilfsbedürftigen Personen des Jagd- und Forstwesens, in Zell am See war es ein Verein für Kranken- & Notfalltransporte, und so ging es weiter. Als wäre das nicht alles schon genug, kamen diverse Staatswappen und Ordensabzeichen obendrauf.
Er hob den Kopf. Das wird knifflig.
Das Taxi kutschierte ihn durch die unspektakuläre Mittelstadt, die aussah wie jene typischen Städte, die nach dem Krieg aus Trümmern hochgezogen worden waren, und viel des alten Charmes eingebüßt hatte. Eingestreute Bauwerke aus den Sechzigern und Achtzigern machten es nicht besser.
Tycho wusste noch nicht, was er sich von der Begegnung mit der Mutter erhoffte. Er setzte auf einen Überraschungsfund.
Deutschland, Hamburg, Hafencity
»Und hier die letzten drei Kandidatinnen. Ich wünsche der Jury eine gute Hand«, ertönte die Stimme des Ansagers über die Köpfe der Zuschauer hinweg, die sich auf den Treppenstufen der Magellan-Terrassen niedergelassen hatten.
Zu ihnen gehörte auch Simon Kasinsky, auch wenn er von Berufs wegen den Tag am Wasser verbrachte. Der Achtundzwanzigjährige schwitzte im billigen Sakko, trug Sonnenbrille und Headset, wie es sich für einen Securitymitarbeiter gehörte. Seine Blicke schweiften im gleichbleibenden Rhythmus über die Menge; in der Rechten hielt er eine Dose mit Energydrink, die zur Hälfte leer getrunken war. Aufmerksamkeit – darum ging es.
Die Sonne schien auf die unzähligen Besucher des Hafenfestes herab, das wie jedes Jahr Tausende anzog, die kamen, um die verschiedensten Schiffe und Boote zu bewundern, die sich die Ehre gaben und die Elbe entlangfuhren.
Jemand hatte es für eine gute Idee gehalten, dem Spektakel eine weitere Facette hinzuzufügen: eine Miss-Hafencity-Wahl, und die Magellan-Terrassen boten die perfekte Bühne.
Dort, wo sich auf dem amphitheaterähnlichen Platz das Jahr über mal Straßenkünstler, mal Tänzer, mal Vorleser betätigten und etliche andere Veranstaltungen stattfanden, wurde nun hanseatische Schönheit zur Schau gestellt.
Zwischendurch bekam Kasinsky Gelegenheit, auf die Damen zu sehen, wenn auch nur für Sekunden.
Die drei jungen Frauen, zwei Blonde, eine Brünette, gingen in Abendgarderobe über den Laufsteg und wirkten dabei souverän. Am Ende wartete ein Moderator, um Fragen zu stellen, auf welche die Kandidatinnen sinnige Antworten geben sollten.
Kasinsky hatte schon viele Veranstaltungen für seinen Chef bewacht, angefangen bei Boxturnieren bis hin zu Schmuckausstellungen. Am schwierigsten waren Sportveranstaltungen, bei denen sich die Stimmung sehr schnell aufheizte und die Fans ausflippten, wenn etwas geschah, was deren Meinung nach nicht in Ordnung ging. Manche mussten dann beruhigt werden, was schnell und schmerzvoll geschah, wenn sie sich vollkommen uneinsichtig zeigten. Meistens reichten jedoch ein Abführgriff und ein paar deutliche Worte.
Kasinsky hasste die Magellan-Terrassen. Sie waren unmöglich zu sichern, es gab nicht mal die obligatorischen hüfthohen Wellenbrecher vor dem Catwalk und der kleinen Bühne. Aber der Veranstalter wollte größtmögliches Behagen bei den Zuschauern, also durfte nichts im Blick sein, was nach Distanz aussah.
Er hob den Kopf und betrachtete die klotzartigen Gebäude der Hafen-City, die modern, gläsern und solitär emporragten. Heckenschützen schloss er bei einer solchen Veranstaltung aus, und doch gefiel es ihm nicht, auf der exponierten Fläche zu stehen. Das hatte er schon bei seiner Bundeswehrzeit nicht gemocht.
