III. Buch
REVANCHE
XXI. KAPITEL
148 nach Christus
Syrien, Palmyra
Justine erinnerte sich daran, was Levantin ihr gegenüber angedeutet hatte. Nun machte das alles Sinn. Wenn das Datum, das Saskia angenommen hatte, auch nur annähernd stimmte, war Levantin das älteste Geschöpf, dem sie jemals begegnet war.
Levantin hob die Arme. Die Menge jubelte augenblicklich. Er drehte und wendete sich, als wollte er in dem Lärm baden, doch dann genügte eine knappe Geste, um die Menschen wieder zum Schweigen zu bringen. In die eintretende Ruhe hinein hielt er eine Rede. »Ich war in der Schule nie besonders gut darin, aber es ist Latein«, bemerkte Justine. »Die Nonnen benutzen die Sprache, wenn sie nicht von jedem verstanden werden wollen.« »Um was geht es?«
»Aucune idée. Aber seinen Namen habe ich verstanden: Levantinus.« Sie verfolgte durch den Spalt im Vorhang, wie der Mann, den sie mehr als jeden anderen töten wollte, seine Rede hielt und von allen bewundert wurde. Und obwohl sie ihn aufrichtig hasste, spürte Justine sie wieder, diese Aura der vollkommenen Macht, der sie sich nicht entziehen konnte. Sie erinnerte sich an die gemeinsame Stunde mit ihm - und in ihrem Unterleib wurde es warm. Dafür hasste sie ihn noch mehr: Er beherrschte sie.
Als er seine Rede beendet hatte, spendeten die Leute auf der Agora erneut Beifall, und er begab sich zurück in seine Sänfte. Gleich darauf marschierten die Sklaven los und trugen ihn samt seiner Gespielinnen zurück.
»Ich folge ihm.« Saskia wollte hinaus und dem Tross folgen. »Und dann sorge ich dafür, dass mir nichts von dem zustößt, was mir zugestoßen ist.«
»Was?« Justine hielt sie am Arm fest.
Saskia zeigte auf Levantin. »Wenn ich ihn jetzt umbringe, wird er mich in der Zukunft nicht zeichnen können. Ohne die Gabe ...«
»... entkomme ich nicht aus der Hölle!«, fiel ihr Justine aufgeregt ins Wort. »Das darfst du nicht! Womöglich werde ich in dem Moment, in dem der Maitre stirbt, in die Zukunft zurückgeschleudert und geradewegs wieder in die Verdammnis!« Sie schüttelte den Kopf. »Nur über meine Leiche. Oder«, sie schlug einen bedrohlichen Unterton an, »über deine.« Saskia sah die Französin entsetzt an. »Ich weiß, dass du eine Egoistin bist, aber kannst du dir ausmalen, was wir alles an Morden und Todesfällen verhindern, wenn wir den Maitre jetzt vernichten? Vor allem werde ich die Kammer nicht öffnen können, und diese ganze Scheiße mit Dämonen, die zurückkehren wollen, und alles, was damit zusammenhängt, hat sich erledigt!« Sie zog das Schwert.
»Woher willst du das wissen?« In Justine stieg nackte Angst auf.
»Weil ich inzwischen auch nicht mehr an Zufälle glaube. Wahrscheinlich sind wir in der Vergangenheit gelandet, damit wir hier eine Katastrophe für die Gegenwart verhindern.« »Was ist denn, wenn die Dämonenanbeter in der Gegenwart einen anderen Weg finden, diese Kammer zu öffnen und an das Artefakt zu gelangen, und Will dabei draufgeht?«, mahnte Justine. »Ist das besser?«
»Du hast selbst gesagt, dass Unschuldige sterben, wenn man gegen das Böse kämpft«, sagte Saskia hitzig. »Ich will Will nicht opfern, ganz sicher nicht, aber wenn ich an die vielen Menschen denke, die allein am Baikalsee gestorben sind ... Und was ist mit den Nonnen, Justine? Der Maitre hat sie auf dem Gewissen, oder? Willst du sie in der Zukunft zum Tode verurteilen?«
Das Argument saß, verursachte schon beinahe körperliche Schmerzen. Justine taumelte einen Schritt zurück - und gab Saskia, die wild entschlossen war, die Möglichkeit, sich loszureißen und nach draußen zu stürmen.
In Justines Kopf ging es durcheinander. Sie konnte Rache an Levantin nehmen, sie konnte dadurch die Schwesternschaft retten - und wenn sie dazu verdammt war, in dieser Zeit zu bleiben, würde es ihr sicher gelingen, sich zur Herrscherin eines antiken Reiches aufzuschwingen und ein Leben in Reichtum und Luxus zu führen.
Das alles klang so verführerisch. Und zu einfach.
Justine rannte los. Bis sie Saskia gefunden hatte, würde sie hoffentlich wissen, wen sie töten sollte: Levantin - oder die letzte Freundin, die ihr geblieben war.
Es fiel Saskia nicht schwer, der Sänfte zu folgen; die Geschwindigkeit, mit der es voranging, war niedrig. Was sie sehr erleichterte, war, dass ihr niemand besondere Beachtung schenkte. Zwar trafen sie ein paar befremdete Blicke, doch sobald sie das Schwert in den Falten des Gewands verbarg, ließ auch das rasch nach. Das war der Vorteil an einer Handelsstadt, in der viele Völker aufeinandertrafen: Man war den Anblick von Kuriositäten gewohnt. Zudem blieb sie nie lange genug stehen, damit die negative Ausstrahlung der Waffe die Menschen um sie herum beeinflussen und gegen sie aufbringen konnte.
Levantin genoss es sichtlich, im Mittelpunkt zu stehen und sich die Huldigungen der Menschen abzuholen. Saskia hasste ihn aus tiefstem Herzen. Sie war sicher, dass das Wesen, was sie vor sich sah, um keinen Deut besser war als sein Jahrhunderte älteres Ich, das sie in der Gegenwart gezeichnet hatte. Was sie noch nicht abschätzen konnte, war der richtige Moment fürs Zuschlagen. Natürlich könnte sie ihre Gabe einsetzen, die Legionäre in Fetzen reißen, die Umgebung verwüsten und dabei Levantin gleich mit. Doch das wollte sie nicht. Das Wort Bestimmung geisterte durch ihren Verstand. Sie musste zur Attentäterin werden. Frans Hohentgar, das Siegel mit den drei Dolchpaaren, eine Ahnengeschichte voller Söldner blitzten auf. Sie war hervorgegangen aus einer Linie exzellenter Klingenkämpferinnen und -kämpfen Möglicherweise war es ihr immer bestimmt gewesen, in die Vergangenheit zu reisen und hier das Vermächtnis ihrer Familie zu erfüllen.
Die Sänfte wurde mittlerweile durch eine engere Straße getragen, Saskia lief an ihr vorbei, ging einige Schritte voraus und blieb stehen. Sie sah sich um, ob sie Justine irgendwo erblickte. Sie war sicher, dass die Französin sie verfolgen würde.
Eine Frau sprach sie an. Sie wandte sich um und stand vor den Auslagen einer Händlerin. Es roch nach frischem, blutigem Fleisch. Auf dem Holztisch waren einzelne Stücke ausgebreitet, sie erkannte eine Schafskeule, Rinderfüße, dazu jede Menge Innereien, ein paar tote Tauben und Tiere, die sie auf den ersten Blick in dem aufgebrochenen und ausgeweideten Zustand nicht zuordnen konnte.
Die Händlerin fuchtelte mit den Armen und hatte einen fordernden Tonfall. Saskia zuckte mit den Schultern und antwortete ihr auf Deutsch, damit die Frau merkte, dass sie nicht aus Palmyra stammte.
Angewidert verzog die Unbekannte das Gesicht - und griff nach dem Hackbeil, das im Tisch zwischen dem Fleisch steckte! Sie spürte die Wirkung des Schwertes. Saskia wollte sich aus dem Staub machen, doch schon schob sich der große, kräftige Gehilfe der Schlachterin vor sie. Seine Lederschürze war voll getrocknetem Blut, und der Leinensack, den er über der Schulter trug, roch nicht wirklich gut. Die Menschen der Antike mussten über einen gesunden Magen und ein robustes Immunsystem verfügen. Der Mann streckte die Hand nach ihr aus, und sie hob das Schwert und legte es an seine Kehle. Die Fleischerin knurrte etwas - und es erinnerte Saskia frappierend an den Laut, den die Wandler in Irland von sich gegeben hatten.
Die Einlegearbeiten auf dem Schwert gerieten in Bewegung, das Artefakt hielt sich bereit, durch den kleinsten Kratzer in der Haut in den Feind einzudringen und ihn zu vernichten. Doch anscheinend genügte bereits der Anblick der Waffe. Der Fleischergehilfe schrie vor Entsetzen auf, ließ seinen blutigen Beutel fallen und ging hinter einem Mauervorsprung in Deckung. Saskia hörte ein Surren und zog instinktiv den Kopf zurück.
Das geworfene Hackbeil verfehlte sie knapp, prallte mit lautem Klirren gegen eine Säule und fiel scheppernd zu Boden. Sie sah nach der Fleischerin, die sich ins Haus flüchtete. Saskia war unschlüssig. Was, wenn sie weitere Gesellen zu Hilfe holte? Die Sänfte näherte sich; ein Tumult auf offener Straße konnte ihren Plan gefährden.
Sie beschloss, der Schlachterin zu folgen.
Durch einen kleinen Vorraum gelangte sie in einen tiefergelegenen Raum, in dem es intensiv nach Fleisch roch, für eine Wüstenstadt aber erstaunlich niedrige Temperaturen herrschten. Es musste sich um den Lagerraum handeln, denn an langen Eisenhaken hingen diverse ausgebeinte Kadaver und Fleischstücke von der Decke. Ein Blick reichte, um Saskia für einen Moment übel werden zu lassen.
Man musste von Biologie nicht viel Ahnung haben, um zu erkennen, dass diese antike Metzgerei ganz besondere Leckerbissen verkaufte: Menschenfleisch! Zwischen einem halben Rind und einigen Brocken, die nicht zweifelsfrei zuzuordnen waren, waren hier eindeutig einige Beine und ein Arm zum Abhängen auf Haken gespießt worden.
Saskia hörte das leise Pfotentrippeln hinter sich, fuhr sofort herum und riss das Schwert in die Höhe. Die Angreiferin konnte im letzten Moment stehen bleiben, sonst wäre sie in die Spitze gerannt. Die verflüssigten Intarsien pulsierten gefährlich.
Vor Saskia stand ein Mischwesen aus Mensch und Schakal. Es wirkte wie die ägyptischen Darstellungen des Gottes Anubis: ein schmaler Kopf mit aufragenden Ohren und langer Schnauze auf einem Männerkörper. Glänzendes, glattes Fell schimmerte bräunlich im schummrigen Licht, die überlangen, kräftigen Arme mit den Krallen waren halb zu ihr ausgestreckt. In der rechten Hand hielt die Kreatur einen langen, gebogenen Haken. Sie belauerten sich, und die Schakalwandlerin knurrte leise.
Als Saskia sah, dass sich die rot leuchtenden Augen auf die Waffe gerichtet hatten, kam ihr ein Verdacht. Will hatte nach seinen Erlebnissen in Venedig berichtet, dass die Wandler offenbar nach der Dämonenklinge trachteten. Wurden auch sie von der Macht des Artefakts angezogen? Ein dumpfes Löwenbrüllen erklang, dann schob sich eine einschüchternde Silhouette hinter der Schakalwandlerin in den Raum: Ihr Gehilfe war zurückgekehrt, halb in einen Löwen verwandelt; die Bestie musste sicherlich zwei Meter messen.
Fauchend und leise grollend machte das Löwenwesen einen Schritt nach vorn und unterhielt sich mit dem Schakal. Es klang animalisch und guttural.
Saskia wartete ab und verließ sich neben ihren Fechtkünsten auch auf die Gabe. Selbst wenn sie nur einen Bruchteil davon einsetzte, würde es ausreichen, die Bestien auseinanderbersten zu lassen.
Der Löwenwandler wandte ihr den breiten, mähnengeschmückten Kopf zu - und sprach sie an. Es klang nach Latein, was ihr aber auch nicht weiterhalf. »Ich spreche eure Sprache nicht«, sagte sie auf Deutsch, »was ich sehr schade finde. Ich hätte einige sehr dringliche Fragen.« Sie deutete auf den Ausgang.
Der Löwe schüttelte den Kopf und öffnete das Maul, um ihr seine Reißzähne zu zeigen. Saskia wurde unruhig. Die Sänfte war sicher schon am Haus der Fleischhändlerin vorbeigezogen, und einfach die Leute fragen, wohin Levantin getragen worden war, konnte sie auch nicht. Sie musste hier raus.
Ein drittes Wesen erschien im Eingang, das Saskia zuerst gar nicht richtig wahrnahm. Es bewegte sich nicht auf der gleichen Höhe wie die anderen beiden, sondern kroch geschmeidig über die Schwelle, weil es komplett in seiner Tierform auftrat. Eine Riesenschlange. Und was für eine Riesenschlange! Saskia tippte auf eine Anakonda oder etwas Ähnliches. Züngelnd richtete sie ihren Oberkörper auf, die schwarzen Augen betrachteten das Schwert. Saskia beschloss zu handeln. Wieder deutete sie auf die Tür, und als keiner der drei entsprechend reagierte, suchte sie nach ihrer Gabe. Träge bekam sie Rückmeldung, verschlafen und müde; die Bittermandeln waren kaum mehr als ein Hauch.
Die Schakalfrau attackierte sie mit dem Haken, dabei streckte sie die andere Hand aus und nahm sich einen zweiten, an dem noch ein großer, undefinierbarer Fleischfetzen hing. Saskia parierte den Schlag, und schon flog der Haken mit dem Brocken heran. Zwar traf sie ihn mit dem Schwert, aber die Klinge zerteilte das Fleisch, und Fetzen davon klatschten auf sie. Auf diese Ablenkung hatte der Löwe gewartet. Er sprang sie an und schlug mit seinen tatzenhaften Händen zu. Die Nägel waren noch länger und schimmerten schärfer als die des Schakals. Saskia wich aus und bekam dennoch einen schmerzhaften Schlag gegen die Schulter. Die Krallen hatten den Stoff durchschnitten und vier tiefe Schrammen hinterlassen, aus denen Blut quoll.
Die Reflexe und der Ehrgeiz der Kämpferin in ihr erwachten. Sie musste die Gabe nicht einsetzen, solange sie die Klinge führen konnte.
Als die Schakalfrau mit den beiden Haken gleichzeitig nach ihr schlug, lenkte sie die Angriffe um, so dass sich die Spitzen tief in die Brust des Löwenwandlers bohrten. Das getroffene Wesen brüllte laut auf und wollte sich die Haken herausreißen.
Saskia zog die Schneide senkrecht über die ausgestreckten Arme der Schakalfrau, rasierte das Fell weg, ohne der Haut auch nur einen Kratzer zuzufügen, und nutzte die Arme als Rampe, welche die Klinge exakt ins Schlüsselbein führte. Das Schwert tobte sich aus. Das Silber flutete die Wandlerin, die qualmend und kreischend auf die Erde fiel. Rauch stieg aus den Ohren, dem Maul, der Nase und bald aus ihren Poren, während die Flüssigkeit sie von innen zersetzte. Die Löwenkreatur ließ die Haken stecken und sprang Saskia mit einem ohrenbetäubenden Brüllen an. Sie roch den stinkenden Atem des Feindes, der unter ihrer Finte abtauchte. Er schnellte hoch und wollte sie in eine tödliche Umarmung zwingen, das Maul mit den gefährlichen Zähnen weit aufgerissen.
Saskia tat, mit was er am wenigsten rechnete: Sie ließ ihn gewähren. In letzter Sekunde hielt sie das Schwert dabei senkrecht vor sich und spannte die Muskeln an.
Zuerst dachte sie, ihr Trick würde misslingen, doch der gewaltige Löwenwandler schloss die Arme zu einer Umklammerung und bemerkte in seinem verfrühten Triumph nicht, dass sich ihm die Klinge in den Weg schob. So rammte er sich das Schwert selbst in die Schnauze und teilte sie mehrere Zentimeter tief. Sekunden später strömte silbriges Blut aus seinen Augen, es stank nach verbranntem Fleisch, und dieses Mal lösten sich sogar Teile des Schädels auf, als würde er von innen mit Säure angefüllt.
Saskia wich dem fallenden, sich zersetzenden Kadaver aus, sprang in die Höhe, hielt sich mit einer Hand an der Querstange fest, pendelte zwischen den aufgehängten Fleischstücken und zog die Beine an. Noch fehlte die Anakonda.
Die Fleischbrocken und Extremitäten schwangen mit ihr zusammen vor und zurück, Metall rieb quietschend über Metall. Die Ketten, die als Aufhängung dienten, klirrten und rasselten leise. So genau sich Saskia auch umblickte, sie konnte die Riesenschlange nicht entdecken. Saskia ging das Wagnis ein, sich auf den Boden herabzulassen, und lief geduckt durch den Lagerraum, immer bereit, mit dem Schwert zuzustoßen. Das Reptil schien es vorgezogen zu haben, sich in Sicherheit zu bringen. Dagegen hatte Saskia nichts einzuwenden.
Sie kehrte ins Freie zurück, hielt schwer atmend vor den Auslagen und schaute sich um. Von der Sänfte war nichts zu sehen.
»Da bist du ja!« Justine stand keine fünf Meter von ihr entfernt und sah erleichtert aus. »Ich habe mir schon Sorgen gemacht, dass ich dich nicht mehr finde.«
Sie hob den Arm, die Pistolenmündung zeigte auf Saskia. Bevor die etwas sagen konnte, erklang der Schuss.
17. November
Frankreich, Chinon
Levantin sah zu der sehr gut erhaltenen, herrlich illuminierten Ruine der Burg Chinon hinauf, die über dem Fluss Vienne thronte. Sie war mal in englischer, mal französischer Hand gewesen; Richard Löwenherz hatte einst in ihr residiert, Johanna von Orleans ritt von Chinon aus in die Schlacht, um ihren König zu retten, und nicht zuletzt hatten die Anführer der Templer im Verlies der Burg auf ihren Prozess gewartet. Eine Festung mit großer Vergangenheit. Heute gingen in ihr ganz andere Dinge vor.
Sein Netz aus Kontakten hatte hervorragend gearbeitet. Mit einigem Aufwand und nach der Verfolgung zahlreicher Spuren hatten seine Leute das Zentrum von Beluas Dienern gefunden. Levantin wollte dabei sein, weswegen er Justine, Saskia und Will zwischenzeitlich der Obhut anderer überließ.
Er schlenderte durch den einsetzenden Nieselregen über die Brücke auf den Berg mit der Festung zu und die Straße entlang, als hätte er alle Zeit der Welt.
Er tauchte in die nächtlichen Gassen ein und blieb vor einem mittelalterlichen Haus stehen. Auf dem Sandsteinblock über der Tür erkannte er die Dämonenfratze, welche er schon auf dem Teppich in der Hamburger Villa gesehen hatte. Levantin grüßte sie mit einem Nicken, dann zog er sein Headset auf. Mit langsamen, beinahe andächtigen Bewegungen öffnete er seinen Mantel und zog seine beiden Wakizashi, japanische Kurzschwerter.
Zwei kleine Lieferwagen hielten vor dem Haus, und die Heckklappen schwangen auf. Heraus sprangen Vermummte mit Gasmasken, Kevlarwesten und schallgedämpften Sturmgewehren. Zwei Mann sprengten die Tür mit einem eisernen Rammbock und warfen Gasgranaten ins Innere, andere schleuderten noch mehr durch die Fensterscheiben des Gebäudes. Bald darauf waberten weiße Dämpfe heraus, die sich an der regennassen Luft verflüchtigten. Die Erstürmung begann. Levantin überließ seinen Männern den Vortritt und folgte der zweiten Welle. Er hörte das unentwegte Ploppen der schallgedämpften Gewehre, sah grüne Laserzielmarker in den weißen Schwaden zucken, hörte Menschen schreien - und dröhnendes Gegenfeuer. Die andere Seite hatte ihren ersten Schrecken überwunden und schlug zurück. Aus dem Dunst taumelte einer seiner Männer und riss sich die Gasmaske vom Gesicht; an seinen Händen wuchsen tischtennisballgroße schwarze Pusteln, die Haut um Mund und Nase hatte sich schwarz verfärbt und zersetzte sich. Beluas Diener wehrten sich nicht nur mit Kugeln. Levantin wich dem Sterbenden aus, der gegen die Wand rannte und niederstürzte. Er hatte die Belualiten als schwächer eingeschätzt. Nun beeilte er sich, an die Spitze zu stoßen, und lief über Leichen hinweg; die eigenen Leute waren von Pest und Lepra zerfressen, die Feinde von Geschossen durchsiebt. Levantin hetzte weiter. Sie interessierten ihn nicht.
Das Hauptgefecht konzentrierte sich auf eine Treppe nach unten.
Levantin flankte über das Geländer und sprang in die Tiefe. Nach vier Metern landete er auf den Schultern eines Belualiten, der eben sein Gewehr auf ihn richten wollte, und zerdrückte ihn regelrecht unter seinen Stiefelsohlen.
Er setzte seinen Weg durch einen schwach beleuchteten Gang fort und fand noch mehr Tote aus seiner ersten Angriffswelle. Eine Stahltür lag herausgebrochen der Länge nach auf dem Boden. In dem Raum dahinter kauerten Menschen hinter umgestürzten Tischen und richteten die Waffen auf ihn.
Levantin wich aus und drückte sich eng an die feuchtkalte Wand, um den Schüssen kein Ziel zu bieten. Kugeln konnten ihm nicht viel anhaben, aber sie neigten dazu, ihn zu stören. Es ratterte und knatterte anhaltend, die Geschosse sausten an ihm vorbei und prasselten gegen die Treppe, wo sich der zweite Trupp einfand. Zwei von ihnen wurden getroffen und gingen zu Boden, die anderen zogen sie mit sich die Treppe wieder hinauf.
Es gab ein dumpfes Windgeräusch, dann quoll eine Wolke aus schwarzen Sporen aus der Tür, verdrängte das helle Gas und wand sich die Treppe hinauf.
Levantin wurde von den Pesterregern umspielt, aber sie konnten ihm nichts anhaben. Sie waren dämonischen Ursprungs und wirkungslos gegen ihn; das wussten dessen einfältige Diener jedoch nicht.
Schon kamen die Ersten aus der Deckung. Sie hielten Gewehre und Schrotflinten in den Händen, trugen dazu aber Unterwäsche oder Schlafanzüge. Die Aktion hatte sie wirklich überrascht. Sie stutzten, als sie Levantin bemerkten, rissen dann aber sofort ihre Waffen hoch. Mehr Lebenszeit gewährte er ihnen nicht.
Unvorstellbar schnell drosch er mit den beiden japanischen Kurzschwertern um sich und schnitt sich so eine blutige Schneise durch ihre Reihen auf den Eingang zu. Jeder Hieb brachte den Tod.
Gleich danach befand er sich in dem Raum, nahm zwei Schritte Anlauf, trat gegen den Tisch und katapultierte ihn mitsamt den zwei Menschen dahinter gegen das Mauerwerk. Die Garben, die ihn hätten treffen sollen, gingen fehl.
Levantin sah, dass sich unmittelbar daneben ein zweiter Raum anschloss, in dem eben eine Frau mit kurzen schwarzen Haaren die Eisentür ins Schloss warf. Es klackte mehrmals. Wieder nahm er zwei Schritte Anlauf und trat gegen den Eingang. Sein Fuß hinterließ eine tiefe Delle im Metall - aber die Riegel hatten gehalten. Es gab kein Durchkommen. »Wir brauchen Semtex«, befahl er seinen Männern, die nachgerückt waren, »sofort!« Levantin ging zum Tisch und schleuderte ihn zur Seite.
Einer der Menschen war tot, die Tischkante hatte seinen Schädel geknackt. Der andere lebte noch und richtete zitternd die Mündung seiner Waffe auf ihn.
Levantins rechter Arm zuckte herab, das Wakizashi trennte die Hand ab, die eben den Abzug hatte betätigen wollen. Starr vor Entsetzen und Schock, glotzte der Belualit auf die Wunde, aus der das Blut strömte; klappernd fiel das Gewehr auf den Steinboden.
»Sag mir, wo ihr eure Aufzeichnungen über das Blutportal verbergt«, fuhr er ihn an. »Dann rette ich dein Leben.«
Der Mann verfluchte ihn auf Französisch, wimmerte und wollte mit der anderen Hand nach der Waffe greifen.
In Levantins Headset knisterte es. »Wir haben einen Tresor und mehrere Computer im ersten Stock gefunden. Eine Festplatte fehlt, ansonsten sind sie intakt. Ich wiederhole, sie sind intakt. Das Semtex ist auf dem Weg zu Ihnen.«
»Danke.« Das Wakizashi schlug dem Verletzten den Kopf ab, ehe der das Gewehr zu fassen bekam.
Fünf Mann kamen den Gang entlang in den Raum; einer brachte souverän die Sprengladung an. Sie zogen sich in den Durchgang zurück und zündeten. Kaum war das Krachen verklungen, stürmten die Männer wieder voran, Levantin an ihrer Spitze.
Der Raum dahinter war leer und führte zu einem abschüssigen Gang, durch den frische Luft hereinwehte. Sie folgten ihm und gelangten ins Freie, ans Ufer der Vienne. An einem kleinen Anleger machten sich drei Dämonendiener bereit, ein Motorboot zu starten, ein zweites befand sich bereits auf dem Fluss.
Levantins Männer eröffneten das Feuer, zwei schössen auf das entferntere Ziel, die anderen deckten die Gegner direkt vor ihnen ein.
Die Projektile zersiebten die Belualiten, bevor sie ihre dämonischen Gaben einsetzen konnten. Levantin hatte gespürt, dass die Feinde kurz davorgestanden hatten, eine neuerliche Wolke Pest- und Leprasporen zu manifestieren.
Er hob die Toten mit einer Hand aus dem Boot und warf sie auf den Boden, wo sie von den Kriegern durchsucht wurden. Unter einer Sitzbank fand er einen Koffer. Er öffnete ihn, darin lag die vermisste Festplatte.
»Die Flüchtlinge versuchen, über Funk Kontakt zu ihren Leuten aufzunehmen«, meldete einer seiner Männer.
Levantin ließ sich das Funkgerät geben, das einmal einem der Toten gehört hatte; seinen Blick hielt er auf die Vienne gerichtet, auf der das Boot immer kleiner wurde. Sehr ärgerlich. An diese Möglichkeit hatte er nicht gedacht.
»Ihr seid dem Tod nur vorübergehend entkommen«, sagte er in das Mikrofon. »Wer bist du?«, fragte eine Frau wütend und voller Feindseligkeit.
»Euer Bezwinger, Valesca«, antwortete er. »Woher kennst du meinen Namen?« »Ich habe dich beschatten lassen. Danke für deine Führung. Durch deine Unachtsamkeit habe ich von dem Ort erfahren. Die Daten der Computer werden mir nützen. Belua wird niemals auf der Erde erscheinen.«
»Die Computer sind eingeladen«, wurde ihm gemeldet. »Wir sollten verschwinden, bevor die Gendarmerie hier ist.«
Valesca schwieg mehrere Sekunden, bevor sie erwiderte: »Wir finden einen anderen Weg.« »Oh, da bin ich mir sicher, Valesca«, sagte er mit samtener Stimme. »Aber weißt du auch, wem du dabei immer wieder begegnen wirst?«
»Nicht dir?«, gab sie zurück und lachte auf.
In diesem Moment gab es mitten im Ort eine gewaltige Explosion, der Feuerschein ließ die Burgruine in rotem Licht erglühen, und sofort donnerte es noch mehrmals hintereinander. Ziegel wurden von Hausdächern geblasen, überall zersprangen Scheiben. Ganz Chinon klirrte. Eine Druckwelle jagte pfeifend durch den Gang, den Levantin eben genommen hatte, und brachte grelles gelbes Feuer mit, das Levantin und seine Männer einhüllte.
148 nach Christus
Syrien, Palmyra
Justine zog die Pistole, hob den Arm - und bevor die erschrockene Saskia etwas sagen konnte, schoss sie, ein einziges Mal nur.
Mit einem Loch in der Stirn brach der Mann zusammen, der sich mit zwei Messern von hinten an Saskia herangeschlichen hatte. Er streifte sie, die immer noch wie angewurzelt dastand und Justine fassungslos anstarrte. Erst, als sie von dem toten Körper nach vorne gestoßen wurde, schien sie zu begreifen, was gerade passiert war.
»Lass uns verschwinden«, sagte Justine und verbarg die Pistole. »Suchen wir die Sänfte.« Saskia musste sich von dem Schrecken noch erholen. »Wandler«, sagte sie und folgte ihrer Mitstreiterin in die Gassen, vorbei an den Bewohnern der Stadt, die sie verwundert anschauten. Niemand hatte so richtig mitbekommen, was sich vor der Schlachterei zugetragen hatte. »Ich hatte es mit einem Löwen und einem Schakal zu tun.«
»Und ich mit einer Riesenschlange. Ich wusste nicht einmal, dass es Wer-Schlangen gibt.« »Du hast sie gesehen?«, fragte Saskia aufgeregt. »Ist sie ...«
»Entkommen? Ja. Ich habe ein ganzes Magazin in das Mistding gepumpt, nachdem es mir den Arm mit einem Biss zertrümmert hat, aber natürlich haben ihm die verdammten normalen Kugeln nichts anhaben gönnen. Das habe ich aber erst zu spät bemerkt.«
Justine hatte die Sänfte in einer Gasse vor einem großen Gebäude ausgemacht. Als sie die breite Querstraße erreichten, mussten sie mit ansehen, wie sich hohe, schwere Tore hinter der Sänfte schlossen und Levantin hinter einer massiven Mauer verschwand.
Keuchend standen sie auf der vielgenutzten Straße, auf der Wagen, Karren, Reiter und Fußgänger unterwegs waren.
»Ich dachte gerade wirklich, du würdest...«, gab Saskia schwer atmend zu.
