II. Buch
TOUCHÉ
XII. KAPITEL
9. November
Deutschland, Hamburg, Sandtorkai
Obwohl Saskia sich inzwischen beruhigt hatte, hielt Will sie immer noch fest im Arm, streichelte über ihr Haar und flüsterte beruhigend auf sie ein. Wenn er ehrlich war, ging es ihm nicht mehr wirklich einzig darum, sie zu trösten. Er wollte sie spüren.
»Danke, Will.« Saskia löste sich vorsichtig von ihm. »Es geht schon wieder. Vielleicht... vielleicht solltest du dich jetzt doch besser um Justine kümmern?«
O Er sah sie nachdenklich an, stand dann aber auf. »Soll ich dir vorher noch ein Glas Wasser holen?«
Sie lächelte ihn dankbar an. »Das wäre nett.«
Will stand auf, ging in die dunkle Küche, tastete an der Wand nach dem Lichtschalter ...
... und stürzte in die Dunkelheit. Gleich darauf fiel er in eiskaltes, schwarzes Wasser. Flüssige Kälte drang in seine Ohren, in die Nase und in den Mund. In der Linken hielt er einen länglichen Kasten, den er zuerst loslassen wollte. Ein heißer, bekannter Schmerz jagte seinen Rücken entlang, er verkrampfte sich und drückte den Kasten dadurch wieder an sich. Etwas war dagegen, dass er ihn verlor.
Er paddelte erschrocken mit nur einem Arm, prustend kam er an die Oberfläche und trieb neben einem langen schwarzen Schatten. Die sanfte Strömung trug ihn neben einer Gondel her, an deren Bordwand er sich instinktiv mit der Rechten festhielt. Venedig!
Er sah hinter sich und machte am Kanalufer zwei große, hundeähnliche Schemen aus, die neben der Gondel hertrotteten und dabei keinerlei Eile hatten. Dunkelrot glühende Kohle flammte in Augenhöhe auf.
Der Mann, der die Gondel steuerte, hatte die Tiere noch nicht bemerkt - aber dafür Will.
»Du! Weg von der Gondel! Schwimm zurück ans Ufer, oder willst du dir die Pest einfangen?
Hier steht alles voll Eiter und Wundwasser.« Er beugte sich vor. »Da vorn kommt eine Treppe, Freundchen. Das bisschen wirst du noch schaffen.«
Will blickte zu den Stufen, dann zu den riesigen Hunden. »Nein. Ich fahre mit dir.« Er versuchte, sich an der Bordwand hochzuziehen; das Gefährt geriet gefährlich ins Schwanken.
Der Gondoliere setzte das Ende seines Stabs auf Wills Brust und schob ihn weg. »Runter, sage ich! Du wirst uns zum Kentern bringen, und ich will ganz bestimmt nicht zwischen den Pestleichen treiben und diese Brühe schlucken.« Der Druck verstärkte sich. »Lass los, oder ich erschlage dich!«
Will tauchte unter der Gondel durch, schwamm in der Schwärze auf gut Glück vorwärts, bis er gegen Widerstand traf und sich an der Mauer nach oben tastete.
Er dümpelte in den sachten Wellen unmittelbar unter einem Steinbogen, in der privaten Anlegestelle eines großen Hauses. Das torähnliche Gitter zum Kanal war geöffnet gewesen, nur deshalb hatte er bis hierher tauchen können. Will konnte die Schatten der Hunde nicht mehr sehen. Sie waren verschwunden.
Er schwamm zu den Stufen und tappte sie, vollkommen durchnässt, hinauf. Leise plätschernd rann das Wasser aus seiner Kleidung, und der schmale Koffer stieß gegen den Stein. Ein lautes Heulen drang bis zu ihm, das gleich danach von einer anderen Stelle aus erwidert wurde. Die Wandler, wer immer sie auch waren, hatten noch nicht aufgegeben! Was, bei Shivas Avataren, wollten sie von ihm? Will öffnete schnell das Behältnis und schlug den schwarzen Samt auseinander. Er sah erschrocken auf - das Schwert! Das Schwert aus seiner Vision! Bereits der Anblick der massiven Silberscheide beeindruckte ihn zutiefst. Behutsam und äußerst angespannt zog er die Waffe. Griff und Klinge schienen durchgehend aus einem Stück gearbeitet worden zu sein; allerdings bestand beides nicht aus Metall. Es fühlte sich glatt an und erinnerte ihn in dem schummrigen Licht mehr an Elfenbein oder rauchiges Glas als an Stahl. Nachträglich waren eine stabile Parierstange und ein Eisenkorb angebracht worden, um die Hand des Fechters vor gegnerischen Attacken zu schützen. Mehr konnte er nicht erkennen. Weil es die einzige taugliche Waffe war, die er gegen die Riesenhunde besaß, behielt er sie in der Hand.
Will schlich die Stufen hinauf und trat durch die nicht abgeschlossene Tür in das verlassen daliegende Haus. Er roch den Schwefel und das Pech. Seine Bewohner waren wohl Opfer der Pest geworden und entweder als Leichen zu den Toten oder als Infizierte in ein Quarantänelazarett gebracht worden.
Er wagte es, eine Lampe zu entzünden und sich das Artefakt näher anzuschauen. Schön wäre es, wenn er es aus seiner Vision einfach mit hinüber in die reale Welt nehmen könnte, dann könnten sie sich die Suche sparen ... Will zog die Handschuhe aus, um das Schwert besser untersuchen zu können, drehte und wendete es im Lichtschein. Er hatte sich nicht getäuscht: Es war aus Elfenbein geschnitzt, die Schneide höllisch scharf und die gesamte Klinge mit Symbolen geschmückt, teils eingraviert, teils als Intarsie mit silbrigem Draht geformt. Manche davon glaubte er von der Tür aus seiner Villa zu kennen, andere sagten ihm nichts.
»So siehst du also aus«, murmelte Will und wog das Schwert in der Hand. Es war perfekt ausbalanciert, aber nicht eben leicht; wer längere Zeit damit kämpfen wollte, musste schon geübt sein und über kräftige Muskeln verfügen.
Etwas Schweres rammte gegen die Tür, das Holz knirschte, quietschend sprangen einige der Nägel aus den Balken. Will hörte ein wütendes Schnauben, gleich darauf ein lautes Schnüffeln an der Türritze. Die Hunde hatten ihn gefunden!
Er entschied sich für den einzig sinnvollen Fluchtweg: das Dach. In den Gassen war er zu leichte Beute. Will steckte das Schwert in die Scheide und wollte die Holztreppe nach oben hasten, als hinter ihm mit einem lauten Krachen die doppelflügelige Tür aufsprang. Die beiden Hundewesen schlichen mit der Überlegenheit geübter Jäger herein, hoben witternd die langen Schnauzen - und rannten dann schnaubend auf die Treppe zu.
Will verspürte die größte Furcht seines Lebens. Die glutroten Augen jagten heran, und scharfe Fänge blitzten auf; dennoch blieb er stehen, zog das Schwert und richtete es auf die heranschießenden Angreifer. Nicht, weil er sich wie ein Held fühlte, sondern weil eine Flucht aussichtslos war. Sie würden ihn einholen, bevor er ein Bein aus dem Fenster schwingen konnte. Immerhin hinderte die schmale Treppe sie daran, ihn zu umgehen.
Er besann sich seiner indischen Kampfkunst, packte den Griff mit beiden Händen, so gut es durch den Korbgriff möglich war, und schlug nach dem ersten Hund, der sich eben zum Sprung abgestoßen hatte.
Die Schneide traf das Wesen in die rechte Schulter - und das Silber in der Klinge geriet in Bewegung! Es pulsierte und schien wie aus einer unerschöpflichen Quelle in die Wunde des Riesenhundes zu schießen.
Das Tier stieß einen ohrenbetäubenden Schmerzensschrei aus, prallte gegen das Geländer, wobei der Silberstrom unterbrochen wurde, keuchte und spie Blut, in dem es silbrig schimmerte. Gleich danach brach es zusammen und blieb unter Krämpfen auf den Stiegen liegen. Der zweite Hund beobachtete mit gefletschten Zähnen, was mit seinem Artgenossen vor sich ging, und schaute zwischen ihm und dem Menschen hin und her.
Will starrte das Schwert an. Ihm war klar gewesen, dass es sich um eine besondere Waffe handelte, aber bisher war er davon ausgegangen, dass es dabei um das Material ging, nicht um seine besonderen Fähigkeiten. Der Griff fühlte sich zudem wärmer an als zuvor, als würde er von innen erhitzt.
Der zweite Hund sprang über seinen verendenden Artgenossen hinweg, machte zwei eher an eine Raubkatze erinnernde Sätze das Geländer entlang und warf sich mit weit geöffnetem Maul auf Will. Im Flug formten sich die Vorderläufe zu Armen mit krallenbewehrten Fingern, die nach dem Schwert griffen! Will ließ sich nach hinten fallen und stieß mit der Waffe nach oben, um der Kreatur den Wanst aufzuschlitzen. Das Tier hatte mit einem solchen Manöver gerechnet und rollte sich zusammen, um nicht getroffen zu werden - aber die Klinge erwischte es an der Flanke und hinterließ einen fingerlangen Schnitt, nicht tiefer, als ein Blatt Papier dick war. Doch auch diese Verletzung und der Sekundenbruchteil, den das Schwert in den Leib drang, genügte dem Metall, in den Wandler zu schießen. Er fiel auf die Treppe, schnappte nach der Stelle und wühlte mit den Zähnen im eigenen Körper, um das Silber herauszureißen; Blut strömte aus der Wunde, und wieder erkannte Will das metallische Glänzen darin. Heulend und knurrend sank der breite Kopf auf das Holz, und das rote Leuchten flackerte nur noch schwach. Wills Atem raste, Adrenalin und Angst gaben den Takt vor, nach dem Herz und Lungen tanzten. Er starrte erschüttert auf das, was sich vor seinen Augen abspielte: Aus den Tieren formten sich Menschenkörper! Kurze Zeit später lagen eine nackte Frau und ein nackter Mann zu seinen Füßen in ihrem eigenen Blut und Erbrochenen. Silbriges Flackern huschte unter ihrer Haut entlang, kleine Gewitter schienen darunter zu toben und machten die Epidermis durchscheinend, so dass Adern und Knochen zu erkennen waren.
Die Frau hob mit letzter Kraft sterbend den Kopf. »Wir werden nicht aufgeben«, röchelte sie. »Das verfluchte Artefaktum wird nicht lange in deinen Händen sein. Du bist tot, BeluaAbschaum! Tor.'«
»Nein, ich gehöre nicht zu den Belualiten!«, rief er. »Ich bekämpfe sie.«
»Zur Hölle, Lügner!« Sie versuchte, eine Stufe nach oben zu kriechen, an der Leiche des Mannes vorbei, und schien ihn wirklich noch einmal angreifen zu wollen, aber dann lag sie nach einem letzten erstickten Luftholen still.
Will richtete seinen Blick auf das Schwert und berührte dann vorsichtig die Silbereinlagen. Sie fühlten sich ... fest an. Fest und sehr warm. Er versuchte zu verstehen, was gerade passiert war: Die Waffe hatte ihm das Leben gerettet - und war gleichzeitig der Grund, weswegen er von den Wandlern angegriffen worden war. Und dazu noch fälschlicherweise. Er war kein Dämonenjünger!
Viele Schritte erklangen auf der Straße, Lichtschein fiel durch den Eingang, und dann betraten mehrere Menschen das Pesthaus.
Will wusste nicht, was er tun sollte, bleiben oder flüchten? Immerhin stand er vor zwei Leichen, die unverkennbare Schwertwunden trugen.
Der helle gebündelte Strahl einer Blendlaterne fiel von unten auf ihn. »Da oben! Bei den Heiligen, seht euch das an! Der Mörder!«
Will hastete die restlichen Stufen nach oben und öffnete das nächstbeste Fenster. Vor ihm erstreckte sich ein Dach, und er sprang erleichtert hinaus in den stinkenden Nebel Er hatte springen wollen. Aber im letzten Moment packten ihn mehrere Hände, am Nacken, am Rockaufschlag, in den Haaren, und zerrten ihn zurück ins Haus. Er wurde brutal auf den Boden gepresst, jemand stellte sich auf seine Hand- und Fußgelenke, so dass er schließlich das Schwert freigeben musste. Die Männer um ihn herum trugen Pestmasken, die ihre Gesichter unkenntlich machten.
»Nein! Nein, ich bin kein Mörder! Ich musste mich verteidigen!«, rief Will verzweifelt und wand sich. »Sie haben mich angegriffen! Versteht doch!«
Jemand drückte ihm einen harten ledernen Knebel in den Mund. »Schon besser. Jetzt ist er still«, sagte einer von ihnen und ging neben ihm in die Hocke. »Mörder! Und ein Dieb dazu. Ein solches Schwert kann dir wohl kaum gehören.« Jemand reichte es dem Mann, und er setzte es mit der Spitze auf Wills Brust. Die Schneide zerteilte die Kleidung. »Beim allmächtigen Gott!«, rief der Mann aufgeregt und sprang in die Höhe. »Seht! Ich habe es geahnt: ein Diener des Bösen!«
Will blickte an sich herab - und erkannte auf seinem behaarten Bauch ein tätowiertes Zeichen. »Das haben wir bei ihm gefunden, Magister Lentolo«, sagte einer der Helfer und reichte dem Anführer den Tiegel, den Will unlängst von dem Sterbenden erhalten hatte.
Lentolo öffnete vorsichtig den Verschluss, roch daran und verzog das Gesicht. »Vermaledeiter Teufelsdreck! Es ist Pestsalbe!« Er stampfte Will den Stiefelabsatz auf die Nase, es krachte gleich mehrmals. »Wir haben einen jener Schurken gefangen, denen wir Venedigs Sterben verdanken!« Er beugte sich vor und riss Will den Knebel aus dem Mund. »Wie viele seid ihr, Dämonendiener? Nenne mir Namen, und ich gewähre dir einen schnellen Tod.« Will konnte nicht sprechen, auch das Atmen ging so gut wie nicht mehr. Ein Stück abgelöster Knebel blockierte seine Luftröhre. Er röchelte und japste, aber es gelang ihm nicht, den Klumpen aus seiner Kehle zu sprengen.
»Gebt acht, Lentolo! Der Dämon will aus ihm entweichen!«, rief einer der Männer. Fluchend hob Lentolo das Schwert - und stieß es Will durch den Brustkorb! Als hätte die tödliche Verletzung allein nicht ausgereicht, flutete das Silber - oder was immer diese Substanz war - jede Zelle mit Schmerz, mit Qualen und Leiden. Will hatte das Gefühl, in heiße Säure geworfen zu werden, bis sie die kleinste Faser in ihm auflöste und an die Knochen gelangte. Als der Tod seinen dunklen Mantel über ihn warf, war Will dankbar für diese Erlösung; niemals mehr wollte er derartige Pein erfahren, die den Verstand in winzige Splitter schlug, aus denen sich nichts als Wahnsinn formte. Will ließ sich in die gnädige Dunkelheit fallen ... ... und erhielt einen Schlag ins Gesicht, der ihn erschrocken die Augen aufreißen ließ. »Bonjour, mon ami«, sagte eine ihm sehr vertraute Stimme. »Willkommen zurück.«
Mühsam rappelte Will sich auf. Er lag auf dem Boden der Küche. Neben ihm kniete Justine; Saskia stand mit schreckgeweiteten Augen im Türrahmen.
»Sie ... sie haben mich umgebracht!«, keuchte Will.
Justine stand auf, reichte ihm die Hand und zog ihn in die Höhe. »Ein bisschen übertrieben, oder? Ich habe dich nur geschlagen«, sagte sie mit einem sarkastischen Grinsen. »Nicht getötet.«
10. November Russland, Baikalsee, Irkutsk
»Nicht so kalt, ja?« Justine zog den Zipper des Reißverschlusses bis unter die Nase. »Merde!« Sie saßen in der Vorhalle des Flughafens und warteten darauf, dass sich auf der anderen Seite der Glasscheibe ein Taxi zeigte, aber der Stand war verwaist. Alle anderen Fluggäste der Maschine aus Moskau waren vor ihnen am Gepäckband gewesen, und jetzt mussten sie warten. Saskia hielt die Blätter aus dem Safe in der Hand und sah, dass Will beim Klang ihrer Stimme aus seinem Schlummer aufschreckte. Sein Gesicht wirkte gequält, und am Ausdruck der Augen erkannte sie, dass sich sein Verstand noch nicht zu einhundert Prozent in der Gegenwart befand. »Alles okay?« Sie legte den rechten Arm auf seine Schulter.
Er nickte hastig und griff sich an den Kopf. »Nein ... doch. Meine letzte Vision ... ich weiß, ich sollte sie inzwischen verdaut haben, aber wann erlebt man schon mal seinen eigenen Tod«, murmelte er und erhob sich unsicher. »Ich brauche was zu trinken.« Er ging auf einen Getränkeautomaten zu und machte sich daran zu schaffen.
Saskia schaute zur Anzeigetafel, auf der die Außentemperatur angezeigt wurde: minus einundzwanzig Grad. Für sibirische Verhältnisse vielleicht harmlos, für westeuropäische weit jenseits des Erträglichen.
Sie packte die beiden Blätter weg. Sie hatte sie studiert, bis ihr die Augen brannten, und war zu dem Schluss gekommen, dass es sich hierbei um die letzte Seite einer Bauanleitung handelte, um genaue Instruktionen, wie die Kammer eingerichtet werden musste. Es fand sich jedoch nichts darunter, was ihnen eine Hilfe war; die Zeichnung war unvollständig, sie würden auch die anderen Blätter benötigen, um irgendetwas daraus ableiten zu können.
Sie betrachtete Justine aus den Augenwinkeln und dachte an den Abend ihres misslungenen Experiments. Die Französin wollte nicht weiter über die Erlebnisse in der Hölle sprechen. Obwohl Saskia ihr unabsichtlich große Schmerzen zugefügt hatte, fanden Justine und Will es dennoch wichtig, dass Saskia ihre Kräfte weiter testete. Sie mussten nur den Sicherheitsabstand zu ihr vergrößern.
»Da kommt ein Taxi!«, rief Justine und sprang auf. Ein kräftiger Mann in einem billigen, braunen Pelzmantel stürmte in diesem Augenblick aus der Gepäckausgabe und lief schnurstracks auf den Ausgang zu. Schon hob er den Arm und beschleunigte, um das Auto zu erreichen.
»Hey!« Die Französin hastete los. »Hey, Towarihtsch! Stoi!«
Saskia verfolgte das Wettrennen zwischen den beiden: Der Russe hatte den Vorteil, sich näher am Ausgang zu befinden, Justine dagegen rannte übernatürlich schnell und befand sich zur gleichen Zeit wie der Mann vor der Automatiktür, die sich in Zeitlupentempo öffnete. Der Motor war nicht der stärkste, oder er hatte mit den eisigen Temperaturen zu kämpfen. Justine drängelte sich vor ihn, aber der Russe dachte gar nicht daran, sich von einer Frau das Taxi wegschnappen zu lassen. Er schob sie mit dem Koffer auf die Seite und wollte sich durch die Lücke zwängen. Sie konterte, indem sie ihm blitzschnell ein Bein stellte und über ihn hinweglief, noch während er sich im Sturz befand.
Als er sich aufstützte, stand sie bereits lächelnd und eine Zigarette rauchend neben dem Wagen, eine Tür für sich geöffnet. »Wir haben ein Taxi«, rief sie vergnügt Saskia und Will zu, der dem Automaten einen Kaffee abgerungen hatte und mit dem dampfenden Becher zurückkehrte. »Wie hat sie das angestellt?« Will sah den Hünen, der sich eben vom Boden erhob und den Schneematsch abwischte. Er brüllte Justine an. »Nein, sag nichts, ich will es lieber gar nicht wissen. Aber ich gehe davon aus, es war nicht der Charme, für den Französinnen bekannt sind.« »Ich fand, sie war zu diesem Polizisten Dottke sehr charmant. Naja, bis auf den Schlag.« Saskia lachte. »Nimmst du den Koffer mit dem Geld? Ich nehme die Taschen.« Er nickte, und sie trugen ihr Gepäck ins Freie.
Justine stieg ein und setzte sich ganz selbstverständlich auf den Beifahrersitz; Saskia und Will nahmen hinten Platz. Um den tobenden Riesen kümmerte sich niemand. Sie verständigten sich mit dem Taxifahrer in gebrochenem Englisch, und er versprach, sie zu einem guten Hotel zu bringen. Er wusste auch, wo das Kloster lag, und würde sie hinfahren.
»Der wittert das Geschäft seines Lebens.« Saskia sah immer wieder aus der Heckscheibe, weil sie damit rechnete, einen Polizeiwagen zu entdecken.
»Werden wir verfolgt?« Justine bot dem Fahrer eine Zigarette an, die er ablehnte; danach zeigte er auf den Aufkleber mit der durchgestrichenen Kippe. »No smoking«, sagte er. »Not inside.« »What's your name, Towarihtsch?«
Der Mann sah sie misstrauisch an. »Eugen.«
Justine zog den Aufkleber ab, kurbelte die Scheibe nach unten und klebte ihn außen dagegen. »Look, Eugen, now it'sfor-bidden on the outside.« Sie zündete den Glimmstengel an und rauchte grinsend.
»That will make you pay the double! Understand? You pay me double!«, rief er. »Sure, honey.« Sie nickte und zeigte auf die Straße. »Just keep on driving, Eugenwitsch.« Will beugte sich zu Saskia. »So viel zum Thema Charme«, flüsterte er.
Justine hatte ihn gehört, lächelte und sah aus dem Fenster. »Fahren wir heute noch zum Kloster?«
»Je früher, desto besser«, sagte Saskia. »Wir sind ja nicht die Einzigen, die ... ihr wisst schon.« Justine drehte sich zu ihr. »Bon. Ins Hotel, umziehen und raus zum Kloster. Was macht es schon, dass es draußen schon dunkel ist...«
»Hast du Angst im Dunkeln?« Will sah sie herausfordernd an.
Justine gluckste und drehte sich zu ihm um. »Ich könnte dir einhundert gute Gründe aufzählen, warum du die Dunkelheit fürchten solltest«, gab sie zurück und blies Will den Rauch ins Gesicht. Dann wandte sie sich wieder nach vorn. »Ich werde wieder einer davon werden. Bleiben neunundneunzig weitere, die nicht über so ein freundliches Naturell verfügen wie ich.« Bevor Will antworten konnte, piepste sein Handy. Es war wieder einmal eine SMS von Kapler. Wie immer würde er sie nicht beantworten; was hätte er auch schreiben sollen? Die deutsche Polizei hätte wohl kaum Verständnis dafür, dass er Artefakten nachjagte, um zu verhindern, dass ein Dämon die Welt eroberte. Sie würden ihn direkt in die geschlossene Abteilung verfrachten, wenn er auch nur andeutete, was ihm bisher widerfahren war, und ihm dazu die Morde in der Villa anlasten. Er sah die Schlagzeilen der Boulevardpresse schon vor sich: AntiGandhi mordet bestialisch!
Der Inhalt dieser SMS brachte ihn jedoch dazu, dass ihm heiß wurde. »Hört zu!«, sagte er hektisch. »Kapler hat mir geschrieben. Er will wissen, was wir in dem Internetcafe gemacht haben ... denn die beiden Polizisten und der Angestellte sind umgebracht worden, genau so, wie ich es vorausgesehen habe!«
Siebenunddreißig Minuten später hielten sie vor dem Red Star, einem Hotel mit Hammer-undSichel-Emblem, aber in topmoderner Aufmachung und sicherlich kein Relikt aus den Zeiten der UdSSR. Alte Stärke in glänzendem neuen Gewand.
Saskia und Justine stiegen aus, und die Französin steuerte auf die Drehtür zu, um ihnen Zimmer zu sichern. Saskia ging zum Kofferraum. »I'm sorry for my friend's behaviour«, entschuldigte sich Will bei ihrem Fahrer.