»… und Weltfrieden«, sagte die Brünette mit einem Grinsen, und die Besucher lachten laut. Es war ein Running-Gag in Anspielung auf einen amerikanischen Film mit Sandra Bullock, bei dem es um eine Miss-Wahl ging und jede Teilnehmerin sich politisch korrekt den Weltfrieden wünschte. Die drei Hamburger Damen mussten sich abgesprochen haben.
Kasinsky grinste und betrachtete die Menge: Familien, etliche junge Leute, noch mehr Ältere, einige Pärchen und leider auch viele sehr junge Männer, die in der ersten Reihe herumlungerten, ihre Smartphones ständig nutzten, um Aufnahmen zu schießen, mit der Hoffnung auf Busenblitzer und Schlüpferlüpfer.
Vier von ihnen behielt der Securitymann mit Personenschützerausbildung besonders im Auge. Sie schienen ein bisschen was getrunken zu haben, und die sengende Sonne machte sie übermütig. Mehrmals deutete einer von ihnen an, auf die Bühne steigen zu wollen und sich eine der angehenden Miss-Hafencitys zu schnappen. Seine Kumpels feuerten ihn an, doch noch traute er sich nicht. Die beiden Securityleute neben dem Podest vor ihnen schienen sie ebenso wenig zu stören wie deren freundliche Mahnungen, ruhig zu werden.
Mit Wellenbrechern und Absperrungen wäre die Situation deutlich entspannter gewesen.
»Siehst du das Vollpfostenquartett auch, Kasi?«, kam es über sein Headset.
»Positiv. Die werden lästig«, antwortete er der Zentrale. Er nahm eine seiner Pillen aus der Sakkotasche und spülte sie mit dem Rest des Energydrinks hinab. Muskelwachstum auf die illegale Weise, aber das störte seinen Chef nicht. »Soll ich das machen?«
»Das sind vier, Kasi.«
Er feixte bösartig. »Zwei zu wenig, um eine Herausforderung zu bedeuten.« Kasinsky setzte sich langsam in Bewegung. »Ich deeskaliere mal.«
Der Achtundzwanzigjährige wusste um seine Wirkung. Er war groß, breitschultrig, kräftig gebaut, doch hatte er ein freundliches Gesicht, das nicht nach Schläger aussah. Die braunen Haare trug er kurz, damit ihn niemand daran packen konnte.
Leicht nach vorne gebeugt näherte er sich unauffällig der inselartigen Bühne, auf der eine der Blondinen gerade verhört wurde. Er nickte seinen beiden nervösen Kollegen zu, was so viel bedeutete wie: Ich mache das schon.
Das Vollpfostenquartett schoss gerade Fotos von der jungen Frau, als er vor ihnen erschien. »Hört mal, Jungs«, sagte er jovial. »Macht halblang. Seid ruhiger und genießt die Show wie alle anderen auch.«
»Kannst du mir die Nummer von der Schnitte besorgen?«, fragte einer übermütig. »Die sieht sooo geil aus!«
»Wer bist’n du überhaupt?«, mischte sich ein Zweiter ein, der wesentlich aggressiver klang und beim Herumfuchteln sein Bier verschüttete.
Kasinsky zog die Sonnenbrille ab und blieb freundlich, sein Ton wurde allerdings schärfer. »Seid nett, seht zu und trinkt euer Bierchen. Wir wollen alle einen schönen Tag haben. Ihr und die Menschen um euch herum. Bisschen Rücksicht, das wäre toll von euch. Ihr seid doch vernünftig, das sehe ich euch an.«
Alle nickten und machten »pscht« – bis auf den Fuchtler. Er schien auf eine Ansage gewartet zu haben und drängte sich durch seine Kumpels nach vorne, die ihn zurückhalten wollten.
»Du hast mir einen Scheiß zu sagen«, grollte er.
»Das stimmt. Ich kann dich nur höflich bitten«, stimmte Kasinsky zu. »Und du bist ein einsichtiger Mensch wie deine Freunde.« Er machte sich absichtlich nicht größer, um den angetrunkenen Mann nicht herauszufordern.
»Geh mir aus dem Bild, Wichtigtuer«, knurrte er und packte Kasinskys Schulter, um ihn zur Seite zu schieben.