»Dich töten?«, fragte Justine spöttisch. »Wenn es jemals so weit kommen sollte, ma chere, dann verspreche ich dir, dass ich es mit meinen eigenen Händen tun werde und nicht mit einer Pistole. Aber bis dahin bin ich auf deiner Seite und helfe dir, den Maitre zu erledigen.« Saskia sah sie erstaunt an. »Das ist ein Trick, richtig?«
»Non.« Justine schien, als habe sie ihre Entscheidung erst in diesem Moment getroffen. »Ich schwöre bei meiner Seele, dass ich dich nicht reinlegen möchte.«
»Bist du sicher?«
Justine stieß einen wütenden Laut aus. »Nein, das bin ich nicht! Und ich bin alles andere als scharf darauf, in die Hölle zurückzukehren, aus der ich entkommen bin. Aber ...« Sie dachte an Faustitia und die Schwesternschaft, ihre Kehle schnürte sich zu, und sie konnte einen Moment nicht weitersprechen. »Wie gehen wir vor?«, fragte sie dann. »Ich habe noch sieben Schuss.« »Sondieren wir die Umgebung und überlegen, wie wir ihn töten, ohne die Geschichte noch weiter zu verändern, als wir es wahrscheinlich ohnehin schon getan haben. Ich nehme nicht an, dass du die verschossenen Patronenhülsen eingesammelt hast?«
»Non, je ne Vax pas fait. Und auch die zweite Pistole nicht.« Justine blieb vollkommen gelassen. »Palmyra wird einst die Stadt der Wunder genannt werden, wenn wir hier fertig sind. So viele Fundstücke aus einer falschen Zeit ... Da gibt es doch diesen Typen, der behauptet, dass wir auf Außerirdische zurückgehen und ständig von ihnen besucht werden. Däniken?« Sie lachte. »Das wird ihm Auftrieb geben.«
»Mag sein.« Saskia seufzte. »Viel wichtiger ist mir gerade, dass der Maitre unter dem Schutz der römischen Armee steht. Er muss also eine bedeutende Persönlichkeit sein.« Justine betrachtete die Umgebung. »Gib mir noch mal den Reiseführer.« Sie erhielt ihn und suchte die Übersichtskarte der Ausgrabungsstätten. »Laut dem hier sind wir in einem Wohngebiet, da drüben ist das Athena-Allat-Heiligtum. Vermutlich haben sie ihn zu einem Priester oder so gemacht.«
Saskia betrachtete die Mauer, hinter der sie ein Dach erkennen konnte. Das Anwesen war groß, sehr groß. »Das wird ihm nichts nützen«, sagte sie grimmig.
Justine grinste. »Ich bin gespannt auf euren kleinen Zweikampf.« Sie atmete tief ein und fühlte sich gelöst, nachdem sie ihre Entscheidung getroffen hatte. Die Nonnen würden überleben. »Ach, de l'air pur, ganz ohne jede Form von Umweltverschmutzung!« Sie gab Saskia einen freundschaftlichen Stoß. »Los, mach es mir nach: So gute Luft gibt es bei uns nicht mehr. Man sollte sie abfüllen und verkaufen. Irgendwelche Reichen würden sicher ein Vermögen dafür ausgeben.«
Aber Saskia hörte ihr gar nicht zu, sondern machte Justine auf die Gruppe von etwa einem Dutzend Personen aufmerksam, die vor dem Tor angehalten hatte. Sie waren in weite schwarze Gewänder gehüllt und ritten auf Kamelen. An ihrer Seite oder auf dem Rücken hingen Schwerter in unterschiedlichen Formen.
Ihr Anführer sprach mit dem wachhabenden Legionär, dann wurde das Tor geöffnet. »Wenn du mich fragst«, sagte Justine, »sieht es so aus, als hätte der Maitre schon zu dieser Zeit seine Duelle ausgefochten.«
»Und heute wird er sein letztes bestreiten.«
XXII. KAPITEL
148 nach Christus
Syrien, Palmyra
Den restlichen Tag verbrachten sie am Rande des Marktplatzes im Schatten der Palmen.
Saskia schlief die meiste Zeit, um für den bevorstehenden Kampf ausgeruht zu sein. Justine wachte über sie, stahl etwas Essen und beschränkte sich entgegen ihrer sonst üblichen Art darauf, unauffällig zu bleiben und abzuwarten, dass die Sonne versank. Langweilig wurde ihr dabei sicher nicht. Sie sog die Schönheit der Metropole in sich auf und wusste, dass ihr damit ein ungeheures Geschenk gemacht worden war. Ein letzter Moment der Ruhe vor dem Aufbruch ins Unbekannte.
Justine versuchte, sich auszumalen, was nach Levantins Tod mit ihnen geschah: Würde Saskia ihre Macht verlieren? Dann säßen sie gemeinsam in der Vergangenheit fest. Nun, damit würde sie sich arrangieren können. Behielt Saskia ihre Gabe, konnte sie ihnen ein Portal in die Gegenwart öffnen. Möglicherweise mussten sie dort erneut den Kampf mit den Dämonendienern aufnehmen, aber auch das schreckte Justine nicht. Blieb die Möglichkeit, dass durch Levantins Tod die Geschichte neu geschrieben wurde - das würde Will in seinen Blumenladen und Saskia in ihre Küche zurückbringen ... und sie in die wenig verlockende Umarmung von Malsinamsös.
Sie grübelte und grübelte, ging verschiedene weitere Szenarien durch, um letztlich zu einem sehr französischen Schluss zu gelangen: on verra - man würde sehen. Sie bewegten sich außerhalb der normalen Regeln von Zeit und Raum. Ihre Tat würde Ereignisse über Jahrhunderte hinweg revidieren und gleichzeitig neue auslösen. Justine wusste nicht einmal, ob sie die Gegenwart überhaupt noch erkennen würde. An welchen entscheidenden Stellen der menschlichen Geschichte mochte Levantin eine Rolle gespielt haben? Sie waren im Begriff, ein sehr spannendes Experiment vorzunehmen. Aber letztendlich war Justine alles recht, solange Belua nicht erschien und die Schwesternschaft überlebte.
In der Nacht schlichen sie sich zurück an die Mauer, hinter der Levantins Palast stand. Sie überwanden das Hindernis mit einiger Anstrengung und eilten über den schmalen Wehrgang bis zu einer Treppe, die sie nach unten in den Hof führte.
Der Palast konnte sich sehen lassen: Er war in der klassischen viereckigen Form errichtet und wies viele beleuchtete Fenster auf. Hinter einigen erklangen lautes Lachen, Musik oder Unterhaltung.
Vor dem Eingang in den Palast standen zwei Legionäre Wache, ansonsten verzichtete Levantin auf Schutz. Die Mauer diente eher repräsentativen Zwecken als der Abwehr; die Menschen hier begegneten ihm wohl ausschließlich mit Bewunderung.
Im Hof war ein großzügiger Garten angelegt worden, in dem Palmen, Sträucher und Blumen wuchsen. Ein Brunnen, von dem aus sternförmig Bewässerungsrinnen verliefen, versorgte die Pflanzen mit Wasser. Dazwischen fanden sich Statuetten und ein nacktes Ebenbild von Levantin - in Marmor.
»Ich muss würgen, wenn ich das sehe«, raunte Saskia.
Justine hatte dazu eine etwas andere Meinung, schämte sich sofort dafür und schaute demonstrativ in eine andere Richtung. Dann hörten sie beide ein Geräusch, das ihnen deutlich machte, wohin sie gehen mussten: Schwerterklirren!
»Es kommt aus dem Erdgeschoss«, flüsterte Justine und zeigte auf den Eingang. »Gehen wir nachsehen, was er mit den Beduinen macht.«
Saskia nickte und lief los, hielt sich im Schatten der Mauer und nutzte die Pflanzen als Deckung. Die Fenster waren geöffnet, und die beiden Frauen konnten sich problemlos hineinstehlen.
Sie standen in einem Saal, in dem Liegebänke um tiefe Tische gestellt waren, auf denen sich noch die Reste eines üppigen Mahls fanden. Es hatte Früchte, Fleisch und Gemüse gegeben; als Beilage dienten Brot und Getreidebrei. Laternen und Kerzen brannten und verbreiteten sanftes warmes Licht.
»Ich habe Hunger«, flüsterte Justine und bediente sich am Essen. »Es schmeckt hervorragend!«, sagte sie leise und winkte Saskia zu sich. »Du musst etwas essen, ehe du in den Kampf ziehst.« Saskia nahm sich ein paar Bissen Brot, kostete von dem Braten und hoffte, dass er nicht aus der Schlachterei stammte, in der sie heute den Kampf bestritten hatte. Die Gewürze erkannte sie zum Teil, bemerkte aber auch Fenchel- und Anisartiges in der Zubereitung. Es schmeckte nicht schlecht. Ungewöhnlich, aber nicht schlecht.
Dazu schenkte ihnen Justine Wein ein, den Saskia stehen ließ. Stattdessen griff sie zum Wasser. Sie hatte darauf geachtet, nicht zu viel zu essen. Das war vor einem Kampf niemals gut. Sie versuchte zu ergründen, wie es mit ihrer Gabe stand. Sie konnte es nicht mit Sicherheit sagen, doch sie fühlte, dass sie genug Erholung gehabt hatte. Ob es ausreichte, im Notfall sofort ein neues Portal zu öffnen, durch das sie zurück in die Gegenwart gelangten, würde sie sehen. Saskia schob den Gedanken zur Seite. Erst der Kampf!
»Wie machen wir ihm klar, was du von ihm willst?« Justine schlug die Zähne in den Braten, den Saskia verschmäht hatte, und kaute. Rötlicher Saft lief ihr am Kinn herab, und sie wischte ihn mit einer Bewegung ihres Ärmels weg.
»Wir sehen uns erst ein Duell von ihm an. Danach kann ich ihn besser einschätzen.« Sie war sehr gespannt, wie dieser Levantin focht. Sie begab sich zur Tür, öffnete sie einen Spalt und blickte hinaus in die Eingangshalle, aus der die Kampfgeräusche gekommen waren. Saskia musste sofort an eine Fechthalle denken. Anscheinend diente der hohe Raum auch als Sportstätte für Wettkämpfe. Gewichte mit Handgriffen standen auf dem Boden, Seile hingen von der Decke, Eimer mit Schöpfkellen ließen vermuten, dass die Kämpfer hier ihren Durst stillten. In einer Ecke erkannte sie Liegebänke zum Ausruhen oder Massieren, in einer weiteren Ständer mit Rüstungsteilen, schweren Schilden, Helmen und Spießen.
Vor und mit dem Rücken zu ihr stand ein Legionär, der sich auf seinen Speer stützte und dem Zweikampf folgte.
Levantin trug einen Lendenschurz, der fast bis an die Knie reichte, ansonsten war er wie sein Gegner unbekleidet und ohne Schutz. Er führte zwei römische Kurzschwerter, sein Gegner ein längeres Schwert und einen kleinen Schild. Während der Mann stark schwitzte, sah man Levantin die Anstrengung nicht an. Saskia bemerkte aber, dass er sich noch nicht ganz so souverän und tänzerisch bewegte wie im Duell mit ihr. Statt eines Meisters stand lediglich ein Fortgeschrittener vor ihr, der von seinem Gegner gerade mit raschen Ausfällen in Bedrängnis gebracht wurde. Levantin rettete sich vor tödlichen Stichen mehr als einmal durch hastige Sprünge rückwärts, die dazu noch unbeholfen wirkten. Der Gegner lachte, weil er selbst wohl nicht glauben konnte, wie Levantin sich verhielt.
Sie lächelte.
Plötzlich aber griff Levantin mit einer Wut und einer Kraft an, die wie ein Sturm daherkamen. Jeder Schlag hinterließ eine Delle im Schild des Gegners, der Mann schrie auf und ließ den Arm plötzlich nach unten hängen. Saskia vermutete alarmiert, dass er unter der Wucht der Schläge gebrochen war. Als er das Schwert zur Abwehr in die Höhe hielt, zerschellten beide Klingen beim Zusammenprall. Levantin setzte sofort mit dem zweiten Kurzschwert nach -und verpasste dem Mann einen langen, nicht tiefen Schnitt von der Kehle bis zum Bauchnabel.
»Er tut es schon wieder!«, flüsterte Justine. »Siehst du? Er versucht, seine Feinde zu zeichnen und ihnen diesen Fluch anzuhängen.«
Der Mann hielt sich die Wunde und rief Levantin etwas zu; der aber kümmerte sich nicht um die Worte, sondern stach zu, um dem Feind das Leben zu nehmen. Gleich darauf lag der Gegner zuckend im Sand, sein Blut färbte ihn dunkel.
»Oder auch nicht«, sagte Saskia düster.
Sklaven eilten herbei und zerrten den Leichnam weg, ein anderer streute frischen Sand über die Stelle. Man reichte Levantin ein neues Kurzschwert, und er gab einen Befehl. Ein weiterer Gegner trat ihm gegenüber, der sich ebenfalls für zwei Kurzschwerter entschieden hatte. Seine Haut war tiefschwarz, die Statur eindrucksvoll und der von Levantin an Muskelmasse überlegen.
Die Kämpfer verneigten sich kurz voreinander, dann begann das Gefecht - und erreichte bald eine beinahe nicht nachvollziehbare Geschwindigkeit.
Levantins Fechtbewegungen waren schnell, wenn auch nicht sauber ausgeführt, wie Saskia bemerkte, er walzte vorwärts und versuchte, seinen Widersacher durch stetes Nachsetzen in Bedrängnis zu bringen. Doch der Nubier wusste die Attacken sehr gut abzulenken, bis er seine Gelegenheit gekommen sah und seinem Gegner den Fuß in den Bauch trat.
Es schien, als hätte er gegen eine Statue getreten. Levantin bewegte sich so gut wie gar nicht zurück, während der Nubier aufschrie und nach hinten stolperte. Nach der Stellung der Zehen zu urteilen, hatte er sich mindestens zwei davon gebrochen.
Levantin lachte und griff wieder an. Zwei Schnitte in seinem Ober- und Unterarm steckte er, ohne mit der Wimper zu zucken, weg, dafür versah er den Gegner mit den typischen Linien, die auch auf Saskias Oberkörper prangten und beim Anblick des Duells schmerzhaft zogen. Als verlangten sie von ihr, in den Saal zu springen und Levantin niederzumähen. Oder als freuten sie sich über das Wiedersehen mit ihrem Schöpfer.
Der Krieger setzte sich tapfer zur Wehr, aber eine Aussicht auf Erfolg hatte er nicht mehr. Die blutenden Wunden setzten ihm zu; schließlich warf er die Waffen weg und sank auf die Knie. Levantin war mit einem Satz bei ihm und schlug zu. Seine Faust traf das Kinn des Nubiers, der Kopf schnappte weit nach hinten; der Nubier fiel in den Sand. Saskia vermutete, dass der Schlag ihm das Genick gebrochen hatte.
Das bekannte Prozedere begann von neuem: Der leblose Körper wurde an den Rand des Saals gezerrt und neuer Sand gestreut. Diesmal eilten aber auch noch zwei Sklavinnen herbei und wuschen die Blutspritzer des Feindes von der weißen, makellosen Haut auf Levantins muskelglattem Oberkörper. Die Schnittwunden waren bereits dabei, sich zu schließen. Mit einem überaus zufriedenen Gesichtsausdruck schritt er dann dorthin, wo die Massagebänke standen und sich eine Frau in einem hellgrünen, durchsichtigen Kleid, das bis an die Knöchel reichte, erhob.
Saskia schätzte sie auf Mitte dreißig, was für die Zeit, in der sie sich befand, alles andere als jung war. Trotzdem würde sie jeden Mann wahnsinnig machen, zumal das Kleid wenig Raum für Phantasie ließ. Intimrasur schien bei den römischen Frauen in Mode zu sein, auch den Schädel hatte sie sich kahlgeschoren, darauf saß eine Haube aus leise klingelnden Gold- und Silberplättchen in Form eines Schlangenornaments.
Justine sprach aus, was Saskia durch den Kopf geschossen war. »Ich wette, dass das diese Schlangen-Wandlerin ist.«
Saskia wunderte sich nicht über diese Konstellation. Spannender war die Frage, wie es die Frau geschafft hatte, zu dieser Zeit aus Südamerika nach Palmyra zu gelangen ...
Sie goss Öl in ihre Hand, Levantin legte sich mit dem Gesicht nach unten auf die Bank, und sie massierte seinen Rücken.
»Du hast gesagt, dass sie dich schon einmal angegriffen hat?«, fragte Saskia leise. »Hat sie. Aber mach dir keine Gedanken, mit der werde ich fertig. Du gehst rein und stellst ihn zum Zweikampf, während ich die Legionäre und anderen Gestalten in Schach halte«, flüsterte Justine in ihr Ohr. »Ich werde wohl eine Kugel opfern müssen, um sie zu beeindrucken.« »Und danach verschwinden wir.« Saskia atmete tief durch und spürte die Anspannung der Kämpferin erwachen, wie vor jedem Duell, das sie in der union ausgefochten hatte. Die Finger der rechten Hand schlossen sich um das Hornschwert.
»Bist du bereit?«
»Alles ist bereit: meine Hand, mein Schwert, meine Gabe.« Sie sagte es absichtlich mit fester Stimme, damit sie ihre eigenen Zweifel übertönte.
Justine zog die Pistole und verhüllte ihr Gesicht. »Moi aussi, ma chere.«
Die Schlangenfrau ließ von Levantins Körper ab, er erhob sich kraftvoll, nahm die beiden Schwerter auf und rief etwas. Sofort trat ein neuer Gegner auf den sandigen Boden, der sich für einen langen Speer entschieden hatte.
»Los!« Saskia stieß die Tür auf und schlug dem Legionär den Griff ihres Schwertes in den Nacken, er sackte ächzend zu Boden. Alle Köpfe ruckten zu ihr herum. Damit jeder verstand, was sie wollte, richtete sie ihre Waffe am ausgestreckten Arm genau auf Levantin, mit der freien Hand zeigte sie immer wieder auf sich. Dann schwang sie das Schwert und ging auf ihn zu.
Einer der Legionäre hob seinen Wurfspeer, doch Justine schrie ihm ein »Non« ins Gesicht - und feuerte eine Kugel direkt hinterher. Die Menschen im Saal schraken zusammen, einige duckten sich, andere warfen sich zu Boden, wieder andere starrten ungläubig auf den gefallenen Soldaten, dem das laute Krachen den Tod gebracht hatte.
Justine schwenkte den Lauf, aus dem Rauch kräuselte, und vollführte eine abwehrend-warnende Bewegung zu den Menschen um sich herum. Da sich niemand rührte, nahm sie an, dass sie begriffen hatten.
Levantins Gesichtsausdruck wirkte ebenso überrascht wie neugierig. Er musterte blitzschnell das Schwert, die Pistole, das Gesicht der Angreiferin, sog alles in sich auf, als wollte er es in seine Erinnerung einschließen. Die Schlangenwandlerin sprach rasch und eindringlich zu ihm, und er hörte aufmerksam zu, nickte kaum merklich und lächelte schließlich. Dann sagte er laut etwas, damit es jeder im Saal vernahm.
Saskia vermutete, dass die Wandlerin ihm gerade vom Zusammentreffen mit ihr und Justine berichtet hatte. Sie machte mit einer Geste deutlich, was sie erwartete, und nahm die klassische Fechtstellung ein.
Neugierig musterte Levantin sie und richtete sich auf, seine Augenbrauen hoben sich. Er sah wie ein kleines Kind aus, in dem immense Vorfreude raste, und er schien es für ein Spiel zu halten. Langsam hob er die beiden Schwerter und ging leicht in die Hocke. Die Forderung war angenommen.
Saskia überließ sich ganz den Kämpfersinnen, den Reflexen, mit denen sie in der Vergangenheit an die Spitze der union gelangt war. Auch wenn dies, strenggenommen, erst in der fernen Zukunft passieren würde. Sie ließ Levantin den Anfang machen. Er attackierte sie so stürmisch wie zuvor den dunkelhäutigen Feind, aber es entging ihr nicht, dass er dabei genau auf ihre Bewegungen achtete. Er schien zu ahnen, dass ihm ein nicht alltäglicher Kampf ins Haus stand. Saskia musste sich anstrengen, aber nicht überanstrengen, um den Schlägen entweder auszuweichen oder sie zu parieren. Die antike Technik unterschied sich von der ihren, sie war rustikaler und mehr auf Kraft denn auf Behendigkeit ausgelegt, oder Levantin verließ sich wegen seiner körperlichen Überlegenheit lieber darauf.
An dem Leuchten auf seinen Zügen glaubte sie zu erkennen, dass er sich freute und seine Erwartungen nicht enttäuscht wurden. Gelegentlich sah sie Justine, die mit ihrer Pistole im Raum auf und ab patrouillierte. Keiner der Anwesenden kam auf den Gedanken, sich zu bewegen; es könnte auch an dem lauten Befehl gelegen haben, den Levantin gerufen hatte. Sollten sie Zeugen seines Triumphs über die beiden ungeladenen Frauen werden? Saskia fand, dass es an der Zeit war, ihn ihre Fechtkunst spüren zu lassen. Nach der letzten Parade schlug sie zuerst seinen rechten Schwertarm zur Seite, stach mit dem Schwert in seine Seite, zog die Klinge wieder zurück und versetzte ihm einen tiefen Schnitt quer über den Brustkorb bis hinauf zur linken Schulter. Für einen kurzen Moment hoffte sie, dass das Artefakt seine besonderen Fähigkeiten gegen den Gegner einsetzen würde, aber die Intarsien blieben diesmal dort, wo man sie in das Horn getrieben hatte. Anscheinend wirkte es nur gegen Menschen, Wandler und Vampire.
Die Menschen im Raum stöhnten mit Levantin auf.
Er fasste sich an die Seite, dann auf die nackte Brust, wo er Abdrücke hinterließ, und schließlich starrte er Saskia voller Hass und Angst an. »Touche«, kommentierte sie lächelnd und hob den Griffschutz des Schwertes bis kurz vor die Lippen. »Wenn du sie schon in der union des lames nicht erleben wirst, füge ich dir die Schmerzen, die du verdienst, hier zu«, teilte sie ihm mit lauter Stimme mit. »Bei meinem Angriff wirst du sterben, Maitre.« Ansatzlos streckte sie den Arm mit der Klinge gerade nach vorn, machte einen Ausfallschritt und beugte das rechte Knie, um noch näher an ihn heranzukommen. Levantin wurde durch ihre Geschwindigkeit überrumpelt. Die Klinge fuhr ihm von unten durch die Kehle, und er röchelte würgend. Weil er sein linkes Schwert in einer verspäteten Reaktion gegen Saskias Waffe schlug, beförderte er sich das Hornschwert selbst seitlich aus dem Hals. Blut sickerte aus dem Schnitt.
Saskia lächelte und genoss ihren sich abzeichnenden Sieg. Sie hatte Levantin, den gefürchteten Maitre, so gut wie bezwungen und würde ihn in wenigen Sekunden enthauptet vor sich liegen sehen!
Saskia griff wieder an, was sie unter normalen Zweikampfbedingungen nicht getan hätte. Er presste noch immer seine Hand auf die Halswunde, konnte aber die Blutung nicht stoppen. Einer der Legionäre wollte ihm zu Hilfe kommen, und Justine erledigte ihn mit einem sauberen Kopfschuss. Absichtlich hatte sie ihm durch den Helm geschossen, damit jeder verstand, dass die Panzerung nichts gegen ihre Pistole ausrichtete.
Wieder duckten sich die Menschen und verharrten. Der zweite Tote schien ihre letzten Widerstände gebrochen zu haben, Levantin war auf sich allein gestellt.
Saskias Klinge traf ihn dieses Mal genau in die Brust, dann drehte sie die Waffe in der Wunde und zog sie nach unten, um möglichst viel Bauchdecke zu zerstören und ihm Schmerzen zu bereiten. Dass sie den falschen Levantin für das bestrafte, was der andere ihr angetan hatte, störte sie nicht; sein jüngeres Ich in dieser Epoche würde sicherlich schon genug verbrochen haben, um hundert Tode zu verdienen.
Ächzend stürzte er nieder, seine Schwerter fielen scheppernd auf den Marmorboden, und der Blick schien zu flackern.
Saskia konnte es selbst nicht glauben, dass es ihr so leichtfallen sollte.
Plötzlich schrie der Dunkelhäutige, von dem sie angenommen hatte, sein Genick wäre gebrochen, in der Ecke auf. Er hatte die Augen weit aufgerissen, aus seiner Brust stieg Rauch auf, und aus den Wunden schlugen silbrige Flämmchen, die sich ihren Weg nach unten durch das Fleisch brannten.
Saskia konnte die Augen nicht abwenden. War ihr etwas Ähnliches widerfahren, als sie nach dem Kampf in Ohnmacht gefallen war?
Der vermeintlich Tote sprang schrill kreischend auf die Beine und rannte auf wackligen Beinen zu den Wassereimern, stürzte zwischen ihnen nieder und schüttete sich einen nach dem anderen über den Körper. Das Feuer auf seiner Haut erlosch tatsächlich, aber die Zeichen hatten sich eingebrannt, leuchteten hell und erweckten den Eindruck, eine Sonne wäre in ihm aufgegangen und würde durch die Schlitze scheinen.
Der Mann schrie voller Panik, versuchte, die Helligkeit mit den Fingern zu blockieren, doch es gelang ihm nicht. Dann sah er zu Justine, stemmte sich auf die Beine und kam mit ausgestreckten Armen flehend auf sie zu.
»Er hält dich für ein höheres Wesen, das ihm helfen kann«, meinte Saskia fasziniert. Justine starrte den Dunkelhäutigen an. »Soll ich ihn ausschalten?«
»Warte«, befahl Saskia.
Der Dunkelhäutige krümmte sich auf halber Strecke zusammen, Blut sickerte aus seinen Wunden. Zwei Blitze zuckten aus ihnen hervor und jagten direkt in Saskias Körper!
Es tat nicht weh, aber es setzte etwas in Gang.
»Merde!« Justine feuerte ihm eine Kugel ins rechte Auge, und er brach zusammen. Doch die Reaktion war bereits ausgelöst worden; in seiner Panik und Unwissenheit hatte der Mann seine Gabe gegen sie geworfen. Augenblicklich wurde ihr Mund mit Bittermandel und ihre Luftröhre mit Wachs geflutet, die Welt um sie herum versank in Grautönen. Ohne dass sie sich dagegen wehren konnte, schuf die Gabe in der Mitte des Raumes einen waagerechten Wirbel knapp über dem Boden, der düster leuchtete, als lauerte darin der Schlund einer Hölle. Den Durchmesser schätzte Saskia auf etwa einen Meter, aber er verbreiterte sich rasch. Das Ganze erinnerte an die Satellitenaufnahme eines Hurrikans. Energiefinger schössen unvermittelt aus dem Zentrum des Wirbels, zuckten gegen die Decke und sprengten große Brocken heraus, andere schlugen einen Bogen und fuhren in die Umstehenden. Wer getroffen wurde, fiel auf der Stelle nieder und zuckte unter Krämpfen. Wind brauste mit immenser Kraft durch die Halle, es pfiff und donnerte wie inmitten eines Unwetters.
Saskia versuchte, ihre Macht zu unterdrücken, doch sie hatte von dem Dunkelhäutigen zusätzliche Energie erhalten, die sich nicht zügeln ließ. Welche Hölle hatte sie dieses Mal geöffnet?
Ein Aufheulen, das nicht vom Sturm herrührte, riss Saskia aus ihrer Trance: Levantin zog sich mit letzter Kraft auf den Wirbel zu. Sie sprang ihm in den Weg und verpasste ihm einen harten Tritt unter das Kinn. »Ich lasse dich nicht entkommen!« Sie holte mit dem Hornschwert aus und wollte ihm den Kopf von den Schultern trennen - als ein Stromschlag durch sie jagte und alles um sie herum in gleißender Helligkeit verschwand wie bei einem extrem überbelichteten Film. Ihre Narben flammten auf; Saskia hatte das Gefühl, bei lebendigem Leib zu Asche verbrannt und aufgelöst zu werden.
Sie schwebte, wurde leicht und verlor jegliches Körpergefühl.
Die Helligkeit wurde immer stärker.
Der Geschmack von Blut lag schwer in ihrem Mund. Zwar glaubte sie, darunter bittere Mandeln wahrzunehmen, doch sie konnte nicht auf ihre Gabe zurückgreifen.
Sie war nichts weiter als Bestandteil des warmen Lichts, ein winziges Teilchen in der Gemeinschaft von vielen.
Sie konnte problemlos atmen.
Was war mit ihr geschehen?
Sah so der Tod aus?
Befand sie sich in dem Strom, der ins ewige Licht führte? Fuhr sie in eine Hölle? Das Licht um sie herum veränderte sich, verlor seine Strahlkraft und ging in ein dreckiges Grau über, die Wärme verlor sich, gleich darauf musste Saskia einatmen - und bekam nichts als brennendes Wasser in Mund und Nase.
Justine sah, wie Saskia ansetzte, um den finalen Hieb gegen Levantin zu führen. Doch genau in diesem Augenblick schnellte einer der Blitze aus dem Wirbel in das Hornschwert und hörte nicht mehr auf, durch die Waffe Energie in die Trägerin zu pumpen. Die Vorderseite ihres Körpers leuchtete, dann stand die Kleidung über der Brust in Flammen und verging zu weißen Flöckchen, die vom heftigen Wind weggerissen wurden. Justine erkannte auf der nackten Haut das Zeichen, mit dem Levantin sie geschlagen hatte.
»Saskia!«, schrie sie und lief los.
Ein zweiter Blitz fuhr in den Kopf ihrer Mitstreiterin und hielt sie fest. Der Wirbel kreiste immer schneller und zog Saskia, die sich nicht mehr bewegte und steif wie eine Puppe dastand, in sich hinein. Ein dritter Blitz schloss den Kontakt zu ihrem Rücken, knisternd zogen die Energien sie in das rotierende Auge, das von der Waagerechten ganz langsam in die Senkrechte schwenkte und weitere Entladungen nach allen Seiten feuerte. Die Menschen rannten schreiend aus der Halle. Hier waren Kräfte im Spiel, gegen die Justines Macht lächerlich wirkte.
Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Die Kraft, die von dem Portal ausging, das Saskia erschaffen hatte, erzeugte ein heftiges Kribbeln in ihr. Ameisen schienen ihr Blut ersetzt zu haben und gaben Säure in ihre Organe ab. Sie fürchtete, dass sie in den Strahlen vergehen würde, wenn sie versuchte, Saskia zu retten. Justine trat trotzdem einen Schritt näher und überlegte hektisch, wie sie Saskia schützen konnte.
Eine starke Hand legte sich auf ihre Schulter und drückte zu.
Das Schlüsselbein brach mit einem trockenen Knacken, Justine schrie, fuhr herum und schlug mit der anderen Hand zu.
Der Pistolenknauf traf die Schlangenwandlerin an ihrem schuppigen Hals. Sie hatte diesmal die Mischform gewählt: Ihr nackter Körper wurde von smaragdfarbenen Schuppen geschützt, die Rüstung und Kleid zugleich zu sein schienen. Während die Gliedmaßen aber immer noch eindeutig humanoid waren, besaß ihr Kopf sehr viel von einer Schlange und wirkte überdimensioniert und fehlerhaft proportioniert.
Justines Schlag hatte nicht viel ausgerichtet. Zischend öffnete sich das breite Maul, die bläuliche gespaltene Zunge fuhr vibrierend heraus, und Justine hörte ein aggressives Zischen. Die geschlitzten Augen funkelten wütend.
Justine langte nach ihrem Dolch, biss die Zähne zusammen, weil sie die gebrochenen Knochen bewegen musste, und wollte die Schlangenfrau damit angreifen.
Die Gegnerin kam ihr zuvor: Viel schneller, als Justine es zu ihrer besten Zeit gewesen war, packte die eine Hand ihren Nacken, die andere krallte sich in ihren Rücken, und dann zogen sie Justine in eine Umarmung, die ihr den Atem raubte.
Die blaue Zunge leckte ihr übers Gesicht, dabei verstärkte die Reptilienwandlerin unerbittlich den Druck, bis Justine ihre Knochen knacken hörte. Sosehr sie sich auch anstrengte, sie konnte den Griff nicht sprengen. Schließlich schnappte sie in ihrer Not nach der sensiblen Schlangenzunge - und biss so fest zu, wie sie konnte.