»No worry, I know«, radebrechte Eugen zurück. »She's beautiful woman, they always crazy!« Will zog lächelnd einhundert Euro aus dem Geldbeutel und drückte sie Eugen in die Hand, auch wenn es vermutlich zehnmal so viel war, wie die Fahrt gekostet hatte. »Please wait for us here. We will make it worthwhile for you, I promise.«
»Yes, yes«, gab er grinsend zurück - und griff nach Wills Hand, um sie zu schütteln. Es fühlte sich an, als würde sein Verstand blitzartig durch die Finger hinüber in Eugens Körper geschleudert. Er sah durch die Augen des Mannes, wie er nach Hause fuhr, ausstieg und im Hausflur einem Typen die Euroscheine in die Hand drückte. Er sagte etwas auf Russisch, was Will nicht verstand. Der Typ lachte - und stach im nächsten Moment mehrmals und extrem brutal auf Eugen ein. Der Taxifahrer sackte an der Mauer nach unten. Will keuchte, er spürte die Schmerzen, als würde er abgestochen! »Njet!«, schrie er auf, Tränen schössen ihm in die Augen, er warf sich nach hinten - und so unvermittelt, wie die Vision begonnen hatte, befand er sich wieder mit allen Sinnen in seinem eigenen Körper.
»Afraid of my hand?« Eugen sah ihn verwundert an.
»No, sorry ...« Will stürzte mehr aus dem alten Wagen, als dass er ausstieg. Er hangelte sich an der Seite entlang bis zum geöffneten Kofferraum und atmete schwer, dabei tastete er sich über den Bauch. Es hätte ihn nicht gewundert, Blut an den Fingern zu haben.
Saskia nahm gerade die letzte Tasche. »Was ist? Wieder ...?«
Will nickte nur. »Das macht mich fertig«, gab er leise zurück und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er zitterte, und es war nicht nur wegen der Kälte. »Ich habe gesehen, wie Eugen niedergestochen wurde. Ich ... ich hab's selbst gespürt. Und glaub mir, daran gewöhnt man sich nicht.«
»Ganz ruhig, Will. Komm, ich helfe dir.« Sie hakte sich bei ihm ein, und gemeinsam betraten sie das Hotel. »Ist es einfach so passiert?«
»Nein. Er hat mich berührt. Er hat mir die Hand geschüttelt.«
Sie sah ihn an. »Du meinst, es hat etwas mit der Berührung von Haut auf Haut zu tun?« Bevor er es verhindern konnte, streifte sie ihren Handschuh ab und griff blitzartig nach seinen Fingern. Sein Verstand blieb, wo er war. »Bei dir funktioniert es nicht.«
»Vielleicht, weil ich es war, die die Gabe verliehen hat?«
Will sah zum Concierge, bei dem Justine sie gerade eincheckte, und atmete tief durch. »Werden wir gleich herausfinden.« Als der Mann ihm die Schlüssel überreichte, berührte Will ihn absichtlich mit dem Finger an der Hand.
Und wieder schien ein Teil von ihm den Körper zu wechseln!
Er sah den Mann in ein Hotelzimmer gehen, in dem vier Männer und eine Frau saßen. Sie unterhielten sich lange, dann zückten drei Männer Pistolen und schössen den Concierge einfach nieder! Die Einschläge, das verbrannte Pulver der Treibladungen und das Lachen der Mörder ... Als der Concierge in die Knie brach und starb, kehrte Will zurück und musste sich an den Tresen klammern, sonst wäre er gestürzt. »Er wird auch sterben!«, keuchte er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Verdammt, alle Menschen, die ich berühre und deren Schicksal ich vorhersehe, gehen drauf! Eugen, jetzt der Concierge ...«
»Es sind nur Visionen«, versuchte Saskia, ihn zu beschwichtigen. »Noch ist nicht sicher, dass es so kommt.«
»Und was war in Hamburg? Der Typ in dem Internetcafe, der Polizist... ich habe gesehen, wie sie starben. Ich ... ich habe sie verflucht!«
Justine führte ihn von der Rezeption weg, um den verdutzten Concierge nicht noch weiter zu alarmieren. »Will, reiß dich zusammen. Jemanden zu verfluchen, ist nicht nur eine Gabe, es ist eine echte Kunst, die erlernt werden muss.«
»Aber ...«
»Kein Aber.« Sie hob langsam die Augenbrauen. »Du hast mich schließlich auch angefasst. Und sie.«
»Und wir leben beide noch«, fügte Saskia rasch hinzu, um ihn zu beruhigen. Zu sehen, wie sich Will quälte, versetzte ihr einen Stich ins Herz. »Was du siehst, muss nicht eintreten.« Sie gingen schweigend zum Aufzug, ein Page brachte das Gepäck nach.
»Schaffst du es, oder sollen wir lieber morgen zum Kloster?«, fragte Saskia Will. »Wir sollten besser jetzt fahren«, empfahl Justine mitleidlos. »Solange Eugen noch lebt. Aber vorher, Will, kaufen wir dir Handschuhe!«
Zwanzig Minuten später saßen sie wieder im Taxi, und Eugen lenkte - nachdem er Will noch einmal ein paar Scheine abgeknöpft hatte - den Wagen durch die Straßen von Irkutsk. Zu ihrer aller Erstaunen hielt er vor dem Eingang eines Gebäudes an, das unschwer als Bahnhof zu erkennen war.
»What the fuck means this, Towarihtsch?«, fauchte ihn Justine an.
»Must go by train. Too far for me. Half around the lake«, erklärte Eugen. »Use the TransSib. Travel to Selenginsk and from there to cloister. Or use boat, down the Angara River, and then across the lake.« Er sah die drei der Reihe nach an. »All-right?«
»Schöner Mist.« Will sah hinaus in die Dunkelheit. »Ist bestimmt weit.« Er fragte Eugen, der ihm sagte, dass es in etwa eine Strecke von einhundert Kilometern war, wenn man über den Fluss und über den See fuhr. Will wurde unvermittelt wütend auf den Fahrer, weil er sie hängenließ ... und freute sich auf einmal darüber, dass der Mann bald sterben musste. Sofort erschrak er über seinen finsteren Gedanken. Diese Art von Wut, die aus einer nie gekannten Tiefe seines Ichs eruptionsartig emporgeschnellt kam und sich nur widerwillig zurückdrängen ließ, kannte er nicht von sich. Sogar seine Hände hatten sich unbemerkt zu Fäusten geballt! Rasch entspannte er sie.
»Dann machen wir das morgen«, entschied Justine und trug Eugen auf, sie wieder ins Hotel zu bringen, nicht ohne ihm mit zuckersüßem Gesicht ein paar Dinge auf Französisch zu sagen, die sich zwar allesamt nett anhörten, aber Saskias Meinung nach mit Sicherheit die schlimmsten Verwünschungen waren, die man sich vorstellen konnte. »Wir chartern uns ein Boot und fahren zum Kloster, sobald die Sonne aufgeht.«
Die Rückfahrt verlief in tiefem Schweigen, jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Im Radio dudelte Musik, eine merkwürdige Mischung aus russischer Folklore und asiatischen Tönen; Eugen erklärte unaufgefordert, es sei etwas Mongolisches, das in den hiesigen Charts ganz weit oben stünde.
Will nutzte die Internet-Funktion seines Handys, weil er wissen wollte, ob es Neuigkeiten über den Vorfall in der Villa gab. Es dauerte ewig, bis er einen Zugang über einen internationalen Anbieter gefunden hatte und die Informationen abrufen konnte. Saskia sah auf das Display und las mit. »Sag, dass das nicht wahr ist!«, rief sie.
Justine drehte sich erstaunt um. »Was ist los?«
»Hier steht, dass in Hamburg vierzehn Polizisten an der Pest erkrankt sind.«
»La peste?« Justine lachte auf. »Das ist nicht dein Ernst!«
Saskia hatte Schwierigkeiten, sich zu beruhigen. »Was ist, wenn das die Männer sind, die in der Villa nach Spuren gesucht haben?«
»Reg dich nicht auf«, winkte Justine ab. »Es gibt doch sicher ein Medikament dagegen. Will schüttelte den Kopf. »Zwei Männer sind schon gestorben. Es ist eine sehr ungewöhnliche Art der Pest, ein... mutierter Erreger, vermuten die Ärzte, die die Proben untersucht haben.« Justine runzelte die Stirn. »Das ist allerdings ungewöhnlich ... oder vielleicht auch nicht.« Sie sah Will an. »Was ist, wenn es kein mutierter Erreger ist, sondern ein sehr, sehr alter? Einer, wie er zuletzt im alten Venedig gewütet hat?«
Will wurde bleich. »Willst du damit sagen, dass ich etwas damit zu tun habe?« »Sicher nicht!«, sagte Saskia schnell. »Aber es wäre eine Erklärung dafür, warum es dich immer wieder dorthin zieht.«
»Soll ich mich deswegen jetzt besser fühlen?«, blaffte er sie an; sofort tat es ihm leid. »Das ist alles so verwirrend«, versuchte er sich zu entschuldigen.
»Und dabei geht die Party gerade erst los ...«, murmelte Justine.
Eugen stoppte den Wagen vor dem Red Star und ließ sie aussteigen, nachdem er versprochen hatte, sie am nächsten Morgen um neun Uhr abzuholen. Während Will und Saskia vorgingen, blieb Justine auf der Fahrerseite stehen und redete mit dem Russen, bevor sie ihnen folgte. Als das Taxi anfuhr, fragte Will: »Hast du dich für dein Benehmen ihm gegenüber entschuldigt?« Justine lachte. »Keine Sorge, ich bin nicht krank!« Dann wurde sie schnell wieder ernst. »Ich habe mit ihm gesprochen und ihn ermahnt, auf sich achtzugeben.«
»Aber hast du nicht gesagt, dass wir uns nicht einmischen sollen?«, fragte Will. »Ich habe gesagt, dass du "dich nicht einmischen sollst.« Sie lächelte böse. »Das ist ein entscheidender Unterschied.«
»Was hat er denn gesagt?«, wollte Saskia wissen.
»Dass er nicht weiß, was ich meine, und er auch keinerlei Schulden bei jemandem hätte. Aber ich sah in seinen Augen, dass ich recht habe. Er steht bei jemandem in der Kreide - und er hat Angst.« Justine drehte eine Visitenkarte zwischen ihren Fingern.
»Was hast du dir von ihm geben lassen?« Will schob Saskia durch den Eingang, damit sie endlich dem klirrenden Frost entkamen.
»Die Nummer der Taxizentrale, bei der er arbeitet«, antwortete sie ruhig. »Ich glaube nicht, dass wir ihn morgen noch einmal sehen. Dem Schicksal entkommt man nicht.« Saskia nahm sich im Vorbeigehen einen Apfel aus der Schale vom Tresen, und sie fuhren mit dem Fahrstuhl nach oben. Ihnen stand eine kurze Nacht bevor.
Die beiden Frauen teilten sich ein Zimmer, Will schlief nebenan. Die Verbindungstür zwischen ihnen hatten sie öffnen lassen, so dass keiner wirklich allein blieb.
Saskia verschwand zuerst im kleinen Bad, putzte sich die Zähne und betrachtete sich dabei in den verspiegelten Türen des Toilettenschranks.
Sie besaß die nötige Disziplin, um die Gabe zu beherrschen, sonst wäre sie niemals beim Fechten so weit gekommen. Sie konnte Gegenstände öffnen, sie konnte Gedanken und Erinnerungen öffnen, sie konnte Portale zu den Höllen aufschließen ... Und sie wollte es steuern können und nicht von der Gnade dieser Fertigkeit abhängig sein! Ein besonderer Ehrgeiz packte sie. Es war der gleiche Ehrgeiz, den sie von der Planche kannte.
Es muss doch möglich sein. Sie wollte versuchen, ob sich die Toilettenschranktüren öffneten, ohne dass sie zuvor einen Tobsuchtsanfall oder eine Panikattacke erleiden musste. Wenn dieses Experiment fehlschlug, blieb das Chaos auf das Bad beschränkt.
Sie konzentrierte sich, fixierte das Schränkchen genau und stellte sich vor, wie es sich vorsichtig öffnete. Nichts passierte.
Saskia blendete alles um sich herum aus. Es gab nur noch sie und den kleinen Schrank. Wills Stimme aus dem Nebenzimmer wurde immer schwächer, das Rauschen einer fernen Wasserspülung auch, und ...
... ganz langsam schwangen die Türen auf, zuerst der rechte, dann der linke Flügel, bis sie sich ganz geöffnet hatten. Verblüfft schaute Saskia auf die leeren Regale im Innern. Allmählich setzte sich der ungeliebte Geschmack in ihrem Mund gegen die Minznote der Zahnpasta durch. Es hat geklappt!, dachte sie erregt, legte die Zahnbürste beiseite und spülte den Mund aus. Sie schloss das Schränkchen wieder und versuchte es erneut. Das Erstickungsgefühl, der Farbverlust, die verschwundene Raumtiefe waren ausgeblieben; traten sie nur auf, wenn sie sich an größeren Aufgaben versuchte?
Wieder gehorchten die Türen, und Saskia musste vor Erleichterung lachen. Sie stürmte hinaus und erzählte Justine und Will, was ihr soeben geglückt war. Ihre Mitstreiter sahen nicht weniger erleichtert aus als sie. Saskia machte kehrt.
»Wohin willst du?«, fragte Justine. »Ich muss mal.«
»Ich auch. Üben!«, gab sie überschwenglich zurück und war wieder in dem kleinen Bad verschwunden. »Die ganze Nacht. Ich habe den Eindruck, dass ich allmählich weiß, worauf es ankommt. Ich darf nicht lockerlassen, versteht ihr?«
Justine sah zu Will, der auf der Schwelle stand. »Wo ist dein Bad?«
Er deutete mit dem Daumen über die Schulter. »Geradeaus.«
»Merci.« Justine stand auf und lief in Unterwäsche an ihm vorbei. »Ich setze mich auch hin«, meinte sie im Vorbeigehen, und er musste lachen. Will und Justine legten sich schließlich in ihre Betten und schalteten die Lichter aus. Justine sah durch die schimmernden Ritzen der Badtür ihr gegenüber, wie sich Saskia bewegte. Gelegentlich fiel etwas zu Boden, doch die große Verwüstung, wie sie im Appartement der union geherrscht hatte, blieb aus.
Justines Anspannung legte sich allmählich, und sie dämmerte ein. Zuerst hatte sie befürchtet, erneut die Folgen von Saskias Gabe spüren zu müssen. Es war ein Horror ohnegleichen gewesen, ein erneuter Ausflug in die Hölle. Nein, sie durfte nie, nie dorthin zurückkehren; die Nonnen mussten einen Weg finden, ihr zu helfen, ohne ihr gleichzeitig die Bestie zu nehmen. Sie mussten einfach!
Gegen vier Uhr morgens erwachte sie, weil sie Durst hatte. Im Bad brannte immer noch Licht. Justine ging zur Minibar und nahm sich ein Fläschchen Mineralwasser. Dabei sah sie den Apfel, den Saskia aus der Lobby mitgenommen hatte, auf dem Tisch. »Scheint, als ob sie wirklich dahintersteigt«, murmelte sie.
Er war sauber geschält, geviertelt und entkernt worden. Ohne dass ein Messer herumlag.
11. November Russland, südöstlicher Baikalsee
Sie saßen dichtgedrängt im Kommandostand des Schnellbootes, das sie mit Hilfe des Taxifahrers gechartert hatten. Die Arnos schoss über den Baikalsee und hielt auf die Stelle südlich des Selenga-Deltas zu, wo sich das Kloster befand, nach dem die drei suchten. Ihr Kapitän hieß Herrmann Becker und war deutschstämmig, ohne jedoch ein Wort Deutsch sprechen zu können. Kyrillische Tätowierungen auf den Unterarmen und eindeutige Darstellungen von Kalaschnikows ließen die Vermutung zu, dass er in der Armee gewesen war. Er trug beim Lächeln gern seine zwei goldenen Schneidezähne zur Schau; seine Kleidung, vor allem der Mantel, hatte schon einige Jahre auf dem Buckel. Gegen die Zahlung von zweihundert Euro und der Aussicht auf zweihundert weitere hatte er sich sofort in ihre Dienste gestellt.
Ihr Taxifahrer war nicht Eugen gewesen. Die Zentrale hatte ihn nicht erreichen können, und die drei Fahrgäste glaubten zu wissen, was ihm zugestoßen war. Natürlich gab es immer noch die Chance, dass er verschlafen oder einfach nur keine Lust auf eine neuerliche Begegnung mit der frechen Französin hatte; noch war nicht bewiesen, dass Wills Vision stimmte. Aber die Beklemmung ließ sich nicht so einfach abschütteln.
Über dem See schwebte ein zarter Nebelflaum. Die hochstehende Sonne hatte den dichten Dunst des Morgens zum Verschwinden gebracht. Sie näherten sich dem südlichen Ufer unterhalb des Selenga-Deltas, ihrem ersten Ziel.
»Wir gehen da drüben an Land«, verkündete Will und deutete auf die Anlegestelle. Er kniff die Augen zusammen, weil er einen Bus entdeckt hatte, der dort wartete. »Von da fahren wir nach Posolsk. Ich hoffe mal, der fährt dorthin.«
»Das tut er bestimmt.« Saskia deutete nach Steuerbord, wo sich ein schwerfälliger Kahn mit reichlich Tiefgang näherte. An Deck standen ein paar dick eingepackte, vermummte Gestalten, im Innenraum befanden sich zahlreiche Menschen, die gerade im Begriff waren, aufzustehen, und hinter den Deckfenstern waren Autodächer zu erkennen. »Wir sind vor ihnen da. Und ich wette, dass ein paar von den Passagieren nach Posolsk wollen.«
»Posolsk?«, sagte Herrmann und zeigte auf den Bus. »Da!«
»Tres bien«, murmelte Justine und lächelte. »Dann stehen wir ja gleich vor unserem ersten Artefakt.« Sie langte neben sich und nahm die braune Pelzmütze von der Bank. Sie hatte sie vor dem Hotel gekauft, und mit der Mütze auf dem Kopf sah sie noch mehr wie ein Model aus. Will schwieg und wollte ihren Optimismus nicht laut in Zweifel ziehen. Er starrte nach vorn, auf die Landungsstelle. Aber sosehr er sich auch auf die bevorstehende Aufgabe konzentrieren wollte, immer wieder schweiften seine Gedanken ab - und zu dem Portier in ihrem Hotel, dessen Tod er vorhergesehen hatte.
Saskia sah ihn besorgt an. »Ist was?«
»Nein«, antwortete er rasch und biss sich auf die Lippe. Es klang dermaßen nach einer Lüge, dass er seufzend die Wahrheit hinterherschob. »Doch. Die Schicksale von Eugen und dem Rezeptionisten. Bei Eugen habe ich nichts unternommen, weil ich noch die Hoffnung hatte, nicht die Wahrheit zu sehen. Heute bin ich fest davon überzeugt. Die Frage, die sich damit stellt, ist: Habe ich die Pflicht, diese Dinge zu verhindern?«
Saskia atmete tief ein. »Ich weiß es nicht. Und ... und vielleicht musst du dir noch eine ganz andere Frage stellen: Wenn du ihren Tod verhinderst, wenn du in ihr Karma eingreifst, oder wie man das nennen mag, änderst du dann den Verlauf der Geschichte, wie er sein soll ... und vielleicht sogar sein muss?«
Will drehte sich erstaunt zu ihr um. »Meinst du?« Das hatte er nicht in Erwägung gezogen. »Es macht Sinn«, schaltete sich Justine ungefragt ein. »Eugen war es bestimmt, zu sterben. Du hattest damit nichts zu tun.« Sie erhob sich, weil sie sich zum Anlegen bereitmachten. »Aber stell dir vor, du hättest ihn gerettet und er ... wäre mit seinem Auto am nächsten Tag in eine Schulklasse gerast?«
Will verzog den Mund.
»Was ich damit sagen will«, fuhr Justine fort, »ist, dass du Besseres zu tun hast. Lass den Dingen ihren Lauf und denk an deine Aufgabe.« Sie steckte sich eine Zigarette an. »Die ist wichtiger als Eugen, der Rezeptionist oder unser netter Herrmann hier.«
Der Russe sah die hübsche Französin erfreut an, als er seinen Namen hörte, und sie lachte. Er stimmte ein.
Saskia legte Will eine Hand auf den Rücken. »Sie hat recht, auch wenn ich es nicht so brutal formuliert hätte«, räumte sie ein. »Es kann sein, dass du die Schicksale vieler Menschen sehen wirst, bis wir den Bann gebrochen haben.«
Will seufzte und blickte in ihre graugrünen Augen. Gern hätte er die Hand ausgestreckt und ihr Gesicht berührt.
Herrmann half ihm dabei, ohne von seinem Verlangen zu wissen: Er steuerte das Schnellboot in eine Kurve, um einen günstigeren Winkel zum Anlegen zu bekommen. Der abrupte Wechsel brachte Saskia aus dem Gleichgewicht, und Will breitete die Arme aus, um sie aufzufangen. Ihre Gesichter streiften sich, er spürte ihre warme Haut an seiner ... ein wunderschönes Gefühl! In einem Reflex hielt sie sich an ihm fest - und verharrte ein paar Sekunden länger, als nötig gewesen wäre, bevor sie sich wieder von ihm trennte.
»Danke«, sagte sie, nicht verlegen - im Gegensatz zu Will.
»Gern geschehen.« Er bemerkte, dass er einen roten Kopf bekam. Es war ein anderes Festhalten gewesen als gestern Abend. Kein Trostspenden.
Justine warf ihm einen süffisanten Blick zu, der eindeutig belegte, dass sie seine Schwäche für Saskia bemerkt hatte. Will hatte das Gefühl, dass inzwischen auch seine Ohren glühten. Das Boot lag längsseits des Beton-Kais, und Herrmann hielt die Arnos mit den Motoren in gleichbleibendem Abstand zur Mauer. Sie gingen von Bord. Justine überließ ihm weitere zweihundert Euro, danach trug sie ihm mit Gesten auf, bis zum Abend auf sie zu warten. Sie gingen zum Bus und fragten den Fahrer nach Posolsk. Zu ihrer Erleichterung fuhr er wirklich dorthin.
»Rückbank«, sagte Justine und lief wie ein übermütiges Kind nach hinten, um die Bank in Beschlag zu nehmen. Will und Saskia folgten ihr ein wenig irritiert und setzten sich in die Reihe davor. Die Irritation steigerte sich zu echter Überraschung, als die Französin mit einem leicht verlegenen Blick sagte: »Kennt ihr das nicht von früher? Nur die Coolen dürfen auf die Rückbank ...« Sie räusperte sich. »Also, wie finden wir das Artefakt, mon petit Monsieur Finder-Inder?« Das war die Justine, die sie kannten. Will schwieg und versuchte, sich zu erinnern, was ihm nicht sofort gelingen wollte. Also suchte er seine Notizen heraus. Saskia beobachtete, wie das Schnellboot ablegte, um der Fähre Platz zu machen, die ihre Bugklappe bereits zur Hälfte geöffnet hatte.
»Ich kann es nicht sagen«, meinte er und las seine kargen Aufzeichnungen. »Wir werden sehen, was geschieht, wenn wir dort sind.«
»Sacre Dieul Ein wenig genauer wäre schon gut«, nörgelte Justine. »Wie wäre es mit einer hilfreichen Vision?«
»Ich bin kein Automat, in den man einen Cent wirft und das herausbekommt, was man haben möchte«, knurrte Will sie wütend an. Manchmal wollte er diese Frau schlagen, einfach nur zuschlagen, sehen, wie ihr Gesicht zur Seite ... Erschrocken hielt er inne. Justine war eine Nervensäge, ja, aber diese Reaktion war nun doch übertrieben. »Du weißt, dass es nicht so einfach ist, diese neue Gabe zu kontrollieren.«
»Nun«, sagte Justine und deutete auf Saskia, »sie kann es inzwischen.«
Saskia sah die Autos auf den Kai fahren, Passanten verließen den Innenraum der Fähre und eilten auf den Bus zu, manche mit Tüten und Taschen beladen.
Justine verzog das Gesicht. »Los, fass ihn noch mal an«, forderte sie.
»Was?«, kam es gleichzeitig von Will und Saskia.
»Fass ihn noch einmal an und verpass ihm eine Vision«, verlangte Justine mit Nachdruck. »Das spart uns eine ganze Menge Arbeit und Zeit. Wozu hast du denn die ganze Nacht geübt?« Will nickte. »Sie hat recht.« Er streifte den Ärmel hoch und präsentierte Saskia nackte Haut, über die sie Kontakt aufnehmen konnte.
Saskia zögerte. »Hier im Bus?«
»Vas-y, bevor die anderen eingestiegen sind«, drängte Justine.
Saskia gab nach, zog den rechten Handschuh aus und legte die Finger auf Wills Arm, dann konzentrierte sie sich, um ihre Gabe einzusetzen. »Ich versuche es, aber ich kann nichts garantieren«, warnte sie und schaute Will noch einmal an, um seine endgültige Zustimmung zu erhalten.
»Du schaffst es«, gab er mit einem misslungenen Lächeln zurück; ganz konnte er seine Angst nicht verbergen. Er nickte ihr zu, und sie schloss die Augen.
