II.

Einzig Tzulandrien blieb in der Entwicklung stehen, Kriege rollten auch weiterhin über das Land, bis auch das angrenzende Sena in Gefahr geriet. Taralea errichtete eine magische Sperre an der Stelle, wo der Riss endete, bis ans Meeresufer.

DIE ZEIT DES ERSTEN FRIEDENS, Kapitel II

Ulldart, Südküste Kensustrias, Sommer 443 n.S.

So, so. Das sind also die gefürchteten Strände Kensustrias.« Tei-Sal Haïl-er-Ibadan lächelte zufrieden, als er den unberührten weißen Sand sah, der in einem Abstand von zwei Meilen malerisch vor den Schiffen der angorjanischen Invasionsflotte lag. »Es scheint so, als ob sich niemand um uns kümmern würde. Unsere Aufklärer hatten also Recht. Unsere List, ihre Truppen an eine andere Stelle zu locken, hat funktioniert.«

Der einladende Strand erstreckte sich in einer natürlichen Bucht von einer Meile Breite, dahinter ragte eine schroffe Felswand auf, in die breite Stufen gehauen waren. Die Festung, die hoch über dem Stein thronte, machte einen verlassenen Eindruck. Rechts und links des natürlichen Hafens erhoben sich meterhohe Felsbrocken.

»Dürfte ich den Tei-Sal freundlicherweise daran erinnern, dass die Kensustrianer nicht unbedingt ein Volk sind, das man als leichtgläubig bezeichnen sollte?«, gab Parai Baraldino aus dem Hintergrund zu bedenken und wedelte mit dem Taschentuch vor dem Gesicht herum, um sich etwas Kühlung zu verschaffen. Die Sonnenstrahlen stachen an diesem wunderschönen Tag grausam vom Himmel, und der palestanische Offizier verwünschte seine mehrere Schichten umfassende Brokatkleidung. Aber Stil blieb für ihn nun einmal Stil. »Wenn ich mich richtig an die Meldungen Eures Landheeres entsinne, haben die sich bereits heiße Füße geholt, nicht wahr?«

Ibadan, ein gebräunter Mann um die vierzig Jahre mit breiter Statur, Glatze und einem bartlosen Gesicht, wandte sich missmutig um.

»Commodore, Ihr seid an Bord als Beobachter, nicht als Ratgeber. Behaltet Eure palestanischen KaufmannsWeisheiten für Euch, wenn ich bitten darf. Wenn Ihr schon nicht kämpfen wollt …«

»Gute Güte, seid doch nicht so empfindlich, Tei-Sal«, sagte Baraldino herablassend. »Seid doch froh, dass ich mich um das Wohl Eurer Männer sorge. Ich war dabei, als die Kensustrianer ihre Macht demonstrierten, und das hat mir, gelinde gesagt, gereicht.«

»Seid beruhigt, die Schwarze Flotte ist nicht in der Nähe«, meinte der Befehlshaber. »Meine fünfzehn Galeeren würden denen schon beibringen, was es heißt, sich mit den kaiserlichen Seestreitkräften anzulegen.«

»Eure fünfzehn Galeeren würden, mit Verlaub und bei allem Respekt, absaufen.« Der Offizier und Diplomat sah bei seiner Antwort bewusst nicht in die Richtung des Angorjaners, sondern schaute mit zusammengekniffenen Augen zum Sandstrand. Er hörte das wütende Schnauben des Befehlshabers. »Wie wollt Ihr denn vorgehen?«

»Nachdem unsere Ablenkung acht Meilen von hier funktionierte, haben die Kensustrianer ihre Hauptkontingente dorthin verlagert. Ich rechne mit wenig Widerstand von der Festung.« Ibadan deutete auf die Einfahrt zur Bucht. »Es können, wenn wir gut manövrieren, zehn Schiffe auf einmal hindurch und gleichzeitig anlanden. Das Wasser ist tief genug, und auf dem Sand ruinieren wir uns auch die Buge nicht. Wir müssen so schnell wie möglich an den Strand, um den feindlichen Katapulten nicht viel Zeit zu geben, uns unterwegs zu versenken. Mit den verbleibenden fünf Schiffen werden wir unsererseits Sperrfeuer auf die Festung geben, dann stürmen wir.«

»Mit voller Fahrt voraus, wie? Wie ungestüm.« Baraldino setzte sich auf die Reling in den Schatten eines Segels, lupfte den Dreispitz und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Ich bin ja mal gespannt. Wo ist der sicherste Ort auf dieser Galeere? Ich würde nur ungern getroffen werden. Bedenkt, ich bin die offizielle Abordnung Eures Verbündeten.«

»Der bisher nichts geleistet hat, außer Versprechungen zu machen, Commodore. Die Blockade, die Euer Land angekündigt hat, wirkt wohl nicht so, wie Ihr es Euch vorgestellt habt.« Ein Hauch von Schadenfreude war in der Stimme des Seeoffiziers zu hören.

»Dafür«, gab der Palestaner freundlichst zurück, »haben wir ja die gefürchteten und bewährten Kämpfer des Kaisers von Angor auf unserer Seite, die alles, aber auch alles vernichten, was sich ihnen in den Weg stellt. Abgesehen von einzelnen Kensustrianern, die mit Bogen schießen oder durch die Luft fliegen.« Er imitierte mit seinen Armen Flügelschlagen. »Ich halte die Berichte von diesen Wundermaschinen für völlig übertrieben. Oh, wahrscheinlich hat der Tei-Sal nur nicht eingestehen wollen, dass er einer Unterzahl zum Opfer fiel.«

»Tei-Sal Faïs-bar-Lamshadai ist einer der besten Feldherren, die das Kaiserreich hat«, antwortete Ibadan, jedes Wort bekam eine sorgfältige Betonung.

»Vielleicht will er seinen guten Ruf deshalb nicht verlieren?«, schätzte der Commodore und begann wieder zu wedeln. »Und weil er den Zeitplan nicht einhalten konnte, mussten wir improvisieren, nicht wahr? Ich hoffe, das Unternehmen gelingt.« Auf eine Geste hin brachte ihm ein Matrose einen Becher mit Wein. »Wie lange wollt Ihr noch mit dem Angriff warten, Tei-Sal? Wenn da noch jemand in der Festung sitzt, hat er schon längst Vorbereitungen treffen können.«

Der Befehlshaber kniff die Mundwinkel zusammen, entgegnete aber nichts. Er winkte dem Mann am Bug des Schiffes zu, der mithilfe von Flaggen Signale an die Flotte gab.

Zehn Galeeren setzten Vollzeug, die Ruder hoben und senkten sich in einem schonungslosen Takt. Das Knallen der Peitschen, mit denen die Sklaven unter Deck angetrieben wurden, hallte herauf. In breiter Front schwammen die Kriegsschiffe auf den Eingang der Bucht zu.

Die Katapultisten der verbliebenen fünf Wassergefährte besetzten ihre Maschinen und zielten mit den Speerschleudern auf die Schießscharten der Befestigungen. Näher und näher rückte der natürliche Hafen.

Baraldino hatte sich ein Fernrohr genommen und spähte aufmerksam hinauf zu der verwaisten Festung. Nichts rührte sich hinter den Mauern, kein einziges grünes Haar war zu sehen, kein alarmierender Rauch stieg auf, kein dumpfes Rumpeln warnte vor dem Schuss einer der großen Steinschleudern. Offenbar hatte die angorjanische Verzweiflungslist die Kensustrianer täuschen können.

Ohne die Linsen abzusetzen, nippte der Commodore am Wein. Etwas Grelles blitzte an einer der Schießscharten auf, geblendet musste Baraldino die Augen schließen. Nach einem kurzen Blinzeln suchte er die Stelle erneut, wieder schoss ihm gleißende Helligkeit in die Pupille.

»Was, zum …« Er setzte seine Sehhilfe ab und schaute ohne Fernrohr nach oben. In unregelmäßigen Abständen funkelte etwas in den Strahlen der Sonne.

»Tei-Sal, ich wollte Euch …«

Doch der Angorjaner hob abwehrend die Hand. »Verschont mich mit Eurem ständigen affigen Geschwätz, Commodore. Ich muss einen Angriff durchführen, und dazu benötige ich keinesfalls Eure mehr als fragwürdigen Hinweise.« Ibadan verließ die Brücke und ließ den Palestaner mit offenem Mund stehen.

»Dann eben nicht«, murmelte Baraldino eingeschnappt und begab sich vorsichtshalber in den Schutz eines Mastes, falls die Kensustrianer das Feuer eröffnen sollten. Dabei machte er eine Bewegung auf dem linken Felsbrocken seitlich am Eingang der Bucht aus, von dem die ersten zehn Schiffe weniger als eine achtel Meile entfernt waren.

Wieder hob er die Sehhilfe und entdeckte die Umlenkrolle eines Flaschenzuges. Das Wackeln der Rolle war ihm aufgefallen, denn eine straff gespannte Kette lief am Gestein entlang nach unten und verschwand im Wasser. Jemand setzte wohl gerade etwas in Gang.

Baraldino verspürte ein ungutes Gefühl in der Magengegend. Der Wortwechsel, der vom Bug leise zur Brücke herübertönte, drehte sich um ein Blitzen, das einer der Katapultisten gesehen haben wollte.

»Das hättet ihr auch früher haben können«, murmelte der Palestaner und machte sich hinter dem Mast ganz schmal. Geschrei von vorne ließ ihn entgegen seiner Vorsätze neugierig werden, und vorsichtig schaute er um seine Deckung herum.