Fauchend zog die Gegnerin den Kopf zurück, die Umarmung lockerte sich etwas, und Justine wand sich mit einer schnellen Drehung aus den Armen. Dabei schössen unglaubliche Qualen durch ihren Körper, die angebrochenen und gestauchten Knochen schmerzten. Es kam noch schlimmer.
Bevor der Blitz sie traf, spürte sie seine Hitze von hinten, und die Härchen im Nacken richteten sich auf. Von vorn sah sie die Hände der Reptilienwandlerin auf sich zufliegen, die sich gleich darauf um ihren Hals legten; dann krachte Justine die Energie des Blitzes ins Kreuz und sprang von ihr auf die Wandlerin über.
Sie wurde zurückgerissen, genau in das geöffnete Portal, und zog die Gegnerin mit sich. Es war ihnen beiden unmöglich, sich gegen diese Kraft zu wehren.
Abrupt wurde es dunkel um Justine.
Kälte umgab sie, kroch über ihren ganzen Körper, schlug über ihrem Kopf zusammen und brachte sie zum Frieren, ihre Zähne schlugen schnell aufeinander. Bewegen konnte sie sich so gut wie nicht mehr. Ein Eisklotz, der denken konnte.
Es ist vorbei, dachte Justine, und der Gedanke schien so kristallklar, dass sie beinahe aufgelacht hätte.
Doch die Bestie in ihr revoltierte gegen den nahenden Tod. Aus dem letzten Funken Widerstand machte die Wut der Werwölfin ein Feuer, welches das lähmende Eis schmolz, das Justines Innerstes gefroren hatte. Mit einem lauten Schrei auf den Lippen zappelte und strampelte sie sich frei.
Plötzlich bekam sie Luft! Ihre Beine berührten festen Boden, und sie hörte das Plätschern von Wasser, durch dessen Oberfläche sie eben gebrochen war. Sie rieb sich die Augen, sie konnte nichts sehen ... doch, da war etwas, das blendende Weiß um sie herum war einem dichten Nebel gewichen, und kurz meinte sie, die Sonne zu sehen, die als hellgrauer Ball irgendwo über ihr schwebte.
»Saskia?« Hustend schaute sie sich um, schmeckte das Salz auf den Lippen und hielt das Messer bereit. Möglicherweise war die Wandlerin mit ihr durchs Portal gerissen worden. Wenn sie wechselwarm wie eine echte Schlange war, hatte sie in dem Eiswasser ein Problem. Justine stand in dem niedrigen Wasser auf und hörte es leise plätschern, Vogelstimmen erklangen aus einiger Entfernung.
Das Wasser unmittelbar vor ihr sprudelte. Sie erkannte die Silhouette einer Frau - und dunkelblonde Haare.
»Saskia!« Justine griff in den Schopf und zog die Ertrinkende an sich. Saskia würgte und ächzte gleichzeitig, spuckte und hustete. Hätte Justine sie nicht festgehalten, wäre sie wieder versunken.
»Saskia, ich bin es«, rief Justine und schlang einen Arm um sie. »Wir müssen raus aus dem Wasser, hörst du?«
Sie wartete nicht auf eine Bestätigung, sondern stolperte los, einfach zur Seite, um durch das Wasser und die Schwaden hindurchzulaufen und hoffentlich auf festes Land zu gelangen. Justine wusste nicht, wo sie waren, in welcher Dimension, zu welcher Zeit.
Saskia rang noch immer nach Atem.
Das Wasser wurde flacher; bald gingen sie eine Böschung hinauf, die sie zu einem unbefestigten Weg führte. Ein Deich?
Noch immer konnte sie nicht sagen, wo sie sich befanden.
»Merde«, sagte sie und schleppte Saskia, die immer wieder das Bewusstsein zu verlieren schien, den Weg entlang. Saskia hörte endlich auf zu husten.
»Frag mich nicht, wo wir sind«, kam Justine ihr zuvor. »Du hast uns hierhergebracht, oder?« »Nicht absichtlich«, antwortete sie. »Der Mann hat mich ... hat die Gabe einfach ... aktiviert. Es war wie bei einem Stromschlag, der sich überträgt«, erklärte sie stockend.
»Hast du dabei wenigstens an unser Zuhause und unsere Zeit gedacht?« Justine lachte freudlos auf. »Nach Palmyra sieht mir das nicht aus. Und es war Salzwasser. Also sind wir irgendwo am Meer.« Sie schaute Saskia prüfend an.
Die schüttelte den Kopf. »Ich kann es dir nicht sagen, Justine. Ich habe ebenso wenig Ahnung wie du. Vielleicht hat der Mann uns an einen Ort geschickt, an dem er selbst gern gewesen wäre?«
Der Wind brachte Bewegung in das feucht-graue Gespinst um sie herum. Die Schwaden verwirbelten, wichen mehr und mehr vor ihnen zurück und offenbarten ihnen eine fast ebene Landschaft, die aus verschiedenen Grün- und Brauntönen bestand. Dazwischen erhoben sich immer wieder graue Felsen bis in Kniehöhe. Das Rauschen entpuppte sich tatsächlich als Meeresbrandung, die zu ihrer Linken gegen die Küste rollte.
Weit und breit gab es keine Spur einer Behausung oder eines Menschen oder irgendeines Lebewesens.
Justine verzog den Mund. »Saskia?«
»Ja?«
»Bring uns hier weg, ma chere.«
XXIII. KAPITEL
18. November
Syrien, Damaskus
Ihr Bruder ist ein sehr kranker Mann«, sagte Professor Al-far Hamsi ben Tibi, Leiter der Inneren Medizin der medizinischen Fakultät der Universität Damaskus, und blickte auf die andere Seite der Glasscheibe, hinter der Will, angeschlossen an zig Schläuche, medizinische Geräte und Kabel, in einem Bett lag. Intensivmedizin. Quarantänestation. »Wir haben den vereiterten Schnitt auf seinem Rücken geöffnet und vollständig ausgespült, ihn desinfiziert und mit Antibiotika behandelt. Aber die Entzündungswerte reduzieren sich nicht. Wir fanden keinen Auslöser für die Sepsis.« Er seufzte. »Wir haben die Werte mehrmals überprüft. Es tut mir sehr leid, aber mein Team und ich sind der Meinung, dass Ihr Bruder innerhalb der nächsten Tage sterben wird. Es sei denn, es geschieht ein Wunder.«
»Ich weiß, Professor«, entgegnete der Mann, der sich als Wills Bruder ausgab. Professor Tibi wandte sich zu ihm um. Er war ein unverkennbarer Araber, die Nase hatte eine markante Länge und gab seinem Profil etwas Energisches, zu dem die hart blickenden braunen Augen sehr gut passten. Im Sattel eines Hengstes und in anderem Outfit als in dem Arztkittel hätte er auch einen exzellenten Beduinensheik abgegeben. Er las eine beeindruckende Liste von Untersuchungen vor, die innerhalb der letzten Stunden gemacht worden waren. Andere Patienten mussten darauf ein halbes Leben lang warten. Geld beflügelte, und davon hatte der Bruder des Kranken erstaunlich viel investiert. »Alles, was wir herausgefunden haben, passt nicht zusammen. Einige der Werte sollten sich eigentlich sogar ausschließen«, sagte er.
»Versuchen Sie weiterhin Ihr Bestes, Professor. Solange Sie ihn nicht sterben lassen, ist mir alles recht. Die entsprechende Vollmacht habe ich Ihnen ja bereits bei der Einlieferung erteilt. Mein Bruder muss unter allen Umständen leben! Jeden Tag, den er in Ihrem Klinikum überlebt, vergolde ich Ihnen mit einer Million Euro.«
Tibi nickte. »Wir tun, was unser Haus zu leisten in der Lage ist. Ich würde Ihnen ja empfehlen, Ihren Bruder auszufliegen und woanders behandeln zu lassen, wenn ich wüsste, was ihm fehlt. Einige meiner Kollegen an anderen international renommierten Kliniken, die ich kontaktiert und mit den Befunden konfrontiert habe, sind jedoch ebenso ratlos wie ich. Die Werte sprechen keine klare Sprache. Und wie ich schon sagte«, er fuhr sich durch die kurzen schwarzen Haare, »wir können keinen Verursacher zuordnen.«
»Mein Bruder war schon immer ein Sonderfall«, sagte der Mann und bückte sich nach dem Beutel, in dem die privaten Sachen aufbewahrt wurden, die der Kranke bei seiner Ankunft bei sich hatte.
Früher oder später würden Saskia und Justine erscheinen, um nach Will zu suchen. Sie waren wie vom Erdboden verschluckt, doch er hatte eine Theorie, wo die Frauen abgeblieben waren. Er war schließlich kein einfacher Mensch wie seine Spione oder dieser bemühte, aber letztendlich hilflose Arzt.
Er war ja nicht einmal ein Mensch.
Levantin verabschiedete sich von Tibi und begab sich in das Zimmer, das neben dem von Will lag. Er hatte sich in der Abteilung für Innere Medizin eingemietet, sein Geld machte auch das möglich. Über einen Monitor konnte er verfolgen, was sich in Wills Zimmer tat und wer ihn besuchte. Sogar die Vitalwerte wurden auf einem zweiten Monitor angezeigt.
Levantin setzte sich aufs Bett, schüttete die Tasche aus und betrachtete, was sich da vor ihm ausbreitete: Sand aus Palmyra, ein Ausweis, ein Dolch, ein Satellitentelefon, Geld und - das Pergament!
Er nahm es und strich es vorsichtig auf der Decke glatt.
Wer auch nur einen Funken Feingefühl besaß, musste sofort spüren, dass es keine gewöhnliche, gegerbte Tierhaut war, sondern etwas, das in eine andere Welt gehörte, die einfältige Menschen in Ermangelung eines besseren Wortes oft Hölle nannten. Menschen neigten nun einmal dazu, alles, was sie nicht kannten oder verstanden, schlechtzumachen und zu fürchten. Die wenigen von ihnen, die einen Besuch in diesen Sphären überlebt hatten, verbreiteten darum Geschichten über schreckliche Wesen und Dämonen oder, je nachdem, wo sie gelandet waren, über Götter und andere Gestalten. Die verschiedenen Kulturen und Religionen hatten im Laufe der menschlichen Geschichte unzählige Bezeichnungen gefunden, viele davon einfallsreicher als das ewige Himmel und Hölle, mit dem sich die meisten heute begnügten. Für ihn hingegen bedeuteten sie alle nichts anderes als Heimat.
Strenggenommen war er nicht in jeder der Welten zu Hause, sondern nur in einer. Und in diese wollte er nun endlich, nach so langer Zeit, zurückkehren.
Levantin vermutete, dass Saskia ein Portal geöffnet hatte, um ins antike Palmyra zu gelangen. Er wusste nicht, warum sie das getan hatte, und es war ihm auch gleich. Aber dort würde sie auf ihn treffen, vor etwa zweitausend Jahren, als er von den Menschen verehrt worden war. Sie würde ihm im Duell gegenüberstehen und dann durch ein weiteres Portal verschwinden. Ihm würde nichts anderes übrigbleiben, als darauf zu warten, ihr wieder zu begegnen. Ihr Treffen in der Vergangenheit hatte bei ihm die Hoffnung gesät, die Welt der Menschen eines Tages verlassen zu können. Zwar hatte er nie aufgehört, auch andere Menschen mit seinem Zeichen zu erhöhen, aber sie hatten einfach nichts getaugt.
Alles war so gekommen, wie es kommen musste.
Jetzt blieb ihm nur noch zu hoffen, dass Saskia und Justine den Weg zurück in die Gegenwart fanden. Damit würde sich erweisen, wie gut sie ihre Gabe kontrollierte. Auch das war wichtig für sein Vorhaben. Sie war extrem mächtig, ohne es zu wissen. Sie erstarkte und lud sich immer weiter auf, wie er an ihrer Ausstrahlung merkte. Er dachte an seinen Vergleich mit einem Atomversuchsreaktor und fand ihn passender denn je. Sie konnte ihn in jede Dimension bringen. Unendliche Möglichkeiten standen ihm offen, doch er wollte nur eines: nach Hause. Er hatte genug erlebt.
Die zusammengesetzten Artefakte, das wusste Levantin inzwischen durch die Aufzeichnungen der Bêlualiten, vermochten nur, das Blutportal für Bêlua zu öffnen. Nun, sobald er diese Welt verlassen hatte, konnten die Menschen mit den Artefakten anfangen, was sie wollten. Sollten sie Bêlua, Sekhemt oder einen anderen Fürsten herbeirufen, wenn sie unbedingt wollten. Ihn ging das nichts mehr an.
Er erinnerte sich gut an diese Nacht in Palmyra, als sie in seinem kleinen Palast aufgetaucht war und ihn beinahe geschlagen hatte. Die andere Frau war Justine gewesen, daran hatte er inzwischen keinen Zweifel mehr.
Levantin war außerdem sehr gespannt, was aus Hadriana geworden war, die damals mit den Angreiferinnen durch das Portal gezogen worden war. Würde die Wandlerin auch einen Weg in die Gegenwart finden - und war sein Latein noch gut genug, um sich mit ihr zu unterhalten? Wobei: Unterhaltungen hatten für ihn und die Schlange nie den größten Stellenwert gehabt. Er las das Pergament und erfreute sich an dem Gedicht. Eine verborgene Beschwörungsformel. Der Grabräuber, in dessen Besitz es lange Zeit gewesen war, hatte die geheimnisvolle Verbindung zwischen dem Pergament, der Vergangenheit und den unter dem Sand verborgenen Gegenständen aus der Antike lange Zeit für sich genutzt. Levantin vermutete, dass es sich bei Shafiq um einen latent Magischen gehandelt hatte. Andernfalls hätte er weder erkannt, dass es sich nicht um ein einfaches Stück Pergament handelte, noch wäre er in der Lage gewesen, das Artefakt bei sich zu behalten und es daran zu hindern, an seinen ursprünglichen Ruheort zurückzukehren.
Levantin steckte es nun in die Innentasche seines Sakkos und zog den Reißverschluss zu. Seine Haut spannte noch etwas. Es hatte länger als sonst gedauert, bis sie nachgewachsen war und wieder gut aussah. Vor allem das Gesicht hatte unter dem Feuer gelitten. Chinon war Niederlage und Sieg gleichermaßen gewesen. Die Daten und Erkenntnisse der Belualiten hatten ihm alle Geheimnisse erschlossen, doch dafür war ein Großteil seiner Privatarmee vernichtet worden. Sein Ziel musste Levantin nun mit ein paar Kontakten und nur wenigen Kämpfern erreichen. Doch er befand sich im Schlussspurt.
Er nahm einen Rosenkranz aus der Schublade, an dessen Perlen getrocknetes Blut klebte. Ein Andenken, das er Justine bei der nächsten Gelegenheit zum Geschenk machen wollte. Die Ausmerzung der Nonnen war im Vergleich mit Chinon ein Kinderspiel gewesen. Wer gegen Wandler vorging und es verstand, Spione zu erkennen und auszuschalten, verstand sich nicht automatisch auf die Abwehr von sehr irdischen Überfällen, die mit dämonischer Verstärkung einhergingen. Sollte es noch Angehörige der Schwesternschaft vom Blute Christi geben, hatten sie sich zum Zeitpunkt der Attacke nicht in Genzano aufgehalten. Sie würden, wie die entkommenen Diener Beluas, keine Rolle mehr spielen. Levantin verbuchte beide Aktionen als Erfolg.
Er lehnte sich zurück und legte einen Arm nach hinten, auf den er den Kopf senkte; er wollte einen Moment ausruhen, bevor er sich erneut auf den Weg machen musste. Dabei ließ er die Monitore nicht einen Augenblick unbeobachtet.
Gul durfte nicht sterben.
Noch wurde diese schwache Kreatur gebraucht.
Mit einem Schrei richtete Saskia sich auf und sah sich hektisch in der Dunkelheit um. War sie wieder in der Kammer in der schrecklichen Partynacht, die ihr Leben auf so drastische Weise verändert hatte?
»Saskia?«
Sie kannte die Stimme. Justine befand sich nicht weit von ihr entfernt, und Saskia drehte den Kopf in ihre Richtung.
Die Augen hatten sich an die Finsternis gewöhnt. Sie erkannte einen wunderschönen Sternenhimmel über sich, den sie in dieser Klarheit niemals zuvor gesehen hatte. Um sie herum erhoben sich die Reste monumentaler Bauwerke, und in ihr keimte die Hoffnung, dass sie es durch das letzte Portal tatsächlich an den Ausgangsort ihrer Odyssee geschafft hatten. Doch zu welcher Zeit?
Es war das vierte Portal, das sie geöffnet hatte. Die anderen hatten sie an Orte geführt, an denen sie nicht lange geblieben waren. Sie waren zu fremd, zu unirdisch gewesen.
Saskia fühlte sich erschöpft und erhob sich, auch wenn sich ihre Beine wie Gummi anfühlten, nahm das Schwert an sich und ging Justine entgegen. Sie machte einen Schritt über umgestürzte Steinsäulen hinweg und kletterte über halb freigelegte Steinquader. Im Licht der Nachtgestirne entdeckte sie in einer Vertiefung Ausgrabungsutensilien. Die Werkzeuge passten von ihrer Beschaffenheit durchaus ins einundzwanzigste Jahrhundert.
Plötzlich stand Justine vor ihr. »Du hast es geschafft!«, jubelte sie. »Du hast uns zurückgebracht!«
»Warte es lieber ab, bis wir sicher sein ...«
»Nimm dein Handy raus.« Saskia tat es, und Justine deutete darauf. »Du hast Empfang! Welchen Beweis brauchst du noch?«
Saskia gönnte sich nun ebenfalls ein Lachen. »Achtzehnter November 2009, kurz vor vierundzwanzig Uhr.«
Justine streckte sich. »Dann haben wir etwa einen Tag verloren.«
»Und kommen später hier an, als ich wollte.« Saskia hatte sich beim Einsatz ihrer Kräfte auf einen Zeitpunkt konzentriert, der weit vor dem Moment lag, in dem sie Will bei den Geisterwesen zurückgelassen hatten, um ihn warnen zu können. Anscheinend schufen Zeitreisen ihre eigenen Gesetze und erlaubten nicht, dass zwei identische Menschen zur gleichen Zeit am gleichen Ort waren.
»Mach dir keine Vorwürfe. Wenn man bedenkt, was wir zwischendurch erlebt haben ...« Saskia nickte. »Suchen wir den Turm.«
»Mich wundert es, dass es hier nicht vor Militär wimmelt. Es wird ja in der Zwischenzeit sicherlich etwas wegen der toten Amerikaner in die Wege geleitet worden sein. Vermutlich haben die Amis die Einmarschpläne für Syrien schon aus den Schubladen geholt.« Sie verzog das Gesicht. »Was gäbe ich jetzt für eine Zigarette!«
Zusammen marschierten sie durch das dunkle Palmyra, wo nur an einigen Stellen Scheinwerfer ihren Dienst verrichteten. Aus einer Ausgrabungsstätte entwendeten sie mehrere Stücke Kordel und banden Saskia das Schwert ans rechte Bein.
Je mehr sie sich dem Turm näherten, umso heller wurde es vor ihnen. Es schien so, als würde er mit Scheinwerfern angestrahlt.
»Das sieht mir ganz danach aus, als wäre dort die Polizei im Einsatz, oder das Militär, oder was auch immer«, mutmaßte Justine. »Auf jeden Fall sollten wir denen besser nicht begegnen. Wir gehen zum Ausgang der Anlage und versuchen, unbehelligt davonzukommen.« »Und wenn uns jemand schnappt?« Saskia deutete auf ihre ramponierte Kleidung. »Dann sagen wir, dass uns irgendwelche Typen überfallen und niedergeschlagen haben. Wir sind in einem der Grabmale zu uns gekommen und können uns an nichts erinnern.« Justine ging los. »Spiel die Armes-Mädchen-in-Not-Karte aus, so gut es geht.«
»Sehr durchsichtig, oder?«
Justine grinste. »Du willst nicht wissen, wie oft ich damit schon durchgekommen bin, oder?« Saskia blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen; sie fühlte sich zu schwach, um einen anderen Vorschlag zu machen.
Sie erreichten den Eingangsbereich der antiken Stätte. Die Schranken waren heruntergelassen worden, so dass es keine Möglichkeit gab, unbemerkt zu verschwinden. »Denk dran, was ich dir gesagt habe«, sagte Justine und klopfte am Wachhäuschen an. Ihnen wurde von einem sehr verwunderten syrischen Soldaten geöffnet, der sie in schlechtem Englisch ansprach. »Wo kommen her?«
»Wir sind überfallen worden«, antwortete Justine mit großen, kugelrunden Augen und sah sich ängstlich um, dabei zeigte sie auf ihre dreckige Kleidung. »Man ... man hat uns ausgeraubt und verschleppt! Wir hatten solche Angst. Bitte, Sie müssen uns helfen!« Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen und begann zu zittern. Saskia beeilte sich, sie schützend in den Arm zu nehmen und ihrem Gegenüber ebenfalls einen flehentlichen Blick zuzuwerfen. Der Mann nahm ein Funkgerät vom Gürtel und gab ihnen mit einem Nicken zu verstehen, dass sie reinkommen sollten, gleichzeitig sprach er mit jemandem auf Arabisch.
Die Frauen nahmen auf harten Bänken Platz, ein zweiter Soldat reichte ihnen Decken, in die sie sich dankbar einrollten, und stellte ihnen Kaffee hin, den sie tranken. Er war stark und mit Gewürzen zubereitet worden, Kardamom und Nelken verliehen ihm eine besondere Note. Der Soldat, der sie empfangen hatte, setzte sich vor sie und schaltete seinen Computer ein. »Wann geschehen?«
»Heute Mittag«, sagte die Französin.
Der Soldat runzelte die Stirn. »Nicht möglich. Geschlossen.«
Justine reagierte sofort. »Aber das kann nicht sein! Heute ist doch der 17. November, oder?« Der Mann schüttelte irritiert den Kopf.
»Dann haben wir über einen ganzen Tag bewusstlos in den Ruinen gelegen, ohne dass uns jemand gefunden hat?«, fragte sie entsetzt. »Aber das ist doch unmöglich! Hat man uns Drogen verabreicht?«
Die Tür wurde geöffnet, und ein Mann in einem hellen Anzug, hellen Hemd und dunkler Krawatte betrat den Raum. Er sah müde aus, die Hosen zeigten Spuren von Sand, als wäre er auf dem Boden herumgerutscht. Die beiden Soldaten erstatteten ihm Bericht. »Guten Abend«, sagte er daraufhin in astreinem Englisch. »Mein Name ist Al-Utri. Ich arbeite für den Geheimdienst.« Er zeigte ihnen einen Ausweis, der sie wohl beeindrucken sollte. Saskia beeilte sich, genau dieses Gefühl vorzutäuschen. »Ich hoffe, ich kann Ihnen helfen?«
»Geheimdienst?« Justine hob die Augenbrauen. »Oh, ich bin Ihnen so dankbar! Können Sie uns sofort zu unserer Botschaft bringen?«
Al-Utri warf ihr einen prüfenden Blick zu. Er setzte sich, sagte etwas auf Arabisch und bekam ebenfalls einen Kaffee gereicht. »Was ist geschehen?« Er zog die Tastatur des Computers zu sich heran.
Justine erzählte etwas über eine Gruppe Amerikaner, die sie wiederholt belästigt und danach überfallen hätte. Saskia hörte aufmerksam zu und versuchte, sich jedes Wort einzuprägen, falls sie später ebenfalls eine Aussage machen musste. Dabei fiel ihr auf, dass Justine die Basketballspieler, die auch ihr in der Reisegruppe aufgefallen waren, beschrieb. Für einen kurzen Moment hatte sie ein schlechtes Gewissen den Toten gegenüber.
Al-Utri hörte aufmerksam zu, schrieb gleichzeitig auf der Tastatur mit, bis Justine mit ihrer Erzählung zum Ende gekommen war. »Und Sie?«, sagte er müde zu Saskia; er musste einen langen Tag hinter sich haben. »Gibt es noch Details, die Sie den Ausführungen Ihrer Freundin hinzufügen können?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Sie hat alles gesagt.«
»Dann rufe ich Ihnen am besten einen Wagen, der Sie zur Untersuchung in ein Krankenhaus bringt.« Al-Utri sah sie an. »Ihre Beschreibung passt auf vier Männer, über die uns auch andere Zeugenaussagen vorliegen.«
»Ach?«, machte Justine und ließ sich von dem Soldaten mehr Kaffee einschenken. »Haben sie auch noch andere Besucher angegriffen?«
»Das weiß ich nicht. Aber die mutmaßlichen Täter wurden selbst Opfer eines rätselhaften Angriffs. Die genauen Umstände werden im Moment noch untersucht«, sagte Al-Utri. »Wie es aussieht, hat keiner der amerikanischen Touristen, die Sie beschuldigen, und niemand anderer aus deren Gruppe den Angriff überlebt.«
»Das hört sich furchtbar an!« Nun trug Justine langsam etwas zu dick auf, wie Saskia fand. »Aber es gab doch sicher Verletzte, die man retten konnte!« »Es mag sein. Die Panik nach dem Zwischenfall, der mit einem schweren Sturm und einem Unwetter einherging, war zu viel für die Sicherheitskräfte. Die Leute konnten nicht aufgehalten werden.« Sein Blick streifte kurz die beiden Soldaten im Raum. »Etliche Besucher haben sich selbst in Sicherheit gebracht, bevor eine Evakuierung organisiert werden konnte.« Er nippte am Becher. »Vermissen Sie denn jemanden?«
Seine Frage klang ganz harmlos, aber Saskia meinte zu sehen, wie er sich unmerklich anspannte, wie ein unerfahrener Fechtkämpfer, der noch nicht in der Lage ist, seinen nächsten Angriff besser zu verbergen.
Saskia hatte schon das Nein auf der Zunge, aber Justine kam ihr wieder einmal zuvor. »Nicht direkt. Wir haben am Eingang einen netten Deutschen kennengelernt.« Rasch beschrieb sie Will. Sie schaute Saskia unschuldig an. »Wie war der Name noch einmal? Kannst du dich noch erinnern? Ach, ich bin so schlecht darin, mir Namen zu merken. Aber er war wirklich nett! Ich hoffe, ihm ist nichts passiert.«
Al-Utri ließ sich von dem Soldaten eine Liste reichen, die er überflog, und stellte ihm ein paar schnelle Fragen. »Ihre Beschreibung passt auf jemanden, der von seinem Bruder mit einem Hubschrauber ausgeflogen wurde. Allerdings handelte es sich dabei nicht um einen Deutschen, sondern um einen Engländer.«
»Aber natürlich!«, sagte Saskia schnell und schlug sich vor die Stirn. »Er hat uns sogar erzählt, dass er Halbengländer ist, aber in Deutschland aufgewachsen, erinnerst du dich? Und sein Name war ...«, sie kramte in ihrer Erinnerung, »... irgendetwas mit Smith.«
Al-Utri nickte. »Das ist richtig Laut unseren Unterlagen handelte es sich um Anil Smith.« »Aber ja, jetzt fällt es mir auch wieder ein«, sagte Justine hörbar erleichtert, und Saskia war erstaunt, wie gut sie ihre Anspannung überspielte. »Sein Bruder hat ihn abgeholt, sagten Sie? Ob das wohl dieser kleine dicke Inder gewesen ist, mit dem wir ihn gesehen haben?« Der Geheimdienstmann wechselte ein paar Worte mit dem Wachpersonal. »Es handelte sich offensichtlich um einen ziemlich großen, blonden Mann.« Diese Beschreibung machte den beiden Frauen deutlich, wer Will mitgenommen hatte.
»Wissen Sie, wo wir ihn besuchen können?«
»In Damaskus. Ich würde Ihnen das gleiche Hospital empfehlen. Es ist eine Universitätsklinik mit vielen Spezialisten.«
»Danke, das werden wir machen. Sie haben uns sehr geholfen, Mr. Al-Utri, und ich werde Ihnen das nie vergessen«, gurrte Justine und versprühte dabei ihren Charme, als sei sie eine übereifrige Parfümerieverkäuferin. »Nun müssen meine Freundin und ich nur noch einen Weg finden, um nach Damaskus zu kommen ...« Ihr Augenaufschlag war waffenscheinpflichtig. Und Saskia dachte bei sich, dass sie von Justine wirklich noch einiges lernen konnte. Al-Utri nahm sein Handy aus dem Gürtelclip und führte ein kurzes Gespräch. »Wenn Sie möchten, können Sie mit mir fliegen. Ich muss meinen Vorgesetzten über die neusten Erkenntnisse persönlich unterrichten.«
»Um diese Uhrzeit?« Justine tat ungläubig.
»Glauben Sie, meinen Vorgesetzten stört das?«, fragte Al-Utri unwirsch. Er kratzte sich hinter dem linken Ohr und nahm noch einen Schluck Kaffee. »Verzeihen Sie. Wir sind alle nervös, weil es Amerikaner erwischt hat. Amerikaner! Wenn wir noch Ölquellen hätten, stünden die GIs schon hier.« Er stand auf. »Wollen Sie mitfliegen, oder möchten Sie auf die Ambulanz warten, die Sie nach Hamäh bringt?«
Saskia sah ihn ein wenig überrascht an. »Und Sie dürfen uns einfach mitnehmen? Bekommen Sie deswegen keinen Stress?«
Justine hatte sich schon erhoben. »Das ist so freundlich von Ihnen«, willigte sie rasch ein. »Wir möchten unseren neuen Freund gerne wiedersehen und seinen ... Bruder besser kennenlernen. Aber wenn ich Ihrem Chef jemals begegnen sollte, werde ich ein ernstes Gespräch mit ihm führen.« Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, das tatsächlich ein Echo auf den Zügen des Mannes auslöste, und bedankte sich dann bei den Wachleuten, als hätten diese persönlich ihr Leben gerettet. Sie bekamen von dem Soldaten jede noch eine Jacke, damit sie nicht froren, und folgten Al-Utri aus dem Häuschen.
Ein leises, stetig anschwellendes Donnern erklang, das sich als Rotorenlärm erwies. Ein Suchscheinwerfer unter der Nase des großen Hubschraubers flammte auf und zerschnitt die Dunkelheit. Der weiße Strahl bewegte sich und prüfte den Landeplatz auf Hindernisse, erst dann senkte sich der Helikopter. Staub wirbelte auf und prasselte ihnen gegen die Gesichter, sie mussten die Augen zusammenkneifen und näherten sich gebückt dem Eingang, dessen Tür für sie zurückschwang.
Al-Utri gewährte ihnen den Vortritt. Saskia sprang zuerst hinein, dicht gefolgt von Justine, die sich allerdings vorher noch einmal schnell umsah, als würde sie doch noch damit rechnen, dass jemand sie aufhielt.