Auf einmal schien ein Stromschlag durch seinen Arm und durch sämtliche Körperzellen zu schießen, brachte ihn zum Zittern und Schwitzen und steigerte seine Rückenschmerzen derart, dass er laut stöhnte.
XIII. KAPITEL
11. November
Russland, Posolsk, südöstlicher Baikalsee
Pater Atanasios schaute auf die Uhr. In zehn Minuten begann die nächste Führung durch sein Kloster, und er bewegte sich über den von Mauern umschlossenen Hof zum Tor, um die Besucher zu empfangen.
Wie immer wusste er nicht, wie viele es sein würden. Die internationalen Pauschaltouristen suchten sich den Sommer aus, ihre Reisegruppen waren beim Vorsteher angemeldet. Im Winter tauchten höchstens ausländische Individualisten und Menschen aus dem Umland auf.
Die Klosteranlage war eingerüstet, die Gebäude lagen zum überwiegenden Teil hinter Planen verborgen, und von der Schönheit des Ensembles war nicht viel zu erkennen. Aber besser eine Renovierung mit optischen Beeinträchtigungen als der unwiederbringliche Niedergang. Das mussten auch die Touristen akzeptieren, die den weiten Weg nach Posolsk auf sich genommen hatten, um das Kloster zu besuchen. Die Enttäuschung angesichts der Gerüste und Planen tat den Mönchen sehr leid, und so bemühte sich Pater Atanasios bei jeder Führung, den Besuchern besonders viel Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, inklusive Wodka, Tee aus dem Samowar und einem kleinen Imbiss.
Er hatte das Tor erreicht und öffnete die Tür, die darin eingelassen war. Er staunte nicht schlecht, als er nicht weniger als zwanzig Männer und Frauen warten sah; schon an der Kleidung und Frisur erkannte er, dass es Ausländer waren.
»Guten Tag«, sagte Atanasios auf Englisch, dessen starker Akzent aber keinen Zweifel an seiner Herkunft ließ.
»Hallo«, antwortete ihm eine Frau, deren rechte Gesichtshälfte von einem abklingenden Bluterguss gelblich verfärbt war. Auf ihrer Stirn klebte ein Pflaster. »Wir sind aus Holland und auf einer Rundreise entlang der Selenga. Wir hätten gern Ihr Kloster besichtigt.« Sie zeigte mit einer Hand hinter sich. »Sind wir zu viele, oder ist das kein Problem?« Sie zückte ein Bündel bunter Euroscheine.
Atanasios freute sich, sowohl über den regen Zuspruch als auch über das Geld. Das waren mindestens zehn neue Fensterbänke! »Nein, das geht ohne weiteres«, versicherte er, trat zurück und vollführte eine einladende Handbewegung. »Kommen Sie. Mein Name ist Pater Atanasios.«
Die Männer und Frauen gingen einer nach dem anderen an ihm vorbei, manche nickten ihm freundlich zu, andere hatten nur Augen für die Türme und anderen Bauwerke; zwei hielten Fotoapparate im Anschlag. Die Verschlüsse klickten in rascher Folge, wobei für den Pater nicht ersichtlich war, was sie da ablichteten.
Er setzte sich an die Spitze der Gruppe, wo die Frau auf ihn wartete. »Ist nicht viel los heute«, sagte sie.
»Nicht im Winter. Sie sind eine Ausnahme. Mögen Holländer die Kälte so gern?« Die Frau lachte, dabei löste sich das Stirnpflaster an einer Ecke. Eine genähte Platzwunde wurde sichtbar. »Sie macht uns nichts aus.« Sie gab ihm die Euroscheine und sah zur Kirche. »Das ist viel Arbeit. Und sehr teuer, oder?«
Atanasios nickte. »Ja. Ohne die Sponsoren ginge gar nichts. Erst im Jahr 2000 haben die Renovierungsarbeiten begonnen«, erzählte er. »Beinahe wäre die Anlage verfallen. Dank des alten Sowjetregimes.«
»Schrecklich!« Die Frau sah sich um. »Wie viele Mönche leben denn derzeit hier?« »Wir sind zwanzig.« Er führte sie zum Hauptgebäude. »Folgen Sie mir. Beginnen wir die Besichtigung mit einem kleinen Schluck Tee aus dem Samowar gegen die Kälte.« »Was machen die Mönche denn so um diese Uhrzeit?«
Er fand die Frage merkwürdig, aber mit Holländern hatte er es noch nie zu tun gehabt. Vielleicht musste das so sein. »Nun, die meisten sind in der Küche und spülen das Geschirr vom Mittagessen, einige andere warten darauf, Sie zu begrüßen, und der Rest wird mit Studieren beschäftigt sein.«
»Wo?«
Er runzelte die Stirn, zeigte dann aber auf das Gebäude, in dem die Bibliothek untergebracht war.
»Ausgezeichnet.« Das war alles, was sie sagte.
Sie betraten die Eingangshalle, wo ein Tischchen mit Wodkaflaschen und einem halben Dutzend Gläschen, Bechern und ein vor sich hin brodelnder Samowar standen. Zwei Mönche sahen die Gruppe kommen und liefen los, um noch mehr Gefäße für Tee und Alkohol zu organisieren.
Atanasios wandte sich zum Tischchen und wollte nach einer Wodkaflasche greifen, da spürte er einen metallischen Gegenstand im Nacken und bekam den Befehl: »Langsam umdrehen.« Er tat, was die Frau verlangte, und zitterte dabei am ganzen Leib.
Alle Männer und Frauen der Gruppe hielten plötzlich Waffen in den Händen, schwere Pistolen und langläufige Maschinenpistolen, und scheuchten die Mönche zurück in die Mitte. Vier von ihnen rannten wieder hinaus, vermutlich um das Tor zu sichern. Zehn weitere verließen die Halle durch verschiedene Türen.
»Allmächtiger!«, sagte Atanasios erschrocken und starrte auf die Mündung, die ihm gegen die Stirn gepresst wurde. »Was wollen Sie?«
»Wie ich schon sagte«, erwiderte die Frau, nahm einhändig ein Headset aus der Tasche und setzte es auf. Das Kabel führte in ihre Manteltasche. »Wir sind hier, um Ihr Kloster zu besichtigen. Bis in den kleinsten Winkel.« Sie hielt eine exakte Armlänge Distanz zu ihm. »Ist hier in den letzten Tagen Merkwürdiges vorgefallen? Rätselhafte Erscheinungen? Lichtschein? Geräusche?«
»Sind Sie verrückt?«, entfuhr es ihm. »Dies ist ein Haus Gottes, und ...«
Für diese Frage bekam er einen Schlag mit dem Lauf gegen die Nase, so dass Blut herauslief und in seinen dichten schwarzen Bart rann.
»Denken Sie noch mal nach.«
»Ich kann es Ihnen nicht sagen! Es wird von morgens bis spätabends gebaut, die Maschinen sind laut«, antwortete Atanasios, schockiert von der abrupten Gewalttätigkeit. »Was im Namen des Herrn wollen Sie von uns?«
Die Frau sah nicht zufrieden aus. »Wir wissen von der Vergangenheit des Klosters, Pater. Historische Zeugnisse belegen, dass Ihre Vorgänger hier ein Artefakt bewachten.« »Sie meinen eine unserer Ikonen?«
»Das Artefakt!«, sagte die Frau bedrohlich. »Ich will wissen, wo es versteckt ist.« »Hier gibt es nichts! Die Bauarbeiter haben so viel herausreißen müssen, dass jeder Hohlraum aufgefallen wäre«, beteuerte er rasch und spürte, wie ihm das Blut den Rachen hinablief. »Glauben Sie mir doch! Und bitte tun Sie uns nichts!«
Sie kniff die Augen zusammen und sprach einige Worte ins Headset; für den Pater klang es nach Deutsch, nicht nach Holländisch. Die Antwort blieb für ihn lediglich ein leises Gemurmel, doch er meinte einen Namen zu erkennen: Valesca. »Ich habe keine Bauarbeiter draußen gesehen, und meine Leute sagen, dass wir allein sind.« »Sie haben Pause und kommen bald wieder.« Atanasios hatte keinen blassen Schimmer, auf was die Frau, von der er vermutete, dass sie Valesca war, hinauswollte. Ein Artefakt gab es hier nicht, nicht einmal eine Reliquie. »Wir sind ein armes Kloster.
Bitte, alles, was ich Ihnen anbieten kann, ist das bisschen Blattgold für die Kuppeln, aber es ist nicht viel, um ...«
»Ich glaube Ihnen«, unterbrach Valesca, nahm die Mündung von seiner Stirn, senkte den Arm und trat einige Schritte weg von ihm. Dabei sprach sie erneut ins Mikrofon.
»Ich weiß, was sie meint«, flüsterte ihm Pater Demetrios überraschend zu. Atanasios starrte ihn an. Demetrios sortierte und archivierte die Restbestände der alten Bibliothek. Die Bevölkerung hatte die Bücher teilweise an sich genommen, um sie vor dem Zerfall zu schützen, und sie nach und nach zurückgebracht, als die Mönche eingezogen waren. »Was?«
»Ein Buch. Darin war von einem artefactum die Rede, gemacht aus einem Teufel und von solcher Macht, dass es niemals in die Hände des Bösen gelangen durfte«, wisperte Demetrios hastig und verstummte, als sich die Frau zu ihnen umdrehte.
»Aha«, sagte Valesca gedehnt, und es klang hinterhältig. »Da hat jemand doch einen Einfall?« Atanasios und Demetrios tauschten rasche Blicke.
Die Frau hob den Arm mit der Waffe und richtete sie auf Atanasios. »Ich höre?« »Er sagte, dass er sich Sorgen um die anderen Brüder macht«, entgegnete er und bat Gott wegen der Lüge um Verzeihung.
»Muss er nicht.« Valesca schoss Atanasios ohne Vorwarnung durch den Kopf; die Mönche schrien vor Entsetzen und Schreck auf. Der Pater brach zusammen und fiel auf die Fliesen, aus dem faustgroßen Loch im Hinterkopf floss Blut auf den Boden.
»Nur wenn einer von euch versucht, mich reinzulegen«, fügte sie hinzu und richtete den Lauf auf Demetrios. »Du verstehst Englisch. Was kannst du mir sagen?«
11. November
Russland, südöstlicher Baikalsee
Saskia, Will und Justine standen vor dem Kloster, dem sie wegen der Planen an manchen Gebäuden und einigen Gerüsten schon von weitem angesehen hatten, dass es renoviert wurde. »Ich bin mir absolut sicher«, sagte Will. »Das ist es!« »Wohin müssen wir?« Justine betrachtete die Eingangspforte.
»Ich habe das Schwert in einem Kamin gesehen«, antwortete er und ging auf das Tor zu, das nur angelehnt war. Das Schild mit der kyrillischen Schrift neben dem Klingelknopf konnte er nicht lesen und wunderte sich zugleich über die moderne Gegensprechanlage und die Kameras auf der Mauer.
Saskia öffnete die Tür weiter und sah in den Innenhof. Zwei Transporter standen dort geparkt, auf den Dachgepäckträgern waren Fallrohre, Holzlatten und Plastikrohre festgezurrt. »Keine Spur von irgendwem«, sagte sie und ging hinein. »Schauen wir uns mal um, bis uns jemand rauswirft.«
»Sie hat von mir gelernt«, kommentierte Justine grinsend und folgte ihr. »Welcher Kamin war es?«
Will seufzte, konnte aber nichts anderes tun, als zu ihnen aufzuschließen. »Es muss eine mannsgroße Feuerstelle sein«, erklärte er. »Könnte sein, dass es ein Saal ist. Vielleicht der Speisesaal?« Er hielt sich unbewusst den Arm, genau an der Stelle, an der vor kurzem Saskias Finger gelegen hatten. Die Haut glühte regelrecht, und in seinem Rücken glaubte er die gleiche Hitze zu fühlen. Doch es hatte funktioniert. Saskia hatte die Handhabung ihrer Gabe besser im Griff.
»Das Refektorium«, stimmte die Französin zu und betrachtete den Bau. »Ich sehe schon, die orthodoxen Klöster sind anders aufgebaut als die im Westen.«
Saskia hatte die Hände in den Jackentaschen und spürte die Dolche, die sie im Hosenbund trug. Auch Justine und Will hatten sich Messer besorgt. Ihre Pistolen hatte Justine nicht mit hierherbringen können; die Gegenseite besaß also bestimmt ein wesentlich besseres Arsenal. Saskia wandte sich um, konnte aber niemanden am Eingang erkennen. Sie hatte inzwischen häufig das Gefühl, verfolgt zu werden. Eine berechtigte Furcht, wenn man bedachte, was sie in den letzten Tagen durchlebt hatte.
Sie spuckte aus, was sie normalerweise niemals tat, doch der penetrante, fast ätzende Geschmack von Bittermandel und Essig lag noch immer auf ihrer empfindlichen Zunge. Es waren Erinnerungen an ihre Gabe, die sie eingesetzt hatte, um Will eine Vision sehen zu lassen. Sie hasste den Geschmack, fürchtete jedoch, ihn bis zum Ende ihres Abenteuers noch öfter schmecken zu müssen. Sie musste sich Bonbons besorgen.
Justine hielt auf das große Gebäude mit der Kuppel zu. »Haben die alle schon Feierabend?« Sie fröstelte und zog den Steppmantel enger. »Keine Handwerker, keine Mönche.« Will ging die Treppe hinauf und drückte die Klinke herab. Die Tür schwang auf, und eine kalte Wolke aus Desinfektionsmittelgeruch, Putzmittel und sehr altem Gemäuer staubte heraus. »Ich fürchte, wir sind zu spät.«
Er betrat das Bauwerk nachdenklich. In dem Moment schlug eine der Glocken, und er erkannte den Tön: tief, dunkel und voll. Wie in seiner Vision! Das erleichterte ihn.
Die beiden Frauen drängten sich hinter ihm hinein, und Justine schloss die Tür. »Suchen wir das Refektorium.« Sie deutete auf das große Blechschild am Treppenaufgang, auf dem wieder in Kyrillisch ein Stockwerkverzeichnis aufgelistet war. »Wir bleiben im Erdgeschoss. Fangen wir rechts an und arbeiten uns systematisch durch.« Sie zog eines ihrer Messer und hielt die Klinge eng an den Unterarm gelegt, damit man es nicht sofort sah. Saskia tat das Gleiche.
Ihr Weg führte sie durch einen Gewölbegang, in dem die Feuchtigkeit den Anstrich verfärbt und Schimmel gebildet hatte. Teile der kunstvollen Bemalung waren vollkommen unkenntlich, woanders hatten sich Wasserflecken an den Decken gebildet. Auf vielen Steinen zeigten sich große Risse und Salpeterflecken, Stützen verhinderten einen Einsturz. Die Gerüste mit den Arbeitsplattformen standen auch hier, als seien sie eben erst von den Arbeitern verlassen worden.
»Nach links«, sagte Will plötzlich, als sie an einen Quergang gelangten. »Hier muss es sein, gleich da drüben! Ich habe die Umgebung erkannt.« Er stürmte vorneweg und hielt auf eine zweiflügelige, halbrunde Tür zu, vor der er abrupt stehen blieb.
»Will, hast du das gesehen?« Saskia erkannte drei Zeichen wieder und war sicher, sie schon auf der Tür in der Villa gesehen zu haben. Sie waren in die geschnitzte Szene eines Abendmahls eingebettet, als Symbole am Firmament über den Speisenden. Und am Fuß der Tür lauerte die kleine, stark verwitterte Ausgabe desselben Fratzengesichts, das auf dem Wandteppich der Villa zu sehen gewesen war!
Justine hatte sich umgedreht und sicherte ihnen den Rücken. »Ich höre noch immer nichts«, meinte sie angespannt. »Wo stecken die Mönche? Y'a quelque chose qui ne va pas ici!« Will legte die rechte Hand auf den Griff der Tür und schob sie auf.
11. November
Russland, Posolsk, südöstlicher Baikalsee
Demetrios betete in Gedanken ununterbrochen zu Gott und konnte die Augen nicht von der rauchenden Pistolenmündung nehmen, die ihm den Tod verhieß. Er war von dem Anblick gelähmt. Das Frauengesicht dahinter nahm er nur verschwommen wahr.
»Ich warte«, sagte sie und zog den Hahn nach hinten, »nicht mehr lange. Wir werden einen nach dem anderen erschießen, wenn ...«
Demetrios hob langsam die Arme. »Nein, ich bitte Sie! Haben Sie ein Einsehen!«, stotterte er. Die Frau presste ihm die warme Mündung gegen die Nasenwurzel. »Wo ist das Artefakt?« »Nicht hier. Sie sind im falschen Kloster«, sagte er eingeschüchtert. Er roch das verbrannte Pulver.
»Unsere Quellen sagen etwas anderes.«
»Das Artefakt, das ihr sucht, ist verschollen, doch es heißt, dass es eines Tages zurückkehren wird«, sagte Demetrios. »Aber in das Troizko-Selenginski-Kloster, nicht in unseres. Wir sind nur das Tochterkloster!«
Die Frau stieß einen wütenden Fluch aus und sprach in ihr Headset. Er vermutete, dass sie seine Information überprüfen ließ. Die Pistole bewegte sie dabei nicht. Sie gab ihm mit einem Wink zu verstehen, dass er weitersprechen sollte.
»Das Artefakt, so sagen die Aufzeichnungen, wurde nur hier verwahrt, um zu verschleiern, dass unser Mutterkloster sein eigentlicher Bestimmungsort ist. Ich habe das nie verstanden, fand es aber auch nicht besonders wichtig und glaubte an eine Legende, die erfunden wurde, um die Klöster noch bedeutsamer erscheinen zu lassen.« { »Es ist keine Legende«, lautete der knappe Kommentar der Frau. »Hol mir das Buch, in dem das steht.« Sie nickte einem ihrer Begleiter zu. »Wenn ihr in fünf Minuten nicht zurück seid, erschieße ich den ersten deiner Brüder.« Sie senkte die Pistole und ging zum Büfett, um sich einen Tee zu nehmen.
»Aber es kann dauern, bis ich es gefunden ...«
Valesca schoss den Mönch neben Demetrios nieder. »Dann würde ich mich beeilen.« Demetrios marschierte zusammen mit seinem Bewacher durch das Kloster zum Archiv der Bibliothek, wo die unsortierten Bücher darauf warteten, von ihm gesichtet zu werden. Er ging absichtlich langsam, während er fieberhaft nachdachte und auf eine Eingebung wartete. Er hatte keinen Zweifel daran, dass er und seine Brüder dem Tod geweiht waren, ganz egal, ob er der Frau gab, was sie wollte, oder nicht; der Mord an Bruder Stefanos hatte dies eindeutig bewiesen.
Sein Bewacher sagte etwas und stieß ihm ins Kreuz.
Demetrios stolperte voran. Die Quellen hatten davon berichtet, dass mit dem artefactum das Ende der Welt herbeigeführt werden konnte: Es war ein Schwert, das die Schranken zwischen den Welten zerschneiden würde, um einem Teufel die Menschheit zu Füßen zu legen. Natürlich hatte er es für eine Legende gehalten! Aber was, wenn nicht?
Demetrios und sein Bewacher erreichten den Zugang zum Archiv. Er ließ sich den Schlüsselbund absichtlich durch die Finger gleiten, um noch mehr Zeit zu gewinnen. Er sah es als seine Pflicht an, den Fremden das Buch zu verweigern.
Er hob die Schlüssel auf, entriegelte die Tür und trat ein. Als der Bewaffnete über die Schwelle schritt, warf sich Demetrios mit seinem ganzen Gewicht gegen die Tür und klemmte den Mann zwischen Tür und Rahmen ein.
Der Bewacher schrie auf, konnte sich aber nicht bewegen. Mit rotem Kopf stemmte er sich gegen den Druck, dabei löste er seine Maschinenpistole aus. Die ungezielten Projektile sirrten an Demetrios vorbei, jagten in die Bücherstapel, zerfetzten Einbände und ließen lose Blätter durch die Luft segeln.
11. November
Russland, südöstlicher Baikalsee
Quietschend öffnete sich die Tür.
Sofort hörten Will, Saskia und Justine das leise, gefährliche Fauchen, das von einem Handgasbrenner stammte. Ein Arbeiter kauerte unmittelbar neben dem Eingang tot am Boden, die Brust aufgeschlitzt und den eingeschalteten Brenner noch immer in der Linken haltend. Es war nicht die einzige Leiche: Sieben weitere Arbeiter lagen ermordet auf den groben Fliesen des Raumes. Ihre verheerenden Schnittwunden kannten Will und Saskia aus der Nacht in der Villa. Dieses Mal gab es jedoch einen deutlichen Unterschied: Der Mann, der am nächsten an der enormen Feuerstelle lag, hielt das Schwert in der Hand!
»Spürt ihr die Spannung im Raum? Ist das noch ein Schutzgeist?«, fragte Saskia alarmiert und schaute in alle Richtungen, während sie sich mit Will zusammen vorwärtsbewegte. Justine verharrte an der Tür und behielt den Eingang im Auge.
Will war mehr als nervös und hatte ebenfalls sein Messer gezogen. Dazu murmelte er unentwegt alle Gebete, an die er sich erinnerte: Shiva, sein Namensgeber, sollte ihn beschützen und Kali den Geist vernichten. »Es ist das Schwert«, flüsterte er Saskia zu. »Damit hat er mich angegriffen!«
In der Wand hinter der Feuerstelle befand sich ein Loch, ein Schlagbohrer und ein Vorschlaghammer sowie jede Menge Gesteinstrümmer lagen davor. Anscheinend hatte einer der Arbeiter die verfluchte Waffe geborgen,.
»Meinst du, es sind Dämonendiener?« Will blieb neben dem Mann mit dem Schwert stehen. Jemand hatte mit einem Schraubenzieher auf ihn eingestochen. »Es könnte Streit gegeben haben.«
»Möglich. Ich habe kein gutes Gefühl hier, Will. Wir müssen so schnell wie möglich verschwinden.« Saskia stellte sich auf das Handgelenk des Mannes, bevor sie sich nach der Waffe bückte.
In diesem Moment riss der Handwerker die Augen auf und versuchte, sich mit einem Schrei von ihr zu befreien!
Geistesgegenwärtig trat sie ihm gegen den Kopf, der nach hinten schnappte und brutal auf den Steinboden prallte. Dann entwand sie den kraftlosen Fingern den Schwertgriff, erhob sich rasch, machte zwei Schritte zurück und richtete die blutverschmierte Klinge auf den Mann. »Er müsste ohnmächtig sein nach dem Tritt!«, rief Justine aus dem Hintergrund. »Will, weg von ihm!«
Der Russe hatte sich bereits aufgerichtet und hielt sich keuchend auf den Knien, allerdings ohne Will, der direkt neben ihm stand, zu beachten. Langsam hob er den rechten Arm und streckte bittend die Hand nach dem Schwert aus; dabei murmelte er ununterbrochen.
Will starrte den Mann an: Dass sein Verstand Opfer des Wahnsinns geworden war, erkannte selbst ein Laie. Die Pupillen hatten alle Farbe an den Rand gedrängt. Er rutschte auf Saskia zu und versuchte, die Spitze des Schwertes zu greifen. Sein Gerede wurde lauter und wütender. »Los, verschwinden wir!«, rief Justine von der Tür. »Wir haben, was wir suchen.« Saskia zögerte, denn das Schwert hatte sie in ihren Bann geschlagen, schon bei der ersten Berührung. Niemals zuvor hatte sie eine solche Waffe gehalten. Sie war unerwartet schwer, jedoch perfekt ausbalanciert, eine durchgehende Klinge, auf die Korb und Parierstange aufgesetzt worden waren. Kein Stahl, kein Eisen und ganz sicher kein anderes Metall. Aber was war es dann? Elfenbein? Glaskeramik? Geschliffenes Horn? Sie entdeckte Scharten auf beiden Seiten der Klinge. Die Silbereinlagen weckten ihre Neugier. Sie fuhr sachte darüber und achtete weder auf das Blut, noch vernahm sie Wills warnenden Ruf. Saskia hatte den Eindruck, dass man die Einlagen leicht verwischen konnte und sie danach wieder in die ursprüngliche Form zurückglitten, wie Quecksilber oder flüssiger Lötzinn. In ihren Fingerkuppen prickelte es.
»Macht endlich!«, hörte sie Justine wie durch eine dicke Schicht Watte rufen.
Will wartete nicht länger; er rannte los, packte Saskia fest am Oberarm und zerrte sie, die immer noch voller Verzückung das Schwert anstarrte, hinter sich her.
