Kapitel 9

Deutschland, Sachsen, Leipzig

Elisabeth wollte nicht einfallen, wie sie aus der Nummer herauskam, ohne Misstrauen zu erwecken. Alles, was sie sich ausdachte, klang nach Ausrede, nach Vertuschung, und das wiederum würde Müller erst recht neugierig machen.

Sie beschloss, ihn zügig durch die Wohnung zu schleusen, vielleicht ein wenig zu flirten, um seine Sinne auf sich zu lenken, und dann nichts wie raus. Elisabeth wusste nicht, wie er mit Vornamen hieß. Müller.

Er steuerte auf den großen Parkplatz der ehemaligen Brauerei und hielt an. »Wow. Das nenne ich mal gediegen.«

Ich bin gespannt, was du zu den dreihundert Quadratmetern sagst. »Ja, Leipzig entwickelt sich weiter.« Sie stieg aus und übernahm die Führung. Ihr Bedürfnis, Tycho in den faltigen Sack zu treten, stieg minütlich.

Müller folgte ihr. »Halten Sie die Geschichte für plausibel?«

»Dass die Vögel den Auftrag bekamen, die Festplatte auszubauen?« Sie schnalzte mit der Zunge. »Kann sein. Er recherchiert viel und hat alle möglichen Informationen abgespeichert. Und es gibt Menschen, die er nicht als Freunde bezeichnen würde.«

»Eine Ahnung, welcher Fall so interessant sein könnte?«

Elisabeth verbuchte die Fragerei des Kollegen unter Berufskrankheit. »Nein. Er übrigens auch nicht.«

»Er?«

»Herr Krämer. Der Mann, dessen Eigentum gestohlen wurde.«

Müller lachte leise. »Verzeihung. Ich wollte nicht respektlos erscheinen.«

Sie begaben sich zum Fahrstuhl, der sie gleich darauf nach oben brachte.

»Taten Sie nicht, Herr Kollege. Es klang nur, als wären wir auf dem Weg zu einem Verdächtigen.«

»Sie sehen ihn nicht als Verdächtigen, der beschuldigt wird, Waffen bei sich zu lagern?«

Elisabeth merkte, dass er sie geschickt in eine Richtung manövrierte, und sie musste den Zug machen, den er erwartete. »Ich war schon sehr oft in dieser Wohnung, und ich kenne den Geruch von Waffenreinigungsmittel. Denken Sie, es wäre mir nicht aufgefallen?«

»Wohl kaum.« Müller sah nach vorne, die Türen glitten auseinander. »Aber Liebe kann ja ein bisschen blind machen.« Er ging an ihr vorbei zur großen Tür.

Sie sah ihm irritiert nach. »Können Sie das lassen, Herr Kollege?«

»Was denn?«

»Diese Spielchen, die Sie vermutlich normalerweise mit Verdächtigen spielen.« Elisabeths Zorn richtete sich jetzt weniger gegen Tycho als gegen Müller.

Der Gesichtsausdruck des Mannes warnte sie davor, ihn zu unterschätzen oder als unaufmerksam einzustufen. Fast schien es ihr, als habe Sokolow noch etwas gesagt, nachdem sie den Raum verlassen hatte.

Bitte nicht. Sie schluckte und überholte ihn, um den Eingang mit dem Spezialschlüssel zu öffnen.

Sie betraten das Loft, und Müller stieß einen lang gezogenen Pfiff aus, in dem blankes Erstaunen lag.

Sofort drehte er eine Runde, schaute sich um, als würde jeder seiner Blicke ein Foto schießen.

Elisabeth folgte ihm mit etwas Abstand und erzählte alles Mögliche zu den Möbeln, was ihr Tycho berichtet hatte, von denen aus dem 18. Jahrhundert über die Bauhaus-Stücke bis zu Konstrukten von Jung-Designern.

»Sieht aus wie in einer Ausstellung.« Müller sog die Luft ein. Es roch stark nach dem Kleber, den die Handwerker benutzt hatten, um die Scheiben zu ersetzen. Keine Ecke entging seiner Aufmerksamkeit, er ging sogar gelegentlich auf die Knie, um unter die Einrichtungsgegenstände zu blicken.

»Sie nehmen das Geschwafel eines geständigen Einbrechers sehr ernst«, kommentierte Elisabeth amüsiert.

»Er hat gestanden. Und meines Erachtens keinen Grund zu lügen.« Müller erhob sich und wischte sich die Knie ab. »Welchen Grund hingegen hätte wohl Herr Krämer, Kriegswaffen zu besitzen?« Er schlenderte weiter und umrundete die Möbel, als wäre er auf Slalomtour. »Was man so alles für einen Lottogewinn bekommen kann.«

Elisabeth hörte heraus, dass es Müller längst nicht mehr um das Erledigen eines überflüssigen Besuchs ging, sondern dass er in dem Loft nach Antworten auf Fragen suchte, die Sokolow aufgeworfen hatte. »Sie sollten auch spielen. Manchmal hat man Glück.«

Müller lachte und setzte seine Inspektion fort, gelangte an die Denkerwand, die Elisabeth abgehängt hatte, damit weder die Spurensicherung noch die Handwerker sahen, was ihren Gefährten bewegte. »Ich gebe nicht viel auf äußerst geringe Wahrscheinlichkeiten.«

Sie ging in die Kochnische und schaltete die Kaffeemaschine ein. »Auch einen?«

»Gern.« Müller umrundete auffällig oft den Schrank, aus dem die Einbrecher die Kalaschnikows gestohlen hatten. »Hier müsste es sein.«

»Was denn?«

»Der Ort, an dem sich die Gewehre befunden haben.« Müller fuhr mit dem Finger am Holz entlang, als würde er aus dem Material telepathisch lesen können. Knarzend öffnete sich ein Flügel, und er sah hinein, ging in die Hocke und betrachtete den Boden. »Ich sehe nichts.«

Als er dagegen pochte, drückte Elisabeth den Knopf für die Kaffeemühle. »Was auch?« Sie ließ zwei Getränke zubereiten und brachte eine Tasse zu ihm, beteiligte sich danach an der Suche, simulierte ein Abklopfen und blickte in Schränke.

Nach einer knappen Viertelstunde gaben sie zu Elisabeths Erleichterung auf und saßen auf den Chesterfieldcouches, betrachteten Leipzig und tranken Kaffee.

»Wann kommt Herr Krämer denn wieder?« Müller schaute nach oben zu den Scheiben.

»Ich weiß nicht, wie lange ihn seine Recherchen in Wien halten«, gab sie zurück und lächelte dabei hinreißend.

»Hat sein Aufenthalt in Wien was mit dem Rotmann-Fall zu tun?« Müller tat weiterhin unschuldig.