»Mon Dieu!«, entfuhr es ihr, als sie sah, in was genau sie gerade eingestiegen waren. Es war ein umgebauter Sikorsky-Transportheli, dessen Innenausbau mehr an einen komfortablen LearJet als das Kabuff erinnerte, das Saskia erwartet hatte. Die Wände dieses Hubschraubers waren in Cremefarben gehalten und mit Teppich verkleidet, die Sitze bestanden aus weißem Leder, und auf den zwei Tischchen standen Erfrischungsgetränke bereit, in speziellen Halterungen, damit sie beim Flug nicht verrutschten oder überschwappten. Es roch nach Blumen, und ein leichter Zitronenhauch weckte die Sinne. Klackend schloss sich die Tür, Al-Utri schob sich an ihnen vorbei und nahm Platz. »Setzen Sie sich«, sagte er und musste nicht einmal laut schreien; die Schallisolierung war hervorragend. »Schnallen Sie sich an, dann kann es losgehen.« Saskia und Justine kamen der Aufforderung nach. Wenig später hob der Helikopter ab.
»Der syrische Geheimdienst sorgt besser für seine Mitarbeiter, als ich dachte.« Justine nahm sich eine Dose Cola und trank in großen Schlucken. Saskia wertete dies als Zeichen dafür, dass ihr der Luxus der Maschine ebenso merkwürdig vorkam.
»Das ist eine Sondermaschine, mit der normalerweise nur die VIPs geflogen werden«, erklärte Al-Utri. »Nur, weil ich so dringend nach Damaskus muss, sitzen wir drin.«
»Ich freue mich auf einen angenehmen Flug«, sagte Justine und prostete ihm strahlend zu. Dass sie sich dabei anspannte, als würde sie jeden Moment einen Angriff erwarten, machte Saskia nervös. Deswegen dauerte es auch einen Augenblick, bis sie begriff, woher sie die rhythmische Tonfolge kannte, die sich in die Geräusche des Helikopters mischte. Es war der Klingelton ihres Handys! Schnell nahm sie es hervor - und war erleichtert, als sie die Nummer auf dem Display erkannte. »Hallo, Herr Professor!«, rief sie freudig. »Wo waren Sie...« »Hören Sie mir genau zu, Frau Lange«, unterbrach er sie. »Wenn Sie eine Möglichkeit haben, dann verlassen Sie die Maschine auf der Stelle.«
»Was ist denn?« Sie sah zuerst zu Justine, die sich schäkernd mit Al-Utri unterhielt, ohne sie dabei aus den Augen zu lassen, danach zu dem Geheimdienstler. »Wo stecken Sie, und woher wissen Sie ...«
»Ich stehe am Eingang zu Palmyras Ruinen und wollte Sie eben suchen.« Der Empfang wurde schlechter, seine Stimme klang abgehackt und verzerrt. Er erklärte ihr gerade etwas, doch sie verstand nichts.
Saskia räusperte sich, stand auf, deutete mit einem Lächeln auf die Toilettentür und schloss sich in der kleinen Kabine ein. »Professor, wie kommen Sie denn ...?«
Für einen kurzen Augenblick war der Empfang einwandfrei, bevor die Stimme des Professors wieder im Rauschen unterging. Doch die paar Sekunden reichten, um Saskia erstarren zu lassen: »Der Maitre hat Sie in seiner Gewalt!«
Saskia sank auf die geschlossene Klobrille und klammerte sich an das Handy. Der Professor hatte keinen Grund, sie anzulügen. Ganz egal, ob Al-Utri tatsächlich dem syrischen Geheimdienst angehörte oder nicht, er hatte sie für ihren Feind aufgelesen. Deswegen war alles so einfach gewesen.
So viel zu Justines kleinen Spielchen, dachte Saskia bitter und sah sich selbst in dem kleinen Spiegel über dem Waschbecken, ihr müdes, erschrockenes Gesicht. Nun war es an ihr, sie aus der schwierigen Situation herauszuholen. Die aufkeimende Wut, offenen Auges in die Falle gelaufen zu sein, kam ihr gerade recht. Die Narben auf ihrer Brust erwärmten sich. Saskia atmete tief ein, spritzte sich etwas kaltes Wasser ins Gesicht und konzentrierte sich. Sie würde in die Kabine zurückkehren, ein Portal öffnen und dadurch mit Justine entkommen. Sollte AlUtri versuchen, sie aufzuhalten, würde er Bekanntschaft mit ihren Kräften machen. Saskia löste die Kordeln am Bein, nahm das Schwert in die Hand, kehrte zu Justine und dem Geheimdienstler zurück und blieb vor ihm stehen. Die beiden starrten die Waffe an, Al-Utri erstaunt, Justine alarmiert. »Ich weiß, für wen Sie arbeiten«, sagte sie mitten in die unterbrochene Unterhaltung hinein und legte die Schwertklinge an seinen Hals. »Wohin bringen Sie uns wirklich?«
Al-Utri starrte auf das Schwert, sein Adamsapfel zuckte auf und nieder. »Bitte, ...« »Nein, nicht bitte!«, schrie Saskia und übte mit der Klinge Druck aus, darauf bedacht, ihn nicht zu verletzen, auch wenn ihre Narben brannten und etwas, das sich tief in ihr regte, den sofortigen Tod des Mannes forderte. »Ich will unverzüglich von Ihnen hören, was das Ziel unserer Reise ist und was wirklich mit Will geschehen ist!«
Justine starrte an ihr vorbei, zog ebenfalls ihre Waffe und knurrte einen französischen Fluch. »Lassen Sie mich es erklären«, sagte eine angenehme Stimme in Saskias Rücken. Sie fuhr herum - und sah Levantin im Gang stehen! Er trug einen hellgrauen Anzug mit einer dunkelgrauen Krawatte aus Seide, elegante schwarze Schnürschuhe und ein triumphierendes Lächeln, wie es Blücher nach der Schlacht bei Waterloo auf dem Gesicht gestanden haben musste.
»Willkommen an Bord! Bevor Sie Dinge tun, die Sie später selbst als töricht betrachten würden: Ihrem Freund geht es den Umständen entsprechend gut. Er bekommt die beste Behandlung, die es gibt. Die Ärzte haben ihn in ein künstliches Koma versetzt, um sicherzustellen, dass er überlebt, bis Sie wieder bei ihm sind. Aber vorher«, er zeigte auf sich, dann auf Saskia und Justine, »machen wir drei einen kleinen Ausflug. Ich weiß, wo das letzte Artefakt verborgen ist.«
18. November
Syrien, Damaskus
Ashlay Askany war Putzfrau in der Inneren Medizin und versah ihren Dienst schon seit vielen Jahren gründlich und zuverlässig. Wie alle anderen Kolleginnen wurde sie nicht weiter beachtet, sondern gehörte zum Inventar. Aber das hatte auch Vorteile: Ashlay hatte inzwischen einiges über Krankheiten gelernt und den Ärzten Dutzende Male bei der Reanimation zugesehen. Sie wusste, ab wann Blutwerte schlecht waren und mit welchen Befunden es Grund zur Hoffnung gab. Manchmal kam sie sich selbst wie eine Ärztin vor, wenn sie bei Visiten anwesend war und beim Bodenwischen den Gesprächen der Mediziner lauschte. Sie stand mit ihrer fahrbaren Putzstation vor Zimmer 1.83, in dem ein britischer Patient namens Smith lag. Ihrer Ansicht nach war er eines der ärmsten Schweine in der gesamten Inneren. Sie setzte die Schutzmaske auf, die Nase und Mund bedeckte, danach öffnete sie die Tür und trat ein. Da sie als Profi einen Tropfen Minzwasser in die Maske gegeben hatte, roch sie den Eitergestank nicht, der im Raum hing. Der Schnitt, den sie gestern beim Verbandswechsel auf seinem Rücken gesehen hatte, verlangte zwar eher nach der chirurgischen Abteilung, aber der Zustand seiner inneren Organe hatte einen Aufenthalt in diesem Bereich der Klinik dringender gemacht.
Ashlay erledigte ihre Arbeit souverän: Sie vernichtete Bakterien und Pilze mit den chemischen Zusätzen im Putzwasser, sprühte und wischte und näherte sich dabei dem Bett des Patienten. Sie warf einen Blick auf die Monitore, die den schlechten Zustand des Mannes verdeutlichten, wischte unter dem Bett hindurch, ohne hinzuschauen, drückte den Lappen ins Wasser und betätigte die Presse, mit der überschüssige Feuchtigkeit herausgedrückt wurde. Als sie die Augen auf den Eimer richtete, atmete sie vor Schreck tief ein: Das Wasser hatte sich rot gefärbt. Rasch schaute sie unter das Bett, wo sich eine breite Lache gebildet hatte. Sie sah geronnene Blutfäden aus der durchweichten Matratze herabhängen und bis in die Pfütze reichen; an anderen Stellen tropfte es immer noch.
Ashlay zögerte nicht, sondern drückte den Alarmknopf. Wenige Sekunden später sprangen zwei Schwestern und ein Arzt ins Zimmer. »Er blutet durch«, erklärte sie dem medizinischen Personal aufgeregt und trat einen Schritt zurück, um sie nicht bei der Arbeit zu behindern.
»Weg«, knurrte der Arzt sie an, obwohl sie schon zwei Meter zur Seite gewichen war. Die Schwester schlug das Laken zurück und fluchte: Rund um Smiths Rücken hatte sich die Bettwäsche mit Blut vollgesogen! Gemeinsam drehten sie ihn zur Seite.
Ashlay sah den Schnitt, der auf seiner gesamten Länge aufgebrochen war. Die Drainagen lagen herausgerissen auf der Wäsche, und weißes Gewebe, das denaturiert aussah, quoll aus dem Spalt wie Füllung aus einem Kuscheltier.
Plötzlich und ohne dass sie wusste, wie ihr geschah, sah sie die Wände um sich herum verschwinden. Sie befand sich unbegreiflicherweise auf einer weiten Ebene aus dunklem Stein, über ihr leuchteten goldene Sterne an einem violettfarbenen Himmel ... Ashlay kniff die Augen erschrocken zusammen, öffnete sie vorsichtig wieder - und fand sich in Zimmer 1.83 wieder. Ashlay hatte keine Ahnung, was mit ihr geschehen war; ihr Herz schlug schneller. Sie wollte davonlaufen, aber etwas hielt sie zurück, von dem sie nicht genau wusste, was es war. Wie gebannt schaute sie weiter den Medizinern zu.
Der Arzt wurde hektisch und starrte auf die Monitore, die längst hätten Alarm schlagen müssen. »Was ist das für eine Scheiße?« Er schrie eine Schwester an, dass sie den Oberarzt und Professor Tibi holen sollte. Ashlay ahnte, dass der Mann keine Ahnung hatte, was zu tun war. Während die eine Schwester wieder verschwand, bettete die andere den Patienten in die stabile Seitenlage, und der Arzt entfernte das merkwürdige Eiweiß mit Lanzette, Pinzette und Skalpell aus der Wunde. Ashlay wollte gehen, konnte sich aber einfach nicht von dem Anblick losreißen. Wieder blitzte es vor ihren Augen - und auf einmal schwebte sie in einem dunklen, leeren ... Nichts? Ashlay ruderte mit den Armen, bewegte sich auf der Stelle und drehte sich. »Hallo?«
Rot leuchtende Kreaturen mit vielen Augen und schleimigen Körpern ohne Proportionen eilten unvermittelt von allen Seiten auf sie zu. Mäuler so groß wie Ladeluken öffneten sich und zeigten ihr schiefe, messerartige Zähne, die nach ihr schnappten. Ashlay schrie auf, riss schützend ihre Arme hoch - und hörte das Piepsen der medizinischen Geräte.
Sie zitterte und öffnete die Augen. Zimmer 1.83. Was ging mit ihr vor? Machten die Ausdünstungen eines besonders scharfen Reinigungsmittels ihr zu schaffen?
»Raus«, schnauzte der Arzt sie an und ließ sich von der Krankenschwester verschiedene Spritzen aufziehen. Er pumpte eine nach der anderen in das Fleisch rund um den Schnitt, der auseinanderklaffte, danach tupfte er die Wunde aus und wollte eben eine vierte Spritze in den Zugang an Güls Hand geben. »Haben Sie nicht verstanden?«
»Sofort, Doktor ...« Ashlay legte erschrocken eine Hand vor den Mund und drückte dabei ihren Mundschutz platt: Smith hatte die Augen geöffnet! Das Weiß darin war gegen ein fahles Grün ausgetauscht worden, die Pupillen wirkten wie funkelnder Onyx, und plötzlich schwollen die Adern an Hals und Händen an und färbten sich dunkler, als würde sich das Blut rapide verdicken. »Doktor«, sagte sie erstickt. »Seine Augen!«
Der Arzt warf ihr einen bösen Blick zu und wollte ihren Hinweis ignorieren, doch die Krankenschwester schaute hin und schrie entsetzt auf. Im selben Moment kreischten und pfiffen die Warnsignale der Monitore auf, weil sich die Vitalwerte weit über die Grenzen hinaus beschleunigten.
Ashlay kannte keinen Menschen, der einen Puls von vierhundert hatte, geschweige denn überstand. Smiths Körper schien einen Turbolader eingeschaltet haben, doch der Mann selbst lag einfach nur da - und starrte die Pflegerin an.
Ashlay wagte es nicht, den Blick abzuwenden; die erbosten Anweisungen des Arztes ignorierte sie. Und obwohl sie nicht mehr tat, als das Gesicht des Kranken anzustarren, verursachte dies einen stechenden Schmerz unmittelbar hinter ihrer Nasenwurzel, der sich von dort unaufhaltsam in ihrem ganzen Körper ausbreitete. Schlimmer musste es für die Krankenschwester sein, die direkt in seine merkwürdigen Onyxaugen blickte.
Der Arzt griff nach der Schulter der Pflegerin und rief erschrocken ihren Namen, doch die Frau fiel wortlos zu Boden, ohne die geringsten Anstalten zu machen, den Sturz abfangen zu wollen. Mit voller Wucht schlug sie mit dem Kopf gegen den Rahmen des Tischchens, riss es um und prallte auf den Linoleumboden.
Ashlay wartete nicht, bis sie Anweisungen bekam, sondern sprang sofort nach vorne und kümmerte sich um die Ohnmächtige. Kein Puls! Zuerst dachte sie, sie würde ihn wegen der Handschuhe nicht finden, und streifte sie ab. Doch auch ohne sie war nichts zu spüren. »Sie ist tot«, keuchte sie erschrocken und schaute nach dem Arzt.
Dessen Hand baumelte unmittelbar vor ihr vom Bett herab, und als sie sich halb aufrichtete, sah sie ihn über Güls Füßen liegen. Seine Lider waren zur Hälfte geschlossen, aus seinem Mund sickerte roter Schleim.
Purpurfarbene, dicke Ranken brachen plötzlich durch den Boden und wuchsen in rasendem Tempo in die Höhe, schlängelten sich an Ashlay entlang, durchbrachen die Decke und stemmten die sieben Stockwerke über der Inneren in den Himmel, als wären sie aus Kartonage; dann schleuderten die unendlich vielen Tentakel das Gebäude einfach zur Seite. Die Ranken platzten und gebaren weitere Zweige, die an überlange Gliedmaßen erinnerten - und alles durchdrangen, was ihnen im Weg stand. Ashlay spürte, wie sich zwei in ihre Brust und den Unterleib schlugen, sie schrie, bis ihr die Luft ausging -und war wieder in Zimmer 1.83. »Allah, hilf mir!« Ashlay musste plötzlich husten, ihr wurde schwindlig. Alle Kraft wich aus ihrem Leib, und sie rutschte auf Knien davon, um den Raum verlassen zu können. Unentwegt hustend, schob sie die Tür auf und wälzte sich hinaus auf den Gang, vor die Füße der zurückkehrenden Pflegerin. »Nicht... hinein ...«, würgte sie und hatte das Gefühl, dass sich ihre Lunge zersetzte. Es brannte in ihr, das Atmen fiel ihr immer schwerer.
Doch die Krankenschwester verstand sie nicht! Sie sah durch die Glasscheibe, erkannte ihre leblose Kollegin und den Arzt und stürmte in den Raum.
Ashlay verfolgte durch das Glas, wie sie nach einigen Schritten ins Taumeln geriet und zur Seite wankte. Vergeblich versuchte sie, bis zur Tür zurückzugelangen, brach zusammen, prallte gegen die Putzstation und warf sie um. Das rote Wasser ergoss sich über den Boden und schwemmte die verstreuten Spritzen durch den Raum. Über die Lippen der Schwester lief blutiger Schleim.
Ashlay zog sich die Maske von Mund und Nase und erkannte die roten Spritzer darin. Mit zitternden Fingern zog sie ihr Handy aus der Kitteltasche und rief das Stationszimmer an. Niemand durfte sich ihr oder dem Patienten ohne Schutzkleidung nähern.
18. November
Syrien, Luftraum über Syrien
Saskia starrte den Maitre an. Tausend Gedanken schössen ihr gleichzeitig durch den Kopf, aber(sie wusste nicht, was sie zuerst tun sollte. Sie bemerkte, dass sie noch immer dem syrischen Geheimdienstmann das Schwert an den Hals hielt, und sah sich zu ihm um. Justine saß wie eingefroren in ihrem Sessel. Der Ausdruck in ihren Augen war eine Mischung aus Hass und Furcht.
»Ich bin nicht euer Feind«, sagte der Maitre freundlich.
»Was dann?«, kam es unverzüglich über Saskias Lippen. Sie fühlte sich so desorientiert wie damals, als sie in der Kammer aufgewacht war. Damals? Es war erst zehn Tage her! Und doch schien es ihr so, als seien inzwischen Monate vergangen.
Der Mann kam auf die Frauen zu und setzte sich. »Ich möchte Ihnen beiden gern erklären, in was Sie hineingeraten sind, Frau Lange. Und dass Sie mich bald wieder los sind, wenn wir zusammenarbeiten.« Er langte vorsichtig unter sein Sakko und nahm ein gefaltetes Pergament hervor, das er auf den Tisch legte. »Ihr Freund hatte es bei sich. Und wie ich schon sagte: Er bekommt die beste medizinische Versorgung. Machen Sie sich keine Sorgen um ihn.« Saskia nahm das Schwert von Al-Utris Hals, setzte sich neben Justine und richtete die Spitze auf den Maitre. »Wer bist du wirklich?«, sagte sie heiser und beherrschte nur mühsam ihre Wut. »Was hast du mir angetan?«
»Mein Name ist Levantin. Ich nehme an, wir kennen uns inzwischen gut genug, dass ich Saskia sagen darf?« Er lächelte so entspannt, als würden sie sich gerade in einem Cafe kennenlernen, und faltete die Hände. Dann sagte er etwas auf Arabisch, und Al-Utri ging nach vorn in die Pilotenkanzel. »Dank eurer Kleingeistigkeit bemerkt ihr Menschen in den seltensten Fällen, wenn euch ein kostbares Geschenk gemacht wird«, sagte er bedauernd. »Wir haben uns vor nicht allzu langer Zeit in der Vergangenheit getroffen, korrekt? Ein hübsches kleines Paradoxon.«
Saskia nickte. »Im alten Palmyra, ja. Leider konnten wir dich dort nicht töten.« Levantin sah sehr glücklich aus. »Dann habe ich mich wirklich nicht getäuscht. Du bist meine Schöpfung - und all das, was in den letzten Jahrhunderten geschah, hatte nur den Sinn, dich zu finden«, sagte er. »Du, Saskia, bist der Grund, weswegen ich die union des lames gegründet habe. Deine überragende Fechtkunst in Palmyra verriet mir, wie ich dich zu mir locken können würde.«
»Was willst du von mir?«, fragte sie mit bebender Stimme.
Er betrachtete sie wie ein stolzer Vater. »Ich gehöre nicht in diese Welt, sondern möchte in meine Heimat zurück, aus der ich herausgerissen wurde. Du musst verstehen, dass ich nicht freiwillig hierhergekommen bin - ich bin, wenn man so will, ein Opfer der Menschen.« »Eine einfache Art, sich zu rechtfertigen«, gab sie verächtlich zurück.
»Ob du die Wahrheit annimmst oder ablehnst, ändert nichts an den Tatsachen.« Levantin öffnete eine Dose und trank. »Menschen haben mich in diese Welt geholt, und Menschen werden es sein, die mich nach Hause bringen werden. Wärst du damals nicht verschwunden, nun, du hättest mir viel erspart - und viele unnütze Tode verhindert.« Obwohl er seiner Stimme einen bedauernden Ausdruck gab, verriet sein Gesicht, dass ihn seine unzähligen Morde wenig berührten.
»Also hast du viele mit diesem Zeichen verflucht.«
»Ich durfte nicht nachlassen und nur darauf hoffen, dir eines Tages wieder zu begegnen. Aber sie taugten nichts. Die wenigen, die in der Lage waren, ein Portal für mich zu öffnen, vermochten nicht, dies zu steuern. Es gibt so viele Welten und Sphären, und nur eine, in die ich gehöre. Du aber«, er strahlte sie voller Selbstgefälligkeit an, »du bist mir am besten von allen gelungen.«
Saskia wünschte sich nichts(mehr, als ihm seine Arroganz mit Faustschlägen auszutreiben, doch sie ahnte, dass dies keine gute Idee war. Stattdessen musterte sie ihn eingehend. »So sieht also ein Dämon aus?« Levantin schüttelte den Kopf und lachte amüsiert. »Ich bin kein Dämon, und die Welt, aus der ich stamme, wird von euch Menschen recht selten mit dem Wort Hölle bezeichnet.« Er lächelte sie an. »Und doch steht so viel darüber in dem Buch geschrieben, an dem sich die Menschheit seit so langer Zeit mit viel Leidenschaft festhält: die Bibel.«
Justine lachte bitter auf. »Außerdimensionale oder Außerirdische in der Heiligen Schrift? Das ist so albern, dass es mir gefällt.«
»Buch Hiob, Kapitel achtunddreißig, Verse vier bis sieben«, zitierte Levantin. »Der entscheidende Satz lautet: als mich die Morgensterne miteinander lobten und jauchzten alle Gottessöhne.«
»Bitte?«
»Plural«, sprach er sanft. »Wenn du deiner Heiligen Schrift glaubst, hat der Gott, zu dem du betest, mehrere Söhne. Den einen, den ihr Jesus nennt, hat er zu euch geschickt. Aber wo sind die anderen? Und wo stecken die anderen Morgensterne? Wenn ich zum Himmel hinaufschaue, erkenne ich nur einen.«
»Sacre.« Justine sah ihn verblüfft an. »Soll das heißen ...«
»Möchtest du noch mehr Beweise aus der Bibel für die Existenz höherer Wesen?« Er überlegte. »Dann lies das erste Buch Moses: Da sahen die Söhne Gottes die Töchter der Menschen, wie schön sie waren, und sie nahmen sich von ihnen allen zu Frauen, welche sie wollten. Da sprach der HERR: Mein Geist soll nicht ewig im Menschen bleiben, da er ja auch Fleisch ist. Seine Tage sollen einhundertzwanzig Jahre betragen. In jenen Tagen waren die Riesen auf der Erde, und auch danach, als die Söhne Gottes zu den Töchtern der Menschen eingingen und sie ihnen gebaren. Das sind die Helden, die in der Vorzeit waren, die berühmten Männer.« Levantin lächelte. »Je nach Ausgabe der Bibel variiert der Text leicht, aber der Kern bleibt. Die Heilige Schrift berichtet von uns. Wer will es dann leugnen?« »Söhne Gottes, und du bist einer davon??«, sagte Saskia verächtlich. »Größenwahn trifft es besser!«
»Lies es selbst nach. Und wenn du das, was geschrieben steht, nicht wörtlich nimmst, sondern die wahre Bedeutung hinter den Zeilen verstehst, findest du genügend Hinweise auf höhere Wesen wie mich. Man muss sie nur erkennen.«
»Und warum glaubst du, dass diese Erkenntnis irgendetwas verändert?«
Levantin seufzte. »Ich möchte, dass du begreifst, dass ich nicht das bin, was du einen Teufel nennen würdest. Auch kein Dämon wie Belua. Ich bin ein Gefangener dieser Welt, der in seine Heimat zurückkehren möchte - und dafür deine Hilfe braucht.«
Er hob den Arm, und eine Stewardess, die sie bislang noch nicht zu Gesicht bekommen hatten, trat aus der Pilotenkanzel und brachte ihm einen Laptop, den er aufklappte und mit dem Bildschirm zu ihnen gedreht auf das Tischchen stellte. »Ich habe die Informationen aus dem Hauptquartier der Diener Beluas, die diese wiederum von Will Guls Bekannten gestohlen haben.« Der Computer fuhr aus dem Stand-by hoch. »Und viele, viele Informationen mehr.« Saskia und Justine blickten auf eine Fotografie der alten Tür aus der Villa, daneben befand sich eine Zeichnung, darunter eine exakte Aufschlüsselung der unterschiedlichen Sprüche und Zeichen. Hinter jedem Eintrag fand sich die passende Übersetzung.
Levantin trank die Dose leer und drückte sie zusammen, bis aus dem Blech ein massives Kügelchen von der Größe einer Murmel geworden war; es war(eine Handbewegung, mit der andere Papier zerknüllten. »Ich stelle euch diese Informationen zur Verfügung.« Er sah auf seine teure Uhr. »Wir haben noch ein paar Stunden, bis wir an unserem Ziel angekommen sind. Mein Helikopter ist zwar schnell, aber es ist recht weit.« »Wer sagt mir, dass das alles stimmt?« Saskia sträubte sich dagegen, mit Levantin zusammarbeiten zu müssen. Sie richtete das Schwert auf seine Kehle. »Ich könnte dich damit vernichten und die Artefakte selbst suchen.«
Levantin trug wieder sein triumphierendes Lächeln zur Schau. »Für diesen Fall habe ich darum gebeten, dass deinem Freund Will eine tödliche Injektion verabreicht wird, wenn ich mich nicht jede Stunde melde.«
Saskia arbeitete bereits fieberhaft an einem Plan. Sie würde den Professor schicken, um Will zu retten; er befand sich ohnehin in Palmyra. »Du bist eine Bestie!«
Levantin zeigte lächelnd auf Justine. »Nein. Sie ist eine.« Er nahm sein Handy, wählte eine Nummer und hielt das Display so, dass sie das Bild darauf erkannten: ein Krankenhauszimmer, in dem ein Mann, an viele Apparate und Schläuche angeschlossen, in einem Bett lag. »Ein LiveBild von einer Webcam«, sagte er. »Zwar kannst du nicht mit ihm sprechen, aber wenn du einen der behandelnden Ärzte interviewen möchtest ...«
Saskia schüttelte den Kopf.
»Was willst du mit den Artefakten?«, verlangte Justine zu wissen. »Ich dachte, Saskia sei alles, was du für deine Rückkehr brauchst?«
»Wie ich schon sagte: Es ist nicht einfach, das richtige Portal zu öffnen. Aber wenn Saskias Gabe sich mit der Macht der Artefakte vereinigt, sollte es möglich sein. Danach könnt ihr mit den Artefakten machen, was immer ihr wollt. Ich benötige sie nicht und wünsche den Menschen auch nicht den Besuch Beluas. Das hat niemand verdient.« Levantin sah Justine in die Augen und schenkte ihr ein Lächeln, das Saskia misstrauisch machte. Ein solches Lächeln tauschte nur aus, wer sich kannte. Sehr gut kannte. Sie ließ sich nichts anmerken.
Sicher war, dass sie vorerst das Spiel dieses Geschöpfs mitspielen musste. Sobald der Professor ihr gesagt hatte, dass sich Will in Sicherheit befand, und sie das letzte Artefakt gefunden hatten, würde Levantin durch ihre Hand sterben.
Eine Rückkehr würde sie ihm niemals erlauben. Das hatte er nicht verdient.
Sie senkte das Schwert, um ihm zu zeigen, dass sie eine Entscheidung zu seinen Gunsten getroffen hatte. »Wie werde ich dieses Zeichen und den Fluch los?«
»Mein Geschenk, die Erhöhung«, verbesserte Levantin gönnerhaft. »Willst du deine Gabe wirklich aufgeben? Du hast nicht einmal halbwegs erkundet, was du damit zu tun vermagst.« »Sie bringt mich dazu, Menschen zu töten und durch die Zeiten und Dimensionen zu stolpern.« Saskia lachte böse auf. »Das ist keine Erhöhung.«
»Weil du nicht verstehen willst, wie weitreichend diese Gabe ist, Saskia.« Er beugte sich vor. »Nicht einen Bruchteil hast du verstanden«, sagte er anklagend. »Du hast in deiner eingeschränkten Sicht nur das Schlechte gesehen, das Brachiale, das leicht abzurufen ist. Ich aber habe Menschen mit dieser Gabe zu überragenden Führern von Stämmen, Völkern und Nationen gemacht!«
»Bien sur«, meinte Justine belustigt.
Sein Mund wurde schmal. Anscheinend hatten sie einen wunden Punkt getroffen. »Was wärt ihr Menschen ohne Autorität?«, fragte er herausfordernd. »Ein Haufen Wilder, der lebt, um zu jagen, zu ficken und zu sterben, der irgendwann einmal zufällig etwas an die Wand schmierte, was man heute für Kunstwerke hält und darin damals wie heute seine Überlegenheit gegenüber den Tieren erkennen möchte.« Er öffnete eine zweite Dose Cola. »Die Gabe öffnet nicht nur Portale. Sie kann Situationen, Konflikte und Spannungen öffnen, Auswege zeigen, Menschen zum Nachdenken bringen.«
»Manipulieren«, fiel ihm Saskia ins Wort.
»Nein. Katalysieren«, präzisierte er. »Wenn sie weise eingesetzt wird, eröffnet sie in Verhandlungen großartige Möglichkeiten und Lösungen, weil sie den Verstand der Menschen öffnet und sie nicht engstirnig auf einer Sache beharren lässt.« Levantins Augen bekamen einen goldenen Schimmer. »Wann immer in der Geschichte vom Charisma berühmter Staatsmänner die Rede ist, kannst du davon ausgehen, dass es nicht von ungefähr kam. Glaubst du wirklich, ein Mensch wie Gandhi hätte es nur wegen seiner Gewaltlosigkeit so weit gebracht?« Er seufzte. »Du hast deine Gabe einfach nicht verstanden.«
»Soweit ich weiß, war Gandhi kein Fechter«, merkte Justine an. »Wie soll er das Zeichen bekommen haben?«
»Wer sagt, dass er Besuch von mir hatte?«, gab Levantin lässig zurück. »Ich bin nicht der einzige Wanderer, der in dieser Welt gefangen ist.«
Justine schnaubte. »Lass mich raten: Einer von euch ist ein Tätowierer geworden, richtig? Und hinter diesem merkwürdigen Trend des Brandings steckt etwas ganz anderes?« Levantin zuckte mit den Schultern. »Gar kein so abwegiger Gedanke.«
Saskia merkte, wie ihre Überzeugungen ins Wanken kamen. Sie rief sich ins Gedächtnis, dass man Levantin nicht trauen konnte, ganz egal, was er nun war und was nicht. »Ich habe keine Antwort bekommen«, erinnerte sie ihn.