Der Handwerker schrie auf, gebärdete sich wie toll, heulte und tobte. Die Lautstärke steigerte sich immer mehr, bis er wie ein Tier klang - ein Tier, in dessen Nähe man auf keinen Fall bleiben durfte.
Sie rannten durch den Gang zurück. Unterwegs schnitt Saskia ein Stück Abdeckplane von einem Gerüst ab und schlug das Schwert darin ein.
»Ich will gar nicht wissen, wie es in den übrigen Räumen des Klosters aussieht«, meinte Will, während sie über den Hof eilten. Justine lenkte sie zu einem der Transporter. Der Schlüssel steckte. »Das war einfacher, als ich dachte«, sagte sie und gab Gas.
»Das würde ich nicht so sehen«, entgegnete Saskia und griff sich an die Stirn; sie hatte Kopfschmerzen, die sie auf die merkwürdige Anziehung zurückführte, die das Schwert auf sie ausübte. »Und außerdem ist die Frist, innerhalb derer wir die Artefakte finden sollten, schon beinahe zur Hälfte verstrichen.«
Sie schössen über die verschneite Straße.
»Waren das Handwerker oder Dämonendiener?«, fragte Will erneut und schaute auf die Plane, unter der sich das erste Artefakt verbarg. Wieder hatte es das Blut derer gefordert, die sich in seiner Umgebung aufhielten. »Was denkt ihr, wer die Toten waren?«
»Mir egal«, sagte Justine. »Sie sind uns nicht in die Quere gekommen. Besser konnte es nicht laufen.«
»Wann wirst du endlich aufhören, so zynisch zu sein?«, fragte Will sie wütend. »Wenn du nicht mehr so naiv bist«, konterte Justine ungerührt. »Die Zeiten sind vorbei, in denen es deine größte Sorge war, ob du einen aufgeregten Kunden mit einer Extrarose beschwichtigen kannst oder nicht. Jeder, dem du begegnest, kann der sein, der dich töten wird!« Saskia teilte ihre Einschätzung nicht, schwieg jedoch. Sie meinte ein Kribbeln zu spüren, das vom Schwert ausging, als stünde es unter Spannung und suche einen Kontakt, um sich zu entladen. Wollte es sich mit ihrer Gabe kurzschließen? Sie achtete darauf, dass die Plane nichts unbedeckt ließ, und vermied jeden weiteren direkten Kontakt. »Wohin müssen wir, Will?« Er hatte befürchtet, dass diese Frage kam. »Noch habe ich keine genauen Hinweise auf unser nächstes Ziel. Erst mal zum Boot.«
Neben dem Transporter setzte ein Wagen zum Überholen an.
11. November
Russland, Posolsk, südöstlicher Baikalsee
Demetrios bekam eine Leselampe vom Arbeitstisch zu packen und schlug nach dem Mann. Eigentlich hätte der von unten geführte Hieb am Kinn enden sollen, doch der schwere Metallfuß blieb an der Mündung der Pistole hängen und schlug dem Unbekannten die Waffe aus der Hand.
Das Schießen endete, auch der Druck auf die Tür verschwand, und dann erklang der Sturz eines Körpers. Als Demetrios die Tür vorsichtig öffnete, lag sein Bewacher tot am Boden. Ein Querschläger hatte ihn unterhalb der Kehle getroffen!
»Danke, Herr«, murmelte der Mönch, sprang zum Arbeitstisch, zog das Buch aus dem Stapel hervor und rannte hinaus in den Gang.
Er wusste, dass es nicht damit getan war, die Informationen in Sicherheit zu bringen; seine Angst hatte ihn bereits dazu gebracht, den Unbekannten das richtige Kloster zu nennen. Er musste die Brüder dort warnen und das artefactum sichern!
Hastig kletterte er aus einem der Fenster, hetzte im Schutz der Gebäude zum Tor und rannte hinaus auf die Straße. Als er vor den Mauern des Klosters stand, erklang ein gedämpfter Knall. Und noch einer. Und noch einer. Nicht laut, doch deutlich wahrnehmbar. Er wusste, was das zu bedeuten hatte. Demetrios rannte über den verschneiten Gehweg hinaus zur Straße und brachte den nächstbesten Wagen zum Stehen.
Er sprang hinein und beschrieb der hilfsbereiten Fahrerin keuchend den Weg zum Mutterkloster. Sie lieh ihm sogar ihr Handy, mit dem er die Polizei informierte, dass Terroristen ins Kloster eingedrungen seien und die Mitbrüder als Geiseln hielten.
Demetrios war aufgewühlt. Er betete, dass niemand mehr zu Schaden kam, und befahl die Seelen der Toten in die Hand Gottes. Während die Fahrerin immer mehr Gas gab, blätterte er in dem Buch hin und her, bis er die richtige Seite wiedergefunden hatte, und überflog die Stelle. Geschaffen aus dem Körper eines Teufels, gemacht von einem Wahnsinnigen. Seine Bosheit ist derlei, dass die Gesunden und Ungewappneten schon durch seine Nähe ihren Verstand verlieren oder dem grundlosen Hass verfallen. Wen die Schneide trifft, muss einen grausamen Tod erleiden, vor dem es keine Rettung gibt. Das artefactum wird einen Teufel auf Erden holen, und zu zerstören ist es mit nichts. Was immer ihr versuchen werdet, es bringt Unheil über euch und alles um euch herum. Bewahrt es vor dem Zugriff des Bösen!
Schon nach wenigen Minuten rauschten Polizeiautos mit Blaulicht an ihnen vorbei in Richtung Posolsk. Schneematsch prasselte gegen ihren Wagen, und Demetrios faltete die Hände und schloss die Augen, um neue Gebete für seine Brüder zu sprechen.
Es dauerte nicht lange, und das Mutterkloster kam in Sicht. Auch hier waren Renovierungsarbeiten im Gang; die Klöster der Region waren allesamt in beklagenswertem Zustand. Sie hielten auf die Gebäude zu, als plötzlich ein Lieferwagen aus dem Tor schoss, in dem Demetrios zwei Frauen und einen Mann erkannte.
Sie fuhren knapp an ihnen vorbei... und Demetrios fühlte die Macht des artefactum: Eine Welle der Abneigung, des Hasses gegen die Menschen in diesem Auto überrollte ihn. »Hinterher«, befahl er der Frau. »Dem Transporter hinterher, bitte! Die Leute darin haben etwas, was ... was das Kloster nicht verlassen darf!«
Sie tat, was er verlangte, und Demetrios dankte dem Herrn, dass er ihm ein so freundliches Christenkind gesandt hatte. Doch dann sah er, dass sich ihr Gesichtsausdruck verändert hatte; sein Glauben gab ihm den nötigen Widerstand gegen die teuflische Aura, sie dagegen war ihr schutzlos ausgeliefert.
Der Transporter fuhr sehr schnell, zu schnell für die winterlichen Straßenverhältnisse und für die glatte Uferstraße. Demetrios fragte sich, wer diese drei Menschen waren. Sie gehörten offenbar nicht zu den Terroristen, aber was war ihre Motivation? Er hatte keine Ahnung, wie er sie dazu bringen sollte, ihm das artefactum zu übergeben; was, wenn auch sie bewaffnet waren? Er musste handeln. Sofort!
»Überholen Sie den Transporter«, sagte er zu der Fahrerin. »Ich muss ihnen mit Handzeichen klarmachen, dass sie anhalten sollen.«
Die Fahrerin trat aufs Gas.
Als sie sich auf gleicher Höhe befanden, schickte Demetrios ein Stoßgebet zum Himmel - dann griff er ins Lenkrad und riss es herum! Der Wagen rammte den Transporter und schob ihn von der Straße auf die abschüssige Böschung zu.
11. November
Russland, südöstlicher Baikalsee
»Ein todesmutiger Mönch«, meinte Justine schmunzelnd nach einem Blick in den Außenspiegel. »Er scheint es eilig zu haben.« Dann fluchte sie, gleich darauf krachte es, und der Transporter geriet auf der rutschigen Fahrbahn ins Schlingern.
Die Französin riss das Lenkrad herum, steuerte gegen und versuchte, die taumelnden Bewegungen auszugleichen, doch unter diesen Umständen wäre sogar ein professioneller Rallyefahrer gescheitert. Der Transporter schlitterte auf die dünne Absperrung der Küstenstraße zu und durchbrach sie mühelos. Justine strengte sich an, das Fahrzeug vor einem Überschlag zu bewahren - bis das rechte Vorderrad einen Stein streifte und herumgerissen wurde. Will fühlte sich wie ein Wäschestück in einer hochtourigen Waschmaschine, prallte gegen das Wagendach, die Ablage, gegen weiche Körper, ohne zu wissen, ob es sich um Justine oder Saskia handelte, und bekam die Handbremse in die Seite. Als ein Schuhabsatz mit Mordsschwung gegen seinen Kopf knallte, es sehr laut klirrte und sich Schnee in den Innenraum ergoss, wurde er ohnmächtig - aber nicht wegen des Zusammenstoßes, sondern weil ein greller Schmerz sein Rückgrat entlang schoss und die Stelle, an der sich der Schnitt befand, regelrecht zu explodieren schien!
Justine schlug die Augen auf und bemerkte, dass sie eingekeilt zwischen Saskia und Will lag. Wie lange war sie bewusstlos gewesen? Der Transporter war mit den Rädern nach oben zum Stillstand gekommen, der Motor war aus, und es stank nach Öl. Vor ihr glitzerten Scheibensplitter, das Wagendach war eingedrückt.
»Seid ihr wach?« Als sie keine Antwort bekam, schob sie sich fluchend aus dem Frontfenster, rutschte durch den schwarzgefärbten Schnee und kroch neben dem Transporter ins Freie. Ächzend richtete sie sich auf und sah den Abhang hinauf. Eine breite Bahn im Schnee, aufgewühlte Erde und abgeknickte Bäumchen markierten den Weg, den der Wagen bei seinem Absturz genommen hatte.
Es kostete selbst sie viel Kraft, aber schließlich gelang es Justine, die Seitentür aufzubekommen.
Saskia hing kopfüber gefangen im Anschnallgurt, Will lag ausgestreckt unter ihr. Justine befreite sie als Erste, was nicht leicht war, danach zerrte sie Will heraus. Als sie die Gesichter mit Schnee abrieb, schlug Saskia die Augen auf; Will dagegen blieb ohnmächtig. Puls und Atmung waren jedoch normal, also machte sie sich keine Sorgen.
»Was ... was ist passiert?«, fragte Saskia benommen. Dann ging ein Ruck durch sie, und sie setzte sich sofort auf. »Wo ist das Schwert?«
Justine spähte in den Transporter, konnte es aber weder dort noch im näheren Umkreis entdecken. »Merde!« Sie stemmte die Hände in die Hüften und deutete auf den Abhang. »Es muss herausgeschleudert worden sein. Oder jemand war hier ...«
Saskia erhob sich. Die Welt drehte sich noch immer um sie, und auf der rechten Schläfe bildete sich eine Beule. Sie folgte Justines Blick und sah die Fußspuren im Schnee und der aufgewühlten Erde: Die groben, geriffelten Sohlen von jemandem, der von oben gekommen war. »Hast du irgendwen gesehen?«
»Non.« Justine umrundete rasch den Transporter und suchte nach weiteren Spuren. Saskia kniff die Augen zusammen - und sah einen Mann, der in großer Entfernung am Strand stand und offensichtlich versuchte, nach einem anstrengenden Lauf Luft zu schnappen. In seiner Hand hielt er etwas, das aussah wie ein langer, in eine Plane eingeschlagener Gegenstand ... Die Französin folgte ihrem Blick. »Merde! C'est l'abbe!« Sie nahm sofort die Verfolgung auf. Saskia spurtete hinterher, auch wenn sie ein schlechtes Gewissen hatte, Will allein zurückzulassen. Andererseits drohte ihm dort, wo er lag, keine Gefahr -und das Artefakt durfte nicht verlorengehen!
Sie hatten sich dem Mönch schon ein gutes Stück genähert, als er sich umdrehte und seine Verfolgerinnen entdeckte. Sofort lief er wieder los, wenn auch nicht besonders schnell, und hielt auf einen Pulk von Booten zu, die an einem Steg vertäut waren. Er sprang in eines hinein und schob es weg vom Anleger in die flachen Wellen. Der Außenborder röhrte auf, und er fuhr auf den Baikalsee hinaus. Was er ihnen zurief, verstand Saskia nicht.
Justine hetzte die Planken entlang und war bereits damit beschäftigt, ein zweites Boot zu entern, als Saskia schwer atmend bei ihr ankam. »Nimm du ein anderes«, rief sie ihr zu. »Zusammen sind wir zu schwer.« Sie startete den Motor.
Saskia wollte ihr nicht nachstehen, und gleich darauf nahm sie mit tuckerndem Außenborder $ie Verfolgung auf. Sie hatte schon manche Stunden beim Angeln auf einem See und auf dem Meer verbracht, der Umgang mit der Steuerung bereitete ihr keine Schwierigkeiten. Der Mönch besaß einen ordentlichen Vorsprung, und sein Boot war schnell. Beständig setzte er sich von seinen Verfolgerinnen ab.
Saskia hörte Justine sogar gegen den Wind fluchen, als sie knatternd einige Meter an ihr vorbeizog; die Französin hatte sich das langsamste Boot ausgesucht. Mit einer Pistole oder einem Gewehr wäre die Sache bereits entschieden und das Artefakt in ihrem Besitz, doch so konnten sie nur hoffen, dass der Mönch noch einen entscheidenden Fehler beging. Saskia fragte sich, was ihn antrieb. Stand er auf der Seite der Guten oder der Bösen - und spielte das überhaupt eine Rolle? Jeder, dem du begegnest, kann der sein, der dich töten wird, hatte Justine vorhin gesagt. Und sie schien recht zu haben.
Eine Fähre machte mit einem lauten Tuten auf sich aufmerksam und schob sich in einem Bogen von hinten näher an sie heran; am Heck schäumte das Wasser und schlug Blasen. Die Maschinen liefen auf vollen Touren: Das Schiff beteiligte sich an der Jagd! Bald würde es Justine, die zurückgefallen war, erreicht haben.
Sie hatte sich nicht getäuscht: Am Bug erkannte sie drei Männer, die Maschinenpistolen in den Händen hielten. Einer hob seine Waffe - und sandte eine Garbe in Richtung des Mönchs. Sofort stieß der Außenborder des Geistlichen dunkle Qualmwolken aus und kam mit einem ratternden Geräusch zum Erliegen. Der Mann versuchte verzweifelt, den Motor wieder zum Laufen zu bringen, doch es tat sich nichts; die Kugeln hatten irreparablen Schaden angerichtet. Panisch legte er die Riemen aus und begann mit der Kraft des Verzweifelten zu rudern. Saskia schätzte, dass sie ihn vor der Fähre erreichte - aber dann? Mit ihren Messern konnte sie auf diese Entfernung nichts gegen MPs ausrichten.
Ein Krachen erklang, und Saskia wandte sich um. »Nein!«, schrie sie auf: Justines Boot war vom Bug der Fähre zertrümmert worden - und von ihr fehlte jede Spur. Aber davon durfte Saskia sich nicht ablenken lassen. Justine hat sich vor dem Zusammenprall an Bord der Fähre gerettet, redete sie sich ein. Sie ist in Sicherheit. Es durfte keine Alternative dazu geben! Endlich war Saskia auf gleicher Höhe mit dem Mönch und schaltete den Motor auf Leerlauf. Der Mann war aufgestanden und schwang einen der Riemen als Keule über seinem Kopf. »Nein!«, rief sie und hob die Hände. »Freunde! Freunde!« Sie zeigte auf die Plane, die zwischen seinen Füßen lag.
Der Mönch setzte seine Angriffe, von lautem Schimpfen begleitet, fort. Saskia wich dem Hieb aus, was auf einem schwankenden Untergrund keine leichte Aufgabe war, und sprang hinüber in sein Boot. Eigentlich wollte sie dort geschickt landen und ihm die Waffe entwinden; stattdessen prallte sie gegen ihn und wurde, genau wie er, zu Boden geworfen. Das Boot schwankte so stark, dass eiskaltes Wasser hineinschwappte. Der Mönch schnappte sich das Schwert und schleuderte ihr die Plane entgegen. Saskia nahm an, er würde sie damit angreifen aber er warf das Artefakt einfach über Bord!
Es verschwand augenblicklich in den Wogen, und der Mann lachte erleichtert. Er sah zu Saskia und setzte sich ganz langsam, mit einem breiten Grinsen im Gesicht.
»Idiot!« Sie sah zur Fähre, deren breiter Bug nicht mehr als vierzig Meter entfernt war. Wie kam sie jetzt an das Schwert? Der Baikalsee war der tiefste See der Erde und dazu noch kalt und bald unter meterdickem Eis verschwunden. Sie hatten nur wenige Tage zur Bergung. Das schaffen wir niemals! Abgesehen davon, konnte das Artefakt vom Grund des Sees jederzeit auf magische Weise an seinen ursprünglichen Bestimmungsort im Kloster zurückgezogen werdet; dort hatten inzwischen sicher schon Dämonendiener Stellung bezogen.
Schüsse peitschten, Kugeln schlugen um sie herum ins Wasser ein, auch das Boot wurde getroffen. Sie duckten sich flach auf die feuchten Planken.
Der Mönch begriff, dass es diesen Verfolgern nicht nur um das Schwert ging; sie wollten ihn töten. Mit schreckgeweiteten Augen sah er Saskia an, als wollte er nun von ihr Beistand. Sie fühlte, wie die Wut in ihr hochschäumte. Und mit Wut erreichte sie mehr, als einen Apfel zu schälen ... Mediatrice, dachte sie. Ich bin eine Öffnerin!
Ungeachtet der Schüsse erhob sie sich und griff auf ihren heißen Zorn zurück. Sie schloss die Augen, konzentrierte sich und rief den ätzenden Bittermandelgeschmack zu sich. Dabei formte sich ein Bild von dem, was geschehen sollte, klar in ihrem Verstand. Das unsichtbare Wachs schien in ihre Nase zu fließen und sie zu verstopfen, brachte sie zum Husten und schränkte ihre Atmung ein. Sie hielt die Augen fest geschlossen, um sich nicht durch die veränderte Umgebung, ihrem Grau und der Zweidimensionalität, ablenken zu lassen.
Sie hob die Hände und gab ihrer Umgebung einen Befehl.
Und tatsächlich - es geschah!
Das Wasser rechts und links des Bootes bildete Strudel, die größer und größer wurden. Der See strömte brausend und schäumend nach allen Seiten davon und erzeugte Wellen, die sich mit jeder neuen steigerten. Gischtschleier verbargen Saskia und den Mönch vor den Blicken ihrer Verfolger. Es sah beinahe so aus, als befänden sie sich im Mittelpunkt einer Wasserhose, deren Kraft sich sekündlich steigerte und ein Loch in den Baikalsee bohrte.
XIV. KAPITEL
11. November
Russland, südöstlicher Baikalsee
Die Fähre hob und senkte sich heftig; die Männer mit den Maschinenpistolen mussten sich festhalten. Die Macht der Strömung schob das Schiff rückwärts und versetzte es dabei in eine seitliche Drift.
Das Boot mit Saskia und dem Mönch sank dagegen auf einer Wassersäule abwärts. Tiefer und tiefer ging es, der Geistliche betete unaufhörlich und starrte auf die flüssigen Wände um sie herum, die aussahen, als wären sie aus einem merkwürdigen Glas gegossen worden; eiskalter Sprühnebel durchnässte sie beide.
Saskia hatte die Augen geöffnet, starrte in die graue Welt und versuchte, das Erstickungsgefühl zu ignorieren. Ihre Luftröhre schien sich mehr und mehr zuzusetzen, doch noch vermochte sie zu atmen. Wie lange hielt sie durch? Wie lange konnte sie die Konzentration aufrechterhalten? Schweiß lief ihr trotz der Kälte in Strömen über das Gesicht.
Während sie den See Meter um Meter unter sich zur Seite schob, musste sie an die Geschichte aus der Bibel denken - daran, wie Moses das Meer für die Israeliten geteilt hatte. Geöffnet hatte. War dies die Erklärung für das Wunder, von dem im Alten Testament berichtet wurde? War Moses auch ein Öffner gewesen - und wenn ja: Wer hatte ihn dazu gemacht? Saskia schätzte ihre Geschwindigkeit auf mehrere Meter pro Sekunde. Als sie das Gesicht hob und nach oben in den granitfarbenen Himmel schaute, hatten sie bereits einige hundert Meter über sich gelassen. Pfeifend sog sie die Luft ein und musste husten. Das unsichtbare Wachs in ihrem Hals wurde zäher und dicker.
Um sie herum toste es wie in einem Wasserfall, wie an einer stürmischen Küste. Ein Tonnengewicht türmte sich um sie herum auf. Sie hielt die Wassermassen im Griff, die in ihrer Zweidimensionalität und den verschiedenen Grautönen noch bedrohlicher aussahen als sonst, doch sie verspürte keine Angst... stattdessen warnte sie plötzlich ein anderes Gefühl, und sie fuhr herum.
Der Mönch stand keinen Schritt mehr von ihr entfernt und hatte den rechten Arm zum Schlag erhoben. Noch immer schien er der Ansicht zu sein, dass sie das Artefakt nicht erhalten durfte. Saskia parierte die Attacke mit dem linken Unterarm. Es war nicht leicht, Entfernungen und Geschwindigkeiten in diesem Sichtmodus abzuschätzen, weil dem, was sie sah, jede Tiefe fehlte, aber der wütende Schrei des Mannes und der Schmerz in ihrem Arm zeigten ihr deutlich, dass sie es geschafft hatte, ihn zurückzudrängen. Mit einer fließenden Bewegung zog Saskia ihr Messer und schlug mit dem Knauf nach ihm. Zweimal verfehlte sie ihn, dann endlich traf sie seine Schläfe. Der Mann verdrehte die Augen und fiel zu Boden.
Die Wassermassen gerieten durch das Abflauen der sie bändigenden Macht in Bewegung. Vom oberen Rand lösten sich Sturzbäche und schlugen auf das Boot ein, brachten die Planken zum Knarren und rissen die Befestigung des Außenborders ab.
Saskia zwang ihre gesamte Aufmerksamkeit auf das Eindämmen des Wassers zurück. Es war anstrengender, viel schwerer als vorher. Immer wieder drückten sich Wasserfälle durch ihre Barrieren. Der ekelerregende Geschmack schien sich wie Säure in ihre Mundhöhle zu fressen, die Lunge schmerzte, als würde sie von unten nach oben gefüllt, ihr Atem rasselte. Die Anstrengung forderte ihren Tribut.
Noch mehr Güsse trafen das Boot, ein dicker Schwall schleuderte sie nieder. Knirschend zerbrach der Rumpf, Saskia schrie auf, sie fiel - und landete hart, aber unbeschadet wenige Meter tiefer auf dem glitschigen, schlammigen und sehr kalten Grund. Sie hatte den See bis auf den Boden hinunter ausgehöhlt!
Saskia stemmte sich in die Höhe und blickte sich rasch nach dem Schwert um. Wenn sie sich nicht sehr getäuscht hatte und es nicht zu sehr von Strömungen im Sinken abgetrieben worden war, musste es ganz in der Nähe sein. Die graue, zweidimensionale Welt würde die Suche nicht einfacher machen.
Doch als hätte eine höhere Macht eine Einsicht, sah sie das Artefakt einige Schritte neben dem geborstenen Boot, neben dem Heck, in dem der besinnungslose Mönch lag. Die Klinge steckte zur Hälfte in der sich auftürmenden Wasserwand, der Griff ragte in ihre Richtung. Es hob sich deutlich von dem alles umgebenden Grau ab, wobei Saskia nicht sagen konnte, woran dies lag, denn es zeigte auch nicht die gleiche Farbe, die sie vorher gesehen hatte.
Saskias Kopfschmerzen verstärkten sich; der Bittermandelgeschmack ließ sie würgen. Ihre Sicht flimmerte, und das Atmen gelang nur mit sehr viel Mühe, wie bei einem Asthmaanfall. So schnell sie konnte, stapfte sie mit schweren Beinen über den tückischen Untergrund zum Schwert. Mehrmals rutschte sie aus und fiel.
Vorsichtig schloss sie ihre Hand um das ungewöhnliche Schwert und zog es langsam aus\der stehenden Wasserwand. Das Boot war zerstört. Sie konnte den See nicht mehr sachte in das Loch zurückströmen lassen, um sich nach oben treiben zu lassen. Ohne einen Schutz würde sie in den eisigen Fluten innerhalb kürzester Zeit erfrieren. Saskia blieb nur eine Möglichkeit.