»Herr Müller, lassen Sie es doch endlich gut sein.« Elisabeth grinste und trank ihren Kaffee. »Kommen Sie. Wir haben beide genug zu tun. Wichtige Dinge. Verbrechen aufklären.« Schwungvoll stellte sie die Tasse ab.

Er grinste sie über den Rand hinweg an. »Sie haben recht. Herr Krämer wird sein Vermögen kaum als Waffenhändler aufbauen und als Lottogewinn tarnen.« Er stand ebenfalls auf und reichte ihr sein Behältnis.

»Das war Ihre Vermutung?« Nun lachte Elisabeth ehrlich und befreit. »Gott, er ist so schlecht in Mathe, er würde sich dauernd bei Deals verrechnen.« Sie stellte seine Tasse in ihre, dann gingen sie gemeinsam durch das Loft zur Tür.

»Na, Sokolow klang überzeugend.« Müller sah die ganze Zeit aus dem Fenster, um die Aussicht auf die Stadt zu genießen. »Mann, Ihr Freund hat sich schon was Schönes ausgesucht.« Er ließ offen, was genau er damit meinte: sie oder das Loft.

»Ich werde es ihm ausrichten.« Elisabeth ging die vier Stufen hoch, die zur Tür führten, als sie es hinter sich rumpeln hörte.

Müller hatte vor lauter Starren nicht nach vorne geblickt und war über einen kleinen Schachtisch gefallen, dessen Schublade sich öffnete und sämtliche Figuren auf den Teppichboden kotzte. Zwischen den Königen, Bauern, Springern, Läufern, Türmen und Damen lag eine vergoldete Dessert Eagle und drei gefüllte Magazine; arabische Schriftzeichen waren auf dem Lauf eingraviert. Es handelte sich dabei offensichtlich um ein Souvenir.

»Ach, scheiße, tut mir leid.« Der Kommissar griff im Sitzen nach den Figuren. Erst jetzt sah er die protzige Waffe und hielt in der Bewegung inne. Er blinzelte, blickte zu Elisabeth, dann wieder auf die polierte Halbautomatik, auf die Magazine.

Dann runzelte Müller die Stirn und lehnte sich nach rechts, griff nach etwas, das er wortlos in die Höhe hielt. Er hatte eine lange Patrone gefunden, die unzweifelhaft zu einem Gewehr gehörte.

»Ich glaube, wir sollten unsere Suche von vorne beginnen«, lautete sein Kommentar, und er erhob sich. »Nur gründlicher. Ohne Kaffee.«

Elisabeth gingen die Ideen aus, um das Offensichtliche zu verleugnen.

»Das können wir uns sparen, Herr Müller.« Sie setzte sich auf die Stufe und trat die Flucht nach vorne an. Eine Sache blieb ihr noch. »Ich würde Ihnen gerne einen Handel vorschlagen.«

***

Deutschland, Rheinland-Pfalz, Wiesbaden

»Ihr Name ist Rüdiger Detlefsen, geboren am 3. April 1983, und Ihr Clubname lautet Hermann, ist das richtig?« Hauptkommissarin Jäger saß mit Rülker dem bulligen Mann gegenüber, der gleichgültig im Vernehmungsraum saß, ein Bein angewinkelt, das andere lässig ausgestreckt. Er trug einen orangefarbenen Overall wie alle anderen verhafteten Biker von Sonderkommando 1, die Kutte mit den Badges war als Beweismittel konfisziert worden.

Tycho verfolgte das vierte Verhör an diesem Tag hinter der Glasscheibe aus dem Nachbarraum. Er war nach seiner ungewöhnlichen Beweisbeschaffung in Wien dazugerufen worden, weil das BKA seine sofortige Aussage brauchte, um einen Gerichtsbeschluss zu besorgen und verschiedene SEKs auf die Stützpunkte der Rockerbande zu hetzen. Gefahr in Verzug, lautete die Formel.

In Leipzig war man einem Überfall der HellHounds in letzter Sekunde zuvorgekommen. Die Lokalmatadoren wollten sich ihr Territorium zurückholen und bekamen unerwarteten Beistand durch das Gesetz. In einer kleinen Kolonne waren die Sachsen am Clubhaus des Sonderkommando 1 vorbeigefahren und hatten hämisch gehupt, während die gepanzerten Polizisten gegen die Konkurrenz vorrückten.

Die Ordner mit den Ausdrucken und sonstigem belastenden Beweismaterial hatte Tycho kurzerhand in einen eigens gekauften Koffer gepackt und mit dem Flugzeug nach Deutschland gebracht.

Die deutschen und österreichischen Behörden standen bereits in Kontakt, um das ganze Vorgehen nachträglich in legales Licht zu rücken; zudem waren vier Rocker von Sonderkommando 1 im Nachbarland verhaftet worden. Die Räumlichkeiten und die Praxis von Doktor Doktor Wallner wurden gerade offiziell durchsucht und nach weiteren Hinweisen abgegrast.

Jason prüfte gerade die Kombinationsmöglichkeiten der in Wallners Mülleimer gefundenen Telefonnummer. Sie konnte vielleicht zum Aufenthaltsort des untergetauchten Arztes führen.

»Ist richtig.« Detlefsen sah sich um, als müsste er Einrichtungsgegenstände auswählen. Er gehörte offenkundig nicht zu dem Schlag Männer, die sich durch Vernehmungsräume einschüchtern ließen.

Tycho sah in ihm den Archetypus des Rockers, wie man sie aus Romanen und Filmen kannte – oder zumindest hielt er sich dafür, plus eine gehörige Portion Nazitum.

Es ging eine Weile zwischen Jäger und Detlefsen hin und her, was meistenteils an einen Monolog erinnerte – wie alle Verhöre mit den Sonderkommando-1-Mitgliedern. Die Ermittlerin versuchte, von den Rockern einen zufälligen Hinweis auf weitere Grünkreuz-Killer zu finden, fragte, ob und wann und wo ihnen aufgefallen sei, dass sie von dem Orden ausspioniert wurden.

Detlefsen verdrehte die Augen und schwieg. Es gab anscheinend nichts, was ihn dazu bewegte, in irgendeiner Weise zu kooperieren.

Im Gegenteil, er forderte seine Freilassung, damit er den Orden zerlegen konnte, dann beschimpfte er zuerst Jäger, im Anschluss Rülker, der Anstalten machte, sich auf das Duell einzulassen.

Anfänger, dachte Tycho und griff nach dem Kaffeebecher.

Bevor es zu einem Handgemenge kam, wurde der Rocker nach draußen verfrachtet. Jäger machte sich Notizen, Rülker trat wütend gegen die Wand.