Die ersten zehn Schiffe schienen auf der Höhe der beiden Felsbrocken am Eingang zu Bucht gegen ein unsichtbares Hindernis geprallt zu sein. Die Buge blieben in einer Linie stehen, ruckartig wurden die Galeeren zum Stillstand gezwungen. Das vielfache Splittergeräusch von berstendem Holz klang herüber, Planken und Spanten brachen. Dann legte sich das erste der Kriegsschiffe nach Steuerbord und sank Stück für Stück. Soldaten entledigten sich ihrer Rüstungen und Waffen, sprangen über Bord, während man von unten die entsetzten Schreie der angeketteten Ruderer vernahm.

Mit nur zeitlich geringem Abstand zeigten nun auch die anderen Galeeren Anzeichen von Schlagseiten. Es blieb kein Zweifel, die unteren Räume mit den Sklaven liefen voller Wasser.

Tei-Sal Haïl-er-Ibadan gab Befehle an die anderen Schiffe, um die Fahrt zu stoppen und eine Kollision mit den Wracks zu verhindern.

Die Ruderblätter tauchten ins Wasser und verringerten Gischt sprühend die Geschwindigkeit, bevor das ein oder andere Holzstück unter der großen Belastung brach. Die Taue, mit denen die Segel gehalten wurden, kappten die Matrosen der Einfachheit halber, das Reffen hätte zu lange gedauert. Schweres Leintuch rauschte auf die Planken und bedeckte einen Großteil der Soldaten, die aber dank der Schilde und Helme keinen Schaden nahmen.

Tatsächlich schafften es die letzten fünf Galeeren, kurz vor den Havarierten zum Halten zu kommen. Kreuz und quer stand die Schiffsleiber vor der unsichtbaren Sperre, und es war für den Commodore ein Wunder, dass es zu keinem Zusammenstoß gekommen war. Die ersten Überlebenden versuchten, an Bord zu klettern.

»Da sind Pfähle im Wasser«, rief der Ausguck hinunter. »Ich sehe sie ganz deutlich. Ihre Eisenspitzen stehen knapp unter der Oberfläche hoch.«

»Ibadan, warum haben das Eure Späher nicht gemeldet?«, brüllte Baraldino über das Deck, weil er seinen Schutz nicht verlassen wollte.

»Weil sie vorhin noch nicht dort waren«, schrie der Tei-Sal wütend zurück.

Der Flaschenzug, zuckte es dem palestanischen Offizier durch den Kopf, und er schlug sich klatschend an die Stirn, dass der Schweiß spritzte. Sie haben die Pfähle eben erst hochgezogen. Aber was kommt jetzt? Die verbliebenen Galeeren manövrierten sich auf Anordnung Ibadans so, dass die Rammsporne in Richtung offenes Meer wiesen. Nach der Bergung der Soldaten und Matrosen lautete die Devise »schneller Rückzug«. Um die ertrinkenden Rudersklaven scherten sich die Angorjaner offensichtlich nicht.

Ein kleines, seltsames Wassergefährt pflügte heran, das den Commodore an einen Schlitten erinnerte. Auf zwei Kufen ruhten eine schmale Plattform und ein Mast, dessen Segel vom Wind prall gefüllt war. Am Ende der Plattform saß ein Steuermann, zwei weitere Kensustrianer kümmerten sich um das Leintuch, ein Vierter stand hinter einer schwenkbaren Pfeilschleuder, die zum Schutz gegen feindliche Geschosse für den Schützen mit einer Holzplatte versehen worden war, hinter die er abtauchen konnte.

Fünfzehn Mündungen waagerecht, zwanzig Mündungen senkrecht, zählte er die Öffnungen. Bei allen geplatzten Wechseln! Wir werden gespickt wie die Hühner, wenn das Ding schießt. Die Wendigkeit, mit der das Boot, oder was immer es war, seine Fahrt machte, hätte der Palestaner nicht für möglich gehalten. Wie eine Mücke einen Hund umschwirrt, so ähnlich umkreiste der Kensustrianer die vorderste der angorjanischen Galeeren.

Einige der angorjanischen Katapultisten versuchten, das Gefährt zu versenken, aber dessen Bewegungen waren zu zackig, zu abrupt, als dass man den Kurs hätte genau vorherbestimmen können. Das Wasser links und rechts vom Gegner spitzte immer wieder auf, aber keiner der Kensustrianer wurde getroffen.

Dann eröffnete die Pfeilschleuder das Feuer und schickte ein Geschoss nach dem anderen im Abstand von wenigen Lidschlägen auf die Reise. Nach den ersten achtzig Pfeilen, die kaum nennenswerten Schaden unter den Soldaten angerichtet hatten, löste der kensustrianische Schütze alle auf einen Schlag aus.

Schwirrend und surrend kam der Schauer heran und stürzte sich in den Pulk derer, die den Schwimmenden hilfreich zur Hand gingen. Nun gab es massenweise Tote und Verletzte. Das feindliche Gefährt zog sich außerhalb der Reichweite zurück, um nachzuladen.

Baraldino wollte aufatmen, als gleich vier der Wasserfahrzeuge um die Felsen schossen und Kurs auf die fast unbewegliche Invasionsflotte nahmen. Sechs weitere kamen hinzu, und der Palestaner beschloss, dass es Zeit sei, zu gehen.

Mit einem Satz sprang er von der Brücke auf das Deck, sprintete zur Luke, die zu den Ruderbänken führte und warf sich kopfüber hinein, während draußen ein tödlicher Dauerregen aus Pfeilen einsetzte.

Verblüfft sahen die Sklaven dem gut gekleideten Mann mit der schief sitzenden Perücke hinterher, als er den schmalen Fußweg zwischen den Sitzreihen mit wehenden Rockschößen entlanghastete, den Aufseher mit den Paukenschlägeln zur Seite stieß und durch die Tür nach hinten in den Laderaum verschwand.

Keuchend lehnte er sich an das Holz, ruhte sich kurz aus und begann, alles an Fässern, Säcken und Kisten vor den Eingang zu türmen, was er finden konnte. Danach verkroch er sich angewidert in den hintersten Winkel des großen Laderaums und deckte sich mit einem leeren Sack zu.

Ihr werdet mich nicht finden, Grünhaare. Ihr nicht.

Die Grünhaare fanden ihn. Sogar recht schnell, wie der Commodore eingestehen musste. Seine Täuschungsund Verbarrikadierungsversuche nützten nichts. Und natürlich identifizierten sie ihn anhand seiner Uniform als Palestaner.

Zwei schweigende Kensustrianer in einer leichten Lederpanzerung flankierten Baraldino auf dem Weg nach oben. Die Ruderbänke waren leer, die Ketten lagen einsam an den Plätzen, von draußen hörte der Mann keinen Ton.

An Deck angekommen, sah der Commodore zehn der Krieger, die sich leise unterhielten. Ihre Rüstungen wirkten schwerer als die seiner Begleiter und erinnerten ihn an die der kensustrianischen Gesandten, die er in Tersion gesehen hatte. Sie wandten ihre Aufmerksamkeit sogleich ihm zu.

»Ihr seid Palestaner?«, fragte einer der Soldaten unfreundlich.

Baraldino machte den obligatorischen Kratzfuß, schwenkte den Hut und stellte sich mit vollem Rang und Namen vor. »Mich umzubringen wird Euch nichts nützen. Nehmt mich lieber gefangen und verlangt Lösegeld«, schloss er seine Ausführungen.

»Kaufmann, Diplomat, Commodore und Feigling«, zählte der Kensustrianer auf. »Ich bin Kaàló. Es muss Euch genügen, wenn ich Euch sage, dass ich der Befehlshaber der Festung bin, die Ihr stürmen wolltet.« Die Männer um ihn herum lachten leise. »Ihr habt verloren. Und ich möchte, dass Ihr, Barilano …«

»Baraldino«, verbesserte der Palestaner mit süß-saurem Lächeln.

»… dem Kontinent davon berichtet, wie unser Reich auf Angreifer antwortet.« Der Kensustrianer schleppte den Commodore an die Reling und deutete in die Bucht, deren blaues Wasser sich vom Blut verfärbt hatte.

Der einst weiße Sand glich einem roten Schwamm, überall trieben Leichen. Durch das Gemisch aus Wasser und Leiber glitten die kleinen Segler und suchten nach Überlebenden, um ihnen den Gnadenstoß zu geben. Erste Raubfische hatten sich zu einem üppigen Festmahl eingefunden.

Fassungslos musste sich der Palestaner an der Bordwand festhalten, die Knie gaben nach. Zahllose Ruderer und über zweihundert Soldaten je Schiff ergaben eine für ihn grauenhafte Summe von Toten, die die Kensustrianer zu verantworten hatten.

»Ihr habt uns angegriffen, wir haben Euch zurückgeschlagen.« Kaàló reichte Baraldino einen schweren Sack. »Das sind die Rangabzeichen aller hohen angorjanischen Offiziere. Bringt sie zurück und erzählt von dem, was Ihr in der Bucht gesehen habt. Jeder Versuch, Kensustria anzugreifen, wird so oder so ähnlich enden.«

»Wie«, flüsterte der Offizier, dem der Ekel auf die Stimme geschlagen war, »komme ich zurück? Soll ich etwa schwimmen?«

»Einer unserer Katamarane wird Euch nach Westen bringen, wo Ihr Eure schwächere Flotte zur Täuschung abgestellt habt. Man wird Euch an Land setzen, die restlichen Meter werdet Ihr dann laufen müssen, Commodore. Nun verschaffe ich Euch noch einen besseren Eindruck.«

Der kensustrianische Anführer packte den Kaufmann und warf ihn rückwärts über die Reling ins Wasser.