Er lächelte sie an. »Wenn du deine Gabe wirklich loswerden willst, sage ich dir das - in dem Moment, in dem ich durch das Portal schreite.«
Er ließ sich von ihr das Buch des Mönchs und die beiden Seiten aus dem Villensafe geben. Dafür stellte er Wills Satellitentelefon auf den Tisch, nickte ihnen zu, erhob sich und ging nach vorn in die Pilotenkanzel. »Falls der Sir anruft«, sagte er im Gehen und war verschwunden. Justine sah Saskia an. »Und?«
»Wir machen mit.« Sie nahm das Handy und ging zur Toilette, um unbelauscht telefonieren zu können. »Aber wir spielen nach meinen Regeln.«
XXIV. KAPITEL
19. November
Unbekannter Luftraum
Als Saskia telefonieren ging, blieb Justine allein mit ihren Gedanken zurück; schreckliche Gedanken, verwirrend und kompliziert. Sie hasste Levantin, durfte ihn jedoch nicht umbringen, obwohl sie kaum einen sehnlicheren Wunsch verspürte.
Justine ekelte sich vor sich selbst. Mit dieser Kreatur hatte sie geschlafen, und es halle ihr auch noch gefallen! War das vor oder nach dem Mord an den Schwestern gewesen? Nein, sie durfte sich diese Fragen nicht stellen, um sich selbst zu schützen.
Levantin kehrte unvermittelt zu ihr an den Tisch zurück. Er blieb neben ihr stehen, griff in die Sakkotasche und hatte etwas in seiner Faust. »Ehe ich es vergesse: Ich habe ein Geschenk für dich.«
»Steck es dir in deinen ...«
»Du wirst es mögen.« Levantin legte es vor ihr hin.
Justines Mund klappte auf. Vor ihr lag der Rosenkranz von Faustitia. Sie erkannte ihn sofort, jede kleine Perle, jede Riefe, jede Feinheit im Kruzifix.
»Ich habe es reinigen lassen«, hörte sie Levantin sagen. »Und den hier auch.« Dem Rosenkranz folgte Faustitias Siegelring. Niemals hätte sie sich freiwillig davon getrennt. Damit war der letzte Rest Hoffnung auf ein Wiedersehen erloschen. »Es war noch Blut dran. Ich dachte mir, dass es ein schönes Andenken wäre.« Seine Stimme klang ehrlich - und Justine starrte ihn fassungslos an. Er machte sich keinerlei Gedanken wegen des Todes der Nonnen, und er schien nicht einmal im Ansatz zu verstehen, was das für sie bedeutete. Menschen und Gefühle waren ihm einfach nur gleichgültig.
Die Bestie in ihr kreischte vor Zorn, und Justine sprang unvermittelt hoch und über den Tisch hinweg auf Levantin. Sie hatte sich mit genügend Kraft abgestoßen, um ihn trotz seines Gewichts umzureißen. Schreiend schlug sie immer wieder in sein Gesicht, bis er sie mit einem Arm nach hinten stieß. Es war eine lässige, überlegene Bewegung.
Justine fiel auf den Rücken, zog die Pistole - und feuerte die letzten vier Schüsse ab, die ihr noch geblieben waren.
Jetzt schrie Levantin, vor Schmerzen, vor Wut und vor gekränkter Eitelkeit. Die Kugeln trafen ihn in Hals und Kopf, und er verstummte; Blut spritzte durch die Kabine, die Geschosse rissen große Löcher. Er sank zurück.
Bevor sie sich auf ihn werfen konnte, stand Al-Utri in der Kabine, seine Waffe im Anschlag. Ein Schuss in ihre rechte Kniescheibe verhinderte, dass sie sprang. Justine knickte ein. »Aufhören!«, befahl Levantin, setzte sich auf, wischte sich das Blut vom Hals und betrachtete seine blutige Hand. Die Löcher schlossen sich bereits. Er war regenerationsfähig, wie sie selbst. »Es ist nichts geschehen«, sagte er bebend zu Al-Utri und beherrschte sich. Es war der falsche Moment für eine Strafe.
Saskia war hereingestürmt und schob sich schützend vor Justine, die weinend am Boden saß. »Es ist zu viel geschehen«, raunte Saskia und blieb stehen, bis sich Levantin und der Syrer zurückgezogen hatten. Dann half sie Justine auf die Sitzbank und erblickte den Rosenkranz und den Siegelring. Sie ahnte, wem sie einst gehört hatten, und legte den Arm um Justines Schulter. Justine schluchzte und nahm den Rosenkranz in die rechte, den Siegelring in die linke Hand. Der schwache Geruch von verbranntem Fleisch durchzog die Kabine. Das Silber wirkte auf Justines Hände und quälte sie, aber sie war nicht bereit, loszulassen.
Der Helikopter landete auf dem Rasen eines kleinen Sportflugplatzes. Saskia schaute aus dem Fenster und hatte keine Ahnung, wo sie sich befanden. Die Nummernschilder der wartenden Transporter verrieten es ihr: Deutschland. Sie waren tatsächlich weit geflogen. Sie nahm das Schwert und bemerkte, dass sich seine Farbe verändert hatte. Das Material wurde dunkler, verfärbte sich teilweise schwarz. War das eine Reaktion auf die anderen Artefakte in seiner unmittelbaren Umgebung? Schlossen sich bereits erste Energieströme zusammen? Nach wie vor prickelten Saskias Fingerkuppen, wenn sie die Klinge berührte.
Sie hatte die bereitgelegte Wechselkleidung in Anspruch genommen und trug nun bequeme schwarze Jeans, darüber ein weißes Shirt und einen gelben Pullover. Die syrische Armeejacke behielt sie an, auch wenn sie nicht dazu passte.
Justines Augen und Gesicht waren leicht gerötet. Seit sie die Andenken an die Nonnen in die Tasche der Armeejacke geschoben hatte, schwieg sie. Im Gegensatz zu Saskia hatte sie ein schwarzes Outfit ausgesucht, Cargohosen, Cargohemd und ein schwarzes Halstuch. Die dazu passende Armeejacke stand ihr ausgezeichnet.
Levantin hatte seinen blutbefleckten Anzug gegen einen neuen ausgetauscht und sah darin aus wie ein Millionär auf Geschäftsreise. Er war der Erste, der von Bord und die kleine Treppe nach unten ging. »Zieht den Kopf ein«, warnte er sie und eilte unter den schwirrenden Rotoren hindurch zu einem VW Tuareg, der auf sie wartete. Er hatte alles organisiert und für einen reibungslosen Ablauf gesorgt.
Als Saskia und Justine ebenfalls zum Tuareg gingen, fielen ihnen sechs Männer in Straßenkleidung auf, die Sporttaschen mit sich trugen; sie liefen in lockerem Trab auf einen Transporter zu, der in einigem Abstand zum VW gehalten hatte. Justine vermutete, dass sich Levantin noch ein paar Söldner mit Gewehren besorgt hatte. Für alle Fälle.
Sie stiegen in den Fond, Levantin hatte neben dem Fahrer Platz genommen und gab ihr Ziel in das Navigationsgerät ein. Homburg, Rabenhorst.
»Wir fahren jetzt zu einem Hügelgrab, in dem wir hoffentlich den Zahn finden«, gab Levantin bekannt. »Die Herrschaften, die uns begleiten werden, übernehmen die Aufgabe des Grabens für uns. Sollte sich auf unserer Baustelle Besuch einstellen, der nichts bei uns verloren hat, werden sie ihn etwas auf Abstand halten.«
Es waren nur wenige Kilometer bis zu ihrem Ziel. Saskia schwieg und sah aus dem Fenster. »Das Buch des Mönchs war nicht sehr aufschlussreich. Geschmiere über die Herkunft des Schwertes, nichts von Bedeutung«, sagte Levantin beiläufig zu ihnen. »Falls es euch interessiert: Der Zahn gelangte vor nicht allzu langer Zeit erst zurück in das Grab. Er war bis 1979 als Exponat in einem Londoner Museum ausgestellt, von wo er plötzlich verschwunden ist, ohne dass Alarm ausgelöst wurde. Die Bêlualiten haben das Grab als wahrscheinlichsten Punkt errechnet, an dem er auftauchen wird«, erklärte er.
Es war kurz nach 21 Uhr, und viel Zeit blieb ihnen nicht mehr. Bis zum 20. November mussten sie die Artefakte zusammenhaben. Sie schienen auf dem besten Wege dazu zu sein, aber ob der Sir den Fahrplan einhielt, wusste sie nicht. »Gib mir das Satellitentelefon«, sagte Saskia. Justine reichte es ihr. Saskia drückte die Wahlwiederholung. Das Display blieb dunkel, die Batterie war leer.
Ein Ortsschild huschte in der stärker werdenden Dunkelheit vorbei, und sie meinte Altstadt gelesen zu haben, als sie durch ein kleines Dörfchen fuhren. Danach schwenkte der Wagen auf eine breite, gut ausgebaute Landstraße ein, die in gerader Linie auf einen Berg mit beleuchteten Festungsruinen und einem Hotel zuführte.
Saskia hatte darüber nachgedacht, ob sie ein Portal öffnen sollte, um sich nach Syrien zurückzubringen und Will zu retten - doch erstens wusste sie nicht, wo sich das Klinikum befand, und zweitens konnte Levantin sie angelogen haben, Live-Web-cam hin oder her. Regen setzte ein, der heftiger wurde und laut gegen das Blech und die Scheiben prasselte. Saskia wünschte sich, dass der Professor ihr eine SMS schrieb und sie informierte, dass er Will gefunden und gerettet hatte. Sein Anblick auf dem Bett, gespickt mit Schläuchen und Levantins Handlangern ausgeliefert, hatte sie sehr mitgenommen, doch die erste Sorge musste zunächst ihrem Auftrag gelten. Ihre Hände schlossen sich um das Pergament. »Zeig mir noch einmal die anderen Artefakte«, verlangte sie von Justine.
»Warum?«
Der beleidigte Tonfall machte sie stutzig. »Gib sie mir einfach.« »Traust du mir nicht?« Saskia lächelte sie an und hielt die Hand auf. »Mehr denn je, Justine.« Die Französin reichte ihr das kleine Päckchen, und Saskia verstaute es in ihrer Armeejacke. »Danke. Du bekommst es wieder.«
Der Tuareg durchquerte eine Siedlung und bog auf einen asphaltierten Waldweg ein, das Hinweisschild Zum Rabenhorst erschien im Licht der Scheinwerfer und verschwand gleich wieder. Dann rollte der Wagen von (der Straße auf einen Waldweg, ohne das Tempo zu drosseln. Sie donnerten über die holprige Strecke, bis der Fahrer auf Anweisung Levantins anhielt. Der Transporter tat das Gleiche hinter ihnen.
»Wir sind da«, meinte Levantin und stieg im strömenden Regen aus. Er zog nicht einmal die Schultern hoch, sondern ging ins Unterholz seitlich des Wegs.
Die Männer folgten ihm. Sie trugen Regenmäntel, Grabwerkzeug und wieder die Sporttaschen. Einige schalteten große Handlampen ein, deren Strahlen grell zwischen die Büsche stachen. Saskia und Justine verließen den Wagen ebenfalls.
Nach einigen Metern durch den Wald erreichten sie eine Erhebung, die ein Laie niemals als Hügelgrab identifiziert hätte; Levantin schon.
Er stellte vier Mann zum Graben ab, die beiden anderen öffneten die Sporttaschen, nahmen Sturmgewehre heraus, luden sie durch und hielten sie im Anschlag. Saskia hatte keine Ahnung, was für Fabrikate es waren, aber sie sahen einschüchternd aus.
Die anderen Männer streiften sich Handschuhe über und legten das Grab frei. Drei von ihnen schippten und wuchteten die Erde aus dem Boden, ein vierter hatte ein tragbares Sieb aufgebaut und durchsuchte damit den feuchten, sandigen Grund.
Die monotonen Geräusche des Schippens und des Regens gingen ineinander über. Gelegentlich fuhren Autos auf der Straße vorbei, die zum Rabenhorst führte, und die Wächter gaben noch mehr acht. In der Ferne bellte ein Fuchs, mal raschelte es im nassen Laub, aber echte Störungen gab es keine.
Die Zeit verstrich quälend langsam.
Die Frauen sahen, wie der Mann am Sieb Münzen, Schmuck und andere metallene Gegenstände in die Höhe hielt, und Levantin gestattete ihm mit einem Nicken, sie einzustecken. Ein kleiner Zusatzverdienst.
»Die Gegend hier ist bekannt für Keltengräber«, sagte Levantin. »Die meisten sind noch nicht untersucht und gut verborgen, damit sie nicht von Schatzsuchern geplündert werden. Ich wusste dank der Koordinaten, wo ich zu such...«
Ein Schuss peitschte, einer der Bewaffneten fiel zu Boden und hielt sich den rechten Oberschenkel. Die vier anderen duckten sich in ihrer Mulde in die nasse Walderde, einer zog die Sporttasche zu sich und verteilte die restlichen Gewehre. Saskia und Justine drückten sich gegen die nächstbesten Baumstämme. Levantin blieb gelassen und schaute in die Dunkelheit. Ein zweiter Schuss, und dieses Mal sahen sie das Mündungsfeuer. Der Schütze hatte sich aus der entgegengesetzten Richtung ihrer Position genähert. Somit hatte er die Straße und den dortigen Aufpasser umgangen. Levantins nächster Mann ging schreiend zu Boden; die Kugel hatte sein Knie zertrümmert.
»Sucht weiter«, befahl Levantin und ging so gelassen los, als müsse er in einem Pub nur rasch zur Bar. »Ich kümmere mich um ihn.«
Saskia sah Justine an. »Was tun wir?«
»Abwarten.« Sie schaute zu den Männern hinüber, die zögernd die Arbeit wieder aufgenommen hatten, die Köpfe tief eingezogen. »Ohne den Zahn gehen wir hier nicht weg, egal was passiert.«
Mehrere Einzelschüsse erklangen, die Projektile flogen jedoch nicht in ihre Richtung; dann wurden Salven daraus. Schlagartig wurde es zwischen den Stämmen hell, ein unnatürlich rotes Licht erstrahlte. Ein Windstoß wirbelte das nasse Laub auf, warm jagte die Böe durch den Wald. Es roch nach verbranntem Fleisch.
Die Männer in der Grube hielten wieder inne. Justine und Saskia sahen sich an. Schritte näherten sich, der Aufpasser leuchtete mit der Handlampe und riss einen Mann aus der Dunkelheit. Saskia schätzte ihn auf Mitte fünfzig. Er trug olivfarbene Kleidung, darüber einen Poncho samt Kapuze und wirkte darin wie ein Jäger. Sein Gesicht wies Spuren von Schlägen auf, die Haut am silbrigen Kinnbart war aufgeplatzt und färbte den Bart rot. Er hielt eine automatische Schrotflinte im Anschlag, unter dem Lauf befand sich ein zweiter, dickerer.
»Das ist ein Unterlaufgranatwerfer«, sagte er laut auf Deutsch mit britischem Akzent. Es war der Sir! »Ich werde ihn einsetzen, wenn einer der Gentlemen denkt, er müsste auf mich schießen.« Er schwenkte mit der Mündung über sie. »Legen Sie die Waffen vor sich auf den Boden, und arbeiten Sie weiter. Wir suchen alle den gleichen Gegenstand.« Ohne die Augen von den Söldnern zu wenden, sagte er: »Hallo, Ladys.«
Justine sah sich um. »Wo ist Levantin?« Sie hob ein Sturmgewehr auf, prüfte es kurz und richtete den Lauf auf die Grube.
»Er bekam unerwartete Schwierigkeiten«, gab der Sir zurück. »Sie haben das Schwert, Haar und das Pergament, ich das Monokel. Sobald wir den Zahn in unserem Besitz haben, sind alle Artefakte versammelt. Dann können wir dafür sorgen, dass sie verschwinden.« »Was ist mit Levantin, Mister MacKenzie?«
»Sie haben meinen Namen herausgefunden?«
»Ja, über Ihre ehemaligen Freunde, die Consciten«, gab sie zurück.
»Ich warne Sie: Wenn Sie mit denen kooperieren, dann ...«
»Nein, das tun wir nicht. Außerdem haben sie sich schon lange nicht mehr blicken lassen.« Saskia sah den Mentalisten an. »Sagen Sie endlich, was Sie mit Levantin gemacht haben?« »Es gibt Abwehrmöglichkeiten, die sowohl dämonische als auch magische Kreaturen vernichten können. Damit hat der Kerl nicht gerechnet«, erklärte er. »Es dauerte etwas, bis ich erkannte, was er ist. Zuerst hielt ich ihn für einen Menschen.«
»Haben Sie ihn vernichtet?« Justine konnte es nicht fassen. »Das rote Licht eben im Wald ...« »Davon gehe ich aus.« MacKenzie beobachtete die grabenden Männer ganz genau. »Wo ist Herr Gul?«
»In Syrien«, antwortete Justine. »Er ist schwer verletzt worden, als wir das Pergament geborgen haben. Wir müssen ihn befreien, bevor ...«
»Hey! Ich habe es, glaube ich.« Der Mann am Sieb hielt etwas Schwarzes in die Höhe, reinigte es grob in einer Wasserpfütze und warf es MacKenzie zu, der es mit einer Hand auffing und dann betrachtete. Justine übernahm so lange die Überwachung der Arbeiter, die mit dem Schippen aufgehört hatten.
MacKenzie musste nichts sagen, man sah ihm die Ergriffenheit an. »Geschafft«, flüsterte er und musterte den Zahn eindringlich. »Ich danke den Göttern, dass sie uns beistanden! Das Opfer meiner Ahnen war nicht umsonst.«
Saskia spürte, dass das Schwert seine Ausstrahlung veränderte und stärker wurde. Die Macht dehnte sich weiter aus. Sie hatten die Artefakte in Gänze zusammengetragen. Harmlos in ihrer eigentlichen Gestalt, doch zusammengesetzt gefährlicher als sämtliche Kernwaffen der Welt. Sie verstand, dass sie auf der Stelle zum Marianengraben reisen musste. Gleichzeitig wollte sie jedoch Will aus dem Krankenhaus und den Händen von Levantins Ärzten befreien. MacKenzie steckte den Zahn ein und nickte hin zur Straße. »Wir haben ein neues Ziel, den Pazifischen Ozean.«
Ein Schatten sprang von einem Baum herab, prallte gegen ihn und schlug ihn nieder. Sofort darauf warf er sich auf Levantins Leute und wütete unter ihnen, einer nach dem anderen fiel mit aufgeschlitzter Kehle zu Boden. Zeit für eine Gegenwehr war ihnen nicht geblieben. Auch Justine wurde getroffen, flog etliche Meter durch die Luft und schlug hart auf. Die Strahlen der umherliegenden Handlampen leuchteten wirr in alle Richtungen, mal senkrecht nach oben, mal schräg, mal flach über den Boden. Dann schnellte der Schatten vor Saskia hoch und trat genau in einen der Lichtkegel. Sie erkannte - Marat!
Der Vampir hielt lange, blutverschmierte Dolche wie eine Schere gekreuzt an ihren Hals. »Jetzt bekomme ich also nicht nur mein Schwert wieder«, knurrte er. Seine Haare waren noch immer rot, und er zeigte seine langen Zähne, um sie einzuschüchtern. »Nimm die Artefakte langsam aus deiner Jacke. Wenn ich merke, dass du den gleichen Trick versuchst wie am Flughafen, verlierst du deinen Kopf.« Er verstärkte den Druck.
Saskia tat, was er von ihr verlangte, allerdings in Zeitlupentempo, um nachdenken zu können. »Was willst du damit?«
Er lächelte. »Vielleicht Erlösung?«
»Wenn du sterben willst...«
»Sicher nicht! Ich werde Ketten sprengen«, grollte er und kam mit seinem Gesicht näher an ihres. »Ich werde ein freies Geschöpf werden, ohne an Herren gebunden zu sein. Du weißt, was ich meine?« Er ritzte ihr die Haut an beiden Stellen der Kehle auf. »Das geht mir zu langsam. Beeil dich.«
Saskia vermutete, dass er ebenso an einen Dämon gebunden war wie Justine. Konnten ihn die Artefakte freikaufen?
»Was sagt dir der Name Frans Hohentgar?«, fragte sie, um Zeit zu gewinnen. Marat sah überrumpelt aus. »Woher kennst du diesen Namen?«
»Du bist ihm also begegnet?«
Der Vampir lachte schallend. »Nein, so alt bin ich nicht. Aber meine Mutter«, er spie angewidert aus, »kannte ihn und wurde von ihm im Messerkampf unterrichtet.« Er betrachtete sie. »Was hast du mit diesem Mann zu schaffen?«
Sie war sich nicht mehr sicher, ob es klug gewesen war, in ihrer Vergangenheit zu wühlen. »Ich habe seinen Namen gehört, als von den Kindern des Judas die Rede war«, wich sie aus. Aber der Vampir ahnte, dass mehr hinter der Frage steckte.
»Bist du eines seiner Kindeskinder?« Er grinste. »Welche Fügung! Sollte ich meine Mutter jemals finden, werde ich ihr berichten, dass ich eine Nachfahrin ihres Meisters getötet habe.« Mit diesen Worten ließ er die Schere zuschnappen - aber Saskia hatte in der Zwischenzeit das Schwert unbemerkt so manövriert, dass sie es senkrecht nach oben stechen konnte und Marats Schneiden aufhielt. Die Schnitte, die sie erhielt, waren schmerzhaft, aber oberflächlich. Marat fluchte und sprang zurück. Saskia hielt ihn mit geschwungenen Hieben auf Abstand, um ihre eigene Ausfallserie zu beginnen. Allerdings musste sie feststellen, dass der Vampir viel zu schnell war und sich einen Spaß daraus machte, mit ihr zu spielen. Er umrundete sie und entging dabei stets ihren Attacken. Ab und zu fügte er ihr flache Schnitte in Oberarme und Schultern zu, um sie zu reizen.
Saskia holte aus - und hielt inne, als sie die Veränderung der Hornklinge sah. Das Artefakt war schwarz geworden und schimmerte an manchen Stellen porös. Die Intarsien waren fest, wie es sich für Metall gehörte, aber an einigen Stellen herausgebrochen.
»Nein«, flüsterte sie entsetzt. »Das ist ...«
Marats harter Hieb gegen ihre rechte Wange warf sie auf die Erde, und sie verlor das Artefakt. Der Vampir griff es sich sofort, wie sie im Liegen sah, und starrte es an. »Was hast du damit gemacht?«, schrie er wütend, während er es in einen Lichtstrahl hielt und genau betrachtete. »Es ist zerstört! Es zersetzt sich.« Er warf es weg und schmiss auch die übrigen Artefakte auf den Boden, dann wandte er sich mit hasserfülltem Blick zu ihr um. »Du hast mir die Freiheit geraubt!« Er setzte zum Sprung an.
Wie aus dem Nichts stand der nackte Levantin neben ihm, riss das Schwert hoch und rammte es ihm durch den Bauch. Er zog es schräg nach oben, trat dem Vampir gegen die Brust, so dass er nach hinten geschleudert wurde, und sprang dem Stürzenden hinterher. Im Flug holte er zum beidhändigen Schlag gegen den Hals aus; seine Augen strahlten golden.
Das Schwert senkte sich in Marats Adamsapfel, glitt weiter nach unten und hatte den Nacken fast erreicht. Der Vampir wurde durchscheinend, die Kleidung fiel leer herab, und die Klinge stach in den weichen Waldboden. Der Vampir hatte sich in letzter Sekunde vor dem Enthaupten gerettet! Levantin erhob sich, beide Hände um den Griff geschlossen und hochkonzentriert. Aber der Gegner ließ sich nicht mehr blicken.
Levantin ging zu dem bewusstlosen MacKenzie und trat ihm ins Genick. Es brach auf der Stelle. Dann zerschmetterte er den Kopf des Mentalisten mit einem zweiten Tritt. Knackend barst der Schädel, und die Knochen bohrten sich in den Waldboden. »Du wirst es nicht wieder wagen, mich anzugreifen«, sagte er verächtlich, seine Augen leuchteten noch immer. »Deine Macht genügt nicht, um mich zu vernichten, Mensch!«
Saskia stemmte sich in die Höhe, sah sich um und betastete dabei ihre Kehle und die Wunden. Sie bluteten leicht, aber nicht so sehr, dass der Körper damit überfordert war. Ein paar unsichere Schritte, dann fiel sie neben Justine auf die Knie. Ihre Freundin sah unversehrt aus, auch wenn eine Blutspur an ihrem Kopf zeigte, dass sie schwer verletzt worden war, bevor sie ohnmächtig wurde und ihre Heilungskräfte die Wunde schlossen.
»Was ...«, setzte Saskia heiser an und räusperte sich. Sie war sich merkwürdig sicher, dass Levantin ihr nichts tun würde. »Was ist mit dem Schwert geschehen?«
Levantin suchte die Leiche des Sirs nach dem Monokel ab und fand es mit einem zufriedenen Brummen. Er legte es zusammen mit dem Zahn und dem mit den Haaren umwickelten Pergament auf seine Handfläche, um alles zu betrachten. »Ich weiß es nicht.« Er nahm sich einen Mantel von einem der Toten, zog ihn an und steckte die Artefakte in die Tasche. Mit der flachen Hand fuhr er die breite Seite des Schwertes entlang. »Es sieht um Jahrhunderte gealtert aus.«
»Marat hatte recht: Es zersetzt sich.« Sie war froh darüber. Damit war es unmöglich, das Blutportal zu öffnen. Weder für Belua noch für sonst jemanden. Und sie, das schwor sich Saskia, würde sich nicht zwingen lassen, ein Portal für Levantin zu erschaffen. Sie würde ohnehin nicht wissen, welche Dimension die seine war.
Levantin hielt die Waffe ins Licht und fuhr mit dem Daumen prüfend die Schneiden entlang, ohne sich zu verletzen. »Ich weiß, was geschehen ist«, sagte er dann erleichtert und ging zu den beiden Frauen. »Noch ist es nicht zu spät.« Ansatzlos schlug er Saskia mit der Faust gegen den Kopf, und sie brach zusammen.
19. November
Deutschland, Homburg
»Wach auf!«
Die schneidende Stimme riss Saskia aus der Schwärze der Bewusstlosigkeit; irgendetwas prasselte nass in ihr Gesicht. Plötzlich wurde sie hochgehoben und ein Stück getragen. Sie riss die Augen auf.
»Na endlich!«, knurrte Justine, die sie aus dem strömenden Regen unter einen schützenden Baum geschleppt hatte, und ließ sie recht unsanft zu Boden fallen. »Was ist passiert? Wer hat uns angegriffen?«
»Zuerst Marat, dann Levantin«, sagte Saskia und rieb sich das schmerzende Kinn. Ihre Kleidung war nass, und langsam wurde ihr die Kälte bewusst, die in ihre Knochen kroch.
»Er ist nicht tot?«, fragte Justine wütend.
»Keiner von beiden«, seufzte Saskia. Sie berichtete, was passiert war, dann warf sie einen Blick auf ihre Uhr. »Verdammt, Levantin hat schon zu viel Vorsprung. Jetzt, da er alle Artefakte beisammenhat, könnte er überall sein.«
»Alors, dann gibt es nur einen Weg, ihn zu finden, richtig? Wir brauchen unseren Finder-Inder. Kannst du uns ein Portal zu ihm öffnen?« Justine sah zu, wie Saskia sich konzentrierte, die Augen dabei fest zusammenpresste - doch nichts tat sich.
»Ich schaffe es nicht«, gab Saskia sich geschlagen.
»Hat er dir deine Gabe etwa schon genommen, jetzt, wo er die Artefakte hat?« »Nein, ich glaube nicht.« Saskia schüttelte den Kopf. »Ich spüre sie noch in mir, aber ... sie scheint im Moment... blockiert zu sein.« Sie fühlte immense Schmerzen in ihrem Schädel, als versuchte das Gehirn, den Knochen zu sprengen. Es konnten die Folgen des Schlags sein, den sie von Levantin bekommen hatte. Justine begann, MacKenzies Leiche zu durchsuchen, bis sie einen Zimmerschlüssel fand, auf dem Hotel Rabenhorst aufgedruckt war. Außerdem hatte er einen Autoschlüssel bei sich.
»Kann nicht weit von hier sein.« Saskia zeigte auf die Straße. »Ich habe einen Wegweiser gesehen. Wenn wir das Hotel finden, haben wir einen Wagen. Das muss für den Anfang reichen.« Sie rannten und stolperten durch den Wald, bis sie auf die Straße trafen, folgten ihr und standen bald auf dem Parkplatz des Hotels. MacKenzie hatte sich einen BMW geliehen. Der PS-starke Wagen verriet sich durch das Aufflammen der Blinker, nachdem Saskia auf dem Knopf der Fernbedienung herumgedrückt hatte.
Saskia stieg zitternd ein und ließ Justine auf den Fahrersitz.
»Lass uns versuchen, am Landeplatz des Helikopters irgendetwas herauszufinden. Ich sage dir, wohin wir müssen.« Dann drehte sie die Heizung auf volle Leistung.
»Ich habe mir den Weg gemerkt«, gab Justine zurück und fuhr mit quietschenden Reifen los. Während sie mit hundertvierunddreißig Stundenkilometern über die nasse Landstraße schössen, suchte sie im Handschuhfach nach einer Zigarette. »Wir hätten ihn in der Vergangenheit töten sollen, ohne Duell. Aber aufgeschoben ...« Sie ließ das Sprichwort unvollendet. »Was machen wir, wenn wir keine Spur finden?«
Saskia sah die Laternenmasten an sich vorbeifliegen. Ein Wunder, dass Justine bei dem Regen überhaupt noch erkannte, wohin sie fuhr. Die Scheibenwischer arbeiteten auf Hochtouren. »Levantin weiß, was mit dem Schwert geschehen ist«, grübelte sie. »Was ist, wenn das etwas mit Will zu tun hat?«
Justine zog die Handbremse, ließ den BMW um die Kurve driften, bog in die nächste Straße ein und überholte drei hintereinanderfahrende, langsamere Wagen. »Dann ist auch er auf dem Weg nach Syrien. Wir brauchen so schnell wie möglich einen Flug dorthin. Wo ist der nächste Flughafen?«
Saskia zog ihr Handy aus der Tasche und bemerkte, dass sie eine SMS erhalten hatte. »Der Professor! Er schreibt, er hat das Krankenhaus entdeckt, in dem Will liegt«, sagte sie erleichtert. »Ich rufe jetzt die Auskunft an und ... Justine, pass auf!«
Sie rasten auf eine Kreuzung zu - und auf der stand ein Lastwagen, der durch seine Länge jedes Vorbeikommen verhinderte! »Merde!«, brüllte Justine und stemmte die Füße auf die Bremse, doch bei inzwischen zweihundertelf Stundenkilometern war der Aufprall unvermeidlich. Der regennasse Asphalt verwandelte die Straße in eine Rutschbahn.
»Und das ohne eine Kippe«, knurrte Justine und machte sich für den bevorstehenden Aufprall bereit.
Saskia konnte nicht anders, als sich mit beiden Händen am Sitz festzukrallen. Der Homburg Werbeaufdruck auf dem Bus, der unaufhaltsam größer wurde, brannte sich in ihren Verstand ein und löschte jeden anderen Gedanken aus.