Tief einatmend, gab sie ihrer Gabe neue Kraft und sandte sie in einer geraden Linie von sich weg.
Das Wachs in ihren Lungen begann, abzukühlen und hart zu werden.
Lange würde sie diese Anstrengung nicht mehr ertragen.
Das Rauschen steigerte sich. Der See tat vor ihr eine Schneise auf, deren Ränder sich Hunderte Meter über ihr erhoben. Die hellgraue, fast weiße Sonne strahlte schräg hinein und machte einen Teil der Wände durchsichtig. Eine künstliche Schlucht, erschaffen allein durch die rätselhafte Kraft, die ihr verliehen worden war.
Auf einmal fühlte Saskia sich unerreichbar mächtig! Die Atemnot, der Schwindel spielten in diesem Moment keine Rolle mehr und lösten sich auf in Euphorie. Archaische Energie pulsierte in ihr, zerstörerisch und erschaffend zugleich, nicht menschlich und nicht von Menschen messbar - doch sie vermochte über sie zu gebieten. Sie spürte auch, dass sich hier gerade nur ein kleiner Teil der Macht offenbarte, die in ihr steckte. Dies alles ließ sie in einen Rauschzustand gleiten; überglücklich lachte sie auf, doch der Klang war seltsam schrill in ihren Ohren und tat weh.
Herabrieselndes Wasser benetzte ihr Antlitz und trübte ihre Sicht. Aus der Begeisterung wurde unvermittelt Furcht. Sie erkannte sich selbst und ihre Empfindungen kaum wieder. Was, wenn sie die Kontrolle verlor über sich und die Gabe? Was könnte sie alles anrichten, und wer würde sie aufhalten?
Mit den Zweifeln kam die Schwäche zurück - und der Schmerz in ihren Lungen. Schnell wischte Saskia sich die Augen frei und sah nach dem Mönch. Wenn sie ihn hierließ, würde er ertrinken. Wenn sie ihn mitnahm, würde sie den Rückweg vielleicht nicht schaffen. Wieder gab es ein warnendes Flirren vor ihren Augen, sie war zu Schnappatmung übergegangen, die immer wieder von Husten unterbrochen wurde.
Sie konnte den Mönch nicht mitnehmen, es wäre ihrer beider Untergang.
Sie stapfte los.
Schritt um Schritt bewegte sie sich dorthin, wo sie das Ufer vermutete. In der Rechten hielt sie das Schwert; ihre Hand fühlte sich wie elektrisiert an.
Die Gabe offenbarte jetzt ihre negative Seite mit voller Macht. Saskia roch nichts anderes mehr als Mandel und Essig. Würgend übergab sie sich und spürte das Brennen in ihrem Rachen. Ihr Speichel hatte eine undefinierbare Farbe angenommen, war klumpig und trüb. Die Oberschenkel brannten, zitterten, drohten sie im Stich zu lassen. Sie bekam Zweifel, dass sie es schaffen würde. Unvermittelt sah sie Erinnerungen aus ihrer Kindheit vor sich, Szenen voller Frieden und Harmonie, mit ihrem Vater und ihrer Mutter; das herrliche Gefühl, das sich dabei einstellte, hatte sie schon lange nicht mehr empfunden. Die Gabe schien ihr wie zum Hohn zeigen zu wollen, dass es ein solch sicheres Zuhause für sie nicht mehr gab.
Endlich näherte sich Saskia dem Ufer und erklomm die starke Steigung. Sie schwitzte, keuchte und kämpfte sich, dem Erstickungstod nahe, über die glitschigen Steine und andere Hindernisse, bis sie nicht mehr konnte. Ihr Bein rutschte unter ihr weg.
Während Saskia hinschlug, erlosch ihre mühsam aufrechterhaltene Konzentration. Der See war befreit. Sie hörte das Tosen der einbrechenden Schneise, Wasser prasselte auf sie nieder. \ Saskia schaute schwer atmend unter ihrem Arm hindurch nach hinten und sah, dass die Bresche sich schloss - und eine Woge die künstliche Wasserschlucht entlanggeschossen kam!
Sie hatte nicht mehr die Kraft, sich aufzurichten, also klammerte sie sich an den Schwertgriff und wartete darauf, von der schäumenden Welle erfasst zu werden. Schon war der befreite See heran und umschloss sie, schleuderte sie davon und trieb sie vor sich her wie ein Korken. Er schien seine Wut über den ihm auferlegten Zwang an der Schuldigen auslassen zu wollen. Mal befand sich Saskia unter, mal über der Oberfläche, sie schluckte und hustete, holte Luft, hielt sie an und verlor den Überblick, was mit ihr geschah. Die Kälte raubte ihr jegliches Schmerzempfinden. Schließlich schrammte sie über Steine, wurde vehement eine Böschung hinaufgerollt - und lag auf festem Boden.
Der Bittermandelgeschmack war vergangen, die Nase leicht verstopft, aber sie roch Feuchtigkeit, Schlamm und Blut. In ihrer Hand hielt sie noch immer das Schwert. Saskia konnte sich nicht rühren. Sie zitterte, klapperte vor Kälte und Schock mit den Zähnen und fühlte sich müde, so unendlich müde ... Gleichzeitig ahnte sie, dass sie nicht mehr erwachen würde, wenn sie jetzt einschlief.
Saskia zwang sich dazu, die Augen zu öffnen und sich aufzurichten. Vor ihr lag der Baikalsee. Ihr Eingriff hatte ihn aufgewühlt, die Wellen schlugen noch immer hoch gegen das Ufer. Die Woge hatte sie weit nach oben getragen, und als sie an sich herabblickte, entdeckte sie zahlreiche Schürfwunden durch ihre zerfetzte Kleidung. Das Brennen setzte erst langsam ein, die kalte Haut war noch zu betäubt.
Saskia schaute nach rechts und links, um sich zu orientieren. Sie war etwa dreihundert Meter vom umgestürzten Transporter an Land gespült worden, das Ufer war übersät mit Ästen, Zweigen, zerschlagenen Bootsrümpfen und anderem Treibgut, das aus der Tiefe des Sees nach oben geschleudert worden war. Möwen kreisten aufgeregt über ihr. Auf der höhergelegenen Straße hatten zahlreiche Autos angehalten, Schaulustige säumten die Leitplanken und hatten das einmalige, unbegreifliche Schauspiel verfolgt.
Saskia spuckte aus und stemmte sich auf die Beine. Zu ihrer Linken lag ein alt aussehendes Buch mit kyrillischem Aufdruck. Hatte es dem Mönch gehört? Intuitiv griff sie danach; dann taumelte sie zum Transporter, um nach Will zu sehen.
Immer wieder sah sie sich um, hoffte inständig, eine Spur von Justine zu entdecken, doch sie konnte weder sie noch die Fähre ausmachen.
Saskia fürchtete sich vor dem Gedanken, dass sie mit ihrer Gabe zwar sich gerettet, aber zahlreiche andere Leben genommen haben könnte. In ihrer Vorstellung rasten Riesenwellen die Strände des Sees hinauf, brachten Schiffe zum Kentern und richteten Verwüstungen in Häfen an. War es das wert gewesen?
Will öffnete die Augen und erkannte den prunkvollen Raum, in dem er sich befand, sofort wieder: Es war der aus seiner ersten Vision! In diesem Palazzo hatten sich die beiden Patrizier unterhalten, bevor sie lachend die Pestphiole geleert hatten.
Er sah an sich herab und fand sich im Körper eines offensichtlich wohlhabenden Mannes wieder. Als er den Anhänger um seinen Hals bemerkte, wusste er, dass er auch dieses Mal in einen Dämonendiener gefahren war. Schon wieder einer von den Bösen.
Will saß an einem Tisch; auf dem Teller lagen verschiedene gebratene, stark gewürzte Fische. Es roch vor allem nach Pfeffer. Er kostete von dem Wein und verzog das Gesicht: ein herbes und für seinen Gaumen kaum ausgereiftes Getränk.
Es klopfte, und ein Diener betrat den opulenten Raum. »Herr, Capitano Rastani möchte Euch sehen.«
»Herein mit ihm«, befahl Will und merkte, wie er eine Hand an den Rapiergriff legte. Die Waffe, mit der Saskia normalerweise ihre Duelle bestritt. War das eine Ironie des Schicksals? Durch die geöffnete Tür trat ein Mann in einem schwarzen Gewand, beigen Pumphosen und dunkelgrünen Strümpfen. Seine Füße steckten in Schnabelschuhen mit hochgebogenen Spitzen. Um Brust und Rücken trug er einen polierten Eisenharnisch, unter dem rechten Arm hielt er seinen Hut eingeklemmt. Auch er war sicherlich vermögend, und Will glaubte sich zu erinnern, dass ein Capitano Befehlshaber von Fußtruppen war.
Nach zwei Schritten in den Raum blieb der Besucher stehen und verbeugte sich in höfischer Manier vor ihm. Der Diener schloss die Tür. Dann kam Rastani mit einem Lächeln auf Will zu. Er stand von seinem Platz auf und lächelte ebenfalls, damit dem Capitano nichts auffiel. »Wie schön, Euch begrüßen zu dürfen.«
Kaum standen sich die beiden gegenüber, holte Rastani blitzartig aus und versetzte ihm eine schallende Ohrfeige. »Sagt mir auf der Stelle, was Ihr hier treibt, Partello!«, zischte er wütend. »Es sind Männer des Papstes und die Wandler in der Stadt, und Ihr seid so einfältig und lasst das unersetzbare Schwert von einem niederen Boten durch die Gassen tragen?« Bevor der verdutzte Will etwas sagen konnte, erhielt er die nächste kräftige Maulschelle. Er wusste nichts zu entgegnen und beschloss abzuwarten, was der andere ihm noch vorwarf. Rastani schritt an ihm vorüber ans Fenster und öffnete es; sofort drangen Rauchgeruch und feuchte Kühle herein, man hörte das Plätschern des vor dem Haus verlaufenden Kanals. »Venedig lebt noch immer. Ihr hättet mit Euren Leuten schneller arbeiten müssen«, sagte Rastani etwas ruhiger. »Der Magistrat ist dabei, Maßnahmen zu beschließen, die geschwinder fruchten, als uns lieb sein kann.« Er wandte sich zu Will. »Wie viele Männer könnt Ihr zusätzlich aufbringen, um die Pest zu säen?«
Wills Verstand versuchte, das Gehörte in Einklang mit seinen bisherigen Erlebnissen zu bringen und eine Antwort zu formen, die ihn nicht unverzüglich der Lüge überführte. »Schwierig, Rastani. Ich kann weitere Pfleger im Lazarett bestechen, uns mehr Sekret zu beschaffen.« »Tut das, Partello.« Er kam auf Will zu. »Ihr seid unser wichtigster Mann. Vergesst nicht, wir sind endlich in der Lage, unseren Herrn auferstehen zu lassen! Wenn wir ihm diese Stadt aber nicht zu opfern vermögen, ist es einzig Euer Versagen. Was Euch damit blüht, könnt Ihr selbst erwägen.« Er setzte sich auf einen Stuhl an die Tafel. »Wo ist das Schwert?«
»Mein Bote ließ mich wissen, dass er zwei Wandler besiegte, die ihn gejagt haben, und danach in eine Falle lief, die ihm ein gewisser Lentolo mit seinen Schergen stellte«, berichtete Will und stellte seinen Stuhl so, dass er dem Capitano gegenüber Platz nahm.
Am Gesicht des anderen konnte er ablesen, dass er den nächsten Fehler begangen hatte. »Beliebt Ihr zu scherzen, Partello? Ein gewisser Lentolo?«
Will flüchtete sich in ein breites Grinsen und hoffte, dass Rastani von selbst weitererzählte. »Das findet Ihr komisch?«, brauste der auf. »Partello, wenn Lentolo hier ist, müssen wir alles daransetzen, ihn auf eine falsche Fährte zu locken, die ihn schnellstmöglich aus Venedig führt! Wenn er von unserem Vorhaben Wind bekommt und ihm nur einer Eurer Leute zwischen die Finger gerät, dann dauert es nicht lange, und seine Assassinen klopfen bei Euch an.« Er musterte Will eindringlich. »Was ist mit Euch? So kenne ich Euch nicht. Ihr sitzt da ... furchtsam, behäbig und verwirrt, als ginge es Euch nichts an, was ich berichte!« »Zu viel Wein«, wich Will aus. »Er nimmt mir die Bedenken, was unseren Plan anbelangt.« »Für Bedenken ist es zu spät. Venedigs Seelen werden die Rückkehr unseres Herrn ermöglichen. Wir haben alles zusammengetragen, das dazu vonnöten ist. Lentolo und Euer Unvermögen sind unsere einzigen Gegner.«
»Sind die übrigen Artefakte sicher?«, fragte Will geradeheraus und gab seiner Stimme einen leicht angesäuselten Unterton. Ein neuer Fehler.
»Was, bei den Portalen der Hölle, ist mit Euch?«, wisperte Rastani entsetzt. »So besoffen kann Euch der Wein nicht gemacht haben, dass Ihr nicht mehr wisst, dass Ihr sie verwahrt!« Will lachte meckernd. »Ein Scherz, Rastani. Nur ein Scherz! Natürlich habe ich alle beisammen. Und das Schwert.« »Zeigt es mir.«
Will zögerte nicht eine Sekunde. »Nein.«
»Ich will es sehen, Partello! Muss ich Euch daran erinnern, welchen Rang ich bekleide?« »Ihr sagtet selbst, dass es vor Lentolo geschützt werden muss. Je weniger wissen, wo es sich befindet, desto besser. Bedenkt die Gefahr, in die Ihr den Plan bringt, wenn Ihr in die Hände der Assassinen fallt ...«
»Ja, schon gut«, fiel ihm der Capitano unwirsch ins Wort. »Lentolo, dieser Bastard von einem Kirchenknecht. Was gäbe ich dafür, sein Geheimnis zu erfahren. Er zählt mindestens siebzig Lenze und sieht immer noch aus, als wäre er im besten Mannesalter.« Rastani rieb sich mit dem kleinen Finger am Unterkiefer entlang. »Aber sein Leben wird bald zu Ende sein, wenn der Herr Einzug auf Erden hält. Die Menschen werden sehen und verstehen, dass die Macht der Dämonen größer als die eines jeden anderen Gottes ist. Ungläubige wie Lentolo werden mit feurigen Peitschen zu Sklaven gemacht, deren einziger Wunsch es bald sein wird, uns zu dienen.« Er erhob sich. »Treibt Eure Leute an, Partello«, schärfte er ihm ein. »Ich kümmere mich um Lentolo und seine Meute. Eine hübsche falsche Fährte wird ihn Euch vom Hals schaffen. Ihr sorgt für die Vermehrung der Pesttoten.« Grußlos verschwand Rastani und ließ Will zurück.
Aufgeregt wanderte er im Raum auf und ab. »Shiva, gewähre mir deine Gnade und rette mich aus dieser Hölle«, bat er und trank sogar den schlechten Wein aus, um seine aufkeimende Angst zu bekämpfen. »Denk nach«, murmelte er und sah aus dem Fenster in den undurchdringlichen Nebel.
Er - genauer gesagt, dieser Partello - hütete die Artefakte? Dann sollte er sie sich anschauen. Es wäre bei der Suche in der Gegenwart sicherlich von Vorteil, zu wissen, was genau sie in ihren Besitz bringen mussten.
Will streifte durch den Palazzo, durchforstete jeden Raum, jedes Stockwerk, klopfte die Wände und Böden nach Hohlräumen ab. Wie viel Zeit dabei verging, konnte er nicht sagen, und auch die Blicke der Dienerschaft kümmerten ihn nicht. Doch trotz all seiner Mühen blieb er erfolglos. Erst in der Küche, unmittelbar vor dem großen Herd, klang der Fußbodenbelag aus kunstvollen Kachelornamenten hohl. Will sah genauer hin - und entdeckte auf einer der Kacheln die bekannte Fratze des Fabelwesens. Gefunden! Er scheuchte den Koch und die Mägde hinaus. Will stampfte fester auf; es gab keinen Zweifel, dass sich unter seinen Füßen ein Raum befand. Er ließ sich auf die Knie nieder und suchte in den Fugen nach einem Öffnungsmechanismus. Er stocherte mit Schürhaken und Messern, kratzte den Dreck aus den Schlitzen - bis es plötzlich klickte. Eine ein Quadratmeter große Öffnung tat sich auf, und eine Treppe wurde sichtbar, die nach unten führte. Für Venedig war das außergewöhnlich.
Will nahm eine Laterne von der Wand, verriegelte die Tür zur Küche und stieg hinab. Die Steine der Wendeltreppe waren feucht, gelegentlich sickerte Wasser durch winzige Risse und tröpfelte zu Boden. Er wusste, dass er sich unterhalb des Wasserspiegels befand. Die Hausbauer hatten einen gemauerten Schacht angelegt, dessen Stufen bis hinab zum Grund der Lagune führten.
Hier fand Will eine eiserne Klappe mit Symbolen, die ihm nur zu bekannt waren; eine Aussparung bot Platz für das Zeichen, das er als Amulett um den Hals trug. Rasch legte er es ein und drückte leicht.
Unter dem Rattern von Zahnrädern fuhr ein etwa hüfthoher, fassdicker Metallzylinder heraus, in dem verschiedene Glaskammern sichtbar wurden. Ein Fach war leer, dort sollte sicherlich das Schwert untergebracht werden.
Im Schein der Lampe umrundete Will den Zylinder. Er sah ein aufgespanntes schwarzes Haar, ein Stück Pergament, auf dem in merkwürdigen Zeichen etwas geschrieben stand, sowie einen Gegenstand, der ihn an eine faustgroße Halbkugel aus verschrumpeltem Plastik erinnerte. In einer weiteren verglasten Kammer lag ein geöffneter Lederbeutel, in dem auf einem Bett aus Kräutern ein schwarzer Stein lag, der in etwa die Größe der Kuppe eines kleinen Fingers besaß. Erst beim zweiten Hinsehen verstand er, dass es sich dabei um einen Zahn handelte, dessen Kante aus vielen kleinen Spitzen bestand.
Wills Aufregung stieg: Das waren die Artefakte, nach denen sie suchten!
»Ach, hier bist du«, sagte eine Frau; Licht fiel von hinten auf ihn.
Will fuhr herum und sah eine junge Frau, die ohne Rücksicht auf ihr teures Kleid den Weg die Stufen hinab gewagt hatte. »Wie bist du in die Küche gekommen?«
Sie lachte ihn aus. »Mit dem Schlüssel, Gemahl. Du warst unvorsichtig!« Sie kam näher und gab ihm einen wilden Kuss auf die Lippen. »Du bewunderst einmal mehr unseren größten Schatz?«, flüsterte sie andächtig und verneigte sich vor dem Zylinder. »Der Herr wird uns unermesslich entlohnen, wenn er durch uns sein Reich auf Erden errichten kann.«
Will lachte und gab sich Mühe, zuversichtlich zu klingen. Diese Chance musste er nutzen. »Ja, uns wurde große Ehre zuteil.« Er berührte das Behältnis. »Lass mich noch einmal hören, was wir besitzen, damit ich vor Freude erschauere. Es bereitet mir größere Freude, es aus deinem Mund zu hören, Liebste.« Er hoffte, dass sie ihm den Gefallen tat.
»Sehr gern.« Sie tänzelte an ihm vorbei und blieb vor dem ersten Glas stehen. »Ein Haar vom Schopf des Herrn, das er seiner geheiligten Metze schenkte, als er Babylon zerstörte.« Sie ging weiter. »Ein Zahn und ein Stück seines Auges, das er im Kampf gegen Baal verlor und zurückließ, auf dass wir sie benutzen, um ihn herbeizurufen.« Sie blieb vor dem Pergament stehen. »Seine Haut, geschnitten aus seiner Brust über dem schwarzen Herzen.« Sie wandte sich Will zu und küsste ihn erneut, ihre Augen funkelten begehrlich. »Zusammen mit dem Schwert aus seinem Horn sind es seine Geschenke an uns. Die Invokation wird gelingen, Geliebter! Wir haben alles zusammen. Dank dir.« Sie schlang die Arme um seinen Nacken und presste sich an ihn. »Ich bin stolz auf dich.«
Will musste sich beherrschen; der Atem seiner Gemahlin war faulig und stank nach Verwesung. Sicherlich hatte sie von dem Eiterpestsekret getrunken. »Ich danke dir.«
Sie wollte ihn küssen, aber er wich ihr aus. »Was ist?«
»Rastani«, sagte er kurzerhand. »Er hat mir gedroht und hält mich für einen Versager.« »Kleine Dämonen sollen ihn in Augen und Ohren ficken, diesen Hurensohn!«, fauchte sie. »Wie kann er es wagen? Er weiß, was er dir zu verdanken hat! Ohne dich wäre die Pest in Venedig nicht ausgebrochen und das letzte Steinchen nicht ins Mosaik eingesetzt worden. Er verdankt dir alles.« Sie löste sich von ihm. »Aber verrate mir eins: Wieso hast du das Schwert an einem anderen Ort verwahrt? Traust du mir nicht?«
Er lachte. »Nein, ich traue dir. Aber Lentolo ist in der Stadt, und deswegen hielt ich es für besser, das letzte Artefakt zu verbergen.« Die Lügen gingen ihm immer leichter über die Lippen.
»Was ist mit den Wandlern? Carlucci hat mir gesagt, man habe ihre Stimmen im Nebel gehört.« Sie schauderte sichtlich. »Überall in Venedig.«
»Mach dir keine Sorgen. Sie sind tot.« Will nahm das Amulett aus der Öffnung, und klickend fuhr der Zylinder wieder in sein Loch zurück. »Lass uns nach oben gehen. Du machst dein Kleid schmutzig.«
Sie ging vor ihm die Stufen hinauf und drehte sich zu ihm um. »Dann reiß es mir vom Leib«, sagte sie verführerisch und lupfte den Rock weit, so dass er ihren nackten Unterkörper sah. In den Leisten erkannte er Pestgeschwüre, und er machte vor Entsetzen und Abscheu einen Schritt zurück.
Wills Fuß trat ins Leere, und er stürzte rücklings ...
Saskia kam bei dem verbeulten Transporter an. Will saß daneben, den Rücken gegen die Wand gelehnt und aus der Nase blutend. Justine kniete vor ihm und kühlte seinen Nacken mit einem Schneeball.
Die Französin sah zu ihr auf, und für den Bruchteil einer Sekunde war das, was Saskia am meisten an ihr auffiel, nicht, dass sie blaue Lippen hatte, dass sie genauso fror wie sie, sondern das Aufflammen von Erleichterung und Freude, die Justine offensichtlich bei ihrem Anblick verspürte. Dann war der Augenblick vorbei - und das Gesicht der Französin nahm den gewohnten, leicht überheblichen Ausdruck an. »Tres bien! Ich wusste, dass du es schaffst!«, sagte sie und zeigte durch ein Nicken an, dass sie das Schwert bemerkt hatte. »Die Fähre ist auf Grund gelaufen. Ich habe es mit Müh und Not an Land geschafft, bevor die Riesenwelle hereinschwappte.« Sie wischte sich das Wasser aus den Augen. »Das war deine Gabe, n'est-ce pas?«
Will lächelte Saskia zu und stand auf. »Es tut gut, dich zu sehen. Dafür werde ich Kali ewig dankbar sein«, sagte er. Sie hatte das Gefühl, dass in seinen Worten mehr mitschwang als bloße Erleichterung - doch es störte sie nicht. »Was ist mit dem Mönch, von dem Justine erzählt hat? Ist das Buch da von ihm?«
Saskia spürte, wie sich ein Kloß in ihrem Hals bildete. »Ich ... ich musste ihn zurücklassen, sonst wäre ich ...« Das Zittern ließ sich nicht länger eindämmen.
»Du kannst nicht jeden retten«, sagte Justine ernst. »Es scheint dir im Moment vielleicht unerträglich zu sein, dass du ihn geopfert hast, aber glaub mir, es war die richtige Entscheidung.« Sie deutete auf die Straße. »Und nun müssen wir weiter. Jemand wird uns schon mitnehmen. Wenn wir länger in der Kälte bleiben, holen wir uns eine Lungenentzündung.« Sie zerrte einen Arbeitskittel aus der Fahrerkabine und reichte ihn Saskia. »Wickel das Schwert darin ein. Na los, vite, vite.«
Sie kletterten den Abhang hinauf und wurden tatsächlich von einem freundlichen Autofahrer mitgenommen. Er drehte für sie die Heizung auf die maximale Stufe und brachte sie nach Selenginsk.