Tycho strich eine graue Strähne aus seiner Sicht und betätigte die Lautsprecheranlage. »War es das für heute?«

»Beinahe. Wir haben vorhin von den Kollegen aus Hamburg den Mörder von Frau Uhle überstellt bekommen. Er ist unsere beste Verbindung zu den Grünkreuzern«, antwortete Jäger. »Den nehmen wir uns noch vor, danach habe ich genug.« Sie sah zur Scheibe. »Bringen Sie uns auch Kaffee, Herr Krämer?«

Grinsend stellte er den Pott ab und ging zum Automaten, um den Ermittlern die Getränke zu kredenzen.

Er fand Jäger und Rülker in einer leisen Diskussion, als er den kleinen Raum betrat. »Was Neues?« Er reichte die Becher in die Runde.

Die Kommissarin nickte dankend und nahm den Kaffee. »Es wurde angeordnet, die Biker während der Untersuchungshaft auf verschiedene Gefängnisse zu verteilen. Man möchte keine Rudelbildung und neue Gefahrensituationen für das Personal und andere Insassen.«

»Das wird die Kollegen freuen, die für organisierte Kriminalität zuständig sind. Viel Fahrerei«, kommentierte Rülker und kramte in der Tasche. »Was bekommen Sie, Herr Krämer?«

»Geht auf mich.« Tycho grinste und gab ihm den Becher. »Kann ich mir gerade so leisten.«

Jäger lachte. »War das die Arroganz des Geldes, Herr Krämer?«

»Eher des Menschenfreundes.« Er nahm auf dem Stuhl für die Verdächtigen Platz. »Sind Grünkreuzer ausfindig gemacht worden, die sich noch auf freiem Fuß befinden?«

»Weder solche noch der Arzt.« Die Kommissarin sah plötzlich besorgt aus. »Diese Spinner.«

»Sie tun aus ihrer Sicht das Richtige: das Böse ausrotten und dabei heldenhaft sterben«, fasste Tycho zusammen. »Die Boulevardpresse feierte Rotmann auch.«

»Ich will denen nicht absprechen, dass sie sich Mühe geben, uns Beweise für die Verbrechen mancher Leute zu präsentieren. Aber Mord?« Jäger tastete an sich herum und zog einen abgepackten Schokokeks aus der Tasche. Sie schälte ihn aus der Folie und tunkte ihn in den Kaffee.

»Der Orden ist gut organisiert. Sie werden sich neue Opfer suchen.« Rülker sah neidisch auf den Keks.

»Wenn sie Zeit haben.« Tycho gefiel es, mit den Ermittlern zu sinnieren. »Die Todkranken sind darauf angewiesen, schnell ihr Ziel genannt zu bekommen, bevor der Schnitter sie selbst erwischt.«

»Im toxikologischen Befund stand, dass die Medikamente mit tödlichen Zusätzen versehen waren. Sie sorgten dafür, dass die Killer schneller starben als an den Krankheiten, an denen sie litten.« Rülker rieb sich im rechten Auge und blinzelte. »Ob die Mörder das wussten?«

»Ebenso ist die Frage ungeklärt, ob wir mit Wallner den Kopf des Ordens fassen oder nur einen der ausführenden Köpfe.« Sie zog ihr Smartphone aus der Tasche und las eine eingegangene Nachricht. »Ah, Meldung aus Wien: Im Keller befindet sich ein kleines pharmazeutisches Labor. Wallner scheint sich mit der Herstellung von Drogen und Medikamenten auszukennen.«

Tycho gefiel der Gedanke nicht, dass es noch weitere schlaue Planer außer Wallner gab. Pharmazeutisches Wissen traute er dem Mediziner durchaus zu. Aber wie war er an die Details zum Leben und vor allem zu den Vergehen der Opfer gekommen?

Tycho befürchtete ein weitaus größeres Netzwerk, sprach seine Überlegungen offen aus und erntete Zustimmung bei den Kriminalbeamten.

»Umso wichtiger ist es, Wallner zu fassen.« Jäger biss vom weichen Keks ab. »Man sollte die Österreicher bitten, ebenfalls eine Soko zu gründen, mit der wir uns koordinieren. Scheint, als würden uns die Grünkreuzer noch eine Weile beschäftigen.«

Es klopfte, und ein Uniformierter verkündete, dass man den Verdächtigen aus Altona jetzt hereinführen könnte.

Tycho kehrte in die Kammer hinter die Scheibe zurück und nahm die Rolle des Beobachters ein, auch wenn er viel lieber Fragen gestellt hätte.

Der Mann wurde hereingeführt, er trug eine blaue Hose und Jacke, darunter ein olivgrünes Shirt, an den Füßen steckten Turnschuhe. Er sah harmlos aus, unscheinbar und – sehr gesund. Was immer dem Verdächtigen zu schaffen machte, man sah es ihm nicht an.

Tycho schaute auf die Kopie der Akte, die vor ihm lag: keine Eintragungen. Ein unbescholtener deutscher Bürger namens Christian Teerbroog, siebenundfünfzig Jahre alt, frühpensionierter Rettungssanitäter wegen eines Wirbelsäulenschadens. Na, da kann er mir bestimmt bessere Tabletten empfehlen.

Er grüßte die Ermittler entspannt und ließ sich auf den Stuhl fallen, als freute er sich auf den Plausch. »Also, legen wir los.« Teerbroog streifte die Ärmel hoch, und auf dem rechten Unterarm kam das grüne Kreuz zum Vorschein, dieses war jedoch groß, protzig und mit Edelsteinen verziert.

Ob es wie bei den Fürsten ist? Je auffälliger, desto höher in der Rangordnung? Tycho kam spontan der Gedanke, dass er vor sich den Anführer des Ordens hatte. Aber würde der sich fangen lassen? Wegen Mordes? Oder brauchte er die Sicherheit des Gefängnisses, um aus der Zelle heraus zu agieren?

Jäger sah auf die Tätowierung. »Sie neigen zum Angeben, Herr Teerbroog?«

»Weil ich zeige, zu wem ich gehöre?«

»Der Orden des Lazarus verbittet sich jeden Bezug zu Ihnen«, warf Rülker ein.

Teerbroog lachte fröhlich. »Wäre auch noch schöner, wenn die Luschen unsere Erfolge für sich verbuchen würden! Wir schauen und beschatten und suchen, um die Gerechtigkeit zu denen zu bringen, die es verdienen zu sterben. Das kostet viel Energie.«

»Und Zeit. Zeit, die Sie nicht haben.« Jäger faltete die Hände. »An welcher Krankheit leiden Sie?«

Er lächelte. »Angeberei.« Teerbroog strich über die Tätowierung. »Ansonsten bin ich gesund und hoffe, dem Orden noch lange dienen zu können.« Er unterdrückte ein Husten. »Gut, eine kleine Erkältung muss ich noch einräumen, aber daran stirbt heute niemand mehr.«

Tycho zog die Augenbrauen zusammen. Gesund?