Schreiend stürzte Baraldino in die roten Fluten und spürte den Geschmack von Blut in seinem Mund. Das Blut der angorjanischen Verbündeten.

Keuchend und hustend kam er wieder an die Oberfläche, starke Arme zogen ihn an Bord eines Katamarans und ließen ihn auf der schmalen Plattform liegen, wo er nicht im Weg war. Das Wasser, das aus seinen Kleidern floss, war rot. Der Sack mit den Rangabzeichen wurde hinabgereicht.

»Erzählt ihnen davon, Baraldino!«, rief Kaàló von der Galeere herunter, die Arme auf die Bordwand gestützt, während der kleine Segler Fahrt aufnahm.

Und ob ich das erzählen werde, dachte der Palestaner, während er sich würgend übergab. Der ganze Kontinent wird zum Krieg gegen euch rufen, wenn ich mit dem Berichtenfertig bin.

Ulldart, Königreich Tarpol, Hauptstadt Ulsar, Sommer 443 n.S.

Ein leichtes regenbogenfarbenes Flimmern legte sich um die Spitze von Lodriks rechtem Zeigefinger. Sorgsam deutete er auf das Glas Wasser, das vor ihm auf dem Tisch stand, und das bunte Leuchten griff auf das Gefäß über.

Seine Konzentration stieg innerlich auf das Ungeheuerlichste an, und die Konturen des Glases begannen sich zu verändern. Zuerst gingen sie in die Breite, danach schossen sie in die Höhe und verformten sich mehr und mehr zu einer hübschen Vase. Schweiß glänzte auf Lodriks Stirn, und einen Moment lang verringerte er seine geistige Anspannung.

Das durchsichtige Material bekam Risse und zerbarst, das Wasser ergoss sich auf die Arbeitsplatte des Tisches und richtete eine Überschwemmung an.

»Verflucht«, entfuhr es dem Kabcar. Im letzten Moment gelang es ihm durch mentale Aufmerksamkeit, den Ausbruch wilder Magie aus seinem Körper zu verhindern. Mit Sicherheit wäre durch seinen Wutanfall etwas zu Bruch gegangen, und das Kristallglas reichte ihm für heute schon aus..

Was der junge Mann da unentwegt übte, wenn er allein war, nannte sein Vetter »Kleinigkeiten«. Mortvas Ansicht nach machte es nur Sinn, sich mit den wirklich großen Auswirkungen der Zauberkunst zu beschäftigen, wenn man sie im Kleinen beherrschte. Und da machte Lodrik inzwischen schon gewaltige Fortschritte.

Ohne dass sein Konsultant und neuer Vertrauter es wusste, versuchte sich der Herrscher Tarpols auch an den gefährlichen Dingen. Darunter verstand der Kabcar das Erzeugen einer Feuerkugel, die er mehr zufällig als absichtlich entstehen ließ und die zu allem Überfluss noch durch den Raum flog. Er hatte die Auswirkungen seines misslungenen Experiments als Kaminbrand ausgegeben, der einen Teil des Raumes in Schutt und Asche gelegt hatte.

Noch immer wusste er nicht genau, was er mit seinen geistigen Energien in Bewegung setzen musste, um Größeres auszulösen. Er handelte aus einem Gefühl der Ahnung heraus, intuitiv nutzte er sein Können. Nur das Steuern des Resultats seiner Bemühungen wollte er unbedingt in den Griff bekommen, mehr als vorher.

In seiner magischen Begabung sah er die beste Möglichkeit, sich den Kriegsfürsten Sinured, den er als Verbündeten herbeigerufen hatte, vor Ablauf des Jahres 443 vom Hals zu schaffen. Die Gefahr, dass der heraufbeschworene Unhold die Dunkle Zeit zurückbrachte, war dem Kabcar zu groß. Aber bis dessen Moment zu gehen gekommen war, sollte »Das Tier«, wie er genannt wurde, noch gute Dienste verrichten.

Seufzend wischte der junge Mann die Scherben vom Tisch und platzierte ein billigeres Glas auf dem polierten Holz. Er wollte die Übung noch einmal durchführen, und diesmal sollte sie gelingen.

Ein leises Klopfen hielt ihn von weiteren Versuchen ab. »Ja, wer stört?«

Mortva Nesreca trat ein und verbeugte sich vor seinem Verwandten. »Hoheitlicher Kabcar, Ihr werdet doch am Ende nicht vergessen haben, dass Ihr endlich die diplomatischen Gesandtschaften der ulldartischen Reiche empfangen wolltet?«, erkundigte er sich freundlich. Seine Stimme klang sanft, beruhigend und wie immer Vertrauen erweckend.

»Bei Ulldrael dem Gerechten«, sagte Lodrik überrascht und sah nach der Uhr, die an der Wand hing. »Tatsächlich. Ich hätte die Botschafter warten lassen, wenn Ihr mich nicht abgeholt hättet, lieber Vetter.«

»Wozu bin ich denn da?« Der Konsultant lächelte. »Kommt. Die Delegationen sind alle versammelt und warten mit Ungeduld auf Euer Erscheinen.«

Lodrik straffte die Uniform und warf einen prüfenden Blick in den Spiegel. Ein schlankes, gut aussehendes Ebenbild mit dunkelblauen Augen und einem energischen Ausdruck auf dem Gesicht nickte ihm zu. Der kurze blonde Bart erschien wie immer adrett getrimmt.

»Wie schade, dass ich schon verheiratet bin«, sagte er und grinste seinen Vetter an. »Ich wäre jetzt die beste Wahl in ganz Tarpol. Ein stattlicher Jüngling von siebzehn Jahren.« Er sah nach seinem Profil. »Nur der etwas ernste Zug um meine Mundwinkel schmälert das sympathische Bild, nicht wahr?«

Der Mann mit den silbernen Haaren und den unterschiedlich farbigen Augen stützte sein Kinn in die Hand. »Es macht Euch seriöser. Das wirkt vor allem auf Diplomaten, die endlich zu der Überzeugung gelangt sind, dass Ihr ein wahrer Herrscher seid, hoheitlicher Kabcar.«

»Ja, ja«, meinte der junge Mann vieldeutig. »Ich habe viele überrascht.«

Zusammen verließen sie den Raum und machten sich auf den Weg in den Audienzsaal, wo die Botschafter, Gesandten und anderen Abordnungen auf sie warteten.

Die Reiche Ulldarts brannten darauf, zu wissen, wie es nun mit dem Krieg weitergehen sollte, der bei allen Erfolgen immer noch in Tarpol herrschte. Zudem war die Besitzfrage der Baronie Kostromo ungelöst, und für die »freie Baronie Worlac« musste ebenfalls eine Lösung her.

Der Konsultant war der Auffassung, dass unter dem Eindruck der zurückliegenden Ereignisse jetzt der beste Zeitpunkt sei, Verhandlungen zu führen. Der Schock über die Schlagkraft der Tarpoler, die Verbündeten und die Gnadenlosigkeit gegenüber den Borasgotanern hatten den Boden für gute Verhandlungen bereitet.

»Ich vermute, es hat sich an der Front nicht viel geändert, seit ich die letzten Berichte gelesen habe?«, erkundigte sich der Kabcar bei seinem Vetter. »Ich wäre nur ungern schlechter in Kenntnis gesetzt als die Botschafter.«

»Keine Sorge, hoheitlicher Kabcar, Ihr seid auf dem neuesten Stand«, beruhigte ihn Mortva. »Sinured hat seine Männer gut organisiert und erobert Euch Dorf für Dorf das Land zurück.«

Lodrik wirkte sehr nachdenklich. »Ich hoffe, er hält sich dabei im Hintergrund, was seine persönliche Anwesenheit angeht?«

»Hoher Herr.« Sein Vetter lächelte ihn fast zärtlich an. »Die Einzigen, die wissen, dass Sinured wieder vom Grund des Meeres zurückgekehrt ist, seid Ihr und Eure Freunde. Die Truppenteile, die von Dujulev zurückgekehrt sind, halten sich an den Schweigebefehl. Soweit ich weiß, lässt sich unser Kriegsfürst nur hinter den Linien und heimlich sehen.«

»Trotzdem wird es nicht mehr lange dauern, bis er von anderen entdeckt wird«, meinte der Kabcar. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Reiche sehr glücklich darüber sind, wenn sie davon erfahren. Und seine Männer, die er mitgebracht hat, wird man ebenfalls nicht mehr lange für turîtische Sonderkontingente halten. Ich vermute, dass der Botschafter von Mennebar dem Vierten mich nachher fragt, woher die Kämpfer kommen.« Unruhig spielte er an den Knöpfen seiner Uniform.