Keiner von ihnen sprach ein Wort; Müdigkeit, Erschöpfung und die Angst, dass ihr russischer Wohltäter womöglich doch verstehen konnte, worüber sie sprachen, ließen sie schweigen. Saskia und Will dösten immer wieder weg und waren noch im Halbschlaf, als sie vor dem Bahnhof anlangten. Sie wurden von dem Fahrer sehr unfreundlich verabschiedet, der plötzlich froh zu sein schien, sie loszuwerden.
Mit dem nächsten Zug ging es zurück nach Irkutsk. Sie merkten zuerst nicht, dass die Passagiere einer nach dem anderen das Abteil verließen, als würde sie etwas vertreiben.
11. November Russland, südöstlicher Baikalsee
Valesca hatte sich mit ihren Leuten unter die Schaulustigen gemischt, die immer noch den aufgewühlten See bestaunten.
Die Straße war hoffnungslos zugeparkt, es gab kein Vorwärtskommen. Alle wollten die unerklärlichen Vorgänge beobachten und darauf warten, dass es wieder geschah. Dass sich der Baikalsee benahm wie das Rote Meer. Dafür hielten die Leute auch mitten auf dem Asphalt an. Valesca wählte mit dem Handy eine Nummer. »Ja?«, meldete sich eine männliche Stimme. »Hier ist Valesca. Wir haben das Schwert an die anderen verloren«, berichtete sie knapp. »Wir waren im falschen Kloster. Als wir den Irrtum bemerkten, war es zu spät. Unsere Gruppe auf der Fähre konnte nichts ausrichten. Saskia Lange ist viel stärker, als wir angenommen haben. Das wird nicht leicht.«
Schweigen.
»Wir werden die Verfolgung aufnehmen. Sie können nicht weit entfernt von uns sein«, redete sie weiter. »Ich vermute, dass sie sich in Irkutsk befinden und von dort das nächste Ziel ansteuern. Das werden wir verhindern.«
Schweigen.
»Gibt es diesbezüglich Instruktionen?«
»Veranlassen Sie alles, was notwendig ist«, befahl die Männerstimme, »und kommen Sie mit der Hälfte des Teams umgehend nach Berlin. Der Rest soll sich an die Verfolgung machen. Ein drittes Team ist bereits in Syrien. Sobald Sie in Berlin gelandet sind, rufen Sie mich wieder an.«
Valesca legte auf und winkte ihren Leuten zu. Sie versammelten sich um sie und nahmen ihre neuen Befehle regungslos entgegen. »Ich fahre nach Selenginsk, Walter wird Team zwei anführen und Lange verfolgen. Ihr erhaltet die Anweisungen wie immer per SMS.« Sie schüttelte Walter die Hand und eilte die Straße entlang zu den Wagen, die fast ganz hinten in der Schlange standen.
Walter, ein Mann um die vierzig, stämmig und mit einem durchschnittlichen Gesicht, dem die dicken Augenbrauen einen Hauch von Auffälligkeit gaben, trabte mit zehn weiteren Leuten in die entgegengesetzte Richtung an die Spitze der Schaulustigen. Sein Plan war, ein paar Autos zu requirieren und damit so rasch wie möglich nach Irkutsk zu kommen.
Wie genau er Lange, Gul und die Unbekannte ausfindig machen sollte, wusste er noch nicht. Es würde das Einfachste sein, den Flughafen im Auge zu behalten.
Er näherte sich dem Anfang des spontanen Staus, an dessen Kopf ein ganzer Bus stand. Die Insassen harrten immer noch an den Leitplanken aus und gafften, schauten mit Ferngläsern auf das Wasser und riefen laut, wenn sie etwas entdeckt hatten.
»Wir nehmen uns die ersten drei Autos neben dem Bus. Bereitmachen.« Walter zog seine Maschinenpistole unter der Jacke hervor und hielt sie am langen Arm.
Das Stampfen der Stiefel seiner Leute war nicht mehr zu hören, sie mussten zurückgefallen sein oder hatten sich ohne seinen Befehl verteilt.
Er sah über die Schulter - und blieb abrupt stehen. Er stand allein zwischen den verlassenen Wagen, als hätte es seine Begleiter nie gegeben! Walter lief einige Meter zurück, blickte hinter die Autos, bis er sich in den Liegestütz begab und unter den Fahrzeugen nachschaute. Nichts! Er nahm sein Handy aus der Tasche und wählte Valescas Nummer, um ihr Bescheid zu geben, dass etwas nicht stimmte und er Unterstützung benötigte.
Es dauerte etwa zehn Sekunden, bevor sie das Gespräch entgegennahm. Doch sosehr sie auch Walters Namen rief, er antwortete nicht.
Ihre Stimme drang aus dem Handy, das mit dem Display nach oben im Schnee lag. Ein paar rote Spritzer im dreckig grauen Weiß ließen darauf schließen, dass Walter sein Telefon nicht freiwillig aus der Hand gegeben hatte.
Aber das konnte Valesca nicht sehen, geschweige denn wissen. So legte sie nach weiteren zehn Sekunden wieder auf.
11. November Russland, südöstlicher Baikalsee
»Wir haben das erste Artefakt«, grinste Justine zufrieden und sah zu Will. »Und jetzt erzähl uns, was du in Venedig erlebt hast.«
Will berichtete, was ihm widerfahren war, beschrieb den Zylinder und die darin enthaltenen Gegenstände. »Leider habe ich nicht herausfinden können, wo sich die Artefakte vor diesem Zeitpunkt befanden. Aber wenigstens wissen wir jetzt, was wir suchen.«
»Dämonenhaar, Dämonenauge, Dämonenhaut, Dämonenzahn und ein Dämonenschwert aus Horn«, zählte Justine auf. »Lauter Einzelteile. Ein kleiner Dämonen-Bausatz. Und du hattest keine Lust, ein bisschen zu basteln während deines kleinen Ausflugs?«
Er stöhnte. »Sei froh, dass es dir erspart geblieben ist.«
Sie sah auf das Buch, das Saskia zum Trocknen auf die Heizung des Zugabteils gelegt hatte. »Gehörte das dem Mönch?«
»Ja.« Saskia berührte den alten ledernen Einband. »Ich gehe mal davon aus, dass es einen Grund gab, weswegen er es mitnahm.«
»Jetzt brauchen wir noch jemanden, der auf die Schnelle Russisch für uns übersetzt«, meinte Will.
»Der Portier«, schlug Justine vor. »Oder gibt es bessere Vorschläge?«
Saskia rutschte unruhig auf ihrem Sitz hin und her, um eine einigermaßen bequeme Position zu finden. Ihre aufgeschlagenen Knie, Ellbogen und Rippen taten ihr weh, die Narben auf ihrer Brust und dem Bauch fühlten sich immer noch heiß an, nachdem sie ihre Gabe so lange wie niemals vorher benutzt hatte. Und die sehr lebhafte Erinnerung daran, beinahe erstickt zu sein, würde sie bestimmt sehr lange Zeit verfolgen. »Wie wäre es mit der Schwesternschaft?«, fragte sie. »Wir suchen uns wieder ein Internetcafe, scannen die Seiten und schicken sie ihnen.« »Du willst ein ganzes Buch einscannen? Na, viel Spaß, das kann Stunden dauern.« Will dachte an Schmittis Schicksal. »Andererseits ist es natürlich besser so, als wenn wir noch einmal jemanden mit in die Sache hineinziehen, der sich nicht wehren kann.«
»Das ist eine gute Idee.« Justine hielt die Hand auf. »Gib mir das Handy. Ich frage rasch bei den Nonnen nach, ob es etwas Neues zu den Schriftzeichen gibt - und wenn ich ihnen jetzt direkt ein Bild vom Inhaltsverzeichnis schicke, können sie schon mal überlegen, welche Kapitel wichtig sind«, sagte sie. Will reichte ihr das Gerät, Justine wählte und ließ es klingeln. Und klingeln. Und klingeln.
»Das ist merkwürdig.« Sie sah auf die Uhr. »Weiß jemand, wie spät es jetzt in Rom ist?« Will war sofort beunruhigt. »Geht keiner ran?«
»Sie werden zu tun haben.« Justine behielt das Handy. »Ich versuche es gleich wieder.« Saskia schob derweil den Kittel, den sie zum Einwickeln benutzt hatte, so weit nach unten, dass sie den Schwertgriff begutachten konnte. »Was macht man wohl mit den Artefakten, wenn sie zusammengetragen sind?« Sie strich über das Material. »Mit der Klinge durchbohren?« Sie erkannte eine Vertiefung im Griff und eine weitere Aussparung in der Schwertklinge. Will legte die Hände zusammen, führte die Fingerspitzen gegen die Stirn und tippte sich dagegen. »Ich habe in meinen Visionen sowohl die Artefakte als auch Episoden aus ihrer Vergangenheit gesehen.« Er nahm seine Aufzeichnungen heraus. »Die Harfe ... könnte sie zu dem Haar passen? Das Haar als eine ihrer Saiten?« Er erinnerte sich an den einen grausamen Ton in der Melodie des Harfenspielers, der Wahnsinn verbreitet und die Ritter zum mörderischen Toben gebracht hatte.
»Man hat das Haar in das Musikinstrument eingefügt«, Saskia notierte sich diese Vermutung, »und aus etwas anderem das Monokel gemacht?«
»Vermutlich aus dem Auge des Dämons«, sagte Justine. »Durch diese Linse sieht man etwas, was dem menschlichen Auge sonst verborgen bleibt, oder sie verleiht Macht, wenn man hindurchblickt.«
»Oder Wahnsinn«, warf Saskia ein.
»Bleiben noch der schwarze Zahn und der Hautfetzen mit der Schrift«, sagte Will. »Deiner Beschreibung nach ist es ein Pergament«, berichtigte Justine. »Auf Pergament wurde früher geschrieben.«
Will erinnerte sich an das Gedicht, das eine Stimme rezitiert hatte. »Ich konnte leider nicht lesen, was darauf geschrieben stand, aber ich nehme an, dass es dieses Gedicht war. Die Symbole sahen antik aus.« Er nahm Saskia Stift und Papier weg und malte ein paar Zeichen. »So in etwa.«
Die Frauen betrachteten sie, konnten aber nichts damit anfangen. »Aber ich habe das Gefühl, dass wir ein bisschen weitergekommen sind. Jetzt müssen wir nur noch diese antike Stadt und die Burg finden«, meinte Justine und drückte die Wahlwiederholung des Handys. Immer noch wurde in Genzano nicht abgehoben. »Wir haben das Schwert, der Sir hat das Monokel. Schnappen wir uns die Harfe und das Pergament. Ich glaube fast, dass der Beutel mit dem Zahn in der Nähe der Harfe ist. In deiner Vision trug einer der Chevaliers den Beutel am Gürtel, oder?«
Will nickte. »Das wäre gut für uns.« Er lehnte sich gegen die harte Holzlehne und blickte auf den Schwertgriff. Zu seinem Erstaunen spürte er das immer stärkere Verlangen, das Artefakt anzufassen und es in der Hand zu halten. Es war ihm durch seine Erlebnisse im Venedig des siebzehnten Jahrhunderts so vertraut, dass er bedauerte, es nicht selbst tragen zu dürfen. Er neigte sich vor, legte die Hand auf den Griff und erntete einen verwunderten Blick von Saskia und Justine. »Ich musste es einfach anfassen«, erklärte er verlegen. Er hielt inne, weil es in seinem Rücken plötzlich wieder riss; die Wunde schien sich dagegen aufzulehnen, dass er die Waffe berührte, die ihn beinahe getötet hatte. Will rang nach Luft. »Kreuzschmerzen«, sagte er zu den Frauen, die ihn bestürzt ansahen. »Bestimmt vom Unfall.«
Saskia betrachtete ihre aufgescheuerte Kleidung und die geschundene Haut darunter. »Ich bin froh, wenn ich erst mal eine Dusche nehmen kann.«
»Ein Bad wäre mir lieber«, sagte Justine. Sie versuchte ein drittes Mal, mit der Schwesternschaft telefonischen Kontakt aufzunehmen. »Hallo?«, rief sie erleichtert und verfiel ins Französische. Sie sprach fünf Minuten mit einer Frau, so viel verstanden Will und Saskia. »Sie sind noch mit der Recherche beschäftigt«, erklärte sie, nachdem sie das Gespräch beendet hatte.
»Was sie jetzt schon sagen können, ist, dass auf den Seiten ein Ritual beschrieben wird, mit dem eine Seele an einen Ort gebannt werden kann, und zusätzlich eine Bauanleitung. Dein Eindruck, Saskia, hat also gestimmt. Aber wir müssen noch abwarten.«
»Hast du sie gefragt, ob wir ihnen das Buch schicken können?«
»Ja, habe ich. Sie haben gesagt, dass sie im Moment mit einer anderen Sache sehr beschäftigt sind und es hintanstellen müssten - tut mir leid.«
»Hast du ihnen nicht gesagt, wie wichtig das hier für uns ist?« Saskia sah sie erstaunt an. »Natürlich. Aber... nun ... Faustitia schien sehr ... angespannt. Irgendetwas scheint nicht zu stimmen, aber sie wollte mir nicht sagen, was es ist.« Justine reichte das Handy zurück und erhob sich. »Ich schaue mich mal im Zug um«, verkündete sie.
»Du bist sicher, dass du allein losgehen solltest?«, fragte Saskia. »Was ist, wenn uns doch ein Dämonendiener gefolgt ist? Wäre es nicht besser, wir bleiben zusammen?«
»Machst du dir Sorgen um mich? C'est gentil, ma chère, aber nicht nötig. Wenn mir irgendwelche verdächtigen Typen auffallen«, erklärte Justine selbstsicher, »trete ich ihnen gehörig in den Arsch und schmeiße sie raus.« Mit diesen Worten schlenderte sie davon. Saskia lächelte Will an und verhüllte den Griff wieder. Danach nahm sie das halbwegs getrocknete Buch und blätterte darin, allerdings ohne die kyrillischen Buchstaben lesen zu können.
Sie schlug vorsichtig um, damit das feuchte Papier nicht riss. Aufschlussreicher waren die Zeichnungen, die sie bald entdeckte. Sie setzte sich neben Will, legte das Schwert auf ihren Platz und legte die Füße darauf. »Hier, schau dir mal die Abbildungen an«, sagte sie und hielt ihm das Buch hin. »Hilft dir das?«
Will beachtete das Buch gar nicht, sondern betrachtete ihr Profil. Sein Herz schlug schneller, und er seufzte leise. Eigentlich hatte er das gar nicht tun wollen, aber nun war sie aufmerksam geworden.
Saskia drehte den Kopf zu ihm und sah ihm genau in die Augen. Offenbar hatte er seine Empfindungen einen Moment zu lange gezeigt.
Sie lächelte und sah dabei zugleich ernst aus. »Will, lass uns nichts beginnen, was wir vielleicht gar nicht ernst meinen. Unter diesen Bedingungen hätte ich die ganze Zeit über das Gefühl, dass wir ...«Ihr fehlten die Worte. »Es käme mir mehr wie Verzweiflung vor als alles andere. Mehr ein falsches Trösten, verstehst du?«
»Für mich ist es das nicht«, sagte er leise. Wie gern hätte er jetzt ihre Hand genommen. Saskia hob das Buch an. »Wir sollten uns um die Artefakte kümmern«, lenkte sie ab. »Sobald wir unsere Aufgabe erfüllt haben, können wir ... können wir uns auf diesen einen Kaffee treffen, über den wir schon so oft gesprochen haben, und sehen, wie es um unsere Gefühle steht, wenn ich keine Mediatrice mehr bin und du kein ...«, sie grinste ihn an, um die Situation für sie beide zu entspannen, »... kein visionengeplagter Finder-Inder.«
Will nickte. Er wusste, dass sie recht hatte. Er war trotzdem traurig und ... und er war ... wütend? Wie kann sie es wagen, mich zurückzuweisen, fauchte ein Gedanke durch seinen Kopf. Er erschrak selbst darüber. Wieder das Unbekannte! Er bat Shiva um mehr Gelassenheit und beugte sich dann zur Seite, um sich die Zeichnungen anzusehen; dabei achtete er darauf, Saskia nicht zu berühren.
Er hatte Angst davor, was er sonst tun würde.
XV.KAPITEL
12. November Russland, südöstlicher Baikalsee
Nach etwas Schlaf und einem hastigen Frühstück saßen sie im Doppelzimmer der Frauen.
Will hatte sich an der Rezeption einen Laptop ausgeliehen und recherchierte erneut im Internet nach Informationen zu den Orten, an denen die Artefakte verborgen waren.
Ihm erschien die Suche nach der Harfe am aussichtsreichsten, und so jagte er in der virtuellen Welt nach den Begriffen Harfe, dämonisch, verflucht, Großbritannien und Teufel. Einige Treffer hatte er bereits, doch die Musikinstrumente stimmten nicht mit dem überein, das er in seiner Vision gesehen hatte.
Saskia versuchte derweil, den Professor zu erreichen, um ihn nach Neuigkeiten aus Hamburg und dem Maitre zu fragen. Justine zappte mit rasender Geschwindigkeit durch die Fernsehkanäle; das Bild blieb weniger als eine Sekunde lang stehen.
Saskia erreichte den Arzt. »Ah, Professor! Wie geht es Ihnen?« Sie stellte auf Lautsprecher. »Gut, danke, Frau Lange«, sagte er freudig. »Was gibt es Neues?«
»Dass in Hamburg die Pest ausgebrochen ist, haben Sie mitbekommen?«
»Ja.« Saskia hatte diese Tatsache bis jetzt wunderbar verdrängt. »Uns geht es gut. Wir sind nicht infiziert, denke ich.« »Das freut mich zu hören. Bisher sind einhundertzweiundachtzig Menschen daran erkrankt, die Symptome breiten sich rund um die Villa in rasender Geschwindigkeit aus. Die Medien spekulieren bereits, ob das Anwesen nicht der geheime Stützpunkt einer pakistanisch-muslimischen Terrororganisation gewesen sein könnte, die darin Pesterreger züchtete. Der ganze Stadtteil ist unter Quarantäne gestellt worden.« »Ich bin Inder! Halbinder! Nein, eigentlich Deutscher«, sagte Will entrüstet. »Beschissene Boulevardblätter!«
»Hallo, Herr Gul. Ich kann erahnen, wie Sie sich fühlen.« Der Professor schwieg ein paar Sekunden. »Wo sind Sie?«
Justine gab Saskia Handzeichen, dass sie nichts verraten sollte, doch die schüttelte unwirsch den Kopf. »In Irkutsk.« Sie vertraute dem Professor.
»Das ist interessant. Es gab gestern mehrere heftige Flutwellen im Baikalsee. Haben Sie davon etwas mitbekommen?«
Saskia antwortete mit einem knappen »Ja«.
»Niemand scheint dafür eine vernünftige Erklärung zu haben. Ein Erdbeben wurde nicht gemessen, und die Zeugenaussagen sind sehr wirr ...« Der Professor ließ die Frage, ob Saskia und Will damit zu tun hatten, unausgesprochen im Raum hängen.
»Ja, keiner weiß, was geschehen ist«, sagte sie und hoffte, dass er ihr die Lüge nicht anhörte. »Bis jetzt hat man über sechzig Tote gefunden, wussten Sie das? Sogar ein Mönch war dabei was der wohl auf dem See zu suchen hatte.«
Die Nachricht traf Saskia. Es fühlte sich an, als habe der Professor sie auf der Planche mit einem unerwarteten Angriff in die Defensive gedrängt. Über sechzig Tote, schoss es ihr durch den Kopf, und ich habe sie auf dem Gewissen! Passend dazu hielt Justine mit dem Zappen inne. Ein Nachrichtenkanal lieferte Bilder mit Verwüstungen aus verschiedenen Hafenstädten, ganze Stadtteile waren überspült worden. Die Hilfs- und Aufräumaktionen unter der Leitung der russischen Armee liefen bereits.
Saskia schmerzte dieser Anblick, und die Schuld machte sie sprachlos. Das hatte sie beim besten Willen nicht beabsichtigt!
»Das ist wirklich tragisch, Professor«, sagte Justine laut und sah Saskia dabei fest an. »Das Schicksal kann grausam sein, n'est-ce pas? Nur gut, dass wir nicht in der Nähe waren, als es passierte. Aber sagen Sie uns: Gibt es Neuigkeiten über den Maitre?«
»Er ist in Rio de Janeiro gesichtet worden«, erzählte der Professor. »Was er dort will, wissen wir nicht. Jedenfalls ist es keine Duellforderung der union.«
Saskia räusperte sich; es war gut, sich auf etwas anderes zu konzentrieren als auf die Schuld, die sie auf sich geladen hatte. »Haben Sie mehr über ihn herausfinden können?«
»Nein.« Er machte eine kleine Pause. »In der Datenbank der union sind die Mitglieder mit ihrem echten Namen und mindestens einer Kontaktadresse abgespeichert, ebenso ist das Geburtsdatum hinterlegt. Und für die Kämpfer, die in der Rangliste oben stehen, gibt es kurze Dossiers, außer ...«
»... für den Maitre«, vollendete Justine grollend. »Und das ist bisher niemandem aufgefallen?« Saskia hatte eine Erklärung, aber die gefiel ihr ganz und gar nicht. »Er ist die union. Er hat irgendwann die Macht übernommen und seine Leute in das Komitee gehoben, damit er die Kontrolle ausüben kann.«
»Die Vertuschung der Unfälle hat diesen Verdacht schon nahegelegt«, kam es aus dem Telefon; der Professor klang wütend. »Es wird Zeit, dass ich einige Freunde aus alten Tagen anspreche, die definitiv nichts mit dem Maitre zu tun haben. Außerdem muss ich davon ausgehen, dass meine Nachforschungen mittlerweile jemandem aufgefallen sind.«
»Was haben Sie vor, Professor? Es war nicht meine Absicht, Sie in Schwierigkeiten zu bringen\«\ »Ich denke eher, dass die union in Schwierigkeiten ist«, entgegnete er gefasst. »Sie dient nicht mehr dem Zweck des Duellierens und der Verehrung der Fechtkunst, sondern den ominösen Plänen eines einzigen Mannes. Das muss beendet werden! Ohne Sie, Frau Lange, wäre dieser Umstand vielleicht niemals ans Licht gekommen. Dafür schuldet Ihnen jedes einzelne Mitglied der union Dank.« »Und was haben Sie vor?« »Ich werde den Maitre ausschalten lassen, ganz ohne den Kodex der union zu beachten. Danach werde ich das Komitee entfernen und ein neues installieren. Ich werde den Vorsitz übernehmen, und wenn Sie mit dem, was Sie zu tun haben, fertig sind, Frau Lange, würde ich Sie sehr gern darin sehen. Was halten Sie davon?«
Saskia freute sich über diese Ehre, die ihr zuteilwerden würde; ein schönes Gefühl, für das sie umso dankbarer war, weil sie es in den letzten Tagen nicht mehr empfunden hatte. »Lassen Sie mich erst den Titel der Maitresse errungen haben, Professor. Dann komme ich dem Ruf gern nach. Ich möchte mir meinen Wunsch erfüllen, die Erste und die Beste der union zu sein.« »Wenn ich den Maitre ausgeschaltet habe, rücken Sie automatisch an die erste Stelle der Rangliste.«
»Aber ...«
»Keine Widerrede, Frau Lange. Und machen Sie sich bitte keine Sorge: Ich werde einen würdigen Gegner für Sie finden, wenn es so weit ist. Wenn ich Ihnen aber jetzt im Moment bei etwas helfen kann ...«
»Ja, das können Sie. Ich brauche einen vertrauenswürdigen Kontakt, der mir etwas aus dem Russischen übersetzt.«
»Sie sind in Irkutsk, sagten Sie?« Der Mann schien nach etwas zu suchen, sie hörten ein elektronisches Piepsen. »Ich habe tatsächlich jemanden ganz in Ihrer Nähe. In Ulan Bator. Möchten Sie ihn aufsuchen, oder soll er zu Ihnen kommen?«
»Um wen handelt es sich?«
»Soweit ich weiß, ist er Akademiker und arbeitet an einem naturwissenschaftlichen Institut. Sie werden sich auf Englisch mit ihm unterhalten können. Sein Kampfname ist Bebud, wie der russische Artilleriesäbel aus dem zwanzigsten Jahrhundert. Er gehört zu denen, die ich über die Machenschaften des Maitre in Kenntnis setzen werde. Ich sende Ihnen seine Nummer per SMS auf Ihr Handy.«
»Danke sehr!«
»Kann ich noch etwas für Sie tun?« »Nein. Geben Sie auf sich acht.«
»Das Gleiche gilt für Sie, Frau Lange.« Er verabschiedete sich und legte auf.