Ähnlich verwundert blickten sich die Ermittler an.

»Sie wären der erste Gesunde von den Grünkreuz-Mördern«, erwiderte die Kommissarin.

»Ritter«, verbesserte Teerbroog scharf, und seine Muskeln am Oberkörper schwollen an. »Wir ziehen gegen das Böse. Das wissen Sie.« Er entspannte sich so abrupt, wie er sich für einen Angriff bereit gemacht hatte, als würde er einen unhörbaren Befehl bekommen. »Ich brachte nur zu Ende, was einer von uns nicht vollenden konnte.« Er grinste. »Es war meine Idee.«

»Kann es sein, dass Sie unter einer mentalen Beeinträchtigung leiden?«, erkundigte sich Rülker. Seine Vermutung überschnitt sich mit Tychos Überlegungen.

»Ich bin nicht verrückt, wenn Sie das meinen. Hochbegabt, ja.« Teerbroog wischte sich imaginären Schmutz vom Shirt. »Hundertdreiundsechzig. Mein IQ.« Er simulierte Tippbewegungen auf einer Tastatur. »Und eigentlich war ich der Informationsbeschaffer. Aber« – er unterdrückte ein Kichern – »ich wollte auch in die Schlacht. Das Böse auslöschen.«

»Soso.« Jäger fixierte den Mann. »Sie gehören demnach zum administrativen Bereich des Ordens, wie Sie ihn nennen?«

Teerbroog nickte. »Wir sind die wahren Lazarus-Ritter, die wehrhaften Nachfahren.«

»Dann schildern Sie uns doch bitte, wie der Aufbau ist. Doktor Wallner ist das Oberhaupt? Nennen Sie ihn Großmeister, Herr Teerbroog? Und wie ist Ihr Titel?« Die Kommissarin behielt einen freundlichen Ton bei.

»Oh, denken Sie, dass ein gefangener Ritter den Unwissenden Auskunft gibt, die nicht seine Gesinnung teilen?«

»Wir sind nicht Ihre Feinde?« Jäger betrachtete ihn.

»Aber nein, Frau Kommissarin!« Teerbroog blickte sie entsetzt an. »Sie dienen dem Guten wie wir. Aber Sie sind nicht effektiv, weil Sie den falschen Gesetzen folgen müssen. Deswegen habe ich die Polizisten im Krankenhaus auch nicht attackiert.« Er schüttelte den Kopf. »Dass Sie so etwas überhaupt annehmen.«

Sehr undurchsichtiges Verhalten. Tycho erkannte nicht, ob der Mann schauspielerte oder nicht. Kurzerhand rief er Jason an.

»Ich habe deine Telefonnummer noch nicht geknackt«, bekam er sofort gemeldet. »Zu viele …«

»Hör mir zu: Hier sitzt ein Typ, der behauptet, er würde sich mit Computern und Hacken auskennen«, fiel er seinem Freund ins Wort. »Kannst du mir ein paar Fragen sagen und dir die Antworten anhören, um mir zu sagen, ob er ein Lügner ist?«

»Klar«, kam es von Jason beleidigt.

»Geht gleich los.« Tycho aktivierte die Lautsprecheranlage. »Hier spricht Oberkommissar Krämer«, sagte er ins Mikro und hoffte, dass die Beamten im Raum mitspielten. »Ich möchte was von Ihnen wissen, Herr Teerbroog, das mir zumindest Ihre Computerkenntnisse erschließt.« Er hörte Jasons Lachen aus dem Smartphone. »Folgendes …«

Sein Freund soufflierte, Teerbroog antwortete schnell und ohne zu zögern. Jason schien das Level nach fünf Fragen hochzuziehen, der selbst ernannte Ritter musste länger nachdenken, geriet jedoch nicht aus der Fassung.

»Der Typ hat was drauf«, sagte Jason. »Ich würde sagen, er kann hacken und Informationen beschaffen. Ich kümmere mich jetzt wieder um deine Nummern, wenn es recht ist.«

Klick.

»Alles klar«, sagte Tycho über die Boxen. »Sie können was. Danke, Kollegen.«

Jäger grinste, Rülker starrte in die Scheibe, als wollte er den Journalisten umbringen.

»Danke. Das ist der Grund, warum mich Großmeister Wallner …« Teerbroog biss sich auf die Lippen.

»Großmeister. Und er requirierte Sie?«, hakte die Kommissarin sofort nach. »Wann und wo geschah es? Wo haben Sie sich …«

»Ich sage nichts mehr«, gab sich Teerbroog bockig. Es schien ihn zu treffen, sein Oberhaupt verraten zu haben. Bei einem IQ von 163.

Tycho überlegte. Sie hatten den Mann mit den Medikamenten und den Krankenakten, der die Pläne schmiedete; sie hatten den Informationsbeschaffer, der ihnen verriet, dass sie die Opfer beschatteten; und sie hatten die nächsten Ziele, das Sonderkommando 1, vor den merkwürdigen Rittern bewahrt und zugleich dank der Beweise hochgenommen.

Damit könnten sie diesen Lazarus-Orden ausgeschaltet haben – sofern sich die Flüchtigen noch fanden. Tycho nippte am inzwischen kalten Kaffee und unterdrückte die Lust auf einen Sieges-Joint. Haschisch half auch gegen Schmerzen. Später. Jason würde ihm bestimmt noch etwas zur Telefonnummer sagen, und dann wäre auch dieses Rätsel gelüftet. Die letzten Geheimnisse verrieten hoffentlich Wallner und die anderen. Es war nur eine Frage von Tagen, bis sie gefasst wurden.

Tycho hätte mit sich zufrieden sein können. Jedoch schuldete er seiner Elisabeth noch eine Erklärung.

Und davor fürchtete er sich.

***

Deutschland, Sachsen, Leipzig

Tycho lobte sich selbst, dass er eine Wohnung mit Lift gekauft hatte.

Mehrere rollbare, unauffällige Kisten mit Waffen und Munition schaffte er aus dem Loft, seine AK-Sammlung, die verschiedenen Pistolen und sogar das zerlegbare Scharfschützengewehr.

Wer ihn von der Nachbarschaft beobachtete, würde anhand der Beschriftung der Kisten glauben, er baute eine komplette Soundanlage für Großbühnen ab.

Tycho klappte den Deckel der letzten Alu-Kiste zu, in der sich jede Menge Ausrüstung befand, und setzte sich drauf. Alles weg. Stunden hatte er damit verbracht, die Schätze einzuladen und zu entsorgen. Für keine andere Frau hätte er so etwas getan. Nur für Elisabeth.

Die Dolche und Messer hob er auf. Sollte die Polizei seine Wohnung auf den Kopf stellen, hätten sie ihn zwar wegen Besitzes illegaler Waffen am Kragen, weil die genehmigte Klingenlänge eindeutig überschritten wurde und der Federmechanismus ein einhändiges Öffnen spielend erlaubte, aber er käme glimpflicher davon, als mit Kriegswaffen unter der Spüle erwischt zu werden.