XXV. KAPITEL
20. November
Syrien, Damaskus
Niemand hielt den gutgekleideten Herrn auf, als er das Siegel mit dem Aufdruck Biohazard an der Stationstür aufbrach und die Quarantänestation der Inneren Medizin betrat. Levantin war auf Schleichwegen ins Gebäude gelangt. Die Medien belagerten die Klinik, weil sich herumgesprochen hatte, dass darin ein Patient lag, der Symptome jener Seuche aufwies, die im deutschen Hamburg ausgebrochen war und dort inzwischen über dreihundert Tote gefordert hatte; weitere zweitausenddreihundert Menschen galten als infiziert. Allerdings, das hatte Lcvantin im Radio auf dem Weg zur Klinik gehört, warnten erste Labors vor dem Erreger in Damaskus: Er war um das Vierzigfache aggressiver als sein Verwandter in der Hansestadt. Eine Überprüfung des Namens Anil Smith hatte ergeben, dass es diese Person eigentlich nicht gab. Dies führte zu weiteren hitzigen Spekulationen.
Levantin trug das verpackte Schwert in der Rechten, die Linke hielt er in der Sakkotasche um die übrigen Artefakte geschlossen.
Summend schlenderte er den Flur entlang, bis er vor Zimmer 1.83 angekommen war und eintrat.
Will lag nackt auf dem Bett, ein Handtuch über dem Schambereich. Seine Haut hatte sich an vielen Stellen schwarz verfärbt und war aufgeplatzt, darunter sickerte eitriges Blut hervor und rann an ihm herab. Die Adern waren zu schwarzen, geschwollenen Schlangen geworden, die weit hervortraten und pulsierten. Man hatte ihn in eine badewannenartige Konstruktion gelegt, in der die austretenden Flüssigkeiten aufgefangen und abgeleitet wurden. Eine automatische Anlage sprühte in regelmäßigen Abständen Desinfektionsmittel über Will und spülte den Ausfluss weg.
Die Elektroden registrierten jeden Herzschlag, der Puls stand konstant jenseits von dreihundert, und auch alle anderen Werte zeigten, dass Wills Körper jedes menschliche Maß überschritten hatte.
Levantin näherte sich dem Todkranken und beugte sich über das rechte Ohr, dessen Ohrläppchen sich zur Hälfte aufgelöst hatte. »Ich weiß, was dich quält, Mensch. Ich helfe dir zu sterben.«
Er packte Will an der Schulter und schleuderte ihn aus dem Bett. Kabel und Zugänge rissen ab, der schlaffe Körper landete mit dem Gesicht nach unten. Alle Monitore fiepten und meldeten, dass der Patient gestorben sei.
Will hustete und übergab sich. Das, was einmal seine Galle gewesen war, pumpte eine undefinierbare Substanz aus dem Körper. Vergiftetes Blut quoll zäh aus den Löchern, welche die mit Gewalt herausgerissenen Nadeln im aufgeweichten Fleisch verursacht hatten. Levantin entfernte die Hülle vom Schwert und stellte sich neben Will, einen Fuß auf dem Rücken, um ihn unbeweglich zu machen. »Gleich hast du es geschafft.« Er bückte sich und schob die Rückenwunde mit Zeige- und Mittelfinger auseinander, bis er das Weiß des Knochens sah.
Will wand sich keuchend und schreiend unter ihm, aber Levantins Gewicht hielt ihn fest. »Da ist, was ich suche.« Levantin hob die Klinge, legte sie auf den Knochen und ließ die Wundränder los, dann drückte er das Schwert nach unten und schnitt dabei tief in die Wirbelsäule.
Es zischte, und Will stieß einen langgezogenen, unmenschlichen Schrei aus.
Das Hornschwert schien sich mit Wills Blut vollzusaugen. Langsam nahm es seine alte Farbe wieder an. Die Intarsien verflüssigten sich und schlossen ihre Lücken, dann riss Levantin die Waffe aus dem Körper heraus.
»Danke sehr«, sagte er zu Will, dessen Kopf auf den Linoleumboden zurücksank. Levantin riss eine Kochsalzinfusion vom Ständer, schnitt sie auf und spülte das Blut von der Klinge, um die Schneide mit einer Hand zu prüfen.
Die größte der Scharten war verschwunden. Der Splitter, der unbemerkt in Wills Rückgrat gesteckt hatte, saß wieder an seinem Platz im Schwert.
Damit besaß Levantin alle Artefakte, die er benötigte. Jetzt brauchte er nur noch einen Freiwilligen, der sie zusammensetzte. Dieses Blutportal trug seinen Namen nicht umsonst und hielt einen großen Nachteil für denjenigen bereit, der die Artefakte zusammenfügte, das wusste Levantin aus den Aufzeichnungen der Bêlualiten. Aber glücklicherweise befand er sich in einem Krankenhaus. Es gab Stockwerke über und unter ihm. Es würde sich rechtzeitig jemand finden.
Saskia befand sich zweifellos auf dem Weg zu ihm, das spürte er. Alles lief bestens. Levantin entschied sich, seinen Freiwilligen auf Ebene zwei zu suchen, und ging auf die Tür zu. Eine Hand schloss sich um seinen Nacken - und der Druck brachte seine Wirbel zum Knirschen. Was ... Er wollte sich umdrehen und den Angreifer niederschlagen, doch seine Kraft reichte nicht aus.
Noch ehe er sich von seiner Überraschung erholt hatte, wurde er von dem Angreifer durch die Wand geschleudert. Versorgungsleitungen brachen, zischender Sauerstoff blies Staub in den Raum und machte durch seinen Druck aus Wasserstrahlen feinen Sprühnebel. Levantin stürzte, schlitterte über den Boden, krachte gegen ein Bett, riss das Untergestänge ab und wurde darunter begraben. Ein dumpfes Grollen erklang. Levantin blickte auf - und sah Will Gul!
Oder besser gesagt: Er sah das Wesen, das einst Will Gul gewesen war: Seine Haut hatte sich komplett schwarz gefärbt und schimmerte ölig. Die Adern waren als weiße Linien sichtbar, und die Augen strahlten hell wie von innen beleuchtete Diamanten. Haare besaß er nicht mehr, und als er die schwarzen Lippen öffnete, sah Levantin dahinter Kauleisten, deren Enden sich verjüngten. Stacheln stachen an seinen Schultern und Unterarmen aus der Haut, an den kräftigen Fingern waren zentimeterlange, spitz zulaufende Nägel. »Du«, dröhnte es aus dem Mund, »wirst nichts mit den Artefakten unternehmen!«
Levantin spürte, dass der Blick des Gul-Wesens seine Substanz angriff und ihn schwächte. Der giftgrüne Atem bereitete ihm dagegen keinerlei Schwierigkeiten. Langsam ahnte er, was der Schwertsplitter mit Will angestellt hatte: Das Dämonische war durch das Blut zum Leben erwacht und in ihn eingefahren. Es hatte ihn verwandelt und ihm etwas von der Macht verliehen, die Belua besaß.
Er streckte ihm die Klaue entgegen. »Her damit!«
Blitzschnell rollte Levantin zur Seite, sprang auf die Beine und stieß sich ab, um durch die geschlossene Tür nach draußen zu springen.
Will holte ihn im Flug ein und umklammerte ihn. Gemeinsam durchbrachen sie die Tür, prallten auf den Boden und rissen ein Loch, durch das sie ins Erdgeschoss der Universität stürzten. Levantin stieß einen wütenden Schrei aus und kämpfte sich auf die Beine. Er blutete aus vielen Kratzern, obwohl sein Körper sich bereits mit Höchstgeschwindigkeit regenerierte. »Du wirst mich nicht hindern«, schrie er gellend, während in seinen Augen das goldene Schimmern erwachte. Er würde seine restliche Macht einsetzen, um dieses nichtswürdige Halbwesen aus Mensch und dämonischem Abschaum auszurotten.
Doch schon bekam er den nächsten Hieb verpasst, der ihn senkrecht nach oben durch das Loch schleuderte und ihn die Decke zum zweiten Stock zertrümmern ließ. Geistesgegenwärtig hielt er sich fest, schwang sich in die Etage hoch und schaute durch das Loch hinab.
Will machte mehrere Sprünge, die ihn Etappe um Etappe zu ihm hinaufbrachten. Er fauchte und grollte gleichzeitig. In dem Gesicht, das zusehends seine Menschlichkeit verlor, stand der feste Vorsatz, seinen Gegner auszulöschen.
Levantin bewegte den Kopf, und sein Nacken knackte mehrmals. Noch genügte seine Kraft, um ihn am Leben zu halten und diese Attacken zu überstehen. Aber er wollte den Kampf nicht annehmen.
Das Portal musste geöffnet werden, statt die Zeit mit Spielchen zu vergeuden, die er gründlich satthatte.
Er richtete sich auf, sah einen Schrank neben sich an der Wand stehen und kippte ihn um, genau über das Loch. Dann lief er los, wechselte hastig in die dritte und dann die vierte Etage und öffnete dort eine der Zimmertüren.
Vor ihm saßen ein Junge und ein Mädchen in den Betten. Sie schauten Fernsehen. Die Gesichter wandten sich ihm erschrocken zu.
»Hallo, ihr zwei«, sagte Levantin und hob das Schwert. »Wer von euch möchte ein Puzzle machen?«
Der BMW flog einen sandigen Abhang hinab, ehe er aufsetzte und von Justine mit einem reflexhaften Manöver vor dem Zusammenprall mit einer antiken Säule bewahrt wurde. »Das ist Palmyra«, stellte sie mit hochgezogenen Augenbrauen fest.
»Wäre dir die Seite des Busses lieber gewesen?«, gab Saskia hustend zurück und wischte sich das Blut unter der Nase weg. In ihrem Mund schmeckte es nach blutiger Bittermandel, die in Essig gesotten worden war. »Mir ist auf die Schnelle nichts anderes eingefallen.« »Aber das ist großartig!« Justine beschleunigte und sah auf die Uhr. »Oh, merde. Wir haben wieder Zeit verloren. Wir waren wohl etwas länger unterwegs. Lass mich raten: Ein zweites Portal, das uns vite, vite ans Ziel bringt, ist nicht drin?«
»Fahr einfach so schnell du kannst«, entgegnete Saskia matt.
»Avec plaisir.« Die Französin durchbrach die Sperre, mit der die Zufahrt zu den Ruinen blockiert wurde, und hupte, um die beiden Wächter nicht auf die Motorhaube zu nehmen. Sie sprangen rechtzeitig zur Seite.
Es ging die asphaltierte Straße entlang, und bald fanden sie auch Hinweisschilder auf Damaskus.
Justine sah in den Rückspiegel, konnte aber nur die Staubwolke sehen, die sie hinter sich herzogen. »Werden wir verfolgt?«
»Das werden wir früh genug merken.« Saskias Handy läutete; es war der Professor! »Frau Lange! Endlich!«, rief er. Im Hintergrund hörte sie Sirenen. »Ich bin an der Klinik, das Universitätsgelände ist abgesperrt. Ich fürchte, Levantin ist hier. Aus dem Innern erklingen Kampfgeräusche. Es hat den Anschein, dass sie das gesamte Gebäude abreißen.« »Wir kommen zu Ihnen, Professor! Wir müssen zu Will.«
»Wir treffen uns an dem kleinen Imbissstand auf der Südseite des Areals. Bis dahin habe ich einen Weg gefunden, wie wir hineingelangen. Und beeilen Sie sich!«
»Hat er wirklich gesagt, wir sollen uns beeilen?« Justine stieß die Luft aus.
»Hat er.«
Justine schaffte es, trotz des vielen wirbelnden Sands auf der Piste noch schneller zu fahren, ohne dass sie einen Unfall bauten.
»Du kannst also kein Portal öffnen, das uns direkt nach Damaskus bringt?«, fragte sie noch einmal. Saskia schüttelte stumm den Kopf.
»Nun, wie wäre es dann mit einer kleinen ... Abkürzung?«
»Wie meinst du das?« Saskia sah sie verwundert an.
»Kleine Sprünge. Wir haben hier eine tolle Fernsicht - bring uns einfach immer an den Punkt, bis zu dem du schauen kannst.«
»Ich kann uns nicht durch die Gegend ... teleportieren!«, murmelte Saskia unwillig. »Wir sind hier nicht auf dem Raumschiff Enterprise.«
»Soll ich uns erst wieder einen Lastwagen suchen, in den wir fast rasen müssen?«, grinste Justine.
Seufzend suchte sich Saskia den am weitesten entfernten Punkt am Horizont - und konzentrierte sich.
Levantin sah zu dem Jungen, der auf das Schwert starrte. »Du wirst bestimmt mitmachen wollen.«
Der Junge schüttelte den Kopf und schrumpfte regelrecht unter dem Laken.
»Und wenn ich dir verspreche, dass ich dich vom Krebs heile?« Seine goldenen Augen strahlten auf den Knaben nieder.
»Du bist ein Engel!«, sagte das Mädchen. »Meine Mama sagt, dass der Erzengel Gabriel ein Schwert hat.«
»Das kann man so sagen. Die Engel kommen aus einer ähnlichen Gegend wie ich, nicht weit von mir entfernt. Wie heißt du?«
»Elizabeth Owden.« |
»Das ist ein schöner Name.« Levantin ging zu ihr, legte das Schwert auf die Decke und nahm die übrigen Artefakte hervor.
»Mein Papa arbeitet in der englischen Botschaft«, sagte sie stolz.
»Ich verstehe.« Levantin zeigte auf die Waffe. »Mein Schwert, das ich im Kampf gegen das Böse benötige, ist mir von einem Dämon kaputt gemacht worden. Kannst du es zusammensetzen, wenn ich dir sage, wie?«
Das Mädchen nickte, aber der Junge meldete sich zu Wort. »Warum machst du das nicht selbst?«
»Weil nur die Hände eines unschuldigen Kindes das Schwert eines Engels schmieden können.« Er sah ihn an. »Wie heißt du?«
Der Junge hob die Decke vor die Augen. »Das möchte ich dir nicht sagen.«
Levantin lächelte und ging langsam auf ihn zu.
Aus dem Treppenhaus erklang ein lautes, erschreckendes Brüllen. Will hatte seine Fährte aufgenommen und würde ihn jeden Moment gefunden haben! Die Kinder zuckten zusammen. »Hört ihr? Das Böse ist hier.« Er warf Elizabeth die Artefakte auf das Bett. »Mach schnell, kleine Dame! Damit ich den Dämon aufhalten kann und er euch nichts tut. Was nützt es euch, wenn ich euch vom Krebs heile und ihr von dem Monstrum gefressen werdet?« Elizabeth nahm das Schwert und das Monokel, wie Levantin es ihr sagte. Sie suchte die münzgroße Vertiefung auf der breiten Stelle der Klinge, die von Intarsien umschlossen war. Als sie das Monokel darauflegte und sanft andrückte, verflüssigte sich das Metall und schmiegte sich um das geschliffene Hornstück.
»Das sieht schön aus«, sagte Elizabeth fasziniert. »Was jetzt?« Die Tür und der Rahmen explodierten regelrecht, die Kinder schrien auf, und durch die wirbelnden Holz- und Steintrümmer kam Gul auf ihn zu. Er bremste nicht ab, sondern packte Levantin, der sich gegen die schallschnelle Attacke nicht zu wehren vermochte, und stürzte sich mit ihm durch das Fenster. Die Kontrahenten verschwanden aus der Sicht der Geschwister.
Der Junge sprang aus dem Bett und blickte durch das große Loch in der Fensterfront, das die Kämpfenden hinterlassen hatten. Der Wind spielte mit den Zipfeln seines blauen Pyjamas. »Sie sind unten auf dem Boden eingeschlagen«, rief er seiner Schwester zu. »Aber ... sie leben beide noch!«
»Ist doch logisch, David«, meinte Elizabeth abgeklärt. »Wie soll denn auch ein Engel so einfach sterben?« Sie schaute auf das Schwert. »O nein! Das braucht er doch, um den Dämon zu töten.« Sie sah auf die übriggebliebenen Artefakte. »Aber ich weiß nicht, wie ich es zusammensetzen soll!«
»Das kann ich dir sagen«, sagte eine freundliche Stimme. Sie schauten zur Tür. Eine Frau stand dort. Sie trug ein Paar schwarze, geschnürte Stiefel, dunkle Kleidung, darüber einen knielangen Ledermantel, unter dem ein kurzläufiges Gewehr hervorschaute. Sie stieg über die Trümmer hinweg und näherte sich Elizabeths Bett. »Ich bin eine Freundin des Engels. Komm, wir setzen das Schwert gemeinsam zusammen, und ich bringe es ihm schnell.«
David musterte sie skeptisch. »Wieso braucht ein Engel denn eine Freundin?« »Das hast du doch gerade eben gesehen«, gab sie zurück. »Manchmal benötigen selbst sie unseren Beistand.« Sie setzte sich neben Elizabeth aufs Bett. »Gib mir die Haare, Kleines.« Elizabeth reichte ihr gehorsam das Gespinst. »Schnell, sonst verliert er!«
»Wieso hast du denn ein Gewehr dabei?« David schaute wieder nach unten, wo sich der Engel und der Dämon einen Faustkampf lieferten.
»Es verschießt geweihte Kugeln, die gegen Vampire, Werwölfe und Hexen helfen. Aber der Engel braucht viel dringender sein Schwert.« Sie wählte aus den Strähnen ein Haar aus. »Das müsste das richtige sein. Mit dem Haar wickelst du das Pergament fest um den Griff und machst einen Knoten.«
Elizabeth tat voller Eifer, was die Freundin des Engels von ihr verlangte.
»Und wie heißt du?« David baute sich vor der Frau auf. Sie lächelte ihn freundlich an. »Valesca.«
Nachdem es Saskia gelungen war, ein Portal für einen kurzen Sprung zu öffnen, der sie ihrem Ziel ein gutes Stück näher gebracht hatte, jubelten Justine und Saskia. Nach dem zweiten wurde die Französin merkwürdig still. Und als der Wagen polternd aus dem dritten hervorschoss, erzählte sie Saskia die Wahrheit über sich und Levantin.
Inzwischen brausten sie durch die damaszenischen Straßen. Das Universitätsgelände war auch auf Englisch ausgeschildert, sie mussten nur den Wegweisern folgen. Noch gab es ein Vorwärtskommen, doch der Strom der Autos, Busse und Krafträder verdichtete sich. Dazu kamen noch die antiquiert wirkenden Karren, die von Kamelen oder Maultieren gezogen wurden. Saskia beobachtete sie von der Seite. »Sag mir, wie sehr ich dir noch vertrauen kann, bevor wir gegen ihn antreten, Justine.« Sie war nicht so überzeugt, wie sie es gern gewesen wäre. Die Alternative war, Justine jetzt auszuschalten, um nicht mitten im Kampf gegen Levantin einer zweiten Gegnerin gegenüberzustehen.
»Zu einhundert Prozent«, erwiderte sie und presste die Lippen zusammen. »Der Tod meiner Freundinnen darf nicht ungesühnt bleiben. Er wird durch meine Hand sterben. Selbst wenn ich dabei draufgehe. Für immer.«
Etwas an dieser Formulierung ließ Saskia aufhorchen. »Wie meinst du das?«
Justine umkurvte ein Kamelgespann, wich einem Radfahrer aus und touchierte dabei das Heck einer Luxuslimousine. Ungerührt davon, streifte sie einen Ärmel nach unten und zeigte ihr das Zeichen des Dämons. »Ich werde diesmal wirklich sterben, Saskia. Das meine ich damit. Keine Tricks, kein doppelter Boden. Ich werde mich nicht noch einmal retten, in der vagen Hoffnung, dass alles besser ist als der Tod.« Dann bremste sie gerade rechtzeitig vor dem Ende eines Staus. »Dichter kommen wir wohl nicht mehr ran.« Sie stieg aus. »Den Rest laufen wir. Los, ma chere.«
Saskia sah ihr nach. Ihre Narben brannten immer noch; es wäre ein Leichtes, Justine für den Verrat, mit Levantin geschlafen zu haben, bezahlen zu lassen. Konnte sie ihr wirklich noch vertrauen?
Sie beschloss, es darauf ankommen zu lassen.
Levantin hatte genug.
Er befreite sich mit einem gewaltigen Schlag von Will, der rückwärtsgeschleudert wurde und durch die Glasscheiben der Eingangshalle krachte.
Der Halbdämon überschlug sich mehrmals, schaffte es dann aber, auf allen vieren zu landen und die langen Nägel zum Bremsen in den Marmorboden zu rammen. Sie zogen tiefe Rillen in den Stein, nicht wenige Platten zerbrachen, und er hielt an.
Levantin fluchte und sprang auf einen geparkten Wagen, dessen Dach sich sofort eindrückte, von dort auf das Vordach des Eingangs, dann hinauf zum Fensterbrett des ersten Stocks. Er hatte Glück: Die Bänke waren so massiv gebaut, dass sie sein Gewicht aushielten, auch {wenn sie sich dabei stark verformten.
Wie eine Eidechse kletterte er in die Höhe und schwang sich schließlich in das Zimmer der Kinder. Elizabeth und der Junge waren verschwunden. Auch das Schwert war weg. Levantin stieß einen lauten, frustrierten Schrei aus.
Polizisten, Soldaten und Kamerateams schwirrten auf dem Gelände herum, die Luft war erfüllt von vielen Stimmen, von Sirenen, vom Knattern der Rotoren. Ein Ameisenhaufen ohne Struktur, ein wildes Durcheinander. Und als dann noch die Muezzins durch die Lautsprecher der Minarette zum Gebet riefen, konnte man fast sein eigenes Wort nicht mehr verstehen. Endlich fanden Saskia und Justine die Imbissbude, an der der Professor auf sie wartete. Er kam ihnen - im Chaos der Umgebung merkwürdig wirkend - gemessenen Schritts entgegen und reichte ihnen höflich die Hand. »Ich konnte nichts mehr für Herrn Gul tun«, sagte er sofort. »Als ich ankam, hatten die Sicherheitskräfte bereits alles abgeriegelt.«
»Sie können nichts dafür«, keuchte Saskia; der Dauerlauf hatte ihr einiges abverlangt. »Wohin müssen wir?«
Er zeigte auf ein benachbartes Haus. »Von der Tiefgarage aus gibt es einen Verbindungsgang in die Klinik. Er ist dazu gedacht, dass Gäste der Universität, die anderswo keinen Parkplatz gefunden haben, ohne Probleme ins Gebäude gelangen.« Sie gingen los.
»Wo haben Sie die ganze Zeit gesteckt?«, wollte Justine wissen. »Wir konnten Sie viel zu lange nicht erreichen.«
»Anfangs hielt mich die Recherche auf Trab. Und ab einem gewissen Punkt habe ich verstanden, dass mich die Leute des Maitre jagen. Ich musste kämpfen wie schon lange nicht mehr. Meine Fechtkünste sind zum Glück weniger eingerostet, als ich gedacht hatte.« Der Professor wirbelte mit seinem Gehstock. »Praktisch, wenn sie aus Hartholz gemacht sind: Man bekommt sie durch den Zoll, und unter der Gummikappe vorn ist ein angespitztes Ende, das ausreicht, um einen Menschen zu durchbohren.«
»Glauben Sie bitte nicht, dass Sie Levantin damit ernsthaft Schaden zufügen können«, sagte Saskia.
Sie betraten das Gebäude, nutzten den Lift in die Tiefgarage und hasteten zu der Tür, die der Professor ausfindig gemacht hatte. Allerdings standen vier Polizisten davor, die schwerbewaffnet waren; sie verteidigten den Durchgang gegen eine Schar Reporter, die mit ihren Kamerateams hineinwollten und mit Geldscheinen wedelten.
Saskia sah Justine an. Sie hatte seit ihrem Aufbruch vom Wagen über eine wichtige Entscheidung nachgedacht und war zu einem Schluss gekommen. »Mag sein, dass es ein Fehler ist, dich vor dem Kampf zu belohnen, aber ebenso gut könnten wir darauf angewiesen sein.« Justine sah sie erstaunt an. »Trotz meines Geständnisses?«, fragte sie leise.
»Nein.« Saskia schüttelte den Kopf und sah sie ernst an. »Wegen deines Geständnisses.« Einen Moment lang sahen sie sich einfach nur an.
Justine fing an zu grinsen und streckte Saskia ihren nackten Arm entgegen. »Gib sie mir zurück, wenn du kannst.«
Saskia holte noch einmal tief Luft. Gleichzeitig wurde ihr bewusst, dass sie sich nicht mehr vor der schrecklichen Atemnot fürchten musste - denn auf der seltsamen, sprunghaften Fahrt hierher hatte sie das Wachs zwar gespürt, aber es hatte ihr keine Schmerzen bereitet, sondern sich nur wie ein Film in ihr ausgebreitet.
Saskia konzentrierte sich, und sofort wurde die Welt zweidimensional, die widerliche Bittermandel breitete sich in ihrem Rachen aus, doch sie konnte gariz normal weiteratmen. Sie sah, dass sich in der grauen Gestalt Justines ein weiteres Wesen befand. Es loderte unterdrückt rot und wild, knurrte und bellte aus weiter Entfernung und verlangte nach seiner Freiheit. Es war eine energiegeladene Bestie.
Saskia erkannte auch die Sperre, die sie unbewusst errichtet hatte und die das Tier in Justine bändigte; sie schimmerte in Rostfarben, umschloss die Bestie und hielt den Ausbruchsbemühungen stand.
Saskia griff nach Justines Arm und ließ ihre Macht in sie fließen, steuerte die Energie aber gezielter als jemals zuvor. Justine bäumte sich auf und schien Schmerzen zu leiden, aber sie zog ihren Arm nicht weg. Ein pulsierender Strahl traf auf die schimmernde Barriere und löste sie allmählich auf. Vor Glück heulend, warf sich die Bestie gegen die geschwächte Sperre - und zerbrach sie! Die Welt bekam ihre drei Dimensionen zurück. An Atemnot litt Saskia diesmal nicht, lediglich der Bittermandelgeschmack begleitete sie. Sie würde bis ans Ende ihres Lebens alles hassen, was diesen Geschmack besaß.
Justine stand vor ihr, blinzelte ungläubig, lauschte in sich hinein, dann grollte sie versuchsweise und es klang, wie es klingen sollte: furchteinflößend, tief und böse! Dann jauchzte sie und umarmte Saskia. »Ich werde dich nicht enttäuschen«, versprach sie und blickte angriffslustig zu den Polizisten und Journalisten vor der Tür. »Ich bin gleich wieder da. Mal sehen, was ich noch draufhabe.«
Valesca beobachtete durch die offene Tür den Flur des obersten Stockwerkes, in den sie sich mit Elizabeth zurückgezogen hatte. David wollte sich woanders verstecken, und Valesca hatte ihn nur zu gerne gehen lassen. Wichtig war nur Elizabeth, ihr Blut, ihr Leben. Ohne sie würde sich das Blutportal nicht öffnen lassen und ihrem Herrn die Freiheit verwehrt bleiben. Natürlich wäre Hamburg mit seinen vielen Pestopfern der bessere Ort für sein Erscheinen gewesen, aber in Momenten wie diesem konnte man nicht wählerisch sein.
Das Mädchen versuchte zum siebten Mal, aus dem dünnen Haar einen Knoten zu binden, damit es sich nicht von selbst löste, aber das war nicht einfach. Immer wieder rutschten die Enden auseinander, und Valesca stand kurz davor, die Geduld und damit die Freundlichkeit zu verlieren. Doch die Freundin eines Engels durfte sich so etwas nicht erlauben. Sie zwang sich zu einem aufmunternden Lächeln, als Elizabeth zum achten Versuch ansetzte. Valesca war sich darüber im Klaren, dass sich Levantin und das, was wohl einmal Gul gewesen war, durch das Gebäude wühlten, um an die Artefakte zu kommen. Zeit spielte für ihre Sekte nach Jahrzehnten des geduldigen Wartens plötzlich wieder eine sehr große Rolle. Dabei wusste sie gar nicht, wie viele von ihren Glaubensfreunden übriggeblieben waren. Nach einem langen, harten Gefecht in Chinon hatte sie sich zur Flucht aus ihrem Refugium und für dessen Zerstörung entscheiden müssen. Die Geheimnisse auf den Computern waren nicht alles gewesen, besonders die Schriften im Haus durften keinen Ungläubigen in die Hände fallen. Oder den Feinden des Herrn.
Ihre Flucht hatte Rückzug bedeutet, aber nicht die Kapitulation. Da es ihren Hohepriester nicht mehr gab, trat sie an seine Stelle. Die Beschwörung würde stattfinden, und Levantin wäre der Erste, der durch Belua sterben musste.
»Es geht nicht«, sagte Elizabeth und fuhr sich über den Kopf. Valesca sah ihr die Erschöpfung an. Chemotherapie hatte das Mädchen geschwächt.
»Streng dich an, Liebes«, zischte sie. »Willst du, dass der Engel gegen den Dämon verliert? Sollen wir beide sterben?«
Elizabeth schüttelte entschlossen den Kopf und setzte zu einem erneuten Anlauf an. Und jetzt, endlich, klappte es. Der Knoten saß und hielt das Pergament fest um den Griff. »Ich habe es!«
»Fein! Jetzt noch den Zahn.« Valesca zeigte auf eine Lücke am Ende des Griffstücks. »Da muss er hinein.«
Elizabeth setzte das Artefakt an, wollte es festdrücken - da sirrte etwas heran und traf das Mädchen an der Stirn. Bewusstlos brach es zusammen, neben ihr fiel ein prall gefüllter Infusionsbeutel zu Boden.
Valesca richtete ihr Gewehr in die Richtung, aus der das Geschoss gekommen war: Der Halbdämon Gul stand am Ende des Gangs, neben einem Wagen mit Infusionsbeuteln, und er kam auf sie zu. Hinter ihm erschien Levantin.
Valesca spürte die Schritte der beiden überschweren Wesen als Schwingungen im Boden und wusste, dass es keine zweite Gelegenheit mehr geben würde, ihren Herrn durch das Blutportal zu holen. Blitzschnell entschied sie sich zum größten Opfer, das sie zu geben bereit war. Ihr Daumen drückte den Zahn fest in die Lücke, klickend rastete er ein, und bevor der heranstürmende Gul sie erreicht hatte, rammte sie sich selbst das Schwert durch den Leib. »Belua, venias!«, schrie sie und flüsterte sterbend die Formel, um die Grenzen zwischen den Welten niederzureißen.
Flüssiges Silber strömte in sie hinein.
Ihr Opfer war angenommen worden.
Das Portal hatte sein Blut bekommen.
»Wie weit noch?«, japste Saskia und hielt sich die rechte Seite. Mit der anderen Hand stützte sie sich am Treppengeländer ab.
Justine hielt den Kopf erhoben, ihre Nasenflügel blähten sich. »Ich rieche Levantin. Er ist ganz oben.« In ihren braunen Augen brannte das Jagdfieber, der gelbe Ring um die Pupille loderte; die Bestie war frei.
»Dann weiter.« Der Professor zeigte für sein Alter ein enormes Durchhaltevermögen. Er war besser zu Fuß als Saskia.
Sie hetzten die Stufen nach oben, gelangten in den siebten Stock und verließen das Treppenhaus. »Da entlang«, fauchte Justine.