»Also ziehen wir doch einen Außenstehenden, mit hinein?« Will hatte zugehört, ohne die Augen vom Laptop-Monitor abzuwenden.
»Es geht nicht anders.« Saskia bedauerte das zwar auch, aber es ließ sich nicht ändern. Sie rieb das Handy ab, das auf der Heizung über Nacht getrocknet war; ein Wunder, dass es das Seewasser unbeschadet überstanden hatte. »Gibt es Neuigkeiten vom Sir?«
Will schüttelte den Kopf. »Nein.« Er drehte den Laptop, so dass die Frauen den Bildschirm sehen konnten. »Aber ich habe die Harfe gefunden. In Limerick!« Er zeigte ihnen die Website des Museums, das in einer Burg am Fluss Shannon untergebracht war: Sir John's Castle. Er klickte sich durch die verschiedenen Abteilungen des Museums, bis sie einen Raum sahen, in dem unter einer großen Glasvitrine eine schulterhohe Harfe ausgestellt war. »Ich bin mir sehr sicher, dass sie es ist«, erklärte er aufgeregt. »Leider kann man auf den Bildern nicht sehen, ob eine andersfarbige Saite aufgespannt ist.«
»Dann geht es von Ulan Bator direkt nach Irland«, beschloss Justine. »Ich habe mir die Entfernung auf der Karte angeschaut.
Es ist nicht weit von hier aus in die Mongolei. Es wäre mir lieber, wenn wir ein paar Kilometer hinter uns bringen, bevor die Dämonendiener uns finden.«
Will nahm das Schwert in die Hand und führte einen Schlag in der Luft. Es fühlte sich gut, vertraut und richtig an. »Wie bekommen wir das durch den Zoll?«
»In den Koffer werde ich es sicher nicht legen.« Saskia gefiel es nicht, dass Will das Schwert an sich genommen hatte. Sie erhob sich und nahm es ihm ab. Sie hatte den Eindruck, dass er es nur widerwillig hergab. Saskia drehte es, betrachtete den Fangkorb und die Parierstange und suchte nach den Verbindungen und Schmiedestellen, an denen Metall und Schwert verbunden worden waren.
Nachdem sie an den Verzierungen gedreht und gerüttelt hatte, bemerkte sie, dass sich eine Strebe im Korbgeflecht bewegen ließ. Nach mehreren Versuchen löste sich das Stäbchen, und daraus ergab sich ein Dominoeffekt: Der Handschutz ließ sich komplett entfernen und zusammenschieben. Auch die Parierstange konnte sie nun abnehmen. Im Schwert sah sie winzige Bohrungen, die Verankerungen für den Schutz.
»Sehr raffiniert«, kommentierte Justine, die ebenso fasziniert zugesehen hatte wie Will. »Anscheinend hat ihr Schöpfer damals schon vorhergesehen, dass man die Waffe mitunter schmuggeln muss.« Saskia riss den Stoff ihres Mantelfutters auf und schob die nackte Klinge hinein. Unter den Anweisungen der anderen versuchte sie, das Schwert so zu deponieren, dass es nicht auffiel. Wenn der Zöllner nicht zu genau hinschaute und sie sich etwas steifer bewegte, würde er vielleicht nichts bemerken. Es gab auf die Schnelle keine andere Möglichkeit. Sobald Saskia die SMS mit Bebuds Nummer bekommen hatte, rief sie den Mann an. Seine Stimme war dunkel und hatte einen harten Akzent. Sie vereinbarten, sich am Flughafen zu treffen.
Ihr Erkennungszeichen sollte die Times sein, zusammengerollt unter dem rechten Arm. Eine Stunde später verließen die drei das Hotel. Was Will beim Auschecken sofort auffiel, war, dass der bekannte Portier nicht an seinem Platz stand. Auf seine Nachfrage hin wurde ihm mitgeteilt, dass der Kollege seinen Dienst heute nicht angetreten hatte.
Will seufzte. Er wusste, dass der Mann nicht mehr lebte. Genau wie der Taxifahrer. Gegen Nachmittag landeten sie in Ulan Bator.
Sie gelangten zu ihrer eigenen Verwunderung ohne Probleme durch den Zoll; die Uniformierten winkten sie durch und machten den Eindruck, nicht besonders glücklich zu sein, Ausländer zu sehen. Saskia erschien es, als wollten sie sogar vermeiden, dass sie überhaupt stehen blieben. Das war ungewöhnlich -aber es sollte ihr recht sein.
Die drei begaben sich in die Halle, wo ein hagerer, langer Mann in einem schwarzen Mantel und mit einem Hut in der Hand wartete. Unter seinem rechten Arm trug er die zusammengerollte Times, in der linken Hand hielt er einen Regenschirm. Er wirkte wie ein waschechter Brite, der sich hierhinverirrt hatte.
Justine übernahm Saskias Flankenschutz und blieb am Zeitungsstand stehen, an dem Saskia ihrerseits eine Times erstand. Will beobachtete das Zusammentreffen von der nahegelegenen Galerie aus und hielt nach verdächtigen Personen Ausschau.
Saskia ging auf Bebud zu, tippte sich mit der Zeitung gegen die Brust, so dass er sie sehen musste, und reichte ihm die Hand. Sie trug Handschuhe und würde nichts bei ihm auslösen. »Guten Tag, Bebud. Danke, dass Sie Zeit für mich haben.«
»Willkommen in der Hauptstadt der Mongolei.« Der Mann schlug ein. »Der Professor bat mich darum, Ihnen zu helfen. Es ist mir ein Vergnügen.« Er zeigte auf ein kleines Cafe. »Wollen wir uns setzen?« »Ja, aber mir wäre es lieber, wenn wir eine der Ruhebänke dort vorne nehmen. Von da habe ich einen besseren Überblick.« Er willigte ein, und sie gingen ein paar Schritte weiter, um sich auf einer Bank niederzulassen. Sie nahm das Buch heraus, das inzwischen vollständig getrocknet war, und öffnete es. »Können Sie mir übersetzen, worum es hier geht?«
»Ein ganzes Buch?«
»Uns wäre geholfen, wenn Sie auf Schlagwörter wie Artefakt und Ähnliches achten, während Sie querlesen.« Saskia nahm eine Liste mit Begriffen heraus, die sie ihm vorlas. »Klingt nach Hokuspokus.« Bebud sah sie missgestimmt an. »Hätte mich mein Freund nicht darum gebeten, würde ich jetzt aufstehen und gehen«, sagte er. »Ich halte nämlich nichts von derlei Unfug.«
Saskia lächelte ihn gewinnend an. Er seufzte und begann, den Blick in Windeseile über die Seiten huschen zu lassen. Sein Gesicht sah dabei angestrengt aus, die Handschrift und die sehr oft verwischten Buchstaben machten es nicht leicht, den Inhalt zu erfassen.
Die Minuten verstrichen, ohne dass er etwas sagte. Er brummte nur vor sich hin, blätterte, fuhr mit den Fingern über die Seiten und las immer weiter.
Saskia schaute zu Justine, die ihr mit einem leichten Nicken zu verstehen gab, dass alles in Ordnung war. Will entdeckte sie schräg über sich auf der Galerie, und auch er sah entspannt aus.
Mehr als eine Stunde lang schaute Bebud in das Buch, machte sich mit kleinen Papierfetzen, die er aus der Zeitung riss, Markierungen, um diese Stellen schließlich noch einmal genauer zu lesen. Jedes Mal, wenn Saskia zu einer Frage ansetzte, hob er die Hand und stoppte sie. Als er es nach einer Stunde und vierundvierzig Minuten immer noch so hielt, war sie gereizt. »Sagen Sie mir, was Sie gefunden haben?«, bat sie freundlich, aber drängend. »Unsere Maschine geht bald.«
»Das ist alles ... interessant. Bedeutsam, wenn man daran glaubt.« Bebud legte das Buch aufgeschlagen auf seine Beine. »Das Büchlein behandelt verschiedene Erscheinungsformen des Bösen, des Dämonischen. Es gibt davon offensichtlich sehr viele Arten. Man kann diese ... diese Wesenheiten in unsere Welt rufen, sofern man die Voraussetzungen dazu erfüllt.« »Das wissen wir. Werden Artefakte erwähnt?«
Der Mann legte die rechte Hand auf die rechte Buchseite. »Das Buch ist etwa einhundert Jahre alt und sammelt sein Wissen wiederum aus Abschriften aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert. Es dreht sich in erster Linie um die Geschichte Posolsks und dass es einst als Dorf gegründet wurde, um das Schwert dort vor dem Bösen zu verstecken und zu beschützen. Dazu wurde das artefactum abwechselnd in den Klöstern aufbewahrt.«
Saskia folgte den Ausführungen ungeduldig. Diese Etappe ihrer Suche hatten sie bereits hinter sich gelassen. »Das ist alles? Keine Hinweise auf andere Artefakte?«
Bebud verneinte. »Aber eine Bemerkung zu einer Stadt, in deren antiken Ausgrabungen immer wieder verstümmelte Leichen gefunden werden. Leichen von Archäologen und deren Helfern. Der Verfasser des Buchs mutmaßt, dass es sich dabei um das gleiche dämonische Phänomen handelt, von dem schon die antiken Schriften römischer Gelehrter künden: der Fluch von Alexandria.«
Saskia wählte Wills Nummer und berichtete ihm von Alexandria. »Sieh nach, ob du an einem Internet-Terminal etwas darüber herausfinden kannst. Für mich klingt das, als sei ein Schutzgeist über die Archäologen hergefallen.«
»Ich lasse dich ungern aus den Augen«, antwortete er zögerlich. »Mach schon!« »Erst mal muss ich hier ein Terminal finden.« Er verabschiedete sich, und sie sah, dass er sich vom Geländer abstieß und nach hinten verschwand.
Sie schaute zur Anzeige mit den Abflügen. Die Maschine, die sie nach Moskau bringen sollte, flog in zwei Stunden. Von da ging es weiter nach London, und ein Anschlussflug würde sie direkt weiter nach Shannon transportieren; Limerick war von dort nur einen Katzensprung entfernt.
Saskias Blick wurde von einem Monitor daneben abgelenkt, wo neue Aufzeichnungen der unglaublichen Vorgänge am Baikalsee gezeigt wurden. Satellitenbilder machten das ganze Ausmaß der Wellenbewegungen deutlich, einige Aufnahmen zeigten die von ihr erschaffene Wasserschlucht unmittelbar beim Zusammenbrechen. Saskia war erleichtert, dass sie darauf nicht zu sehen war. Und als ein Kamerateam die Statements von Schaulustigen einfing, erkannte sie zu ihrer Verblüffung im Hintergrund jemanden, der ihr vertraut war: den Maitre! Es war nur ein kurzes Vorbeihuschen, doch sein Gesicht würde sie unter Tausenden erkennen. Rasch schaute Saskia auf das Datum der Aufnahme: Sie war gestern gemacht worden. Der Professor musste sich getäuscht haben, als er ihr gesagt hatte, der Maitre würde sich in Rio aufhalten. Oder war das Absicht gewesen?
Saskia war verwirrt. Warum sollte der Professor sie belügen?
Für wahrscheinlicher hielt sie, dass er von seinen Informanten getäuscht worden war, damit sich der Maitre ihnen unbemerkt nähern konnte.
Sie fürchtete, dass der Maitre schon mehr über das Vorhaben des Professors, ihn töten zu lassen, wusste, als es diesem lieb sein konnte. Und wenn dies so war, drängte sich die Frage auf, wie sehr sie Bebud trauen konnte. Gehörte er noch immer zu den Freunden des Professors oder bereits zu dessen Feinden? Als sie ihr Schwert im Mantelinneren spürte, wurde ihr plötzlich eine beiläufige Äußerung Bebuds bewusst. Nur eine Kleinigkeit.
Sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, als sie sich zu Bebud drehte. »Hat Ihnen der Professor noch etwas gesagt?«
Bebud lehnte sich zurück. »Nein. Warum?«
Sie versuchte, in den hellblauen Augen des anderen zu lesen, ob er die Wahrheit sagte oder log, doch er ließ sich nichts anmerken. Saskia lehnte sich ebenfalls zurück und achtete darauf, mit einem schnellen Griff an das Schwert gelangen zu können. »Woher wissen Sie, dass es sich um ein Schwert handelt?«
Sein rechtes Augenlid zuckte. »Es stand in dem Text.«
»Ich dachte, es würde artefactum genannt.« Sie schnippte sich mit dem Finger gegen die Nase, als wollte sie sich dort kratzen; tatsächlich war dies ein Zeichen, das sie mit Justine verabredet hatte.
Bebud stand auf und riss eine Seite aus dem Buch, bevor Saskia zugreifen konnte. Achtlos ließ er es danach auf den Boden fallen. »Verhalten Sie sich ruhig, Frau Lange. Ich weiß, dass Sie auf der Liste der union weit oben geführt werden, doch ich bin mir sicher, dass ich Sie zusammen mit meinen Schülern besiegen würde.« Sein Auftreten war das eines britischen Snobs, sogar der Tonfall passte. Nur der Akzent nicht.
Justine tauchte halb hinter ihm auf, aber Bebud hatte sie bemerkt. Er schlug aus der Drehung mit dem Schirm nach ihr, die Französin wich aus und packte das Schlaggerät mit sicherem Griff. Es klickte leise, Bebud riss seinen Arm zurück - und hielt einen Degen in der Hand, während Justine verwundert die Bespannung umklammerte. Bebud stach sofort zu und durchbohrte ihre Schulter. Die Französin schrie laut auf, Qualm stieg aus der Wunde, und mit einem Grollen sprang sie nach hinten. Zwei Frauen, die auf der Nachbarbank gesessen hatten, schrien auf und liefen davon. Der Fechter lächelte überheblich und wandte sich Saskia zu. Gleichzeitig kamen aus drei Richtungen junge Männer angelaufen, die unter ihren Mänteln Waffen hervorzogen. Säbelklingen blitzten auf. Bebud hatte wohl seine eigene Schule gegründet, um die union mit Nachschub versorgen zu können. Es waren zu viele Gegner! Trotzdem zerrte Saskia bereits das Schwert aus dem Innenfutter heraus. Dass ihre Finger keinerlei Schutz vor der gegnerischen Klinge besaßen, weil ihr Schwert weder Fangkorb noch Parierstange hatte, beunruhigte sie. Wenn sie es richtig gesehen hatte, war Bebuds verkürzter Degen dreikantig und schimmerte geschliffen. Eine robustere Version der normalerweise schlanken, eleganten Waffe. Bebud führte einen Schlag gegen ihren Kopf, sie parierte und stach aus der Bewegung zu. Der Mann blockte; klirrend trafen die Klingen aufeinander. Er machte einen schnellen Schritt auf sie zu und versuchte, ihr den Ellbogen gegen die Brust zu rammen. Saskia wich aus, schlug nach seinem Hals und spürte, wie sich die Narben auf ihrer Brust erwärmten und zu ziehen begannen. Die Wut weckte die Gabe - doch das Schlimmste, was ihr nun passieren konnte, war, wenn die graue Zweidimensionalität ihr einen Teil der Sicht raubte.
Er lenkte ihren Hieb ab, und ihre Schneide prallte gegen die Sitzbank.
Justine schnellte nach vorn und versuchte, Bebud zu packen -doch der Mann war schnell, zu schnell. Er trat ihr gegen das Schienbein und stoppte sie. Die Spitze seiner Waffe fuhr ihr dieses Mal durch die Hand, mit der sie nach seinem Hals greifen wollte. Es zischte und stank verbrannt, und jetzt brüllte die Französin laut.
Zwei Sicherheitsbeamte kamen angelaufen, zogen ihre Pistolen und schrien auf Russisch und Englisch durcheinander, aber sie wurden von hinten von mehreren weiteren Schülern Bebuds überrascht. Die Wachleute hatten keine Chance, sie wurden mit den flachen Klingenseiten nacheinander niedergeschlagen.
Die drei zuerst aufgetauchten Schüler machten Anstalten, ihrem Meister nun beizustehen. »Die gehören mir!« Justine gab einen grollenden Laut von sich und nahm eine geduckte Haltung ein. Saskia setzte zu einem enormen Schlag an, der Bebud waagerecht ins Kreuz treffen würde. Er parierte den Angriff zwar, aber der stabile Degen zerbrach mit einem singenden Geräusch. Das Schwert hieb Bebud in den Arm - und die Intarsien verflüssigten sich! Das Silber strömte wie von selbst in Bebuds Körper, er brach kreischend zusammen und wälzte sich sterbend auf dem Boden.
Justine warf sich den Schülern in den Weg, schlug den ersten von ihnen nieder, trat dem zweiten in den Schritt und rammte dem dritten ihren Ellbogen ins Gesicht, bevor er überhaupt dazu kam, mit seiner Waffe auf sie einzustechen. Sie spielte mit ihnen, drosch auf sie ein, schleuderte sie mit Hebelwürfen nieder und verteilte Tritte, bis sie alle regungslos auf dem Boden lagen. Danach rannte sie auf die restlichen Schüler zu, ließ sich fallen und rutschte mit viel Schwung zwischen ihnen hindurch, um vor den niedergeschlagenen Sicherheitsbeamten haltzumachen. Sie schnappte sich deren Pistolen und richtete sie grinsend auf die Säbelkämpfer, die sofort vor ihr zurückwichen - aber nicht, um keinen Schuss zu provozieren, sondern um sich auf Saskia zu stürzen, die Mörderin ihres Mentors.
»Lass sie!«, rief Saskia Justine zu, die bereit war, den Männern in den Rücken zu schießen. Sie {legte das Artefakt auf die herausgerissene Buchseite, sprang vor, um die Säbel der besiegten Schüler an sich zu reißen, entbot den Heranstürmenden den Fechtgruß und nahm, zu ihrer Ausgangsposition zurückkehrend und den Fuß schützend auf das Artefakt gestellt, den Kampf an. Sie wollte sich mit ihnen messen und sie in ihre Schranken weisen. Saskia hatte bislang noch nie gegen sechs Gegner gleichzeitig auf der Planche gestanden; es war eine gute Gelegenheit, sich zu beweisen und das eigene Können auszuloten. Nachdem die meisten Flughafengäste sich erst entsetzt zurückgezogen hatten, tauchten nun die ersten Schaulustigen auf, um zu sehen, wie das Mehrfachduell seinen Lauf nahm.
Saskias Fechtintuition führte ihre Hand und ließ sie die Bewegungen mit traumwandlerischer Sicherheit ausführen, während sie ihre Feinde grimmig anlächelte. Sie beschränkte sich darauf, die jungen Männer zu entwaffnen und damit zu demütigen, dass sie ihnen leichte, aber schmerzhafte Wunden an Händen und Armen beibrachte. Dabei bewegte sie sich weder von der Stelle, noch nahm sie den Fuß vom Artefakt. Schließlich schlug sie dem letzten Widersacher die flache Säbelseite mit Schwung gegen den Hinterkopf; erbrach sofort zusammen. »Das war es.« Saskia schleuderte lachend ihre Säbel davon, nahm Buch, Schwert und die herausgerissene Seite auf und rief Will über das Handy an, während sie zusammen mit Justine zum Ausgang und auf den Taxistand zulief. Die Flughafenbesucher wichen vor ihnen zurück. Ihre Narben schienen in Flammen zu stehen, so sehr hatten sie sich erhitzt. Triumph beflügelte ihre Gabe in größerem Maße als Wut oder Hass. »Komm sofort zum Taxistand«, schrie sie, als Will sich endlich meldete. »Es war eine Falle!«
»Es ist nicht Alexandria«, sagte er. »Wir müssen nach ...«
»Zum Ausgang, Will! Jetzt!«
Justine hatte einen der Taxifahrer mit vorgehaltenen Pistolen zum Aussteigen gezwungen und hielt auch die Umstehenden in Schach. Saskia stieg auf den Beifahrersitz und schaute zum Gebäude. Endlich kam Will angerannt, dicht hinter ihm folgten weitere Sicherheitsleute. Er würde es nicht schaffen. »Tu was!«, rief Justine ihr zu.
»Was denn?«
»Mon Dieu: Du bist eine verfickte Mediatrice!«
Als wollten sie Saskia dies ebenfalls in Erinnerung rufen, loderten die Narben auf ihrer Brust erneut auf; sie warteten darauf, ihre Macht entladen zu dürfen. Aber durfte Saskia die Gabe hier einsetzen? Sie könnte eine Katastrophe auslösen.
»Saskia! Sie haben ihn gleich!«
Sie konzentrierte sich, bis sich die Bittermandeln auf ihrer Zunge ausbreiteten und sich mit Essig mischten; graue Zweidimensionalität lag vor ihr. Es hatte nicht länger als zwei Sekunden gedauert.
Saskia jagte etwas von ihrer Macht in den Boden unmittelbar vor den Sicherheitsbeamten, um sie in eine Spalte stürzen zu lassen, nicht zu tief, du darfst sie nicht töten, pass auf, was du tust ... Vor den Männern sackte der Boden einfach nach unten weg und schuf eine breite Kluft. Zwei der Sicherheitsbeamten konnten nicht mehr rechtzeitig anhalten und fielen hinein. Saskia konnte nicht erkennen, wie tief die Spalte hinabreichte.
Plötzlich begann die Erde, gewaltig zu beben. Das Zentrum lag in der Abflughalle, in der sich mit einem schrecklichen Bersten eine tiefe Spalte öffnete. Die großen Scheiben gingen sofort zu Bruch, Teile des Gebäudes wurden vom Rütteln erfasst und brachen ein, Betonstücke lösten sich aus der Decke, fielen nieder und zerplatzten auf dem Boden. Die Menschen rannten auf die Ausgänge zu, um sich im Freien in Sicherheit zu bringen.
Will hatte den Taxistand fast erreicht. Saskia versuchte, der Gabe Einhalt zu gebieten - durch ihre Wut hatte sie mehr Energie freigesetzt als beabsichtigt. Doch während die Menschen in Panik an ihr vorbeirannten, fühlte sie wieder diesen verhängnisvollen Rausch in sich emporsteigen. Sie war trunken von der Macht, die sie besaß ... und mit der sie zuschlagen wollte! Etwas in ihr reizte und stichelte sie, das Gebäude dem Erdboden gleichzumachen. Versuch es, flüsterte eine verführerische Stimme in ihr, stell sie auf die Probe. Es ist dein Recht, es zu tun - es ist deine Berufung! Will warf sich auf die Rückbank des Taxis, Justine klemmte sich hinter das Steuer und gab Gas. Saskia wurde davon überrascht, ihr Kopf gegen die Rückenlehne geworfen; der kurze Schmerz reichte, um sie aus ihrer Trance zu reißen und die Energie, die sich bereits in ihr aufgebaut hatte, mit einer energischen Kraftanstrengung unter Kontrolle zu bringen. Ihre Narben schienen sie für diesen Frevel umbringen zu wollen, so sehr brannten sie, und Saskia biss in ihre behandschuhte Faust, um einen Schrei zu unterdrücken.
»Was jetzt?«, fragte Will atemlos und tastete an seiner Stirn herum. Ein Splitter hatte ihm die Haut aufgeritzt und Blut hervorquellen lassen.
»Zurück nach Irkutsk«, sagte Justine und wich wirr auf die Straße laufenden Menschen aus, während sie das Gaspedal weiter durchgetreten hielt. »Hier wird heute kein Flugzeug mehr starten. Und schon gar nicht mit uns an Bord.« Sie schössen über die breite Straße dahin. Saskia brachte ihre schwergehende Atmung langsam wieder unter Kontrolle. »Was hast du rausgefunden, Will?«
»Es ist nicht Alexandria«, sagte Will. »Er hat sich getäuscht.«
»Er hat uns getäuscht«, entgegnete Saskia bitter und spürte, dass sie innerlich endlich zur Ruhe kam. Die Welt wurde wieder plastisch. »Er gehörte zum Maitre. Ich habe den Kerl im Fernsehen gesehen. Er war gestern in unserer unmittelbaren Nähe, am Baikalsee, und hat uns beinahe erwischt!«
Will starrte sie an. »Hat der Professor nicht gesagt, er wäre in Brasilien?«
»Monsieur le professeur hat uns verraten«, knurrte Justine.