»Bedenkt eines immer, hoheitlicher Kabcar«, empfahl Mortva. »Ihr habt den Krieg nicht angefangen. Borasgotan und Hustraban trifft alle Schuld. Ihr habt Euch nur mit dem gewehrt, was Euch zur Verfügung stand. Und immer noch steht, so lange Ihr möchtet.«

»Ach, Mortva, was wäre ich ohne Euch?«, seufzte der junge Mann. »Stoiko kommt nicht auf die Beine. Ohne Euren Ratschlag wäre mir gewiss die eine oder andere Unbedachtheit unterlaufen.«

»Zu viel des Lobes«, schwächte der Konsultant ab. »Bisher musstet Ihr noch keine schweren Entscheidungen treffen, seit wir zurück in Ulsar sind. Aber das wird sich jetzt vermutlich ändern.«

Lodriks Gang wurde langsamer und langsamer, bis er schließlich vor einer Flurtür stehen blieb. »Eine Sache bleibt aber, über die ich nicht so einfach hinwegsehen kann. Das Duell zwischen Eurem Streiter und Nerestro.« Er blickte dem Mann fest in die Augen. »Ich frage Euch, Mortva, hat dieser Echòmer mit voller Absicht versucht, den Ritter umzubringen? Ohne den Heilstein wäre es ihm vermutlich auch gelungen. Warum diese Härte? Und was ist das überhaupt für ein Mensch, der in Ulsar nun einen sehr zweifelhaften Ruf genießt?«

»Ich werde mich persönlich bei Nerestro entschuldigen, dass mein Streiter den Kampf etwas zu verbissen gesehen hat«, meinte der Konsultant. »Aber er war in eine Art Kampfrausch verfallen, da ist es nicht mehr möglich, einen klaren Kopf zu bewahren. Und es war eine gute Portion Wut darüber dabei, dass der Ordenskämpfer unerlaubterweise nach seiner besonderen Waffe gegriffen hat. Man hätte ihn eigentlich sofort zum Verlierer erklären müssen.«

»Es war sehr ungeschickt von Euch, einen solch heißblütigen Mann in den Ring zu schicken«, strafte der Kabcar Mortva ab. »Ich kann froh sein, wenn die Hohen Schwerter mir weiterhin die Treue halten.«

»Ich werdet die Hohen Schwerter nicht mehr benötigen«, meinte der andere leichthin. »Andere, Bessere treten an deren Stelle. Und was die Herkunft von Echòmer angeht, ich lernte ihn als einen Studenten der Universität von Berfor kennen. Er widmete sich alten und ausgefallenen Kampftechniken. Ein Schmiedeunfall zwingt ihn dazu, seine Augen vor dem Sonnenlicht zu schützen.« Der Vetter öffnete die Tür für seinen Verwandten. »Nur durch Glück übrigens ist ihm nichts geschehen. Die Rüstung, die er trug, bestand aus reinem Iurdum, daher hat die aldoreelische Klinge wenig Schaden angerichtet. Und da bei Nerestro zuerst das Blut zu sehen war, verlor der Ritter den Kampf.«

»Echòmer ist demnach auch verletzt? Nun, alles andere hätte mich mehr als verwundert.« Der Kabcar setzte sich wieder in Bewegung. »Er hatte das Schwert ja halb im Leib.«

»Ein Cerêler behandelt ihn im Moment. Ich hoffe, er wird sich schnell erholen.«

»Wartet mit der Entschuldigung bei Nerestro nicht zu lange«, wies ihn Lodrik an. »Und macht am besten einen Bogen um Belkala. Sie würde Euch dafür, dass Euer Kämpfer ihn fast getötet hat, gerne Ähnliches antun. Und ich erteile Euch hiermit in aller Form eine Rüge für den Ablauf des Zweikampfs, auch wenn ich dem Ritter eine Mitschuld nicht absprechen will.«

»Ja, Hoher Herr.« Der Konsultant verbeugte sich tief vor dem jungen Mann. »Ich habe verstanden.«

Norina und Waljakov kamen ihnen entgegen, in eine leise Unterhaltung vertieft.

»Ein schönes Paar, nicht wahr?«, flüsterte Mortva Lodrik zu. »Man erzählt sich, sie verbringt viel Zeit zusammen mit Eurem Leibwächter am Bett von Stoiko.«

»Sie macht sich eben Sorgen, wie wir alle«, entgegnete der Herrscher Tarpols.

»Und beim Spazieren gehen. Und in der Bücherei«, zählte der Mann mit den silbernen Haaren leise weitere Orte auf.

Als die Brojakin ihren Geliebten sah, strahlte sie und lief auf ihn zu. Liebevoll umarmte sie ihn. Nach kurzem Zögern erwiderte er ihre Zärtlichkeit. Er dachte noch einen Moment über die Worte seines Konsultanten nach.

»Endlich sehen wir uns«, sagte sie glücklich und lächelte. »Mein Kabcar macht sich äußerst rar, seit er von Dujulev zurück ist. Dabei habe ich so sehr gehofft, dass wir …«

»Nicht jetzt, Norina.« Lodrik wand sich aus ihren Armen und deutete nach vorne. »Ich muss zu den Diplomaten. Mal sehen, was sie möchten. Wir können uns später in aller Ruhe unterhalten. Warte am besten im Teezimmer auf mich.«

Die Enttäuschung stand der jungen Frau ins Gesicht geschrieben, die Augen spiegelten einen leichten Ausdruck von Traurigkeit. »Natürlich gehen die Herrschergeschäfte vor«, lenkte sie ein. »Aber danach sehen wir uns?«

Der Kabcar nickte. »Ist Waljakov plötzlich zu deinem Leibwächter geworden?«, fragte er amüsiert, konnte aber nicht verhindern, dass eine Spur Misstrauen mitschwang.

Das Braun ihrer Mandelaugen blitzte drohend auf. »Wir beide haben den armen Stoiko besucht, während andere in diesem Palast die Türen hinter sich abschließen und sich geheimnistuerisch in Räume zurückziehen, ohne auch nur ein Sterbenswörtchen von sich zu geben.«

Schuldbewusst senkte Lodrik den Kopf. »Ja, du hast Recht, schimpf nur. Ich habe ihn vernachlässigt. Aber die Angelegenheiten um Tarpol, der Krieg, du weißt, wie sehr ich mich damit befassen muss.«

»So sehr, dass du nicht einmal wenige Minuten am Tag hast, um nach deinem engsten Vertrauten und Berater zu sehen?« Sie sah ihm ernst in die blauen Augen. »Er hat dich durch Granburg begleitet, er stand dir in der Zeit nach dem Tod deines Vaters zur Seite, und er hat dir gegen die Brojaken geholfen.« Sie machte einen Schritt auf ihn zu und blickte von oben auf ihn herab. »Kabcar hin oder her, du vernachlässigst die, die dich wirklich lieben.«

»Hoher Herr«, schaltete sich der Konsultant freundlich von der Seite ein, »die Diplomaten warten.«

Die hübsche Brojakin warf dem Mann mit dem Silberhaar einen viel sagenden Blick zu, ihre kleine Narbe an der rechten Schläfe leuchtete rot. Waljakov schwieg wie immer, die mechanische Hand an der breiten Gürtelschnalle, die eisgrauen Augen ruhten kalt auf Mortva.

Lodrik hatte das unbestimmte Gefühl, zwischen zwei Fronten zu stehen.

»Ich gelobe Besserung, Norina. Sofort nach der Besprechung komme ich ins Teezimmer, und wir besuchen Stoiko gemeinsam.«

Sie nickte, gab ihm einen Kuss auf die Stirn und ging weiter. Der Leibwächter blieb bei dem Duo und folgte ihm leicht versetzt.

Ein schönes Paar, hallte die Stimme seines Vetters durch den Kopf des Herrschers, unwillkürlich musste er zu dem Hünen im glänzenden Brustharnisch schauen.

Waljakov konnte den forschenden Blick seines Schützlings nicht deuten und zog es vor, geradeaus zu sehen.

»Bevor wir uns in die Höhle der Löwen begeben, hoheitlicher Kabcar«, begann Mortva nach einer Weile, »wollte ich Euch nur frühzeitig auf etwas hinweisen. Die Brojaken scheinen zu denken, sie könnten ihre alten Forderungen im Rat wieder aufleben lassen. Jetzt, nachdem ja verhältnismäßige Ruhe in Tarpol eingekehrt ist, wollen sie anscheinend zurück zu den Anfängen. Kolskoi hat sich in den Wochen Eurer Abwesenheit mit mehreren seiner Amtsgenossen getroffen.«

»Und mit anderen seltsamen Menschen«, ergänzte Waljakov. »Der Geheimdienst berichtet, dass er sich mit Traumdeutern beriet. Er wurde übrigens erst bei diesem Zweikampf wieder in der Öffentlichkeit gesehen.«

»Er hat bestimmt Angst vor Euch, werter Vetter«, lachte Lodrik. »Euer Versprechen, sich um Kolskoi zu kümmern, habt Ihr auf alle Fälle gehalten. Ihr dürft das gerne wiederholen, wenn Euch der Sinn danach steht.«

»Was habt Ihr denn in die Wege geleitet?«, erkundigte sich der Leibwächter interessiert. »Die Zustimmung des Rates geht tatsächlich auf Euch zurück?«

Mortva war es sichtlich unangenehm, dass der Kabcar vor dem glatzköpfigen Kämpfer so offen über die Angelegenheit sprach. »Ich habe mich nur mit ihm unterhalten, das war alles.«

»Eure Argumente müssen mehr als stichhaltig gewesen sein, wenn sie ihm anscheinend sogar den Schlaf rauben.« Waljakov machte keinen Hehl daraus, dass er der Lüge des Konsultanten nicht aufsaß. »Was bei Kolskoi etwas bedeuten muss. Übrigens hat er sich von seinen borasgotanischen Hunden getrennt. Ihr erinnert Euch noch an die Fahrt nach Granburg?«

»Wie könnte ich diese Episode jemals vergessen«, seufzte Lodrik.