»Schaff den Idioten weg«, kam es über das Headset. »Anweisung vom Veranstalter.«
Ruhig wehrte Kasinsky die Hand ab. »Nicht anfassen«, bat er. »Wie wäre es, wenn du und deine Freunde mir an den Bierstand folgen? Ich gebe einen aus.«
»Bring es her«, verlangte der Fuchtler. »Ich bleibe.« Er streckte die Hand aus, um den Zeigefinger gegen die Brust des Sicherheitsmannes zu setzen. »Und wenn du …«
Dann ging es ganz schnell: Kasinsky umfasste den Arm des Angetrunkenen, umrundete den Mann, bog die Extremität auf dessen Rücken und schob ihn schräg neben sich her, als wären es Freunde, die gemeinsam zum Bierstand gingen. Die Hand des Mannes hielt er angewinkelt, sodass ein letzter Druck genügte, um das Gelenk zu brechen.
Der Fuchtler keuchte vor Schmerz. »Du Wichser!«, zischte er.
»Ganz ruhig. Ich bringe dich nur zum Bier. Das ist einfacher.« Kasinsky blieb unauffällig. Niemand, der nicht genau auf ihn und den Mann blickte, würde bemerken, was geschah.
Die Kumpels des Abgeführten sahen unschlüssig hinterher, wie ihm ein Kollege über Funk sagte, aber sie schienen sich nicht aufzuraffen, um etwas zu unternehmen.
Kasinsky schob den Mann zum Bierstand und löste behutsam den Griff, blieb aber wachsam. Er hatte die Körperspannung genau bemerkt. »Okay, Tacheles, Kumpel. Du parkst hier, bis die Veranstaltung rum ist«, sagte er scharf und richtete sich jetzt auf. »Der Veranstalter hat dir Platzverweis erteilt. Sollte ich dich an der Bühne sehen, schleppe ich dich weniger freundlich weg und übergebe dich der Polizei.«
»Das sind die Magellan-Terrassen. Die gehören nicht dem!«, schnauzte der Angetrunkene.
»Es ist bis achtzehn Uhr ein gemieteter Veranstaltungsort, und damit hat der Veranstalter Hausrecht.« Kasinsky sah ihm in die Augen. »Ich kann auch jetzt die Polizei herbeipfeifen, wenn du Wert drauf legst. Kostet mich einen Knopfdruck.«
Mit der Attacke des Mannes hatte Kasinsky gerechnet. Er wich der Bierdusche aus, tauchte unter dem nachfolgenden Schlag weg, blockte das hochzuckende Knie des Gegners mit überkreuzten Fäusten und rammte ihm den Kopf gegen den Solarplexus.
Kasinskys einziger Angriff reichte aus, um den Angetrunkenen schnaufend zu Boden zu schicken. Er hielt sich die Brust und hustete, pumpte wie ein Maikäfer auf dem Rücken und ruderte wild. »Zentrale, schick mir mal die Grünen. Wir haben einen Null-Einser.«
»Verstanden«, kam die Erwiderung.
Null-eins bedeutete: Widersetzen gegen Anweisungen mit Tätlichkeit.
Kasinsky richtete das Wort an den Fuchtler. »Bleib unten, wenn du nicht mehr abbekommen willst.« Er fühlte das Adrenalin und zügelte sich. In seiner Funktion als Securitymann musste er professionell bleiben und durfte den Mann nicht vollständig ausschalten.
»Kasi, geh mal nach rechts zum Laufsteg, hinterer Bereich. Da liegt ein Päckchen oder so was, das angeblich vorhin nicht da war«, erhielt er die nächste Anweisung.
»Positiv.« Er sah auf den Fuchtler, der sich keuchend zur Seite wälzte und sich krümmte. Von ihm ging keine Gefahr mehr aus. Kasinsky machte sich auf den Weg.
Dass jemand eine Bombe platzierte, hielt er für äußerst unwahrscheinlich, aber man musste der Sache nachgehen.
Er machte sich wieder klein, um nicht zu auffällig zu sein, und huschte neben dem Catwalk entlang, blickte alle paar Meter unter die Abdeckung und die Bühnenelemente, ohne etwas zu erkennen. Kurz vor dem Durchgang zum Backstagebereich sah er den Karton, der an eine Weinumverpackung erinnerte.