Die Stockdegen behalte ich auch. Als Andenken. Er pochte einmal auf die Klappe und erhob sich ächzend, hinkte zur Küche und nahm sich Bier. Das hatte er sich mehr als verdient.

Während er trank, tippte er einhändig eine SMS an Elisabeth, dass er noch vor einem Treffen mit ihr, um eine Erklärung zu liefern, sämtliche Gewehre und Pistolen entsorgt hatte. Er hoffte, dass sie dies beschwichtigte.

Danach setzte er sich an das Drecksding, schob seine Wechselplatte in den freien Slot, der dort seit dem Einbruch prangte, und aktivierte den Rechner. Er hoffte, dass kein Schaden durch das Entfernen entstanden war.

Tycho grübelte, wer ihm das Russen-Duo auf den Hals gehetzt haben könnte. Doch es gab mehrere Fälle, an denen er arbeitete, die ihm die Feindschaft hochstehender Persönlichkeiten sicherten.

Der gefasste Sokolow hatte den Bruch gestanden, aber der Bericht von Elisabeth erwies sich in puncto Auftraggeber als wenig aussagekräftig.

Noch war der zweite Täter flüchtig. Tycho wünschte sich sehr, ihn vor der Polizei in die Finger zu bekommen, auch wenn Sokolow derjenige war, welcher auf sein Mädchen geschossen hatte. Aber ihm würde der Typ sehr schnell mehr erzählen als den Bullen.

Das Drecksding fuhr hoch wie immer, der Computer startete lehrbuchmäßig.

»Gut«, murmelte Tycho. Zwar speicherte er keine Kennwörter auf dem Rechner, aber aus Paranoia prüfte er sämtliche Datenbanken im Internet, in denen er seine Informationen abgelegt hatte. Danach waren diverse Accounts an der Reihe. Erleichtert atmete er auf. Keine Veränderungen, keine unberechtigten Zugriffe.

Da er auf Nummer sicher gehen wollte, änderte er die Passwörter.

Wer auch immer seine Festplatte besaß, er musste erstens an der generellen Passwortabfrage vorbei, die Jason eingerichtet hatte, und danach verlangte jeder einzelne Ordner eine weitere Code-Eingabe.

Tycho war sich sicher, dass niemand an seine Daten gelangte, zumal es nicht die allerwichtigsten waren. Zwei, drei kleine Fälle sowie Informationen zum verschwundenen Jungen.

Er rief seine Mails ab und bekam von Jäger eine Zusammenfassung von den Aussagen der Rocker des Sonderkommando 1, die keinerlei Angaben zu eventuellen Begegnungen mit den Grünkreuz-Killern machen konnten. Die Ersten aus ihren Reihen legten bereits Geständnisse ab und beschuldigten weitere Kumpane, gemeinschaftliche Straftaten begangen zu haben.

»Geständnisse. Wie ungewöhnlich.« Tycho hatte immer geglaubt, dass gerade die Motorradclubs sich durch Verschwiegenheit auszeichneten und gegenüber dem Gesetz stumm wurden; andererseits hatten sogar schon Chapteranführer die Seiten gewechselt oder sich als Spitzel für die Polizei angeboten. Sobald der Knast wartete, wurden auch harte Kerle weich.

Ein Internetanruf kam herein. Es war Jason.

»Du hast eine Telefonnummer für mich?« Tycho aktivierte seine Kamera und sah gleich darauf seinen Hackerfreund, der auf einer Klippe in strahlendem Sonnenschein saß. Hinter ihm zogen sich schwarzfelsige Klippen, an denen Wellen brachen und Gischt in die Luft schleuderten, als wollten sie mit den Tropfen die Möwen aus dem Himmel schießen. »Sind das die Cliffs of Moher?«

»Kann sein.« Jason redete lauter, der Wind erzeugte Nebengeräusche. »Ja, ich konnte die Kombination auf fünf sinnvolle Nummern in Wien begrenzen. Möglich sind: eine Bäckerei, Frau Anna Moser, Herr Stefan Alfons Huber, Outlines & Co und Felgen Alexomov. Die wirst du prüfen müssen. Ich schicke dir Nummer und Adressen via Mail.«

»Was sind Outlines & Co?«

»Ein Tätowierladen, glaube ich.«

Tychos Bauchgefühl sprang sofort an. Kaum war die E-Mail eingegangen, wählte er die Nummer, aber vernahm nur eine automatische Ansage, obgleich er innerhalb der Geschäftszeiten anrief. »Danke. Mal wieder«, sagte er zu Jason.

»War zu einfach. Ich brauche wieder eine gute Herausforderung.« Er wandte sich halb zur Seite. »Ist das nicht wundervoll hier? Und die Luft! So kalt und salzig.«

Tycho grinste. »Erinnert mich an die Sache vor Tunesien. War eine harte Kiste. Die Brandung hätte uns beinahe den Job ruiniert.«

Jason lachte. »Lange her. La vie autrement.«

»Darauf trinke ich einen.« Tycho setzte die Bierflasche an seine Lippen und trank sie bis auf den letzten Tropfen aus, legte den Kopf in den Nacken, was seinen Halswirbel knacken ließ.

Sein Blick ging durch das Balkengewirr hinauf zu den neuen Fenstern, wurde von einem kleinen Gegenstand angezogen; er klebte neben einem Träger und fiel durch seine Schwärze auf. Ein vergessenes Werkzeug der Handwerker konnte es nicht sein.

»Scheiße, was …« Tycho stellte die Flasche ab und erklomm den Schreibtisch, zog den Stuhl auf die Platte und stieg hinauf, um sich mit einem Sprung ins Gebälk zu schwingen und zum Kästchen zu klettern.

»Was ist los?«, vernahm er Jasons alarmierte Stimme.

»Gleich.« Tycho sah zu seinem Entsetzen auf eine Webcam, deren Linse nach Weitwinkelobjektiv aussah. Die Einbrecher hatten nicht einfach nur die Platte mitgenommen, sondern auch etwas zurückgelassen. Vermutlich war die Hardware nur eine Ablenkung vom eigentlichen Auftrag gewesen.

Ruckartig riss er das aufgeklebte Gerät ab und kehrte mit einem Sprung auf den Tisch zurück. Schmerztabletten sind was Wundervolles.

»Die Wichser haben mich verwanzt.« Er hielt es so, dass Jason es sehen konnte.

»Ein GodsEye-23«, lautete dessen Analyse. »Steht über Batterie und Sender mit dem Internet in Kontakt.«

»Ich suche die Bude ab. Möglicherweise haben sie noch eine platziert.«

»Hast du im Rechner nachgeschaut?«

Tychos Augen wurden groß.