Inzwischen waren sie vor der Tür des Audienzzimmers angelangt, zwei Livrierte öffneten die riesigen Flügeltüren und machten auf das Eintreten des Herrschers aufmerksam.

Die Gesandtschaften, Diplomaten und Abordnungen aller Reiche waren in diesem Zimmer vertreten. Bunte Uniformen, schlichte Trachten und protziges Brokat: Abwechslung wurde reichlich geboten.

Nicht minder atemberaubend gestaltete sich der Geruch, der in dem hohen, von Säulen getragenen Raum schwebte und schwer auf das hoheitliche Riechorgan schlug. Offensichtlich war jeder der Meinung gewesen, besonders viel Duftwasser auftragen zu müssen, dazu mischte sich das aufdringliche Lavendelaroma des Mottenpuders in den Perücken.

»Ein Wunder, dass der Stuck und das Blattgold nicht von der Decke stürzen«, knurrte der Leibwächter.

Mit einem kurzen Wink bedeutete der Kabcar den Pagen, die großen Fenster zu öffnen, um zu lüften.

Zielstrebig durchquerte er den Raum, ohne die Versammlung mit einem Blick zu würdigen, dicht gefolgt von Mortva und Waljakov, dann ließ er sich auf dem thronartigen Sessel nieder. Bedienstete schoben auf ein Zeichen des Konsultanten hin einen Kartentisch vor die Sitzgelegenheit, auf dem ein Pergament mit den Umrissen Ulldarts und allen Reichen lag.

»Willkommen allen«, erhob Lodrik seine Stimme. »Ich freue mich, so viele bekannte Gesichter wiederzusehen.« Sein Tonfall wurde schneidend. »Auch wenn dem ein oder anderen die Arroganz und die Aufgeblasenheit von früher nun fehlen. Es wurde der Wunsch geäußert, eine Unterredung stattfinden zu lassen. Nun denn. Und ich möchte mit einer alten Tradition beginnen.«

Er stand auf und schritt zu der Karte, nahm sich ein Stück weiße Kreide und umrandete Tûris, Aldoreel und die Inseln Rogogards.

»Das sind die Länder, denen ich zu tiefstem Dank verpflichtet bin, weil sie mich moralisch und sogar mit Proviant und Truppen, die sie entbehren konnten, unterstützten. Der Rest«, er legte seine rechte Hand auf das Pergament, »hat nichts getan, um sich beim tarpolischen Reich besonders beliebt zu machen. Das wollte ich an den Anfang stellen, um einigen die Augen zu öffnen, die dachten, gut wegzukommen.« Er setzte sich wieder und wartete ab.

Sarduijelec, der dicke borasgotanische Botschafter, wurde unsanft von seinem Amtskollegen aus Hustraban, Fusuríl, nach vorne geschoben.

»Nun, hoheitlicher Kabcar, Arrulskhân lässt Euch durch mich seine Glückwünsche zu dem Sieg überbringen, auch wenn er mehr glücklich als alles andere war.«

»Wie auch immer, das Resultat zählt«, unterbrach ihn der Kabcar. »Fahrt fort. Ich erwarte die Kapitulation Eures Reiches mit Spannung. Und die Entschuldigung für diesen Überfall.«

Der Botschafter sah zu den Ahnengemälden der Bardri¢s. »Ich wurde nicht beauftragt, eine Kapitulation zu überbringen, sondern einen Vorschlag zu unterbreiten«, dämpfte Sarduijelec die Erwartungen. »Arrulskhân bietet Tarpol an, dass sich seine Männer sofort aus dem Reich zurückziehen, Borasgotan dafür jedoch als Entgegenkommen eine gewisse Summe erhält.«

Gelangweilt lehnte Lodrik sich zurück. »Jetzt kommt wahrscheinlich das ›andernfalls‹, nicht wahr?«

»Andernfalls«, sprach Sarduijelec wie vorhergesagt, »legen wir den Teil der Provinzen, den wir noch kontrollieren, in Schutt und Asche. Die Ernte werdet Ihr vergessen können, Eure Einwohner ebenfalls. Ihr könnt das Schlimmste jedoch verhindern.«

Lodrik kontrollierte nur mit äußerster Mühe eine Eruption wilder Magie. Die Hände krampften sich um die Lehnen. »Wenn auch nur eine einzige tarpolische Hütte brennt, befehle ich meinen Soldaten, dass sie bis in die Hauptstadt Borasgotans marschieren und Euren wahnsinnigen Herrscher mit Euren Eingeweiden füttern, Sarduijelec. Und das ist kein leeres Versprechen, Botschafter. Die Schlagkraft meiner Armee dürfte ich unter Beweis gestellt haben. Mein Gegenangebot ist: Zieht Euch zurück. Friedlich. Sofort, und Eure Männer werden ihr Leben behalten. Entschuldigt Euch, wie es sich für ein Reich gehört, das einen Krieg begonnen hat.«

Der borasgotanische Botschafter verbeugte sich. »Es tut mir aufrichtig Leid. Ich kann es nicht entscheiden, sondern bin angehalten, Euch diesen Vorschlag zu unterbreiten.«

»Inakzeptabel«, raunte Mortva dem Kabcar ins Ohr. »Ich werde den Truppen befehlen, schneller als bisher vorzugehen. Auch denke ich, dass zusätzliche Verstärkung unserer Streitmacht nicht schadet, damit wir gleichzeitig verschiedene Ziele angehen können.«

»Woher sollen wir die denn nehmen? Und wie versorgen?«, wisperte Lodrik ratlos zurück.

»Lasst das meine Sorge sein, Hoher Herr. Bittet Euch Bedenkzeit aus.« Sein Vetter richtete sich wieder auf.

»Ich werde über dieses wirre Ansinnen trotzdem nachdenken«, sagte der junge Mann. »In vier Wochen gebe ich Euch Bescheid.«

»Mit allem Respekt, hoheitlicher Kabcar.« Sarduijelec schüttelte den Kopf, sein Doppelkinn wabbelte hin und her. »Arrulskhân möchte innerhalb von vier Tagen eine Entscheidung von Euch.« Er stellte sich zurück in die Reihe der anderen. Beruhigend berührte Mortva die Schulter des Herrschers.

»Wenn wir nun schon dabei sind, Unmögliches voneinander zu verlangen, dann möchte ich, dass sich Hustraban unverzüglich aus meiner Baronie zurückzieht«, hallte die Stimme Aljaschas durch den Saal. Ihr makelloser Körper steckte in einem Traum aus weitem, fließendem Stoff in Beigetönen: Edelsteine funkelten und blitzten am Dekolletee und eiferten mit dem Diadem um die Wette. Mit eleganten Schritten kam sie vom Eingang herüber zu ihrem Gemahl und setzte sich neben ihn. »Unverzüglich.«

Sie schenkte Lodrik einen liebevollen Aufschlag ihrer grünen Augen.

Daraufhin machten Waljakov und der Herrscher gleichzeitig ein verdutztes Gesicht.

Fusuríl trat nach vorne und klappte den Oberkörper in seiner unnachahmlich starren Weise zur Begrüßung ab. »Der eine Sachverhalt hat mit dem anderen nichts zu tun, hoheitliche Kabcara.«

»Dann müssen wir es tatsächlich auf einen Krieg mit Hustraban ankommen lassen?«, meinte sie kühl. »Wir haben im Moment das bessere Heer.«

Der Gesandte legte das Gesicht in Falten. »Ihr würdet den Friedensvertrag brechen und Euch den Widerstand der übrigen Reiche zuziehen, wenn tarpolische Truppen einmarschierten, habt Ihr das vergessen, hoheitliche Kabcara?«

»Darüber müsst Ihr Euch keine Gedanken machen«, ergriff der Konsultant überraschend das Wort. »Hoheitlicher Kabcar, mit Eurer Erlaubnis lüfte ich das Geheimnis unserer Streitmacht.« Mortva gab Lodrik durch ein Blinzeln zu verstehen, dass er nicht mit der ganzen Wahrheit herausrücken wollte. »Jeder weiß, dass Tersion sich im Krieg mit Kensustria befindet. Um durch Ilfaris gelangen zu können, so kam mir zu Ohren, benutzt die Regentin angorjanische Freunde. Somit besteht nicht die geringste Gefahr, dass das Abkommen über den Tausendjährigen Frieden auch nur in irgendeiner Weise missachtet wird.«

»Was scheren uns die Südländer?«, warf Fusuríl ein.

»Sie geben ein sehr gutes Beispiel, Gesandter«, gab der Mann mit dem Silberhaar zurück. »Seht, Angor ist nicht der einzige Kontinent, auf dem Krieger zur Verfügung stehen. Das Königreich Tarpol hat sich erlaubt, nach Verbündeten Ausschau zu halten und wurde weit über dem Meer fündig. Ich vermute, die meisten hier haben von den Schiffen gehört, die den Repol bis in die Nähe von Dujulev gefahren sind? Exakt sie gehören zu unseren Freunden. Und sie sind nicht, wie immer behauptet wurde, aus Tûris.«

»Ihr habt Söldner angeworben?« Der Hustrabaner wirkte alarmiert. »Damit verstoßt Ihr genauso gegen …«

»Wir«, unterbrach ihn der Konsultant hart, »haben niemanden angeworben. Die Soldaten stehen auch nicht unter dem Kommando des Kabcar, sondern eines befreundeten Feldherrn, der nichts von uns für seinen Aufwand erhält. Damit verletzt Tarpol den Vertrag ebenso wenig wie Tersion. Und aus dieser Freundschaft kann man dem Kabcar rein rechtlich keinen Strick drehen.«

»Und wie groß ist diese Streitmacht, die in Tarpol kämpft?«, wollte der Gesandte aus Borasgotan wissen, dem die Zuversicht ebenfalls abhanden gekommen war.