Der Anblick, der sich ihnen in dem Raum vor ihnen bot, war grotesk: Auf dem Boden lag die erstochene Valesca, aus der das Schwert hervorragte. Links von ihr stand Levantin, rechts von ihr eine grausam verzerrte Gestalt, in der Saskia erschrocken Will erkannte. Etwas hatte ihn grausam verwandelt. Und zwischen ihnen öffnete sich, als würde es aus der Leiche der Dämonendienerin herausfließen, ein blutrotes Tor!
»Wir kommen zu spät!« Saskia starrte es an; sie sahen Wills schwarze Gestalt durch das Flirren, das sich immer weiter ausdehnte.
»Halt es auf!«, rief Justine entsetzt.
Saskia atmete tief ein und setzte ihre Gabe frei.
Das Portal war auch in der zweidimensionalen Sicht ein beeindruckender Anblick. Die Ränder brannten sich durch die Luft, es wucherte und vergrößerte sich gleichförmig. In seinem Mittelpunkt waberte es nicht rötlich, wie damals bei Justines Auftauchen, sondern milchig golden und mit roten Schlieren durchsetzt.
Saskia versuchte, mit ihrer Macht die Ränder zu fassen, doch es gelang ihr nicht. Das Portal, das inzwischen einen Durchmesser von zwei Metern besaß und an Boden, Wände und Decke stieß, zeigte sich unbeeindruckt von ihrem Können. Im Gegenteil - die Ausdehnung beschleunigte sich sogar! Es blitzte und knisterte.
Ein erstes Wesen kam durch das Portal herausgesprungen, pferdegroß und mit drei Armen; anstelle von Augen hatte es schlangenhafte Fühler. Es stieß einen Ton aus, ein Vibrieren und Klicken gleichermaßen, dann rannte es an Levantin vorbei, genau auf sie zu.
»Das Ding ist für mich«, verkündete Justine und verwandelte sich vor ihren Augen in eine Halbbestie. Zähnefletschend rannte sie der Kreatur aus einer anderen Dimension entgegen, die Arme zum Schlag erhoben. »Schnappt euch das Schwert! Macht irgendwas!«
Saskia und der Professor warteten, bis sich Justine und ihr Feind ineinander verkeilt hatten, dann rannten sie an den Kämpfenden vorüber.
»Wie gelangen wir an dem Portal vorbei?«, fragte der Professor. »Wenn wir durchlaufen, landen wir doch in dieser Dämonensphäre, oder?«
Saskia versuchte noch immer, das Portal zum Innehalten zu zwingen, aber es widersetzte sich ... Nein, es bot ihr nicht einmal eine Angriffsfläche! Es war, als langte sie mit ihrer Gabe in Luft. Durch die Bittermandel hindurch bemerkte sie intensiven Zitronenduft. Belua roch für einen Dämon, dessen Spezialität das Verbreiten der Pest war, unpassend frisch und rein. Levantin sah sie kommen und wandte sich ihnen zu. Da sprang ein zweites Wesen aus dem Portal und warf sich auf ihn, riss ihn zu Boden und biss in seinen Nacken, seinen Rücken, seinen Schädel. Levantin schrie.
Immer schneller flogen Dämonenwesen durch das Portal, landeten und rannten auf den Professor und Saskia zu. Justine war kaum noch mehr als ein flirrender Schatten, während sie wie eine Berserkerin auf die Angreifer einschlug. Lange würde es ihr nicht gelingen, die schreckliche Übermacht zurückzuhalten.
»Mein Gott«, sagte der Professor und hob den Stock zur Abwehr. »Wer hätte das jemals geglaubt?«
In dem milchig goldenen Durchgang wurde eine Fratze von zwei Metern Größe sichtbar, doch noch konnte es nicht in ihre Welt gelangen, wirkte wie ein Abdruck. Belua schien sich von seiner Seite des Portals gegen den Durchgang zu pressen, der noch nicht seine volle Ausdehnung erreicht hatte. Sobald dies geschehen war, da war sich Saskia sicher, würde der Dämon sich die Erde Untertan machen. Jeder Widerstand wäre dann aussichtslos!
Mit einem schrillen Schrei fiel Justine zu Boden. Ihr Kopf war unnatürlich weit nach hinten geklappt und starrte Saskia voller Angst an, Blut schoss aus ihren zahlreichen klaffenden Wunden. Röchelnd griff sie sich an ihren tätowierten Arm, berührte das Zeichen, mit dem der Dämon sie zu seinem Eigentum gemacht hatte - und verschwand in einem Lichtblitz. In diesem Moment wusste Saskia: Sie hatte verloren.
Es war vorbei.
Sie hatten das Ende der Welt nicht aufhalten können, hier und jetzt würden sie sterben. Wie eine kalte Welle spülte die Verzweiflung über sie hinweg.
Die Dämonenwesen hatten sie fast erreicht!
»Weg«, schrie Saskia. Sie wandte sich um und hetzte die Treppe zum Dach hinauf. Es war ihr gleich, ob der Professor ihr folgte oder nicht. In ihrer Todesangst war sie sich selbst die Nächste.
Sie erreichte das Dach, schloss die Stahltür hinter sich - und sah die Ränder des rotglimmenden Portals. Es erinnerte sie an ein gigantisches Riesenrad. Ein elektrisches Surren und Knistern lag in der Luft, der Zitronengeruch reizte sie mehr als ihre Essigbittermandeln.
Das Hochhaus war von der Energie in der Mitte durchgeschnitten worden, die andere Gebäudehälfte brach auseinander und fiel auf die Straßen von Damaskus nieder, wo sie Fahrzeuge, Tiere und Menschen unter sich begrub.
»Nein, das ...« Saskia versuchte schluchzend, gegen das Portal anzukämpfen, aber ihre Gabe ließ sie im Stich. Es war, als würde man mit einem Tennisschläger Wasser aufhalten wollen. Sie sah über den Rand des Dachs: Feurige Schatten sprangen aus den Fenstern, hetzten die Straßen entlang, gingen in der Stadt auf Jagd und verbissen sich in flüchtende Männer und Frauen. Fliegende Wesen schwangen sich in den Abendhimmel und ließen Damaskus hinter sich. Niemand konnte sie aufhalten.
Saskia sank unter Tränen in den Kies und musste mit ansehen, wie Belua durch das Portal trat. Eine feste Gestalt besaß er nicht, er bestand aus Konturen, die gespenstisch aufflackerten und Teile seines Körpers sichtbar werden ließen. Er ragte vierzig Meter in die Höhe, der Asphalt kochte unter seiner Berührung. Schläge seines Dreifachschweifs brachten Nachbargebäude zum Einsturz. Das triumphale Brüllen des Wesens drohte ihr Trommelfell zum Platzen zu bringen, und sie legte die Hände auf die Ohren. Feuer loderten auf, Qualm stieg auf und kündete vom Untergang der alten Stadt, in der schon die Könige David und Salomon gelebt hatten. Saskia wusste, dass es bald überall auf der Erde so aussehen würde.
»Nein«, schrie sie gegen das Tosen des Dämons an, sprang auf die Beine, sammelte ihre letzte Energie - sie würde kämpfen, sie würde nicht nach einem Ausweg suchen wie Justine, nicht schwach werden wie ihre Freundin, von der sie nicht geglaubt hätte, dass sie Saskia blieb stehen. Sie wusste plötzlich, warum es nichts gab, das sie mit ihrer Macht attackieren konnte. »Was ich sehe, ist nicht real«, flüsterte sie. »Deswegen kann ich nichts dagegen tun!« Sie ahnte, wem sie das zu verdanken hatte, aber noch war es eine Theorie.
»DESWEGEN!«
Sie schrie das Wort so laut, dass ihre Kehle zu zerreißen drohte.
Die graue, zweidimensionale Welt erstarrte.
Saskia rannte hinunter, zurück in den siebten Stock, vorbei an den erstarrten Wesen. Der Professor lag mit zerrissener Kehle auf dem Boden, Levantin war von einer Horde abscheulicher Kreaturen, die aus Mäulern und dornbewehrten Tentakeln bestanden, niedergerungen worden und wurde soeben in Fetzen gerissen. Von Justine fand sich keine Spur. Aber Will war noch da.
Er stand keine fünf Schritte von ihr entfernt. Und er war außer ihr der Einzige, der sich noch bewegte.
»Hör auf damit!«, schrie sie ihn an. »Befreie uns aus deiner Vision, damit wir das, was du dir hier ausmalst, verhindern können!«
Sein Blick richtete sich auf sie, er hielt die Hände gegen den monströsen Schädel gepresst und stöhnte. »Ich kann es nicht«, gab er gepresst von sich. »Es ist...«
Saskia handelte: Sie näherte sich dem verwandelten Freund und nahm im Vorbeigehen einen Feuerlöscher aus der Halterung. Sie schlug zu, genau gegen seine Stirn. Dass Will den Schlag nicht abwehrte, kam ihr wie ein Einverständnis vor.
Erst beim vierten Hieb ging er ohnmächtig zu Boden - und die Umgebung verwandelte sich.
Die Verwüstungen verschwanden, Levantin, der Professor und Justine standen genau an den Stellen, an denen sie gewesen waren, als die Horrorvision begann.
»Das Portal!«, rief Justine.
Saskia sah, dass ein tennisballgroßes Flirren, das aus der toten Dämonendienerin aufstieg, langsam größer wurde. Da Will samt seiner Visionen ausgeschaltet war, wusste sie: Hier bereitete sich der echte Belua auf sein Erscheinen vor!
Saskia sprang zu Valesca und zog das Schwert aus ihr heraus, dessen Griff sich anfühlte, als stünde er unter Strom. Wenn sie gehofft hatte, dass der Vorgang der Portalöffnung damit unterbunden wurde, sah sie sich enttäuscht. Der Durchgang erweiterte sich zusehends. »Dann eben auf meine Weise.« Sie tauchte entschlossen in die zweidimensionale Welt, ignorierte die Schmerzen in ihren Schläfen und versuchte, dem widerlichen Geschmack im Mund etwas Gutes abzugewinnen. Ihre Gabe flammte auf...
... und dieses Mal gab es etwas zu packen!
Sie spürte den Widerstand, der ihr entgegengebracht wurde. Das Portal selbst oder jemand auf der anderen Seite wollte es nicht hinnehmen, dass sich der Riss fügte und die Welt der Menschen unangetastet blieb.
Saskia verstärkte ihre Anstrengung, doch das Loch erweiterte sich, wenn auch wesentlich langsamer als vorher. Die Öffnung war nun so groß, dass ein Erwachsener leicht gebückt hindurchgehen konnte. Auf der anderen Seite erkannte sie tiefes, glimmendes Rot, wie die Spitze einer glühenden Zigarette unter einem Mikroskop. Nur die Kälte, die aus der Öffnung strömte, wollte nicht recht dazu passen.
Unvermittelt erschien ein Auge vor dem Loch, ein hellblaues mit vier waagerechten, schlitzförmigen Pupillen. Jede Pupille glänzte in einer anderen Farbe, und jede einzelne von ihnen verströmte greifbare Angst. Saskia hätte um ein Haar die Kontrolle über ihre Gabe verloren, doch sie kämpfte verbissen gegen die Angst, die Hoffnungslosigkeit und die anderen Gefühle an, die ihr entgegenbrandeten.
Das Auge starrte sie an, gleich darauf erklang ein merkwürdiges Geräusch, das wohl auf der anderen Seite einem Schrei oder einem Brüllen entsprach. In Saskias Welt klang es wie bremsende, sich ineinander verkeilende Güterwaggons, deren schrilles metallisches Kreischen die Ohren folterte.
Saskia wusste, dass sie von Belua beobachtet wurde. Er wusste, wer seine Widersacherin war, die sein Erscheinen verhinderte. Jetzt erkannte sie Wut in den Pupillen, dann verschwand das Auge.
Plötzlich fiel es ihr leichter, das Loch zu manipulieren. Hatte der Dämon aufgegeben? Eine vage, vorsichtige Erleichterung stellte sich ein. Sie hatte Belua zurückgeschlagen!
In dem Moment rauschten lange schwarze Flammen aus dem Portal und hielten genau auf sie zu.
Saskia wurde davon überrascht und wusste nicht, was sie tun sollte.
Plötzlich flog etwas an ihr vorbei. Auf einmal stand Levantin vor ihr - und stemmte sich gegen den Angriff, die Arme ausgebreitet, als wollte er die Energien auffangen.
XXVI. KAPITEL
20. November
Syrien, Damaskus
Das Dämonenfeuer prasselte auf Levantin ein und brannte ihm die Kleidung vom Körper.
Ein Funkensturm umspielte ihn, die Trudelnden roten Pünktchen hagelten auch über Saskia hinweg und stachen in ihre nackte Haut. Doch das war nichts im Vergleich zu dem, was ohne Levantin als lebenden Schutzschild mit ihr geschehen wäre.
Noch während Saskia sich verwundert die Augen rieb, endete die Attacke, und das Brüllen Beluas erklang, lauter und wütender diesmal.
Das schlagartig einsetzende Fiepen in den Ohren kannte sie noch aus der Zeit, als sie in Clubs gegangen war; die Geräusche um sie herum wurden dumpfer, wie durch einen Filier. Taubheit durch Dämonengeschrei war in ihrer Berufsunfähigkeitsversicherung nicht eingeschlossen. »Schließ es!«, herrschte Levantin sie an. Sein Gesicht war, wie der Rest seines Körpers, vom Ruß schwarz gefärbt; Verbrennungen hatte das Feuer nicht angerichtet. »Er wird sich gleich etwas Neues einfallen lassen, um mich auszuschalten, nachdem ich mich ihm in den Weg gestellt habe.«
Saskia warf alles in die Waagschale, um die Entscheidung zu ihren Gunsten zu erwirken. Aber der Widerstand hatte sich verstärkt, drängte ihre Gabe zurück und schob sie weg. »Schließ es!«, brüllte Levantin mehrstimmig.
Emotionen sind der Schlüssel! Sie rief die schönen Erinnerungen ab, um aus ihnen mehr Kraft zu schöpfen.
Das erste offizielle Gefecht auf der Planche.
Patrick und sie am Abend der Restauranteröffnung.
Der Moment, als ihr der Vater den Knopf ihres Vorfahren in die Hand drückte. Zunächst schien gar nichts zu passieren - doch dann zogen sich die Ränder des Portals tatsächlich zusammen. Saskia hatte die Oberhand errungen, auch wenn ihr Kopf zu platzen drohte. Ihr Hals schien nur noch so dünn wie eine Stricknadel zu sein.
Wieder erschien das Auge, glotzte diesmal Levantin an und verschwand wieder. Dann wurden gleich mehrere Gestalten nacheinander durch das Loch geschleudert: perfekte Menschenkörper, Männer und Frauen, doch ihre Gesichter waren leer. Sie besaßen keine Nasen, keine Münder und keine Augen, nichts, was aus ihnen ein Individuum gemacht hätte.
Die Wesen warfen sich sofort auf Levantin, zwei weitere sprangen auf Saskia zu, die sich anstrengen musste, das Loch weiter zu schließen. Die Waffe in ihrer Hand schien Tonnen zu wiegen, und sie röchelte wie eine Ertrinkende. Gegen diese Dämonenwesen würde sie verlieren. »Avatare«, rief Levantin über die Schulter und stürzte sich in das Handgemenge. Unvermittelt sprang Justine in ihrer Halbform an Saskia vorbei und warf sich den anderen Feinden in den Weg. »Du weißt, was du tun musst«, knurrte sie und schnappte einen Avatar an der Kehle, einem zweiten rammte sie die Klauen in die Brust und warf ihn nieder. Noch mehr schöne Erinnerungen sollten ihr Macht geben. Saskias Kopf dröhnte unter der Belastung, die Bittermandel brannte in ihrem Mund und in der Nase und rottete sämtliche Geschmacksnerven aus. Anscheinend ätzte sie sich durch die Zunge. Warm lief ihr das Blut über die Lippe, und der Druck in ihrem Schädel steigerte sich mit jedem Gedanken an ihre Gabe. Der Widerstand, den ihr der Dämon von der anderen Seite bot, war gewaltig.
Die graue Welt verlor all ihre Konturen, aus ihren Mitstreitern und Gegnern wurden wabernde, zuckende Gestalten, und der kreisrunde Riss überstrahlte alles wie eine explodierende Sonne. Ihre Netzhaut schien sich abzulösen, das Bild bekam Flecken wie ein Film, der vor der heißen Projektorlampe verbrannte.
Saskia hatte das Gefühl, als breite sie die Arme aus. Sie legte den Kopf in den Nacken und ließ all die Angst, den Schmerz, die Schrecken, gegen die sie ankämpfte, in sich strömen, ließ den Bittermandelgeschmack sie einhüllen wie eine brennende Decke. Sie gab den letzten Selbstschutz auf - und ließ die Gabe aus sich hinausströmen, ohne daran zu denken, was mit ihr geschehen würde. Attacke Riposte.
»Achtung«, hörte sie ein schwaches Rufen.
Ein Umriss sprang auf sie zu, doch Saskia wich nicht zurück. Der Umriss gab ein fürchterliches Geräusch von sich, das ein Gemisch aus Mädchenweinen, dem Grunzen eines Schweins und einem tiefen Orgelton war. Es zischte, als der Avatar seine Finger um ihren Hals schloss, und der Gestank von brennendem, fauligem Fleisch kämpfte sich durch den allgegenwärtigen Bittermandelgeruch. Saskia sah noch mehr Silhouetten auf sich zukommen. Gleichzeitig fühlte sie, dass sie das Portal so gut wie geschlossen hatte.
Die Artefakte bildeten eine dauerhafte Gefahr für die Menschheit.
Intuitiv fasste sie einen Entschluss, hob das Schwert mit all den anderen Artefakten daran, die abrupt in der gleichen Farbe strahlten wie der Riss, wuchtete es mit viel Anstrengung in die Höhe.
Die Avatare wichen zurück, boten sich ihr geradezu an, schienen sie anzuflehen, sie zu erschlagen und sich dadurch vor ihnen zu retten - doch Saskia schleuderte das Schwert in den Spalt. Obwohl sofort wieder Hände nach ihr griffen und sie schlugen, ihre Kehle packten und sie an den Haaren zu Boden reißen wollten, konzentrierte sie sich allein auf das Schließen des Portals.
Der Dämon Belua brüllte aus weiter Ferne - und verstummte.
Schlagartig wurde die Welt um Saskia farbig und plastisch, sie verlor das Gleichgewicht, fiel nach hinten, schlug hart auf...
... und schaute sich zu ihrer Überraschung selbst ins Gesicht! Auf ihr lag eine nackte Saskia, die sie unablässig würgte.
Justine erschien in ihrer Bestiengestalt über ihr, packte die Frau und riss sie herunter, brach ihr mit einem harten Schlag der Klauenhand das Genick und schleuderte sie davon. »Diese Avatare können jede Gestalt annehmen«, grollte sie. »Ich habe mich schon zweimal selbst töten müssen.« Sie hielt Saskia die blutige Hand hin, um ihr beim Aufstehen zu helfen. »Du hast es geschafft«, sagte sie und verwandelte sich dabei in ihre Frauengestalt zurück. Es knackte und knirschte, als sich die Knochen umwandelten. Sie verzog mehrmals das Gesicht, aber sie beherrschte sich ausgezeichnet.
»Das Portal ist geschlossen.«
Saskia erhob sich und schaute sich im Flur um. Sie blinzelte, weil sie sich erst an das helle, kalte Licht der Neonröhren gewöhnen musste. Ihre Knie gaben nach, Justine fing sie auf und stützte sie.
Sie zählte zwanzig gesichtslose Leichen, die in den unterschiedlichsten Posen umherlagen. Levantin war ebenso wenig darunter wie der Professor.
Auf dem Boden lag der silberne Griffschutz des Schwertes. Etwas weiter weg stemmte sich Will auf die Beine. Seine Gestalt hatte sich nicht verändert, er sah schrecklich und monströs aus. Eine groteske Figur aus einem Horrorfilm.
»Was ist mit Levantin und dem Professor?« Saskia gab Justine zu verstehen, dass sie sie loslassen konnte, und lehnte sich an die Wand.
»Je n'en sais rien.« Die Französin nahm sich einen weißen Kittel aus dem Stationszimmer und schlüpfte hinein. »Du hast das Schwert durch das Portal geworfen - warum? Jetzt kann Belua es sich wieder zusammensetzen.«
Saskia nickte schwach. »Von mir aus. Aber es existiert für ihn keinerlei Verbindung mehr in unsere Welt. Soll er in seiner Dimension herumlaufen, wie er möchte.«
Justine steckte die Hände in die Kitteltaschen, dann grinste sie. »Tres elever, Madame! Woher wusstest du, dass es ...«
»Ich wusste nicht, ob es funktionieren würde. Ich habe es gehofft und irgendwie ... gespürt.« Sie atmete tief durch. Sauerstoff war etwas Herrliches.
»Dann hoffen wir, dass deine Taktik funktioniert.« Justine ließ Will nicht aus den Augen, der wie betäubt auf seine schrecklich verwandelten Hände starrte und dann begann, in ihre Richtung zu wanken. »Was machen wir mit ihm?«
Saskia fühlte sich unendlich schwach; gleichzeitig wusste sie, dass sie es schaffen würde. Sie nahm Justine bei der Hand und ging Will entgegen. »Das Gleiche wie mit dir: von hier wegbringen.«
Sie öffnete unmittelbar vor Will ein Portal, so dass sein nächster Schritt unweigerlich hineinführte, danach traten sie und Justine hindurch ...
... und standen in der Hamburger Wohnung am Sandtorkai, in der sie sich vor einigen Tagen das erste Mal vor ihren zahlreichen Verfolgern versteckt hatten.
Inzwischen gab es keine Consciten mehr, keine Dämonenanhänger, auch keinen Sir - nichts mehr, was mit dem Blutportal zu tun hatte.
»Hier?« Justine staunte. »Ich hatte mit einem Bunker gerechnet.«
»Nein. Das ist das beste Versteck.« Saskia wankte ins Bad. »Ich bin gleich wieder da.« Justine sah zu Will und schob ihm mit dem Fuß einen Stuhl hin. »Wie fühlst du dich?« Seine weißen Augen richteten sich auf sie. »Stark«, antwortete er bedächtig. »Übermenschlich. Überlegen. Und trotzdem ... hilflos.« Er betrachtete seine Hände. »Die Verwandlung ist noch nicht abgeschlossen. Ich habe keine Ahnung, was das Dämonische mit mir anstellen wird.« Er sank auf den Stuhl. »Ich spüre, dass es durch mich rinnt, meine Zellen verändert und sich ausbreitet.« Er legte eine Hand auf seine Brust. »Ich müsste tot sein. Mein Herz tut mindestens dreihundert Schläge, und meine Temperatur liegt sicher bei fünfzig Grad.« Will sah in den Spiegel, erschrak über sich selbst und fletschte die Zähne. Klirrend platzte der Spiegel wie von einem unsichtbaren Hammer zerschmettert.
»Gib bloß acht, wohin du schaust«, mahnte Justine. »In dir stecken zu viele dämonische Kräfte.«
»Ich wollte sie nie«, flüsterte er und schloss die Augen. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Justine überwand ihre Abneigung. Sie legte ihm behutsam die Hände auf den kahlen, heißen Kopf.
Saskia streifte derweil ihre verschwitzten und zerrissenen Kleider ab und setzte sich unter die Dusche, die sie aufdrehte und auf warm stellte. Das Wasser wusch das Blut von ihrem Gesicht, und das Rauschen wirkte beruhigend.
Sie spülte sich den Mund aus, spuckte die Bittermandel auf den Boden und schneuzte sich so lange, bis der Essig und das Wachs nicht mehr in ihrer Nase saßen. Sie genoss die vielen feinen Strahlen mit geschlossenen Augen. Aufsteigende Bilder aus der Klinik verdrängte sie; sie wollte Frieden finden.
Und dann, ganz plötzlich, meldete sich ein Gefühl, das schmerzte und sie gleichzeitig auflachen ließ, weil sie sich da durch lebendig wie lange nicht mehr fühlte: Saskia verspürte großen Hunger! Sie erhob sich, drehte die Dusche ab und wickelte sich in ein Handtuch, um zu den anderen zurückzukehren. Justine hatte sich umgezogen und trug Klamotten aus dem Fundus des Kleiderschranks; Will hatte sich ein Laken um die Hüfte gebunden. Er schaute durch die Gardine auf das Wasser des Hafens hinaus.
Justine fläzte sich in den Sessel und zappte sich durch die Nachrichtenkanäle. »Geht es dir besser?«
»Ich muss etwas essen.« Saskia nahm sich eine Packung Erdnüsse aus dem Schrank, riss sie auf und stopfte sich eine Handvoll in den Mund. Sie hatte nicht gewusst, dass ein solcher Snack so köstlich sein konnte. Eine Hand folgte auf die andere, dabei ließ sie das Telefon unentwegt die Nummer des Professors wählen. Erfolglos. »Scheiße«, sagte sie betroffen. »Levantin wird den armen Kerl für seinen Verrat bestrafen.«
Justine fand einen Bericht über die Vorfälle in Damaskus: Das Staatsfernsehen meldete einen terroristischen Anschlag auf das Klinikum und machte Israel und Amerika dafür verantwortlich; westliche Berichterstatter dagegen sprachen von einem Unfall in einem Labor, in dem fragwürdige Experimente durchgeführt worden waren.
Saskia ließ sich neben Justine auf das Sofa fallen und starrte gegen die Decke. »Was grübelst du?«, wollte Justine wissen.
»Ich überlege, ob ich die Gabe nutzen soll, um wieder durch die Zeit zu reisen und mein Duell zu verhindern«, sagte sie leise. »Das Duell gegen Levantin. Dann wäre alles anders.« Justine schnalzte mit der Zunge. »Wie war das noch gleich mit der Veränderung der Geschichte? Ich würde dir liebend gern zustimmen, schon allein weil ich dadurch den Tod der Nonnen verhindern könnte. Aber was wäre der Preis?«
»Vergiss nicht: Was ist, wenn Levantin in der von dir veränderten Gegenwart jemand anders findet, der ihm das Portal in seine Heimat öffnet, dabei aber eine Sphäre aufschließt, durch die Dämonen eindringen, gegen die niemand etwas unternehmen kann?«, gab Will zu bedenken und betrachtete die Wellen im Hafen. »Ich gebe zu, dass ich erst einen ähnlichen Gedanken wie du hatte, um das hier«, er hob seine Hand und zeigte ihnen die weißen Adern unter der schwarzen Haut, die zunehmend einen schuppigen Eindruck machte, »zu verhindern. Aber ich kann euch nicht garantieren, dass wir damit nicht alles schlimmer machen. Vielleicht würde meine Rettung erst recht das Ende der Welt einläuten.« Er schaute Saskia mit seinen hellen Augen an. »Das dürfen wir nicht riskieren. Du müsstest dein restliches Leben damit verbringen, die verschiedenen Fehler zu korrigieren, die aus deinem Eingreifen resultieren. Eine unmögliche Aufgabe.«
Justine lachte bitter. »Ein Teufelskreis, buchstäblich.«
Saskia erwiderte seinen Blick. Sie sah darin den alten Will, und das fand sie sehr beruhigend. Sein Körper mochte durch den Schwertsplitter verändert worden sein, doch sein Charakter schien nicht mehr unter der dämonischen Macht zu leiden. Justine hatte inzwischen einen Bericht über die Pest in Hamburg gefunden. Das Robert-Koch-Institut hatte auf der Basis von Streptomycin, Chloramphenicol sowie Kombinationen aus Tetracyclinen und Sulfonamiden ein neues Heilmittel entwickelt, mit dem die Infizierten behandelt wurden. Vorsorglich liefen die Impfungen in der Hansestadt weiter, damit ein weiteres Umsichgreifen verhindert wurde. »Es ging glimpflich aus«, sagte ein Stadtoberer sichtlich erleichtert, dabei wurde 362 Tote, 5383 Infizierte eingeblendet. »Hamburg hat auch diese Pest überstanden.«
Justine hob die Hand. »Darauf würde ich trinken, wenn ich etwas hätte.«
Will trat neben Saskia. »Kannst du das Fremde aus mir lösen?«, fragte er unsicher. Er schluckte nervös. »Ich weiß nicht, was es aus mir macht.« Sie schenkte ihm einen mitfühlenden Blick. »Kannst du nicht mit einer Vision in deine eigene Zukunft schauen?«
»Ich glaube, meine Gabe ist verschwunden. Vermutlich, weil sie an den Splitter des Schwertes in meinem Rücken gebunden war.« Er fuhr sich gedankenverloren über die Adern an seiner rechten Hand. »Damit kann ich nicht leben, Saskia. Bitte, versuche es! Oder töte mich.« Sie berührte seine Wange. »Ich weiß nicht, ob das so einfach ist.«
Er zeigte auf Justine. »Bei ihr hast du das Böse auch ...«
»... eingesperrt und an den Rand ihres Selbst gedrängt«, vollendete sie. »Entfernen konnte ich es nicht. Es war immer noch da.«
»Da hat sie recht«, meldete sich die Französin.
»Besser als nichts.« Will sank vor ihr auf die Knie. »Bitte«, schluchzte er, »ich will so nicht leben. Es verändert sich nach wie vor in mir. Ich spüre es!«
Sie legte ihm die Hand auf den kahlen Schädel, der sich heiß anfühlte, ohne dass sich Schweißtropfen bildeten. Eine glatte, versiegelte Haut, ohne Poren, ohne Haare und nicht menschlich. »Ich kann dir nicht versprechen, dass ich etwas erreiche«, flüsterte sie. »Sollten wir damit nicht warten, bis wir Levantin erledigt haben?« Justine verließ den Sessel und öffnete den Kühlschrank, in dem sie ein paar Bierflaschen fand. Jemand hatte ihn während ihrer Abwesenheit aufgestockt. »Er ist ja wohl immer noch in unserer Welt und wird wissen, dass du überlebt hast. Da sein Plan, das Artefakt zu benutzen, versagte ...« Die Andeutung reichte. Sie drehte den Verschluss auf und trank von dem Bier.
»Ich wüsste zu gern, warum Er mich gerettet hat.«
Justine lachte auf. »Ich schätze mal, dass es sein Ego nicht zuließ, gegen diesen Belua zu unterliegen. Und außerdem bist du seine einzige Hoffnung, um in die Heimat zu gelangen. Er musste zwei Jahrtausende auf dich warten, vergiss das nicht.« Sie setzte sich wieder in den Sessel. »Und darum wird er zurückkommen, Saskia. Vielleicht brauchen wir dann Wills Beistand in seiner ...« Ihr fehlten die passenden Worte. Aber Saskia lächelte. Ihr war eine Idee gekommen. »Ich schaffe es ohne euch. Es wird Zeit, dass ich herausfinde, was ich alles tun kann.«
22. November
Deutschland, Hamburg, Sandtorkai
Levantin ließ den Professor die Tür zur Gästewohnung der Union mit dem Zweitschlüssel öffnen, dann schob er ihn freundlich zur Seite und ging durch den Flur.