Fluchend öffnete er die Abdeckung und kramte in den Innereien des Drecksdings herum, zog an Kabeln und bekam von seinem Freund durch die Kamera zunächst eine Entwarnung – bis: »Oh, dieses kleine Verbindungsstück. Das ist ein GodsEar-11.« Kaum hatte er es ausgesprochen, begann er selbst, wie wahnsinnig zu hacken.

»Was macht es?«

»Alles, was du schreibst, an das GodsEye-23 zu senden. Sie bauen automatisch eine Bluetooth-Verbindung auf.«

Tycho wusste sofort, dass die dümmste Aktion der letzten Stunde die Änderung der Passwörter gewesen war. Sämtlicher Passwörter. »Fuck!«

»Genau.« Sein Freund sah auf. »Ich bekomme keinen Zugriff mehr auf deine Internetstorages, die du mir anvertraut hast.«

Innerlich vor Wut schäumend, versuchte Tycho seinerseits, die Mail-Accounts zu öffnen, doch er bekam stets die Meldung, dass das eingegebene Passwort falsch sei. Die Gegenseite reagierte bereits.

Man hatte ihn ausgetrickst und Zugang zu seinem Heiligsten bekommen. Die Arbeiten der letzten Jahre, Adressen von Informanten und Nummern, Mail-Adressen, Dateien, Bilder … sein Kopf schwirrte. Dies war die Steigerung von GAU.

»Mach was, mon ami!«, raunte er Jason zu.

»Ich versuche es, aber ich mache dir wenig Hoffnung. Gib mir eine Stunde.« Jason schaltete die Verbindung ab.

Tycho deaktivierte das Drecksding und entfernte das GodsEar-11, dann machte er sich auf die Suche nach weiteren Cams. Es dauerte nicht lange, und er hielt vier weitere Souvenirs in den Händen, die seit dem Besuch der Diebe gefilmt und gesendet hatten.

Er warf die Geräte ins Waschbecken und drehte das Wasser auf, was nicht sehr professionell war, ihn aber auf gewisse Weise befriedigte.

Danach trank er noch ein Bier. Und einen Pastis.

***

Österreich, Niederösterreich, Krems an der Donau

Inspektor Arnulf Lechmeister steuerte den weißblauen Mercedes Kleinbus zu seinem Ziel, dem Stadtteil Stein der niederösterreichischen Stadt Krems.

Sein Kollege Dietmar Oberhuber prüfte die Formulare zur Überstellung der beiden Gefangenen, die sie heute als Letztes auslieferten, danach war ihre Tour zu Ende. Beide arbeiteten als Beamte der Justizvollzugsbehörde, und eine recht beliebte Aufgabe kam heute ihnen zu: die Fahrt mit der Grünen Minna.

»Ganz schöne Früchtchen«, befand Oberhuber und überflog die Taten, wegen denen die Verurteilten einfuhren. »Zweimal lebenslänglich für diverse Raubüberfälle, Körperverletzung und Mord.« Er schob die Pistole an seinem Koppel in eine bequemere Position, weil sie gegen seinen Hüftspeck drückte.

Lechmeister fand es erstaunlich, dass sich Oberhuber die Akte stets erst dann durchlas, wenn sie den Zielort fast erreicht hatten. Sein eigener Sicherheitstrieb brachte ihn dazu, sich vorher schlauzumachen, wen sie kutschierten. Zwar verhinderten die ausbruchssicheren Zellen, dass die Gefangenen Ärger machten, aber man sollte schon wissen, worauf man sich einließ. Er wunderte sich nicht, dass der ältere Kollege noch immer Inspektor war.

»Der Stein ist nicht eben für die leichten Jungs bekannt.«

Vor ihnen tauchte die Anstalt auf, und Oberhuber streckte sich bereits im Sitz, während er auch den Taser verschob, bis er entnervt die Schnalle öffnete und den Gürtel mit Waffen und Handschellen auf die Ablage warf. Er schien die Übergabe innerlich bereits abgehakt zu haben.

Lechmeister räusperte sich. »Zieh sie wieder an.«

»Die nervt mich.«

»Dann leg sie in den Fußraum. Wenn ich in die Kurve fahre, rutscht sie blöd rum.«

Oberhuber zog die Nase hoch, kam der Aufforderung nicht nach.

In Stein landeten die schweren Fälle, ausschließlich männliche Täter mit einer Haftzeit von achtzehn Monaten bis lebenslang. Zusammen mit den Außenstellen kam man dort auf über achthundert Häftlinge. Bekannt war die Anstalt für den Hochsicherheitstrakt, im Areal West E: unter dem Straßenniveau und extrem gesichert. Lechmeister wusste, dass hier die gefährlichsten Strafgefangenen Österreichs einsaßen – und bald noch zwei mehr.

Dazu kamen »zurechnungsfähige, geistig abnorme Rechtsbrecher«, wie § 21 Abs. 2 StGB sie nannte. Alle, die zu lange einsaßen oder zu gefährlich waren, landeten in Stein. Maßnahmenanhaltung lautete der Fachbegriff, und die wenigsten von ihnen zeigten sich zu sozialtherapeutischern Behandlung bereit.

»Ich wette, dass einer von den beiden hinter uns sich für den Kursus Ikonenmalerei anmelden wird.« Oberhuber lachte grunzend. »Knackis, die Heilige malen. Das ist gut.«

Lechmeister verzichtete auf eine Erwiderung und den Hinweis, dass es um einen therapeutischen Ansatz ging, weniger um Kunst, denn das interessierte einen Menschen wie seinen Kollegen nicht. Also lachte er kurz und halbherzig mit, setzte den Blinker und bog ab.

Der Mercedes schnurrte auf der Straße an der Mauer des Gefängnisses entlang, die Einfahrt zur Anstalt erschien.

Lechmeister verringerte die Geschwindigkeit und sah eine Lücke im Verkehr, gab erneut das Lichtzeichen und lenkte ein.

Das schwere Koppel rutschte nach links, bevor es der fluchende Oberhuber schnappte, und fiel auf die Lenksäule, glitt daran herab und plumpste zwischen die Pedale, wo es wie eine vollgefressene Schlange lag, die merkwürdige Dinge verschlungen hatte.

»Scheiße«, rief Lechmeister und versuchte, den Kleinbus zum Stehen zu bringen, obwohl er sich mitten in der Kurvenbewegung und schräg auf den Fahrbahnen befand. Etwas verklemmte sich unter den Pedalen, vermutlich der Tonfa.

Der Motor heulte auf und schob das Fahrzeug in Richtung Mauer. Hupende Fahrzeuge wichen ihnen aus oder hielten an, wie Lechmeister aus den Augenwinkeln sah.