»Groß genug.« Mortva lächelte.

»Ihr seht«, griff Lodrik ein und spürte zu seiner Überraschung die Hand seiner Ehefrau auf der eigenen, »dass wir bestens vorbereitet sind. Und wenn dieser Feldherr, der uns bei Dujulev etwas half, beschließt, sich gegen Hustraban zu wenden …« Absichtlich ließ der Kabcar den Satz unvollendet, um die möglichen Konsequenzen der Fantasie des Einzelnen zu überlassen. »Zu reden haben wir aber auch noch über die Rückkehr der Provinz Worlac. Ich verlange, dass der selbst ernannte Baron Pavloc Kinikai sich umgehend meinen Beamten stellt, das Gebiet sich unverzüglich und ohne weitere Schwierigkeiten zurück in den angestammten Schoß Tarpols begibt. Von Strafaktionen gegen die Aufständischen werde ich absehen, wenn alle Waffen abgegeben werden. Sarduijelec, würdet Ihr das bitte dem Gouverneur ausrichten, wenn Ihr ihn seht. Und sagt ihm auch, dass der Kabcar wenig Geduld hat. Diese Langmut wird innerhalb von einer Woche erschöpft sein. Es wäre somit auch günstig, Botschafter, wenn Borasgotan und alle seine Verbündeten die Unabhängigkeit der Abtrünnigen nicht weiter anerkennen würden.«

Der Konsultant flüsterte dem jungen Mann auf dem Thron etwas zu.

»Richtig, das hätte ich beinahe vergessen.« Lodrik deutete auf den Diplomaten Serusiens. »Soweit ich mich erinnere, hat Euer Land sich an den Bestrebungen gegen Tarpol beteiligt.«

»Ein bedauerliches Missverständnis, hoheitlicher Kabcar.« Der Angesprochene verbeugte sich, was ihm ein verächtliches Schnauben Fusuríls einbrachte. »Serusien entschuldigt sich vielmals für den begangenen Fehler und hofft, dass die Reiche weiterhin in Frieden miteinander leben können.«

»Wenn Serusien für seine Torheit bezahlt, sehe ich keinerlei Schwierigkeiten damit«, sagte der Herrscher Tarpols. »Immerhin ist das keine Kleinigkeit. Zweihunderttausend Waslec müssten genügen, findet Ihr nicht auch?«

Dem Botschafter wich die Farbe aus dem Gesicht. »Das ist eine immense Summe …«

»… aber für ein so wohlhabendes Land mit Sicherheit kein Problem«, wiegelte Lodrik ab. »Meine Entscheidung steht. Die Zahlung sollte bald erfolgen, damit der befreundete Feldherr rechtzeitig anhält, wenn er den serusischen Schlagbaum sieht und nicht einfach einmarschiert.« Unruhe breitete sich bei den versammelten Diplomaten aus.

»Übertreibt es nicht«, warnte ihn Mortva leise. »Noch sind wir die Opfer, aber wenn Ihr weitermacht, sind wir die Kriegstreiber, Hoher Herr. Eure Andeutungen könnten uns mehr schaden als nützen.«

Der Kabcar verzog keine Miene bei dem geraunten Hinweis. »Aber das sind natürlich nur Gedankenspiele«, sagte er laut. »Es gibt keinen Grund zur Beunruhigung, verehrte Botschafter und Gesandte.«

»Wenn Ihr Euren Freund nicht unter Kontrolle habt, hoheitlicher Kabcar«, meldete sich Tafur, der Botschafter Aldoreels, zu Wort, »wer garantiert den anderen Reichen, dass sie unbehelligt bleiben?«

Es war dem Leibwächter schon lange aufgefallen, dass sich niemand genau um die Herkunft der Krieger sorgte. Der Konsultant sprach immer nur von »Sinureds Männern«, sein Schützling fragte nicht weiter nach. Wie er so vieles nicht hinterfragte. Und auch ansonsten wusste niemand genau, wer Hilfe schicken würde, die sich freiwillig einem Ungeheuer anschloss.

»Ich gebe Euch mein Wort, dass alle, die sich nicht an den Kriegsakten gegen Tarpol beteiligt haben, nichts von meinen Freunden zu befürchten haben.« Lodrik erhob sich. »Unschuldige dürfen für die Dummheit anderer nicht bestraft werden. Aber alle anderen sollen gewarnt sein: Kommt meinen Vorschlägen nach oder erlebt Euer blaues Wunder. Ulldrael der Gerechte ist auf meiner Seite, wie man bei Dujulev sah. Und er wird so lange auf meiner Seite sein, bis wieder Gerechtigkeit herrscht.«

Der junge Herrscher fühlte, wie seine Cousine ihm sanft mit den Fingern auf dem Handrücken entlangfuhr. Im Stillen erwartete er, dass sie gleich etwas sagte, was ihn kompromittieren würde. Fragend schaute er zu ihr, aber sie lächelte nur freundlich und drückte seinen Oberarm.

Auch dem Leibwächter waren die Geste und der Ausdruck der Kabcara nicht entgangen.

»Die Audienz ist zu Ende, wenn die verehrten Gesandten keine Fragen mehr haben«, sagte Mortva laut. Als sich keiner zu Wort meldete, öffneten die Bediensteten die Türen, und die Versammlung löste sich auf.

Der Herrscher blickte nachdenklich auf die Karte. »Wie lange wird es dauern, bis die Verstärkung angekommen ist?«

»Im Moment stehen wir mit zwanzigtausend Männern im eigenen Land und treiben die Borasgotaner vor uns her.« Der Mann mit dem Silberhaar ließ die Zahl einen Moment wirken. »Ich muss nicht betonen, dass wir uns eine solche Streitmacht nur leisten können, weil wir uns mitten in der Erntezeit befinden, Hoher Herr. Ansonsten sähe es mit der Versorgung eher schlecht aus.«

»Dann werden wir im Winter schlecht aussehen«, murmelte Waljakov, klackend legte sich die mechanische Hand um den Säbelgriff. »Die fressen unseren Bauern die Haare vom Kopf.«

»Na, na. Ganz so schlimm ist es nun auch wieder nicht. Ihr seid ein Mann, der nur das Schlechteste annimmt, wisst Ihr das?«, sagte Mortva in Richtung des Leibwächters. »Wir haben noch keine Klagen von Landpächtern gehört, was wollt Ihr mehr?« Der Konsultant nahm sich eine Hand voll Holzklötzchen und positionierte sie. »Wir setzen sie pausenlosen Angriffen aus. Ein Teil der Soldaten erholt sich, der andere Teil attackiert. Für die Borasgotaner erweckt das den Eindruck, als würden wir über scheinbar unerschöpfliche Kraftreserven verfügen, somit kommt zu ihren materiellen Verlusten auch noch eine sinkende Kampfmoral.«

»Es wird aber reichen, um Feuer zu legen«, gab Waljakov zu bedenken.

Nun wirkte Mortva ungehalten, die rechte Augenbraue hob sich ganz langsam. »Ich teile Eure Bedenken, wenn auch nur bedingt. Ihr seid ein verdienter Scharmützelkämpfer, ich dagegen habe Militärgeschichte studiert. Ihr denkt zwar richtig, aber in zu kleinen Dimensionen.«

»Euer Studium kann wenig wert gewesen sein, wenn Ihr die mögliche Bedeutung eines umherliegenden Panzerhandschuhs nicht kennt«, brach es aus dem Hünen hervor. »Und erzählt mir nicht, Ihr hättet von dem Schwur des Ritters nichts gewusst.« Mit ein paar ausladenden Schritten stand er vor dem Vetter des Kabcar. »Ihr, Nesreca, habt den Handschuh absichtlich aufgehoben, um den Ritter im Zweikampf umbringen zu lassen.«

Mortva blieb gelassen, obwohl seine unterschiedlich farbigen Augen Waljakov zu durchbohren schienen. »Und was hätte ich davon, wenn es so wäre, wie Ihr sagtet?«

»Ich weiß es nicht«, gestand der Leibwächter, »aber Ihr betreibt ein seltsames Spiel am Hof. Und der Kabcar ist zu blind oder zu sehr von Euch beeinflusst, als dass er es merken würde.«

»Ihr dagegen besprecht Eure Verdächtigungen lieber mit Norina Miklanowo, vermute ich. Allein«, retournierte der Konsultant, verschränkte die Arme auf dem Rücken und zwang sich zu einem Lächeln. »Ihr werdet zumindest oft zusammen gesehen, wie ihr beide durch den Palastgarten wandelt oder Zeit in der Bibliothek verbringt, während sich der Kabcar den Regierungsgeschäften widmet. Ihr vernachlässigt, wenn ich es richtig betrachte, Eure Aufgabe als Leibwächter, findet Ihr nicht?« Er wandte sich zu einem schweigenden Lodrik und Aljascha, die ein gespanntes Gesicht machte. »Findet Ihr nicht auch, Hoher Herr?«

»Ihr seid ein …«, setzte Waljakov wütend an, doch der Herrscher Tarpols unterbrach ihn.