Kasinsky näherte sich dem Quader, während schräg über ihm die zweite Blondine nach vorne ging. Die langen Beine sahen toll aus, das enge schwarze Abendkleid betonte die unfassbar gute Figur, und die langen gelockten Haare wippten. Man musste nicht angetrunken sein, um diese Frau geil zu finden.
Den Moment der Unaufmerksamkeit hatte er sich gegönnt, um den Karton anschließend genau zu inspizieren. Es war wirklich eine Verpackung, auf der Rotpspon gedruckt stand. Keine Drähte, keine verdächtigen Veränderungen. »Zentrale, sieht harmlos aus.«
Er zog sein Stiefelkampfmesser aus der Gürtelhalterung und öffnete damit die halb verschlossene Lasche.
Schon beim ersten Kontakt von Metall und dickem Papier ließ sich die Verpackung verschieben, und ein Blick hinein sagte Kasinsky: Sie war leer.
»Entwarnung«, gab er durch. »Müll. Vermutlich vom Wind …«
Schräg vor ihm knallte es mehrmals, und er zuckte unwillkürlich zusammen. Wenn er etwas erkannte, dann war es das Geräusch von Schüssen.
Am Backstage-Eingang stand ein Mann, der eine Pistole in der Hand hielt und einen Schuss nach dem anderen abgab. Die Schreie der Zuschauer mischten sich mit denen des Moderators, der seinen Schrecken ins Mikro brüllte.
Kasinsky blickte kurz über die Schulter und sah die Blondine auf dem Laufsteg liegen, der Conférencier kauerte daneben. Neben der Frau breitete sich eine rote Lache aus. Also war es keine Schreckschusswaffe, die der Angreifer nutzte.
Kasinsky federte in die Höhe und holte gleichzeitig zum Wurf aus.
Das Stiefelkampfmesser verließ mit viel Schwung seine Hand, während er auf den Catwalk sprang, um auf den Schützen zuzurennen.
Die Klinge durchbohrte die Brust des Mannes, der daraufhin zwei kleine Schritte nach hinten machte. Etwas Kleines rutschte von seinem Hals und fiel leise klirrend auf den Boden. Die Mündung zitterte, sein Zeigefinger krümmte sich erneut.
Kasinsky erreichte ihn, bevor sich der Schuss löste, schlug den Arm mit der Waffe nach oben, hielt die Hand des Angreifers fest und entriss ihm die Pistole mit einer geübten Bewegung. Das Messer steckte fast bis zum Heft in der rechten Brustseite.
Kasinsky ließ ihm seinen rechten und seinen linken Ellbogen ins Gesicht krachen, um den Gegner zu Fall zu bringen.
Doch kaum schlug der Mann auf dem Catwalk auf, zog er eine zweite, wesentlich kleinere Halbautomatik aus einem Beinholster. »Gott mit uns«, presste er heraus. »Die Schlampe muss sterben!«
Ein Teil von Kasinskys Verstand tippte auf einen Exfreund, der sich aus verschmähter Liebe rächte, der andere befahl ihm zu handeln, bevor ihn die Kugel traf.
Und so schoss er den Gegner mit dessen eigener Waffe zweimal in die Schulter, woraufhin der Mann wütend grollte und mit der unverletzten Hand nach dem Messergriff in seinem Leib fasste.
»Sie muss sterben!«, wiederholte der Unbekannte und unternahm Anstrengungen, auf die Beine zu kommen. Das Blut rann schnell und unaufhörlich aus den Wunden in Brust und Schulter, es tropfte auf den Laufsteg.
»Bleib liegen!« Kasinsky sah den Mann wie einen Zombie auf sich zuschwanken, das rechte Bein knickte mehrmals ein.
»Aus dem Weg«, ächzte er. »Ich muss …«
»Runter!« Der Securitymann setzte ihm einen weiteren Treffer ins Knie und brachte ihn erneut zu Fall.
Dieses Mal blieb der Angreifer liegen.
Kasinsky atmete tief ein und aus, sicherte die Makarow –wie er mit einem Blick erkannte – und entdeckte einen kleinen kreuzförmigen, grünen Anhänger, der neben dem ausgeschalteten Gegner auf dem Catwalk lag. Das Lederband schien von der Klinge durchtrennt worden zu sein.
Das Schmuckstück sah schön aus.
Aber Glück hatte es seinem Träger nicht gebracht.