»Kacke, nein, nein, nein!«, jammerte Oberhuber und hielt sich am Seitengriff fest.

Der junge Inspektor riss die Handbremse in die Höhe, klackend rastete sie ein, und er zog den Gang raus, ohne auf die Kupplung zu treten.

Der Mercedes hielt an, als sei er gegen eine Wand gefahren, federnd wippte er vor und zurück. Der Motor röhrte laut und hochtourig im Leerlauf, das Gaspedal blieb verklemmt.

»Scheiße, Oberhuber«, schrie Lechmeister los. »Du bist so ein dummer Idiot! Ich hatte dir gesagt …«

Ein dunkelgraues großes Auto scherte aus dem Stau um sie herum aus und kam nicht mehr rechtzeitig zum Stehen. Der bullige Jeep versuchte noch, dem Hindernis auszuweichen, als er den Grund für den Stau bemerkte, krachte dann aber schräg ins Heck des Busses und warf das schwere Fahrzeug beinahe um.

Lechmeister, das herrenlose Koppel und Oberhuber wurden durcheinandergewürfelt. Die Männer hörten die erschrockenen Rufe der Gefangenen im Laderaum, die nach einigen Sekunden gegen ihre Gitterstäbe schlugen.

»Ist das ein Überfall?« Oberhuber hielt sich die blutende Nase. »Die wollen garantiert einen von denen rausholen!«

»Glaube ich nicht.« Noch leicht benommen stieg der junge Inspektor aus, zog die Pistole und sicherte nach allen Seiten, pirschte dann auf den Geländewagen zu. »Oberhuber, komm raus und hilf mir.« Mit einer Geste schickte er Passanten zurück, die sich dem verunglückten Wagen näherten.

Stöhnend wuchtete sich der ältere Kollege aus der anderen Seite aus dem Bus und angelte die Waffe aus dem verklemmten Koppel. »Bin da.«

Der Motor brüllte noch immer, und Lechmeister fragte sich, warum er ihn nicht ausgeschaltet hatte.

Sie umrundeten den zerbeulten Jeep, dessen Front- und Seitenscheiben geplatzt waren. Der Airbag hatte ausgelöst.

Auf der Fahrerseite hing ein Mann im Anschnallgurt und hustete leicht. Er blutete aus einer Wunde an der rechten Schläfe und an der Nase, die vom metallenen Brillengestell herrührte.

Lechmeister entspannte sich. Das war kein Überfall mit versuchter Gefangenenbefreiung, sondern lediglich ein Unfall dank Verkettung von Dummheit und Ungeduld. Mit einem Schulterblick sah er, dass aus dem Gefängnistor mehrere schwer bewaffnete Uniformierte eilten, einer hielt einen großen Arztkoffer in der Hand. Die Kollegen kamen zu Hilfe.

»Verstehen Sie mich?«, rief Lechmeister dem Verletzten zu, der ihm vage bekannt erschien, und verstaute seine Pistole. Er gab Oberhuber die Anweisung, nach den Insassen im Bus zu schauen.

»Ja«, erwiderte der Mann und schnallte sich ab. Schwerfällig verließ er den demolierten Wagen, hustete – und griff blitzschnell nach der Waffe des Vollzugsbeamten.

Lechmeister wurde durch die Attacke überrumpelt und konnte nicht verhindern, dass der Verletzte sich die Glock schnappte. Aber ebenso schnell zog er das Tonfa heraus und drosch es dem Gegner erst gegen die Waffenhand, dann in einer fließenden Bewegung gegen den Kopf.

Der Mann brach schnaufend zusammen.

Lechmeister kniete sich auf seinen Rücken und legte ihm Handschellen an. Als er das Gesicht aus direkter Nähe sah, fiel es ihm ein.

»Das ist Wallner!«, murmelte er verblüfft. Die österreichischen und deutschen Kollegen der Kriminalpolizei suchten den Flüchtigen im ganzen Land, wie er von einem Aushang wusste. Ausgerechnet vor den Toren einer Justizanstalt für Schwerverbrecher endete sein Weg. »Das ist Wallner«, rief er lauter und winkte die Kollegen zu sich. »Den könnt ihr gleich auf die Krankenstation bei euch bringen.«

Lechmeister erhob sich, während sich der Gefängnissanitäter um den Ohnmächtigen kümmerte, und lehnte sich gegen seinen eingedrückten Bus.

Diese Tour würde er so schnell nicht vergessen.

***

Deutschland, Sachsen, Leipzig

Jason meldete sich nach exakt einer Stunde via Telefon, wie er Tycho versprochen hatte, und konnte nichts Gutes verkünden. Alle Data-Storages im Netz sowie Accounts waren gehackt worden, die Informationen kopierbar. Gerade, als sie überlegten, wie sie herausfinden könnten, wer sich den Zugang verschafft hatte, bemerkte Jason, dass die Datenbunker einer nach dem anderen zugänglich gemacht wurden. Das Gleiche geschah mit den Mail-Accounts, wie Tycho durch eine kleine Überprüfung feststellte.

Eine E-Mail fand sich im Postfach.

Sehr geehrter Monsieur,

bald hören Sie von mir. Haben Sie Vertrauen.

es grüßt cordialement

ein Fan

»Haben Sie Vertrauen!?« Tycho schrie förmlich ins Smartphone. »Kannst du die IP herausfinden?«

Jason lachte. »Jemand, der dich hackte und die Technik zum Einsatz brachte, wird sich auch was ausgedacht haben, um seine Identität zu verschleiern.«

»Was soll ich deiner Meinung nach tun?«, knurrte er.

»Steht da.«

»Was meinst du?«

»Bald hören Sie von mir. Haben Sie Vertrauen.« Jason legte auf.

Tycho goss sich einen neuen Pastis ein, den mittlerweile vierten. Da er das kleine Abzapfstück entfernt und seinen Router überprüft hatte, nahm er an, dass die Signale aus seinem Rechner nicht mehr übertragen wurden. Erneut änderte er die Passwörter sämtlicher Anbieter, doch er fühlte sich danach kein Stück besser.

Scheiße. Er war genervt. Und dann stand noch das Gespräch mit Elisabeth aus. Der Triumph über die Grünkreuz-Killer erlosch und hinterließ nicht mal einen bitteren Geschmack auf der Zunge. Die Niederlage, die er soeben erlitt, überdeckte alles mit Fäule.

Ich muss mich ablenken.

Also recherchierte er im Internet weiter zu den Grünkreuz-Anhängern, las die Verhörprotokolle der Rocker, las die Infos, die Wallner gehortet hatte – und wunderte sich: Noch befanden sich vier Killer des Ordens auf der Flucht. Aber wie hätten vier Leute gleich drei Dutzend Rocker in verschiedenen Städten und Ländern ausschalten sollen?