»Genug, ihr beide. Es reicht.« Der jugendliche Herrscher erhob sich. »Mortva und ich haben bereits über den Zweikampf gesprochen, und ich habe ihm offizielleinen Tadel erteilt, den er an seinen Kämpfer weiterreichen wird. Und immerhin hat Nerestro verbotenerweise nach seiner aldoreelischen Klinge gegriffen. Wenn Echòmer nicht so eine gute Rüstung benutzt hätte, wäre er vermutlich tot. Ich kann die Beweggründe des Mannes schon verstehen.« Lodrik stellte sich neben den Glatzkopf. »Ich treffe meine Entscheidungen immer noch selbst, also sei unbesorgt. Mein Vetter leistet nur gute Dienste, indem er mich an Sachen erinnert.«

»Werdet Ihr ihn wieder aus Euren Diensten entlassen, wenn Stoiko auf die Beine gekommen ist?«, wollte Waljakov wissen. »Und erinnert Ihr Euch an das Versprechen, das Ihr dem Ritter bei Dujulev gegeben habt? Haltet Ihr Euer Wort, Herr?«

Lodrik senkte den Blick und sah auf seine Schuhspitzen. Er wirkte in diesem Augenblick wie der »TrasTadc«, hilflos wie ein kleines Kind, das sich nicht entscheiden konnte.

»Wie redest du mit dem Kabcar von Tarpol?« Aljascha kam an die Seite ihres Gemahls, hakte sich unter und sandte dem Leibwächter einen vernichtenden Blick. »Du magst viel zusammen mit ihm erlebt haben, aber er ist für dich immer noch der Herrscher Tarpols, den du mit Respekt zu behandeln hast. Du bist sein Leibwächter, nicht sein Vormund.«

Waljakov verbeugte sich knapp vor der rothaarigen Frau. »Meine tiefste Entschuldigung, hoheitliche Kabcara. Ich weiß durchaus, wo meine Position ist.«

»Es ist schon spät, lasst uns alle zu Bett gehen und den Tag morgen besser beginnen, als er heute endet«, schlichtete Lodrik müde. »Du kannst gehen, Waljakov. Es ist gut.« Wortlos wandte sich der Hüne um und verließ das Audienzzimmer.

Sein Vetter legte den Zeigefinger an sein Kinn. »Dürfte ich Euch einen Vorschlag machen, hoheitlicher Kabcar?« Der junge Mann nickte. »Wir sollten die Borasgotaner zurückschlagen bis weit in ihr eigenes Land.« Mortva nahm die rote Kreide. »Wenn ich mich richtig erinnere, verlangten unsere Nachbarn bei den Verhandlungen die Hälfte Tarpols, sozusagen als Sicherheit. Es wäre doch nur mehr als rechtens, wenn wir das Gleiche in Anspruch nähmen. Zum Schutz Eurer Untertanen. Es wäre der beste Garant für eine ruhige Grenze, wenn wir eine Besatzungszone einrichten würden.« Die Spitze des farbigen Kreidestücks fuhr über das Drittel Borasgotans, das an Tarpol grenzte. »Das müsste genügen.«

»Und wie bekomme ich meine Baronie zurück?« Aljascha schmiegte sich an Lodrik, der ihren warmen Körper durch seine Uniform spüren konnte. Auch bei ihm stieg die Temperatur sprunghaft an, und vorsichtig roch er an dem roten, verführerisch glänzenden Haar seiner Gemahlin. Sie registrierte es mit einem Lächeln.

Der Konsultant tippte nacheinander die Baronien an. »Tatsache ist, dass wir vor eine größere militärische Herausforderung gestellt sein werden als bei Borasgotan. Unglücklicherweise ist Kostromo das östlichste aller Kleinreiche, also müssen wir irgendwie herankommen, um Hustraban herauszuwerfen. Da sich die meisten Baronien mehr oder weniger freiwillig Borasgotan angeschlossen haben oder annektiert wurden, sollte eine Begründung für den Einmarsch nicht allzu schwer zu finden sein. ›Befreiung‹ ist ein sehr schönes Wort.«

Die grünen Augen der Kabcara glitzerten auf. »Man könnte sie zu einer Großbaronie zusammenfassen«, schlug sie vor und küsste Lodrik sanft aufs Ohr. »Und ich würde sie regieren, mit deiner Erlaubnis, Gemahl.«

»Ihr wisst, dass ihr beide sehr tief greifende Veränderungen vornehmen müsstet«, äußerte sich der überrumpelte Herrscher vorsichtig, während ihm ein heißer Schauder den Rücken hinablief. Seine Cousine hatte das Parfüm aufgelegt, das er am meisten an ihr mochte.

»Ich bin mir sicher, dass, wenn wir es den Baronen entsprechend schmackhaft machen, inklusive der Zahlung von Rücktrittsgeldern, diese gewaltlose Umgliederung keine Schwierigkeiten bereiten dürfte.« Der Konsultant stützte eine Hand auf den Kartentisch, die andere legte er auf den Rücken. »Und wieder hättet Ihr einen Stein mehr in Eurer Straße zur Unsterblichkeit. Das Volk sieht in Euch bereits jetzt den größten aller Bardri¢s.«

»Und die gewachsenen Strukturen der Baronien zu den anderen Reichen?« Mehr und mehr schwand der Widerstand des jungen Mannes angesichts der Lösungen, die Mortva zu allen Problemen aus dem Hut zauberte, und der betörenden Nähe seiner Gattin, die weiterhin ihren Körper an seinen drückte. Das alte Verlangen, das er für tot gehalten hatte, flammte auf und kämpfte gegen die schlechten Erfahrungen, die er bisher machen musste.

»Ich glaube, dass allen Beteiligten der Anschluss an Tarpol lieber ist als die Herrschaft eines Wahnsinnigen«, schätzte der Konsultant die Lage ein. »Einzig und allein Ucholowo wird sich sträuben, weil der Baron mit einer Nichte Arrulskhâns verlobt ist. Bijolomorsk wollte sich ohnehin wieder uns anschließen. Es sieht sehr gut für uns aus. Und mit der Bildung einer Großbaronie sitzen wir in einer strategisch äußert günstigen Position.«

»Man könnte meinen, Ihr plant weitere Eroberungen, verehrter Vetter«, scherzte der Kabcar und umfasste die Hüfte Aljaschas. Das Blut schoss ihm in den Kopf und andere Körperteile. Das Verlangen hatte den inneren Kampf gewonnen.

»Aber nein«, winkte Mortva ab. »Ich nicht. Aber wartet nur, Ihr werdet mir eines Tages selbst sagen, was Tarpol noch in die Arme schließen möchte. Im Übrigen empfehle ich gegen Hustraban die gleiche Vorgehensweise wie gegen Borasgotan. Ein Schutzgürtel, um die bis dann entstandene Großbaronie vor Feindseligkeiten zu bewahren, wäre eine sehr gute Einrichtung.«

»Wenn man Euch beide so reden hört«, sagte Lodrik, »könnte man glauben, Ihr möchtet ganz Ulldart zu tarpolischem Besitz machen.« Sanft streichelte Aljascha seinen Rücken.

Mortva und die Kabcara lächelten sich kurz an. Sie verstanden sich ohne Worte, während Lodrik zum Ausgang schaute, seine Cousine an der Hand nahm und mit ihr den Raum verließ.

Der Mann mit den silbernen Haaren vollführte eine Geste mit der linken Hand, und ein Windstoß löschte alle Lampen im Saal.

»Paktaï«, sagte er mild, und auf seinen leisen Befehl hin erschien die Frau aus dem Schatten einer Säule. Gekleidet war sie in eine schwarze, nietenbesetzte Rüstung aus gehärtetem Leder, darunter lag ein dicht gewobenes Kettenhemd. Die langen schwarzen Haare waren zu einem Zopf zusammengebunden, was ihr dünnes Gesicht noch schmaler wirken ließ. Die Monde leuchteten auf ihr fahles Antlitz, ihre Augen glühten dunkelrot. »Wie geht es dem unvorsichtigen Hemeròc?«

Paktaï senkte sich auf ein Knie herab. »Er wird wieder gesund werden, aber die aldoreelische Klinge hat ihn schwer verletzt. Ihr hattet ihn gewarnt.« Sie stand auf, das Haupt demütig gesenkt. »Habt Ihr gewusst, dass diese Kensustrianerin ein Rákshasa ist?«

Der Konsultant konnte seine Verwunderung nicht verbergen. »Nein. Ich ahnte es nur, als ich ihre Zähne und die leuchtenden Pupillen sah.« Seine Augen wurden schmal. »Wie hast du es herausbekommen?«

Die Frau schüttelte den Kopf. »Nicht ich. Hemeròc war es, bevor er sich zur Regeneration zurückzog. Er war bei diesem Ritter, um ihm den Tod zu versprechen.«

»Ach? Er handelt ohne meinen ausdrücklichen Befehl?« Er fuhr sich nachdenklich über die Haare. »Ich werde ihm noch einmal verdeutlichen müssen, wer wem unterstellt wurde. Du, meine bezaubernde Paktaï«, er umfasste ihr Kinn und hob den Kopf an, damit sie in seine Augen sehen musste, »weißt doch genau, wo dein Platz ist?«

»Ganz genau.« Sie blickte ihn teilnahmslos an.

»Gut.« Mortva ließ sie los und wandte ihr den Rücken zu. »Geh. Und richte Hemeròc aus, dass eine Strafe auf ihn warten wird.« Sie verneigte sich, trat zurück und verschmolz mit den Schatten.