Er sah Justine im Sessel sitzen, ein glatzköpfiger Will und Saskia hatten es sich auf der Couch bequem gemacht und ihre Hände ineinandergelegt. Gul hatte bis auf die fehlenden Haare sein altes Aussehen wieder, aber Levantin spürte, dass sich etwas in ihm befand, das groß und mächtig war - und lauerte.
Zuerst dachte er, seine Sinne würden ihn täuschen, aber Saskia Lange, sein Geschöpf, sein Werkzeug, seine große Hoffnung strahlte die gleiche langweilige, primitive Aura ab wie der Professor. Sie war wieder zu einem gewöhnlichen Menschen geworden. Ein Schock! »Et voilä, Monsieur le maitre«, sagte die Französin herablassend. »Wir haben früher mit dir gerechnet.«
»Nein«, sagte er entsetzt und blieb vor Saskia stehen. »Nein!«, schrie er dann und verlor die Beherrschung. »Nicht nach all den Jahrtausenden!« Er packte sie mit einer Hand, riss sie auf die Beine und zog ihr Gesicht dicht vor seines. »Du hast die Gabe abgelegt? Wie konntest du dich nur dieser Erhöhung verweigern?«
Sie lächelte glücklich. »Du weißt es?«
»Ich spüre es!«, brüllte er und schleuderte sie hart auf die Couch zurück. »Wie?« »Es war zu viel Verantwortung«, entgegnete sie ruhig. »Ich habe über deine Worte nachgedacht, Levantin, und du hattest recht: Wer eine solche Macht besitzt, darf nicht untätig herumsitzen, sondern hat die Pflicht, sich einzumischen.« Sie zuckte mit den Schultern. »Aber wie entscheide ich, was das Richtige ist? Wer gibt mir das Recht?« Sie legte ihre Hand wieder in Wills. »Ich habe seinen dunklen Teil in den hintersten Winkel seines Selbst verbannt, wo er bis an sein Lebensende bleiben wird. Das war die wichtige Aufgabe, die ich noch hatte. Was du nicht bedacht hast: Die Gabe machte es möglich, dass ich sie selbst aus mir herauslöste. Wäre ich nur früher darauf gekommen!« Sie lachte ihn an. »Was für ein Ärger, nicht wahr? Ich bin eine ganz normale Frau. Nichts weiter als eine Köchin, die gut fechten kann und die union des lames fortführen wird«, Saskia schaute zum Professor, »mit seiner Hilfe und neuen Leuten, die nichts mit dir zu tun haben.«
Levantin ballte die Hände zu Fäusten.
Saskia stand auf und nickte Justine zu, die neben sich griff und ihnen zwei Rapiere zuwarf. »Revanche, Maitre.« Sie behielt eine Waffe und reichte die andere an ihn weiter. »Der Professor wird die Punkte zählen.« Sie zog die Hülle von der Klinge und warf sie auf die Couch. »Fröhlich soll die Klinge singen, Schutz und Leib des Gegners durchdringen.« »Es wird mir ein Vergnügen sein«, sagte Levantin. Innerlich frohlockte er: So bekam er eine zweite Gelegenheit, sie zu erhöhen. War ihr das nicht klar? { Der Professor schob die Möbel zusammen mit Will und Justine zur Seite und schuf eine einigermaßen freie Kampffläche. »Freies Gefecht?« Beide nickten. Er wollte etwas sagen, stattdessen zögerte er und sprach die Formel: »L'union des lames, unique, secrette et éternelle. Ni bonne, ni mauvaise, mais mortelle pour nos ennemis et les traîtres. Die ehrenwerte, altehrwürdige union des lames und ich, das Komitee, grüßen die Kämpfer Maitre und Rapier.« Er verbeugte sich vor ihnen. »Die beiden Kontrahenten haben sich einverstanden erklärt, ohne Planche zu kämpfen und ein freies Gefecht zuzulassen. Gewonnen hat, wer seinem Gegner gemäß den Statuten der union zuerst fünf sichtbare, blutende Wunden schlägt oder den Sieg von seinem Gegner geschenkt bekommt. Bei einem Unentschieden geht der Kampf weiter. Stets gilt ...«
»Der Tod des Gegners ist kein erstrebenswertes Ziel«, übernahm Saskia mit einem düsteren Lächeln, »mag jedoch geschehen.«
Levantin betrachtete seine Waffe, die neu und hochwertig aussah, während die Klinge seiner Gegnerin Scharten und gealterte Stellen aufwies. »Ein Gelegenheitskauf?«
Saskia nahm die klassische Fechtposition ein und wies ihm ein Zeichen, das knapp oberhalb des Fingerschutzes ins Metall geschlagen worden war: drei gekreuzte Dolchpaare, eins oben, die anderen beiden rechts und links darunter. »Ein Familienerbstück, das ich noch in meiner Vitrine zu Hause hatte. Der Säbel meines Vaters brachte mir kein Glück, jetzt versuche ich es mit dem Rapier eines Ahnen.« Sie grüßte und ließ die Klinge durch die Luft zischen. »En garde, Monsieur.«
Levantin grüßte sie ebenfalls und nahm die Fechterstellung ein. »En garde«, gab er zurück und erwartete ihren Angriff.
Saskia attackierte ansatzlos mit schnellen Sprüngen und Stößen aus dem geraden Arm heraus. Er wich zurück und wehrte ihre Spitze mit rasanten Hieben ab, um nach einem angetäuschten Stich in Richtung Kopf einen Schlag gegen ihre Waffenhand zu führen. Saskia parierte jedoch mit einem Lächeln. Eine rasche Handbewegung, und die Spitze bohrte sich in seine Brust, zuckte nach unten und hinterließ einen tiefen Schnitt. Blut quoll hervor. Der Professor vermeldete einen Punkt für Saskia.
»Du magst Dämonenfeuer standhalten, aber irdische Dinge können dich durchaus verletzen, wie ich weiß.«
Der Gedanke daran, dass sie ihn um die Rückkehr in seine Heimat betrogen hatte, machte Levantin wütend. Er sprang vorwärts und ließ das Rapier hin und her tanzen, es peitschte die Luft und verschleierte, wohin der eigentliche Angriff gehen sollte. Dann machte er sich lang und stach tief, genau auf ihr Knie zu.
Wieder parierte sie, fälschte die Klinge ab und konterte, indem sie in seine Schulter stach und eine rote Linie über das Schlüsselbein zog.
»Un point pour Rapier«, sagte der Professor.
»Trop tard, n'est-ce pas?«, kommentierte Justine und schlürfte ihren Kaffee. »Trop lentement.« Noch während Levantin versuchte, die Schmerzen zu kontrollieren, griff Saskia wieder an, trieb ihn rückwärts in den schmalen Flur, aus dem es kein Entkommen gab; eine Planche mit Wänden. Es wäre ein Leichtes, durch die dünnen Begrenzungen zu brechen, aber das hatte er nicht nötig. Nicht gegen einen Menschen.
Absichtlich wich er zurück, bis er die Tür hinter sich spürte. Beim nächsten Angriff der Frau lenkte er ihre Klinge dagegen. Das Rapier fuhr durch das Plastik in die Füllung. Sofort stach er nach Saskia, die ihm gefährlich nahe gekommen war - doch sie zog den Bauch ein, und das geschliffene Ende verfehlte sie. Ein lauter Fluch drang über seine Lippen. Sie trat ihm gegen die Brust, warf ihn rückwärts gegen die Tür, die unter seinem Gewicht brach. Saskia zog ihre Waffe wieder an sich und griff ihn an, deckte ihn mit schnellen Schlägen ein, die mehr an Bühnenfechten als an einen Wettkampf erinnerten, bis sie ihn ein drittes Mal verletzte. Dieses Mal schnitt sie ihm quer über den Bauch. Sein Hemd und sein Anzug hingen in Fetzen an ihm. Dann zog sie sich mit ausgestrecktem Arm bis ins Wohnzimmer zurück und grüßte.
»Un point pour ...«, setzte der Professor an.
»Ich weiß«, schrie Levantin, rammte sein Rapier in die Wand, warf Sakko, Krawatte und Hemd von sich und stampfte ins Wohnzimmer. Im Vorbeigehen riss er die Waffe heraus. Er fühlte, dass seine Augen golden leuchteten und seinen aufgewühlten Zustand verrieten. Es lief gar nicht so, wie er es hatte haben wollen. Die Frau kämpfte heute anders. Gelöster und befreiter ... und mit der Unterstützung ihres Ahnen, wie es den Anschein hatte. Das Rapier brachte ihr Glück. Er blutete aus drei Wunden, und sie schwitzte gerade mal ein bisschen. Zwei sehr unterschiedlich wertvolle Körperflüssigkeiten.
Levantin hatte nicht vor, den Kampf nach dem fünften Punkt zu beenden. Er würde sie wieder zeichnen. Wenn sie mit so etwas wie Anstand oder Ehrenhaftigkeit rechnete, würde er sie enttäuschen. Er stand weit über ihr, und sie erfuhr die Gnade der zweiten Erhöhung. Dieser durfte sie sich nicht verweigern. Weder sie noch die anderen minderwertigen Geschöpfe würden ihn daran hindern.
Dieses Mal begann er mit einer Ausfallserie, zwang sie rückwärts auf das Fenster zu. Sie leitete seinen Angriff ab, die Klinge prallte gegen das Glas und rutschte mit einem Quietschen über die Oberfläche, ehe es unter dem Druck barst. Saskia trat hinaus auf den Balkon und lächelte. Levantin setzte nach, sprang hinaus und spürte, dass das Holz unter seinen Füßen knirschte. Etwas mehr als dreihundert Kilogramm auf der recht kleinen Fläche belasteten das Material sehr.
Saskia stach schon wieder zu.
Er blockte ihr Rapier und rammte seinen Ellbogen gegen ihre Schläfe, woraufhin sie zur Seite taumelte und von der Brüstung aufgehalten wurde. »Un point pour...«, prophezeite er grinsend. Saskia schoss herum, ging tief in die Knie - und stach ihm von unten durch den rechten Arm. »... moi!«
Levantin schrie seinen Ärger heraus. Was war mit ihm, dass er schlechter kämpfte als jemals in seinem langen Leben?
Die Frau hatte sich an seinen Beinen vorbei abgerollt, und er sprang instinktiv in die Höhe, damit die Klinge ihn nicht in den Kniekehlen erwischte.
Noch bevor er landete, wusste er, dass das ein Fehler gewesen war.
Krachend barsten die Latten unter seinen Sohlen.
Levantin schoss abwärts, die Stockwerke und Balkone hinab, ohne seinen Fall aufhalten zu können, bevor er auf dem harten Platz vor dem Gebäude mit den Füßen voraus aufschlug. Es knackte in seinem rechten Bein, und heiße Schmerzen durchzuckten ihn.
Die ersten Neugierigen erschienen auf den Balkonen, Passanten blieben stehen, und die Menschen mit Handys, die alles und jeden fotografierten, um Leserreporter zu werden, waren auch schon da. Einen solchen Sturz sah man nicht alle Tage.
Fluchend zog er sich an einem Betonkübel in die Höhe, setzte sich auf eine Bank, nahm das Rapier in die Hand und wartete, dass Saskia erschien. Sein Handy, das er aus der Hosentasche zog, hatte den Aufprall nicht überstanden.
Die Tür öffnete sich, und Saskia kam heraus, ihre Waffe in der Hand und eine Strumpfhose {als Maske über dem Kopf, um von den Schaulustigen nicht erkannt zu werden. Sie hielt geradewegs auf ihn zu, die Spitze der Waffe auf seinen Hals gerichtet. »Mir fehlt noch ein Punkt«, sagte sie eisig und griff an.
Er wich aus, parierte ihre schnellen Attacken und erwiderte sie im Sitzen, so gut es ihm möglich war. Ihre Konzentration schien nachzulassen, während sein geschundener Körper sich bereits regenerierte. Endlich erwischte er sie vor der Brust und setzte den ersten Schnitt für ihre Erhöhung. Saskia schrie auf, schlug sein Rapier zur Seite - und durchbohrte seinen Hals! Er konnte nichts sagen, denn die Klinge hielt seinen Kehlkopf gefangen. Geistesgegenwärtig ließ er das zweite Zeichen folgen, doch sie schob ungerührt die eigene Klinge tiefer in ihn hinein, bis der Platz zwischen ihnen nicht mehr ausreichte, um seine Waffe zu benutzen. Levantin zog das dritte Symbol mit dem Nagel des rechten Fingers in ihre Haut, dann ließ er sich nach hinten fallen, um sich den Stahl herauszuziehen.
Aber die Frau folgte seiner Bewegung und stand auf der Bank, den Oberkörper nach vorn gebeugt. Blut rann aus den Wunden und färbte ihr Hemd. »Das schaffst du nicht.« Sirenen näherten sich ihnen, das Piepsen der Fotohandys ging in ihrem Heulen unter. »Der Tod des Gegners ist kein erstrebenswertes Ziel«, sagte sie kalt, »mag jedoch geschehen.« Ruckartig zog sie das Rapier zurück und führte einen gewaltigen Hieb von rechts nach links, um ihm den Kopf von den Schultern zu trennen.
Levantins Reaktion war noch gut genug, um den Angriff aufzuhalten. Wieder zuckte sein zweiter Arm vor, der Fingernagel fügte ihr das vierte Zeichen zu, und er setzte zum fünften an ihren zweiten Angriff mit der anderen Hand hatte er nicht vorhergesehen.
Blitzschnell zerschnitt sie seinen Hals mit einem Dolch, und er spürte, wie die Energie aus ihm wich. Ihm wurde kalt, seine Gliedmaßen fühlten sich taub an ...
Als er seine Kräfte aktivieren wollte, kam nur ein schwacher Widerhall von dem, was er sonst vermochte. Die Selbstheilung misslang, und die Kälte breitete sich weiter aus. Sie durchbohrte sein Herz mit dem Rapier und stützte sich auf den Griff. Ihr maskiertes Gesicht näherte sich ihm. »So fühlt sich das Sterben an, Levantin«, sagte sie. »Das, was du in den Jahren deiner Existenz tausendfach verteilt hast, kehrt zurück zu dir.« Sie zog die Waffe aus ihm heraus.
Wie gelähmt sah Levantin zu, wie sie zu seinem Chrysler ging, der mit laufendem Motor wartete, einstieg und das Auto gleich danach mit Höchstgeschwindigkeit davonbrauste. Die Schmerzen, die durch ihn tobten, interessierten ihn nicht. Betäubt betrachtete er den Himmel über sich, an dem graue Regenwolken aufzogen.
Levantin hatte sich noch niemals Gedanken über sein Sterben gemacht. Was geschah nun mit seiner Seele? Zog sie wenigstens zurück in die Heimat, oder löste sie sich aus ihm und war dazu verdammt, bis zum Ende aller Tage umherzuirren?
Er bekam Angst.
Mehr als Angst.
Eine Steigerung, die ihm mehr Schmerzen bereitete als das sterbende Herz und die vielen Wunden in seinem Körper. Ein Schmerz, den er nicht verdrängen konnte.
Es ging ihm auf, dass er dabei war, für immer zu vergehen. Seine Unsterblichkeit endete. Hier, unrühmlich, auf einem Betonplatz und umringt von nichtswürdigen Wesen, welche die Frechheit besaßen, sich an seinem Tod zu ergötzen.
Er wollte sie anschreien und sie durch den Laut sterben lassen, ihnen die Köpfe abreißen, sie reihenweise niederschlagen und ihre Leiber mit der bloßen Hand spalten.
Ein blutiges Husten war alles, was er hervorbrachte.
Eines der Insekten schaute ihn an, dann machte es ein Foto und wich hastig zurück. Eine Erniedrigung sondergleichen. Der Herrscher über Königreiche, der Befehlshaber über Heerscharen - verreckte elendig, ohne zu verstehen, wie das sein konnte.
Nein. Nein, er hatte sich wirklich niemals Gedanken über seinen Tod gemacht. Die Überraschung war Saskia Lange gründlich gelungen.
Und dann hatte er plötzlich eine Eingebung, warum er starb.
Warum er besiegt worden war.
Warum er an einfachen Verletzungen starb.
»Aus dem Weg, aus dem Weg!«, schrie jemand. Schritte eilten auf ihn zu, aber er sah zu den grauen Wolken hinauf.
Von seiner eigenen Schöpfung überlistet.
Ein beschmutzendes Gefühl, abgrundtiefe Erniedrigung und gipfelhohe Peinlichkeit gleichermaßen.
Levantins Herz blieb stehen, und er starb, bevor ihn die Rettungssanitäter erreichten. Saskia schaute hinter sich, in Richtung Sandtorkai. Sie nahm Wills Hand. »Geschafft«, flüsterte sie.
Ein Krankenwagen und zwei Polizeifahrzeuge rasten mit Sirenengeheul an ihnen vorbei, doch Justine fuhr ganz gemütlich weiter, bog ab und lenkte den Chrysler tiefer in die Innenstadt. »Noch nicht«, sagte sie von vorn. »Wir müssen von hier verschwinden.«
»Vergiss nicht, dass Justine Chassard offiziell tot ist; Valerie Montagne hat sich noch nichts zuschulden kommen lassen, wenn ich mich nicht täusche«, widersprach Saskia. »Will und ich gehen zur Polizei und stellen uns, aber sie werden uns nicht viel vorwerfen können. Danach wartet ein Restaurant auf mich, das schon viel zu lange geschlossen war.«
Will rieb sich übers Gesicht. »Ich will gar nicht wissen, was aus meinem Blumenladen geworden ist. Es wird alles vertrocknet oder verfault sein.«
Der Professor lächelte. »Das lässt sich regeln«, meinte er vieldeutig. »Die union kann Ihnen sicher unter die Arme greifen. Wo sie doch eine neue Maitresse hat.« Er lachte. »Und einen neuen Vorsitzenden, der umgehend ein Komitee gründen wird. Die union wird in eine neue Ära geführt.«
Sie fuhren eine Weile ohne Ziel durch die - wie ihre Bewohner gerne sagten - schönste Stadt der Welt. »Was wohl aus seiner Seele geworden ist?«, fragte Will nachdenklich.
»Komm nicht auf die Idee, für sie zu beten!« Justine lachte böse. »Verdient hat er es nicht. Ganz im Gegenteil, er soll von mir aus zu Belua fahren und ihn ein bisschen unterhalten! Und damit hat diese ganze unerfreuliche Geschichte dann doch noch ein gutes Ende genommen.« Saskia hatte die Minibar gefunden, in der Coladosen verschiedener Hersteller lagerten. Sie öffnete eine und nahm einen Schluck. »Darauf trinke ich.« Und darauf, setzte sie in Gedanken hinzu, dass es Geheimnisse gibt, die besser nicht eröffnet werden.
Sie besaß die Gabe der Médiatrice noch immer. Aber sie konnte sie verbergen. Wegschließen, zusammendrücken, klein machen, in den hintersten Winkel schieben, so dass sie niemand bemerkte. Nicht einmal Levantin.
Ihre größte Sorge war gewesen, dass er sie durchschauen würde. So aber hatte sie ihn herausgefordert, sein Glück ein zweites Mal zu versuchen und sie zu zeichnen. Sie zeichnen zu müssen, um die Erde zu verlassen.
Natürlich hatte sie die Gabe gegen ihn eingesetzt, seine Überlegenheit blockiert und ihn auf die Geschwindigkeit eines gewöhnlichen Menschen gedrosselt. Sie hatte ihm die Unsterblichkeit und seine Unverwundbarkeit geraubt. Levantin hatte niemals eine Chance gegen sie besessen. Dieses Mal hatte sie mit ihm gespielt.
Doch das würde auf immer ihr Geheimnis bleiben.
Saskia nahm noch einen Schluck und betrachtete die Dose, ohne den Aufdruck wahrzunehmen. Durfte sie ihre Gabe ruhen lassen? Musste sie sich nicht dort einmischen, wo eine Öffnerin gebraucht wurde? Saskia hielt sich nicht für eine Führerin. Politik interessierte sie nicht, Kriege in anderen Ländern machten sie betroffen, gingen sie aber nichts an. Hatte sich daran vielleicht etwas geändert?
Das Rot auf der Dose ließ sie an die Haare des Vampirs denken. Dominic de Marat. Ein Wesen aus einer vergangenen Zeit, dessen Mutter ihre Ausbildung bei Frans Hohentgar absolviert hatte. Sie glaubte nicht an Zufall, schon lange nicht mehr. Sie würde dem Vampir sicherlich wieder begegnen. Furcht spürte sie nicht. Sie wusste, wie sie sich verteidigen konnte. »Du hast nicht zugehört«, sagte Will beleidigt.
»Nein, entschuldige. Ich war mit meinen Gedanken woanders«, gab sie zu. »Was sagtest du?« »Dass ich mich vielleicht Shiva und nicht Will nennen sollte«, wiederholte er. »Mon Dieu. Er leidet an Megalomanie«, murmelte Justine. »Das ist das Dämonische in ihm.« Der Professor nahm ein Handy heraus. »Ich würde an Ihrer Stelle bei dem Namen Will bleiben. Er passt zu Ihnen. Sollten Sie jemals die Lust verspüren, ein Gott sein zu wollen, ist das wohl das Zeichen dafür, dass das Böse in Ihnen die Oberhand gewinnt und Frau Lange Ihnen den Kopf von den Schultern schlagen muss.« Er klang nicht heiter.
»Das sollte sie wohl.« Will drückte ihre Finger. »Meine Erlaubnis hast du. Aber zuerst gehen wir einen Kaffee trinken. Den schuldest du mir noch.«
»Sehr gern.« Sie lächelte ihn an. Es hatte keine großartigen Worte zwischen ihnen gegeben. Sie hatten sich ganz selbstverständlich die Hände gereicht und einander verstanden. »Ist es nicht ein merkwürdiger Gedanke, dass noch mehr Wesen wie Levantin in unserer Welt leben?« Justine deutete zum Fenster hinaus. »Die Bibelstellen, die er uns genannt hat, gehen mir nicht mehr aus dem Kopf. Wie viele sind es wohl noch? Sollen wir die Menschheit auf sie aufmerksam machen?« Sie zuckte mit den Achseln und gab sich selbst die Antwort. »Wohl kaum. Wer würde uns glauben?«
»Tja, wer würde das, außer den üblichen Spinnern?«, stimmte ihm Will zu. »Und dem Vatikan?«
»Falls es überhaupt Spinner gibt«, meinte Justine nachdenklich. »Sollte man sie nicht lieber Realisten nennen?«
Will, Saskia und der Professor lachten.
Der Chrysler hielt an, und als Will und Saskia aus dem Fenster blickten, erkannten sie eine Polizeiinspektion.
Justine drehte sich auf dem Fahrersitz zu ihnen. »Ihr wolltet doch zu den Flies, n'est-cepas?« »Wären Sie so nett und würden mich danach noch ein Stück mitnehmen?«, fragte der Professor. »Wenn Sie in Hamburg bleiben möchten, würde ich Sie übrigens gerne als Fahrerin einstellen.« »Non, merci. Ich muss nach Italien und ein paar Freundinnen einen letzten Besuch abstatten.« Sie schaute Saskia an. »Aber ich melde mich bestimmt, wenn ich wieder in der Stadt bin.« Ihr Gesicht hatte die zynische Härte verloren, die sie der Welt so gerne zeigte. »Ich schulde dir etwas: mein zweites Leben. Das werde ich dir niemals vergessen.«
Saskia berührte sie sanft an der Schulter, dann stieg sie aus. Will folgte ihr. Ihre Hände fanden einander, als sie gemeinsam die Treppe hinaufgingen.
Justine ließ die Scheibe nach unten fahren. »Sie soll auf dich aufpassen, Blumenmann«, rief sie und hupte zweimal, dann gab sie Gas. »Niemals würde ich mit einem Mann gehen, der Florist ist«, murmelte sie und sah in den Rückspiegel zum Professor. »Wo darf ich Sie hinfahren?« Sie bog auf eine breite Straße ein. »Und wollen Sie mir zum Abschied nicht Ihren Namen verraten, Monsieur le professeur?«
»Warum interessiert er Sie auf einmal?«, fragte er; ein Lächeln spielte um seine Lippen. »Ahrs, ich habe Ihnen nie ganz getraut, und warum hätte ich mir den Namen eines Mannes merken sollen, den ich vielleicht schon im nächsten Moment hätte töten müssen?«, fragte sie mit breitem Grinsen. »Aber wie die Dinge nun stehen ...« Sie hielt an einer roten Ampel. Der Professor lachte und stieg unvermittelt aus. »Wollen wir es nicht dabei belassen, Madame Chassard oder Montagne, oder wie immer Sie heißen möchten? Ich wünsche Ihnen ein schönes, langes Leben. Halten Sie die Ohren steif, was ich passend finde, wenn man bedenkt, was Sie in sich tragen. Und danke fürs Mitnehmen. Ich habe einen Termin in der Nähe«, rief er in den Chrysler, bevor er die Tür zuschlug. Grüßend hob er die Hand, dann sprang die Ampel auf Grün, und Justine fuhr nach kurzem Zögern los.
EPILOG
Der Professor sah den Chrysler im Verkehr verschwinden, wandte sich um und schlenderte die Straße hinauf zu seinem Büro, dem man von außen nicht ansah, was sich dahinter verbarg. Er sperrte die Tür auf, ging den schmalen Flur entlang bis zum Aufzug und fuhr in den dritten Stock. Dieses Mal nahm er eine Key-Karte heraus, führte sie in den Schlitz an der Tür ein und gab zusätzlich die Codenummer ins Tastenfeld ein.
Nach dem Gang durch die Zwischenschleuse, einer zweiten Karte und einer weiteren Geheimnummer betrat er endlich die dritte Etage. Sämtliche Wände waren entfernt worden, nur in der Mitte stand ein einsamer Computer unter einem nicht weniger einsamen Schreibtisch, auf dem drei Monitore wie ein Tryptichon angeordnet waren. Durch die mit Folie verkleideten Fenster fiel das gefilterte Sonnenlicht in einem sanften Blauton, das die Illusion schuf, um ihn herum befände sich ein Meer. Nichts als Meer.
Der Professor nahm auf dem Sessel Platz und schaltete zuerst den Computer, dann die Monitore an. Danach rief er die Statusmeldungen ab, checkte die Mails, organisierte die union mit ein paar elektronischen Briefen neu und erklärte, dass es eine Maitresse gab: Rapier. Danach sandte er Mails in die Welt, um sein Netzwerk über die neusten Entwicklungen in Kenntnis zu setzen. Der überwiegende Teil der Vorbereitungen war umsonst getroffen worden. Es wäre vielleicht besser gewesen, Smolskas Tod zu verhindern? Er lehnte sich zurück, stieß sich ab, damit er Abstand zum Tisch bekam, und drehte sich dann mit der Sitzfläche um die eigene Achse.
Während er so rotierte, drehten sich seine Gedanken mit.
Alles hatte sich geändert. Hatte er zu lange gezögert? Hätte er sich Saskia Lange einfach schnappen sollen, als sie noch die Gabe besaß?
Es war müßig, nachzudenken. Dennoch: dem Ziel so nahe ...
Levantin war Geschichte, und damit gab es auch für ihn keine Aussicht mehr auf Erfolg. Erst musste er einen von ihnen, von den Gestrandeten, finden, die in der Lage waren, diese ganz besondere Gabe an die Menschen weiterzugeben, wie es Levantin zu tun vermocht hatte. Denn ohne diese Gabe gab es keine Rückkehr.
Nicht unbedingt die einfachste Aufgabe, denn wenn sie sich unauffällig verhielten, waren sie schwer zu entdecken. Er hatte sich so sehr auf Levantin konzentriert, dass es derzeit keinen weiteren Kandidaten gab. Sehr ärgerlich.
Dabei hatte er derart viel in Kauf genommen, sich beim Duell von Levantin mehr als nur anritzen lassen und starke Schmerzen ertragen. Sich ihm als Helfer angebiedert und zu einem Rädchen im Getriebe gemacht, das gleichzeitig sein eigenes Maschinchen antrieb. Saskia Lange gegenüber hatte er erfolgreich den Anschein erweckt, gegen Levantin zu arbeiten. In Wahrheit hatte er ihn über jeden Schritt der Frau informiert und die Observation des Trios übernommen, wenn Levantin dazu nicht in der Lage gewesen war. Es war ein ständiger Verrat an beiden. Das Pendeln war ihm nicht schwergefallen. Er konnte immer schon gut intrigieren, und der Hochmut seines »Herrn« hatte ihn noch dazu vor jeglichem Verdacht geschützt. Wie hätte ein Insekt wie er Eigeninitiative entwickeln können?
Täuschung war so eine leichte Sache, wenn man sich erst einmal auf diese Kunst verstand. Der Professor öffnete die Krawatte ein Stück weit. Das Fazit der letzten Tage war, dass das Warten wieder von vorn begann. Schreien, Brüllen, Toben, das würde alles nichts bringen und wäre bloße Energieverschwendung.
Siebenhundertelf Jahre hielt er schon durch, mitten unter den nervigen, jammernden Primitiven, die trotz allem immer wieder liebenswürdig waren, wenn man am wenigsten damit rechnete. Aber der Wunsch, in seine Welt zurückzukehren, hatte sich nicht abgeschwächt; dieser Wunsch hatte ihn mit Levantin verbunden, auch wenn sie nicht aus der gleichen Sphäre stammten. Im Gegensatz zu ihm verbarg der Professor sein eigenes Charisma sehr gut. Er blieb unsichtbar und weckte keine Aufmerksamkeit. Damit konnte man sich viel mehr erlauben, ohne wahrgenommen zu werden. Weder von den Menschen noch von den Verirrten. Der Professor bedauerte Levantins Vernichtung, die überraschend gekommen war. Doch er hätte sich denken können, dass das Glück nicht ewig mit dem Maitre sein würde. Nun galt es, sich auf andere Ansätze zu konzentrieren, die er weiterverfolgen würde: die Villa des Sirs beispielsweise. Er würde sie sich kaufen. Es gab keine Erben, und vielleicht barg das Haus noch mehr Schätze. Auch aus dem Buch, das Saskia dem Mönch am Baikalsee abgenommen hatte, sowie aus der Bauanleitung für die Kammer in der Villa ließen sich unter Umständen neue Erkenntnisse gewinnen.
Schade fand er, dass Levantin die Mitwissenden, die Consciten, ausgelöscht hatte. Echte magisch begabte Menschen, die er lieber Manipulatoren nannte, waren selten zu fassen. Sie konnten mitunter Blutportale öffnen; diese Option hatte Levantin leider in seiner üblichen Hybris vernichtet. Aber der Professor war sicher, früher oder später andere zu finden.
Außerdem würde er Justine nicht aus den Augen verlieren. In ihr steckte Potenzial, von dem sie nichts ahnte - und von dem auch er noch nicht wusste, wann er es brauchen konnte. Er bremste die Drehung des Stuhls mit den Füßen, so dass er in die blaue eingefärbte Sonne schaute. Und die Erde war wüst und leer. Und es war finster. Ein wehmütiges Lächeln huschte über sein Gesicht. Die Erde hatte wirklich etwas Wüstes, Leeres und Finsteres - im Vergleich zu dem Ort, von dem er stammte.
Der Professor schaute in das Blau. So war es in seiner Heimat gewesen, nur wärmer, schöner, und die Luft roch nach etwas, für das es hier keinen Namen gab.
Außer Zuhause.