Bomben? Tycho verwarf diese Theorie sofort wieder. Die Mörder waren stets persönlich vorgegangen, mal mit Messern, mal mit Schusswaffen. Warum sollten sie bei Sonderkommando 1 eine Ausnahme machen?

Mit entsprechender Bewaffnung konnte ein Mann ein Dutzend Leute erschießen, das war kein Problem. Aber bei den Bikern handelte es sich um Kriminelle, die mit Angriffen rechneten und wahrscheinlich Pistolen bei sich trugen. Mehr als zwei, drei, maximal vier könnte man nicht ausschalten, bevor man selbst das Zeitliche segnete.

Ein Drive-by? Tycho ging im Geiste weitere Möglichkeiten durch, doch sie scheiterten alle am frühen Tod der Attentäter. Etwas stimmte nicht mit dem Muster überein, das sich durch die ersten Morde ergeben hatte.

Lag die Lösung innerhalb von Sonderkommando 1? Was bedeutete die zweite Welle? Gab es Todkranke in den Reihen der Biker, die heimlich vom Orden angeworben worden waren und die vier Killer unterstützen sollten?

Tychos Recherchen richteten sich auf die Nazi-Rocker.

Wieder bekam er Resultate, die mehr Fragen als Antworten hinterließen. Es gab eine winzige Website, wo Sonderkommando 1 sich vorstellte, ohne Genaues über sich zu verraten. Allgemeines Blabla über Bikertum, gemischt mit Nazi-Denke und eindeutigen Drohungen gegen Feinde. Mehr erfuhr man nicht.

Die starken Berichterstattungen in den Medien gingen auf die aktuellen Vorkommnisse zurück, niemals gab es in der Vergangenheit Artikel oder gar kleinste Hinweise auf die Gang. Nicht mal Schießereien mit sonstigen Clubs. Das Sonderkommando 1 schien im Untergrund gearbeitet zu haben, um nun wie ein U-Boot aufzutauchen und aus allen Rohren zu feuern.

Aber genau das passte nicht zum Gebaren.

Tycho sichtete erneut die Daten, die er von Wallner gestohlen hatte. Die Bewegungen auf den Konten, die Daten der E-Mails, Telefonanrufe und SMS gingen einige Jahre zurück. Weder lokale oder überregionale Journalisten noch die Polizei oder die Szene in Leipzig, Frankfurt oder Wien schienen davon etwas mitbekommen zu haben.

Wie fügt sich das? Tycho sah auf das Badge, das so sehr nach Totenkopf-SS aussah, dass es sofort Aufmerksamkeit erregte, ganz gleich, wie abgestumpft oder abgehärtet die Gesellschaft war. Dazu gesellten sich die Aussagen der Rocker, die Geständnisse, die gegenseitigen Anschuldigungen. Das passt alles nicht zusammen.

Die Meldung kam rein, dass man Doktor Doktor Wallner in Krems verhaftet hatte, vor der Justizanstalt Stein, wo er in einen Autounfall verwickelt wurde. Ausgerechnet.

Tychos Bauchgefühl war durch Wut und Pastis ein wenig abgelenkt, aber es reagierte nach wie vor.

Kurzerhand erhob er sich, rief sich ein Taxi und trank zuerst ein Mineralwasser, danach einen starken Kaffee.

Wo sich das Chapterhaus des Sonderkommando 1 in Leipzig befand, hatte in der Zeitung gestanden, und es würde Besuch von ihm bekommen. Vielleicht gab es dort etwas zu entdecken, was ihm weiterhalf und seine Gedanken über die letzte Hürde schob.

Das Taxi kam, Tycho nannte das Ziel und schlief prompt nach wenigen Metern ein. Der Fahrer weckte ihn, als sie die Zieladresse erreichten.

Es befand sich im Ostteil der Stadt, umgeben von leeren Häusern; ganz in der Nähe verlief die Bahnlinie. Abgeschiedener ging es kaum.

Wenn es da drin fließendes Wasser gibt, bezahle ich ihrem Chef einen Anwalt. Tycho gab dem Fahrer einen Hunderter und bat ihn zu warten.

Dann stieg er ächzend aus und betrat das Haus, über dem ein Spanntransparent in Nazi-Schrift behauptete, dies sei das Hauptquartier Sonderkommando 1.

Die Polizei hatte alles auf den Kopf gestellt, sogar Wandpaneelen entfernt und Mauern aufgebrochen, um an Verstecke zu gelangen. Die drei Stockwerke, die Tycho langsam durchquerte und sich dabei im Licht der Deckenlampen umschaute, wirkten schnell und ohne Verstand renoviert.

Plakate prangten reichlich an den Wänden, zumeist alte Propaganda-Darstellungen aus dem Dritten Reich, dazwischen ein bisschen Einrichtung, aber nichts, was Tycho überzeugte, ein echtes Hauptquartier einer seit Jahren tätigen Gang vor sich zu haben. Es gab nicht mal vergitterte Fenster.

Nichts passt. Er sah in den verwilderten Garten und entdeckte eine große Feuerstelle. Vernichtete Beweise?

Tycho eilte hinaus, sah jedoch direkt, dass die Spurensicherung gewühlt hatte. Trotzdem fischte er nach einem Stöckchen und stocherte in der Asche herum.

Mehrfach klirrte es, und er beförderte gesplitterte Bierflaschenreste und fingerlange, nadeldünne verkohlte Metallstäbchen hervor, die sich durch die Hitze verbogen hatten. Sie erinnerten an kleine Korsettstangen oder Streben, die man nutzte, um weichem Material Halt zu verleihen.

Unzufrieden brummte Tycho und ging durchs Haus zurück. Er stieg ins wartende Taxi und betrachtete das Gebäude durch das Wagenfenster.

Hatte Wallner die Beweise fingiert, um die Grünkreuz-Killer von der Schuld der Nazi-Biker zu überzeugen?

Der Großmeister könnte den nächsten Kreuzzug geplant, seine Soldaten von der Schlechtigkeit des Sonderkommando 1 mithilfe der vermeintlichen protokollierten Taten überzeugt und sie dann gegen die aufstrebende Macht ausgesandt haben.

Aber warum?

Gab es in Wallners Vergangenheit eine Überschneidung mit dieser Gang? Hatte einer von Sonderkommando 1 dem Arzt oder einem Familienmitglied oder einem Freund etwas angetan, das er rächen wollte?

Irgendwo lauerten die vier Ritter und wussten nicht mehr, was sie unternehmen sollten, da Wallner in Krems einsaß.

Tycho blickte auf die Uhr. Hier komme ich nicht weiter.

Er würde Outlines & Co in Wien aufsuchen. Dort konnte man ihm hoffentlich sagen, wem die grünen Kreuze tätowiert worden waren, und Personenbeschreibungen liefern.

***