Leise huschte Waljakov in Stoikos Kammer und trat an dessen Bett heran.

Sein Freund hatte die Augen geschlossen, das Gesicht erhielt allmählich seine Farbe wieder zurück. Die Genesung schritt voran, wenn auch nur zögerlich. Die Cerêler des Palastes gaben ihr Bestes, aber die Wunden schienen immer wieder von neuem infiziert zu sein, als wollte etwas verhindern, dass Stoiko auf die Beine kam.

Der Leibwächter hatte den Verdacht, dass das »Etwas« lange silberne Haare hatte und auf den Namen »Nesreca« hörte. Aber beweisen konnte er es nicht. Die Wachen, die er vor die Tür gestellt hatte, sahen und hörten nichts. Weder er noch Norina noch der Verwundete vertrauten diesem mysteriösen Vetter vierten Grades, und nach dieser Unterhaltung im Audienzsaal schon gar nicht mehr. Er musste weg. Und wenn Waljakov ihn eigenhändig an seinen Haaren nach Berfor zurückschleifen musste.

Der Verletzte schlug die Augen auf und versuchte, ein Lächeln zu fabrizieren. »Du siehst müde aus, Waljakov.«

»Ich bin müde«, sagte der Hüne grinsend und blickte sich im Zimmer um. »Benötigst du etwas? Trinken, essen oder etwas anderes?«

»Nein, danke, ich habe nur ein wenig gedöst. Es geht mir schon viel besser. Ich denke, dass ich nächste Woche aufstehen kann.«

Der Leibwächter nahm Platz. »Ich möchte dich wirklich nicht drängen, Stoiko, aber es wird höchste Zeit, dass du an Lodriks Seite zurückkehrst. Seit dieser Nesreca aufgetaucht ist, steuert der Junge stärker als zuvor etwas entgegen, was mir nicht gefällt. Und er hat sich Sinured als Verbündeten gewählt.«

»Er konnte nicht anders«, verteidigte der verletzte Mann den jungen Herrscher. »Aber er wird ihn wieder zurückschicken. Du hast gesagt, er habe es dem Ritter versprochen.«

»Und der Ritter liegt inzwischen ebenfalls halb tot in seinem Bett«, meinte Waljakov düster.

»Du hast mich damals gewarnt, nun ist es an mir.« Stoiko setzte sich ein wenig auf. »Alle um den Kabcar, auf die er unter Umständen hören würde oder die kritisch gegenüber seinem Vetter eingestellt sind, erleiden Unfälle oder werden anders ausgeschaltet. Wenn es wirklich Nesreca ist, der dahinter steckt, stehst du ebenfalls auf seiner Liste.«

»Und Norina«, ergänzte der Leibwächter gedankenversunken. »Ich werde sie beschützen. Vermutlich benötigt sie mich im Moment mehr als Lodrik.«

»Gebt auf euch beide Acht«, warnte der Verletzte, bevor er mit verzerrtem Gesicht zurücksank und die Augen schloss. »Nächste Woche bin ich wieder da. Und dann sorgen wir dafür, dass Nesreca schnell an Einfluss verlieren wird.«

»Ich hoffe es und bete sogar zu Ulldrael, wenn es sein muss.« Waljakov deckte den innerhalb von Lidschlägen eingeschlafenen Stoiko zu und verließ leise den Raum.

Ein Paar dunkelrote Punkte leuchteten in einer finsteren Ecke der Kammer auf.

»Ich wollte mich bei dir entschuldigen, mein Gemahl. Aufrichtig entschuldigen. Für alles, was ich dir in der Vergangenheit angetan habe.« Aljascha machte einen Knicks und senkte ergeben den Blick. »Es tut mir unendlich Leid, ich habe nun erkannt, dass ich falsch handelte. Ich erwarte nicht, dass du es vergisst. Aber verzeihe es wenigstens, damit wir einen Neuanfang wagen können. Wir müssen zusammenhalten, Lodrik, das habe ich nun erkannt.«

Sie hob den Kopf, dann konnte sie die Heiterkeit nicht mehr länger unterdrücken.

Aus vollem Hals tönte ihr glockenhelles, spöttisches Lachen durch das Zimmer. Sie betrachtete sich dabei im Spiegel. »Ich werde es nicht schaffen. Ich lache mich tot, wenn ich das zu ihm sage. O Mortva, du verlangst Schwieriges von mir.«

Die Tür zu ihrem Schlafzimmer öffnete sich, und der Kabcar trat ein, in der Hand ein Tablett mit Gläsern und einer Flasche Sekt balancierend. »So gute Laune, Gemahlin? Das freut mich aber, dass du so laut lachen kannst.«

»Welche Ehre, dass ich vom Herrscher von Tarpol persönlich bedient werde. Ist das nicht Grund genug, glücklich zu sein?« Sie lachte wieder und versuchte dabei, ihre Belustigung nicht zu sehr nach Hohn klingen zu lassen. »Wenn du fertig bist mit Ausschenken, würdest du mir bitte bei meinem Kleid helfen?«

Langsam senkte Lodrik die Flasche. Seine Fröhlichkeit war wie weggewischt. Die blauen Augen wurden ernst.

»Das hatten wir schon einmal. Ich werde es nicht wiederholen.« Als würde er aus einem Traum erwachen, veränderte sich sein Blick. »Ich weiß gar nicht, weshalb ich hier bin.« Er musterte sie von oben bis unten. »Du spielst wieder eins deiner Spielchen mit mir, und zum Schluss wirst du mich verhöhnen, wie immer.« Hart setzte er die Flasche auf die Anrichte, der Alkohol floss über und tropfte zu Boden. »Um ein Haar wäre ich auf dich hereingefallen. Gute Nacht.« Der junge Mann wandte sich um.

»Aber nein, aber nein«, beeilte sich seine Cousine zusagen. »Komm zurück. Um ehrlich zu sein, ich wollte mich bei dir entschuldigen. Für alles, was ich dir in der Vergangenheit durch mein Verhalten angetan habe.« Sie ließ sich mit unglücklichem Gesicht aufs Bett fallen. »Der Palast, der Tod meines Onkels, die viele Macht, die Veränderungen und der überreichliche Luxus haben mich noch schlimmer werden lassen, als ich mich ohnehin schon gebe, ich weiß.« Sie sah ihn fast flehend an. »Aber im Grunde bin ich nicht so schlecht. Ich habe dich behandelt, wie man niemanden behandeln sollte. Und das tut mir Leid.« Sie verbarg ihr Gesicht zwischen den Händen und begann zu weinen.

Lodrik war sichtlich überfordert. Weil er nicht wusste, was er tun sollte, schenkte er die Gläser voll, ging hinüber zu seiner Gattin und nahm neben ihr Platz. »Hier. Trink.«

Aljascha schniefte und warf ihre langen roten Haare zurück. Die Tränen funkelten im Kerzenlicht, und ein bisschen zitternd nahm sie den Sekt. »Danke.« Das Grün ihrer Augen schimmerte, fesselte seinen Blick, und ein Hauch ihres Duftwassers stieg in seine Nase. »Ich erwarte nicht, dass du mir verzeihst. Aber lass uns einen neuen Anfang machen. Ich als echte Gattin, die dir die Treue hält und dich unterstützt.«

Er stürzte sein Glas hinunter, legte die Arme um sie und zog sie nach hinten. »Ich nehme deinen Vorschlag an, Cousine.«

Vorsichtig näherten sich ihre Lippen, dann küsste er sie. Sie entzog sich ihm nicht.

Dann begann er, nach den Verschlüssen ihres Kleides zu tasten, doch ihre Hand legte sich auf seine. Wut kochte schlagartig in ihm hoch.

»Noch nicht«, bat sie. »Gib uns beiden Zeit, uns aneinander zu gewöhnen. Ich …«

Mit Schwung sprang er auf und stand drohend über ihr. »Du führst also wieder eine deiner Komödien auf, Aljascha. Aber diesmal wird es nicht funktionieren. Ich werde diesmal nicht die übliche Rolle des dummen TrasTadc spielen.«

Er streckte die Arme aus, konzentrierte sich kurz und ließ orangefarbene Blitze zwischen den Handflächen hin und her zucken. Die Kräfte in seinem Inneren gehorchten bereitwillig. Mit großen Augen starrte ihn seine Gemahlin an. »Das, was du hier siehst, nennt man Magie. Ich kann sie kontrollieren und die unvorstellbarsten Dinge damit vollbringen.«

Er versuchte, den Trick mit dem Verändern eines Glases erneut, aber seine Gefühlswelt war zu sehr in Aufruhr. Krachend zerbarst das Gefäß.

Dennoch verfehlte die Demonstration der Macht ihren Eindruck nicht.

Aljascha rutschte ängstlich vom Bett und klammerte sich an seine Beine. »Bitte, verschone mich. Ich werde alles tun, was du von mir verlangst. Von heute an werde ich gehorchen.«

Lodrik zog sie selbstzufrieden auf die Füße.

Sie warf sich an seinen Hals und bedeckte ihn mit Küssen. »Ich tue alles, was du willst, mein Gemahl.«

Mit geschlossenen Augen genoss der Kabcar die Zärtlichkeiten seiner Cousine, die ihn irgendwann auf die Schlafstätte zurückzog. Nun endlich durfte er die so oft verschobene Hochzeitsnacht vollziehen.

Und sie gefiel ihm sehr.