»Nein, hat er nicht! Er ist ebenso in Gefahr wie wir. Sein Plan, den Maitre umzubringen, ist aufgeflogen.« Saskia glättete die herausgerissene Seite, auf der die Radierung einer Ruinenstadt zu sehen war. »Bebud wollte auch auf die Jagd nach den Artefakten gehen, wie es aussieht. Darum wollte er uns auf die falsche Fährte locken. Wahrscheinlich wollte er dies für den Maitre tun.«
»Und was will der mit den Artefakten?«, bohrte Justine weiter. »Der Maitre ist doch keiner der Dämonendiener ... oder?«
Hilflos zuckte Saskia mit den Achseln. »Wenn ich das wüsste.« Sie wandte sich zu Will um, der ihr das Blatt sanft aus den Fingern nahm.
»Dachte ich es mir doch«, sagte er und tippte auf den Druck. »Es ist Palmyra!« »Woher ...« »Als ich nach Alexandria gesucht habe, hat mir die Suchmaschine eines Reiseveranstalters eine Kulturrundreise vorgeschlagen, und als Werbung war eine Aufnahme von Palmyra abgebildet. Es traf mich wie ein Blitz. Ich bin mir absolut sicher, dass wir nach Syrien müssen!« »Nein, wir sollten bei unserem ursprünglichen Plan bleiben und zuerst nach Irland«, entschied Saskia. Sie nahm das Handy hervor und rief beim Professor an; er meldete sich nicht. Justine bat Will, für sie bei den Nonnen anzurufen, doch er konnte niemanden erreichen; auch der Sir nahm keine Anrufe entgegen. Obwohl dies alles noch nichts bedeuten musste, hatte Saskia das unangenehme Gefühl, dass sie ihre Verbündeten verloren und sie sich auf eigene Faust durchboxen mussten.
14. November
Republik Irland, Limerick
Saskia, Justine und Will streiften durch King John's Castle, das am behäbig dahingleitenden Shannon mitten in der Stadt lag. Sie hatten sich aufgeteilt; jeder von ihnen machte sich unauffällig Notizen zu Sicherheitsanlagen, Kameras, Bewegungsmeldern, Notausgängen und Personal. Noch in der gleichen Nacht wollten sie zuschlagen und das Haar aus der Harfe stehlen.
Der Flug nach Irland hatte reibungslos funktioniert, und sie gelangten unbehelligt durch die Kontrollen der Billigfluglinie. Auffällig unbehelligt. Wieder war es Saskia vorgekommen, als wären die Sicherheitsleute darauf erpicht gewesen, sie nicht lange in ihrer Nähe haben zu müssen. Verströmte sie neuerdings eine negative Aura? Lag es an ihrer Gabe ... oder am Schwert? Justine und Will jedenfalls spürten nichts.
Eingemietet hatten sie sich im Oakwood Arms Hotel in der Nähe des Flughafens; von dort fuhren sie mit einem Mietwagen nach Limerick. Justine erreichte auf der Fahrt eine neue Stufe des Fluchens, da der Linksverkehr sie auf eine harte Probe stellte. Trotzdem konnte sie sich kaum halten vor Lachen, als sie an einem Pub vorbeikamen, der Furzebusch hieß. Nach zwei Beinaheunfällen und einem verlorenen Außenspiegel hatten sie es geschafft. Saskia ging gerade aus dem modernen, verglasten Touristenzentrum von King John's Castle in den Ausstellungsraum, in dem verschiedene Musikinstrumente des Spätmittelalters präsentiert wurden. Neben Flöten und Lauten waren auch zahlreiche Harfen zu bewundern.
Im Katalog stand zu ihrer speziellen Harfe zu lesen, dass sich die Experten bis heute nicht einig darüber seien, wie alt sie genau war. Tatsächlich hatten bislang alle Untersuchungen zu verschiedenen Ergebnissen geführt. Die Hölzer stammten aus unterschiedlichen Zeiten. Hinzu kam, dass sich die Motive auf dem Korpus nirgends sonst in Irland oder in Großbritannien finden ließen. Eine sehr spezielle Forschermeinung vertrat daher die Ansicht, dass es sich bei der Harfe um das Vermächtnis einer eigenen Kultur innerhalb der keltischen Welt handelte, die abgeschottet vom Rest der Welt existiert hatte. Der Katalog zitierte zahlreiche Legenden um die Harfe. Es hieß, dass bestimmte auf ihr gespielte Lieder die Zuhörer in ekstatische Zustände versetzen konnten. Laut einer anderen Quelle handelte es sich bei einer Saite um das Haar einer Banshee, einer irischen Todesfee; schlug der Harfenspieler sie an, ganz egal, ob vorsätzlich oder durch Zufall, setzte er eine tödliche Macht frei.
Dicht an der Wahrheit, dachte Saskia und ging auf den mannsgroßen Glaskasten zu, in dem die Harfe stand. Gingen die Banshee-Geschichten vielleicht alle auf den einen Dämon zurück, von dem dieses Haar stammte - oder waren die Todesfeen entfernte Cousinen der Wandelwesen, wie Justine eins war? Sie musste bei ihren Überlegungen leise lachen: Vor zwei Wochen hätte sie nicht im Traum an die Existenz von übersinnlichen Kreaturen geglaubt; heute ließ sie sich von einer von ihnen in einem Leihwagen durch die Gegend fahren. Und auch, wenn es ihr manchmal immer noch schwerfiel, das zu glauben, was sie eigentlich schon wusste: Es brachte nichts, sich dagegen zu wehren.
Sie umrundete die große Vitrine. In ihrem Innern verliefen zahlreiche Kabel, die Harfe war gut abgesichert, was bei ihrem Wert auch kein Wunder war. Danach studierte Saskia eingehend die Bespannung des Instruments. Will hatte gesagt, dass das Haar des Dämons in seiner Vision schwarz gewesen sei -dummerweise gab es sieben Saiten, die dafür in Frage kamen. Durch das Glas hindurch und auf diese Entfernung erkannte Saskia keinen Unterschied. »Kann ich Ihnen helfen?«, wurde sie auf Englisch angesprochen, und sie schrak zusammen, als sie das gespiegelte Gesicht eines Mannes neben sich im Vitrinenglas sah. Sie hatte ihn nicht kommen hören. »Mir scheint es, als hätten Sie besonderes Interesse an der Harfe.«
Saskia drehte sich zu dem Mann um, der dunkle Hosen, ein weißes Hemd mit einem schwarzen Schlips und ein schwarzblaues Sakko trug. Auf Brusthöhe prangte ein Schildchen, das ihn als Mr. Smyle und Personal des Museums auswies. Bemerkenswert fand sie seine langen, dunkelroten Haare, die er zu einem Zopf zusammengefasst hatte. Das glattrasierte Gesicht war männlich-markant, die hellgrünen Augen betrachteten sie intensiv. Er war ein irisches Klischee mit einem unirischen Akzent in seinem Englisch.
»Es ist wirklich ein besonderes Stück«, sagte sie. »Was haben die unterschiedlichen Farben der Saiten zu bedeuten?«
Er trat neben sie, dichter, als ihr eigentlich lieb war. Saskia hatte das Gefühl, dass er absichtlich auf Tuchfühlung ging; offensichtlich war es doch nicht ihre Ausstrahlung, die einen negativen Einfluss auf die Menschen in ihrer Umgebung hatte.
»Eine Legende besagt, dass man die schwarzen Saiten nur bei traurigen Anlässen zupfen soll, sonst bringt es Unglück«, erklärte er mit einer sehr eindringlichen, sanften Stimme, die ohne weiteres einem Radiomoderator gehören könnte. Oder einem Hypnotiseur.
»Die Sache mit der Banshee«, erwiderte Saskia.
Smyle lächelte. »Sie haben den Katalog schon gelesen! Das freut mich. Viele Besucher nehmen sich nicht die Zeit, dabei habe ich mir so viel Mühe gegeben, ihn zu verfassen.« Sein Blick wurde durchdringender, und Saskia spürte ein merkwürdiges Ziehen hinter ihrer Nasenwurzel. Unwillkürlich machte sie einen Schritt nach hinten. »Leider bietet der Artikel nicht genug Platz, um alle Legenden über die Harfe des Teufels aufzuführen. Sie wären erstaunt, wie viele Menschen, die versuchten, sie ihrem rechtmäßigen Besitzer zu stehlen, den Tod fanden. Wenn sich die Harfe entschlossen hat, bei jemandem zu bleiben, verteidigt sie sich auf ihre Weise.« Er legte eine kurze, aber deutliche Pause ein, bevor er ein »Sagt man« hinterherschickte.
Saskia hatte den Eindruck, dass er damit eine direkte Warnung an sie aussprach. »Wem gehört die Harfe denn?«
»Dem Museum natürlich - allerdings muss ich zugeben, dass es sich für mich manchmal so anfühlt, als habe ich es ihm als Leihgabe zur Verfügung gestellt«, sagte Smyle freundlich, doch obwohl der Ausdruck in seinen Augen dabei etwas von seiner stechenden Intensität verlor, fühlte sich Saskia weiter unbehaglich. »Ein Dieb ist erst kürzlich gestorben; man fand ihn auf den Spitzen eines Gatters aufgespießt und vollständig ausgeblutet. Ein Kletterunfall. Der Harfe ist glücklicherweise nichts geschehen.« Er deutete eine Verbeugung an. »Wenn ich Sie nun bitten darf, sich vom Anblick dieser Schönheit loszureißen: Wir schließen bald. Ich wünsche Ihnen einen schönen Aufenthalt in Limerick.« Smyle nickte ihr freundlich zu, ging zur Tür, öffnete ein Kästchen an der Wand mit seinem Sicherheitsschlüssel und betätigte mehrere Knöpfe. Kontrolllampen leuchteten auf.
Saskia schlenderte auf den Ausgang zu und tat dabei so, als würde sie sich für die anderen Instrumente genauso interessieren wie für die Harfe. Bevor sie den Raum verließ, wandte sie sich noch einmal um. Doch Smyle war bereits verschwunden.
Sie hatte den Verdacht, dass der Einbruch ins Museum sie vor eine ganz besondere Herausforderung stellen würde. Und nicht nur wegen der Sicherheitstechnik.
XVI. KAPITEL
14. November
Republik Irland, Limerick
Die Schwachstelle der Burg lag eindeutig an der Flussseite. Es war ein Leichtes, mit einem Boot an die Befestigung heranzufahren und die Mauer an einer selbst bei Tag schlecht einsichtigen Stelle des Nordwestturms zu erklimmen; die Fugen zwischen den Steinen boten auch ungeübten Kletterern genügend Halt. Über den Wehrgang gelangte man auf das Dach des Touristenzentrums und von dort über ein Fenster in den Innenbereich.
»Das hört sich alles zu einfach an«, sagte Will nachdenklich und ging ans Fenster. »Vergiss nicht, was ich über diesen Mister Smyle erzählt habe«, rief Saskia ihm hinterher. »Mit dem Mann stimmt etwas nicht, das konnte ich spüren.«
»Den überlasst mir«, grinste Justine selbstsicher. »Mit undurchsichtigen Typen aller Art habe ich schon immer meinen besonderen Spaß gemacht.«
»Stellst du dir das alles nicht zu einfach vor?«, wollte Saskia wissen.
»Natürlich mache ich das«, gab Justine ihr überraschenderweise recht. »Aber glaub mir, manchmal ist das der beste Weg, um überhaupt etwas zu erreichen.« Als sich Will kurze Zeit später zu ihnen wandte, fragte sie ihn: Hast du deinen Sir endlich erreicht?«
Er schüttelte den Kopf. Auch Saskias Versuch, den Professor zu erreichen, war fehlgeschlagen. Die Französin streckte ihm auffordernd, die Hand entgegen; er gab ihr das Satellitentelefon, und sie wählte die italienische Nummer. Zu ihrer großen Erleichterung meldete sich eine vertraute Stimme.
»Die Nonnen haben Beluas Spuren in der Vergangenheit gefunden«, berichtete sie Will und Saskia wenig später. »Sein Name fällt stets im Zusammenhang mit der Pest. Sieht so aus, als würden seine Anhänger sie im Vorfeld eines Beschwörungsversuchs als Zeichen der Ehrerbietung verbreiten.«
»Also haben sie Hamburg ausgewählt, um es ihrem Herrn zu opfern?«, resümierte Saskia. »Das kommt mir merkwürdig vor«, gab Will zu bedenken. »Die Pest ist ausgebrochen, nachdem das Schwert verschwunden ist - und ohne Artefakte können sie den Dämon nicht beschwören.«
»Vielleicht ein Unfall? Ein Frühstart?«, mutmaßte Saskia. »Es gibt auch gute Nachrichten: Das Zeichen in Saskias Haut hat keinen Zusammenhang mit Belua«, sagte Justine. »Die Nonnen glauben aber, dass sie schon einmal mit dem Wesen zu tun hatten, das dahintersteckt. Es gibt eine Novizin, die sich auf die Geschichte der Schwesternschaft spezialisiert hat, die wird uns mehr sagen können. Doch das kann dauern.«
Will seufzte und trank einen Schluck Tee; er mochte die irische Hotel-Philosophie, zahlreiche Teebeutel und einen Wasserkocher kostenlos zur Verfügung zu stellen. »Es wäre schlecht, wenn die Dämonendiener oder der Maitre oder wer auch immer den Sir geschnappt hätten. Damit wären wir das Monokel los.«
»Darüber denken wir erst dann nach, wenn wir es eindeutig wissen«, entschied Saskia. »Bis dahin konzentrieren wir uns auf den Einbruch und die Harfensaiten, danach machen wir uns auf den Weg nach Syrien.«
»Geht das so einfach?« Justine lag auf dem Doppelbett und verspeiste Gingercookies. »Was ist mit einem Visum?«
»Notfalls reisen wir über ein anderes Land ein.« Will hatte sich schon erhoben. »Ich gehe in die Lobby und checke das schnell am Computer.« Er verließ den Raum, eine Hand in den Rücken gestützt.
»Vertraust du dem Professor immer noch?«, wandte sich Justine an Saskia.
»Auf jeden Fall. Jedenfalls bis ich etwas Gegenteiliges gehört habe.«
Die Französin hob ihre Hand; auf deren Rücken war eine dunkle Stelle zu sehen, so groß wie eine Zehn-Cent-Münze. »Das verdanke ich Bebuds Degen. Er war aus reinem Silber, und das macht mich schon sehr nachdenklich. Es ist das beste Mittel gegen Wandler.« »Du nimmst an, dass man ihn absichtlich geschickt hat, um dich zu töten?« Saskia verwarf den Gedanken. »Viele in der union führen sehr extravagante Waffen. Ich habe Griffe gesehen, die mit Diamanten geschmückt waren, und vergoldete Klingen. Ein massiv silberner Stockdegen ist sicher ungewöhnlich, fällt aber nicht aus dem Rahmen. Außerdem hätte Bebud dann wissen müssen, was du bist. Wie hätte das geschehen sollen? Du hast es dem Professor nicht gesagt. Und der Maitre hat dich nie gesehen.«
Justine kaute auf dem Keks herum. »C'est vrai. Ich war wohl etwas zu ...«
»... paranoid?« Saskia nickte. »Damit bist du schon lange nicht mehr allein.«
Sie musste an die Toten am Baikalsee denken, vor allen Dingen an den Mönch, den sie bewusst zurückgelassen hatte. »Alles verändert sich gerade.«
Justine angelte sich Wills Tasse; der Tee passte perfekt zu den Keksen. »Das scheint mir auch so. Es geht mich nichts an, aber deute ich es richtig, dass unser kleiner Finder-Inder in dich verliebt ist?«
»Ja.« Kaum hatte Saskia die Vermutung bestätigt, merkte sie, wie ihr warm wurde. Eine Reaktion, die sie weder erwartet hatte -noch akzeptieren wollte. »Leider ist es total... unpassend.«
»Unpassend, ja?« Justine lachte.
Saskia fühlte sich herausgefordert. »Ich kann nichts dafür. Und ich habe ihm auch schon gesagt, dass ich unter diesen Umständen nichts mit ihm anfangen werde.«
Justine zwinkerte. »Das klingt zwar vernünftig, aber so läuft das mit der Liebe nicht.« »Ich diskutiere nicht mit dir darüber.« Als Saskia spürte, dass ihre Narben zu ziehen begannen, fühlte sie sich merkwürdig erleichtert - daher rührte die Wärme, die sie kurz zuvor durchströmt hatte. Eine Erklärung, die ihr weit weniger Sorgen machte als eine andere.
Die Französin setzte zu einer Erwiderung an, da klopfte es. Sie stand auf und sah durch einen Spalt hinaus auf den Flur, dann ließ sie Will herein. »Und?«
»Sieht nicht gut aus. Ohne Visum geht nichts. Und das gibt es nur bei der syrischen Botschaft in Berlin oder dem syrischen Honorarkonsul in Hamburg. Ohne den Wisch müssen wir Syrien mit dem nächsten Flugzeug wieder verlassen. Vielleicht könnte der Professor uns weiterhelfen? Ich meine, wenn er Pässe fälschen lassen kann ...«
»Non.« Justine reichte ihm die fast leere Teetasse. »Ich habe eventuell noch Kontakte in der Türkei, die uns von dort aus rüberbringen können. Aber wie unsere Médiatrice gerade so schön gesagt hat: Eins nach dem anderen. Und das heißt: Erst einmal ist die Harfe dran. Vas-y? Wir brauchen noch ein paar Werkzeuge und das Reizgas, falls wir es mit Sicherheitsleuten zu tun bekommen. Wir können ja wirklich nicht alle Unbeteiligten umlegen, die uns im Weg stehen.« Saskia ließ den Blick über ihre Mitstreiter schweifen. »Haltet die Augen offen, ob dieser Smyle uns nicht möglicherweise verfolgt. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, er hat versucht, meine Gedanken zu lesen.«
»Wenn er uns angreift, werde ich seine Gedanken auch lesen - aus seinem offenen Hirn«, versprach Justine mit einem wölfischen Grinsen.
Gegen ein Uhr nachts überquerten sie den Shannon mit einem gestohlenen Ruderboot. Sie setzten einen der außenliegenden Strahler außer Gefecht, damit sie nicht an der Mauer zu sehen waren, und begannen den Aufstieg. Das Klettern fiel Justine leicht, Will und Saskia dagegen mussten sich sehr anstrengen; die beiden waren zwar sportlich, aber schon allein die komplexen Bewegungsabläufe waren etwas, womit man weder als Köchin, noch als Florist täglich konfrontiert wurde. Danach schlichen sie sich über die Wehrgänge auf das Dach des Touristenzentrums. Justine öffnete die Luke mit einem Bolzenschneider und einer Brechstange und glitt als Erste hinein. Saskia und Will folgten.
Saskia hatte es nicht über sich gebracht, das Schwert im Zimmer zu lassen; sie trug es in einer improvisierten Scheide auf dem Rücken, so dass sie es jederzeit ziehen konnte. Außerdem hatten sie Messer mitgenommen. Sicher war sicher.
Die Gänge wurden nur durch schwaches Stromsparlicht erhellt. Die Überwachungskameras verfügten trotzdem über keine Nachtsichtfunktion, wie die Schwesternschaft für sie herausgefunden hatte. Aufgrund der anderen Informationen, die Justine bekam, hatten sie sich für eine sehr direkte Vorgehensweise entschieden. Keine aufwendige Überbrückung der Sicherheitsanlage. Sie würden die Vitrine mit dem Glasschneider öffnen und würden mit den Saiten verschwunden sein, ehe die Polizei auftauchte. Sie kamen voran, ohne gestört zu werden oder unvermittelt im Strahl einer Taschenlampe zu stehen. Raum um Raum näherten sie sich ihrem Ziel. Die Reibungslosigkeit ließ ein ungutes Gefühl in Saskia aufkommen. Sie wussten von den Nonnen, dass es nur ein kleines Sicherheitsteam in der Burg gab - aber es schien fast so, als gäbe es gar keins.
Auf einmal hörten sie zarte Harfentöne, die durch das Touristenzentrum wehten. Die drei erstarrten. Justine konnte den Schreck zuerst abschütteln, schlich weiter vor und spähte durch die spaltbreit geöffnete Tür, unter der Licht hindurchschimmerte. »Da gibt jemand ein Konzert«, stellte sie flüsternd fest.
»Um diese Zeit?« Saskia schüttelte den Kopf.
Justine deutete nach vorn. »Ich sehe deutlich etwa zwanzig Leute bei Kerzenschein um ein Podest sitzen. Und ratet, wer die Harfe spielt.«
»Mister Smyle.« Saskia hatte es schon gewusst, bevor Justine zu Ende sprechen konnte. Will kaute vor Anspannung auf der Unterlippe. »Was machen wir jetzt?«
»Warten, bis das Konzert zu Ende ist. Mit etwas Glück ergibt sich so noch eine einfachere Gelegenheit, bei der wir die Saiten stehlen können.« Saskia schob sich an Justine vorbei, um selbst einen Eindruck von der Szenerie zu bekommen. »Ich will wissen, was hier vor sich geht.« Bevor Will sich dagegen aussprechen konnte, pirschte sie in den Raum und lief geduckt hinter den Vitrinen entlang. Justine folgte ihr, ohne zu zögern. Nur er blieb stehen, machte sich Gedanken - und große Sorgen.
Was keine der Frauen ahnte: Sein Rücken und die alte Wunde schmerzten stark. Er hatte die heiße, pochende Wunde tagsüber mehrfach im Spiegel betrachtet und festgestellt, dass sie rot war und stark nässte. Eigentlich hätte sie schon verheilt sein müssen. Nach dem Aufenthalt in Limerick würde er einen Arzt aufsuchen, damit sie sich nicht noch mehr entzündete. Will war sich nicht sicher, ob seine Nervenbahnen nicht doch durch den Schlag, der ihm in der Villa zugefügt worden war, Schaden genommen hatten. Seit zwei Tagen fühlten sich seine Füße taub an, und das lähmende Kitzeln breitete sich langsam die Unterschenkel hinauf nach oben aus. Bei horizontalen Drehungen des Oberkörpers musste er die Zähne zusammenbeißen, um nicht laut zu stöhnen. Um einen Besuch im Kernspin kam er nicht herum.
Doch der Schaden, den seine Gesundheit genommen hatte, war im Moment ein zweitrangiges Problem. Viel mehr Sorgen bereitete ihm die Faszination für die Waffe, die Saskia bei sich trug; sie wuchs von Tag zu Tag. Manchmal hatte er das Gefühl, dass sie ihm gehöre, vermutlich weil er in seinen Visionen ständig mit ihr zu tun hatte. Wann immer sich die Möglichkeit bot, berührte er sie sachte. Es machte ihn glücklich - ließ ihn aber auch immer mehr zu der beunruhigenden Erkenntnis kommen, dass nur er derjenige war, der das Schwert führen sollte. Und jetzt gerade, in der Nähe der Harfe, begann seine Wunde, noch stärker zu brennen. Saskia schaute aus ihrem Versteck zu ihm zurück und winkte. Will hob den Arm und gab zu verstehen, dass er noch warten wollte.
Was hatte diese nächtliche Zusammenkunft zu bedeuten? Will grübelte - und fand eine Erklärung: Konnte es sich bei Smyle um den Schutzgeist der Harfensaite handeln? Hatte er die Gestalt eines Mannes angenommen, weil es ihm Vergnügen bereitete, sich unter Menschen zu bewegen? Zumindest würde dies seine Anwesenheit hier erklären und Saskias Gefühl, dass er in der Lage gewesen war, ihre Gedanken zu lesen.
Aber wer waren die Zuhörer seines Konzerts? Auch Geister? Wenn dem so sein sollte - dann schwebten Saskia, Justine und er gerade in tödlicher Gefahr.
Um die aufkeimende Panik zu bezwingen, ließ Will sich auf die Melodie ein. Sie klang heiter, wie viele irische Tanzstücke, und ging in die Beine. Von der besonderen Wirkung des Instruments spürte er allerdings nichts. Er sah genauer hin, konzentrierte sich auf Smyles Finger. Tatsächlich ließen die Kuppen die schwarzen Saiten aus. Und mit einem Schaudern stellte Will fest, dass er sich plötzlich wünschte, der Mann würde sie zupfen und ihre gefährliche Macht beschwören.
Er schlich sich in den Raum, kroch den Boden entlang, bis er neben Saskia hinter einer alten Truhe angelangt war, und berichtete ihr leise von seiner Vermutung. Justine war verschwunden, befand sich irgendwo in den Schatten und wartete, bis die Gelegenheit zum Diebstahl kam. Saskia schaute über die Deckung. Von hier aus hatten sie einen guten Blick auf Smyle, der seine Wächteruniform trug und mit geschlossenen Augen spielte. Die Zuschauer, Männer und Frauen im Alter zwischen zwanzig und sechzig, trugen einfache Straßenkleidung und folgten dem Lied mit erwartungsvollen Gesichtern.
Plötzlich änderte sich die Tonfolge, das Stück wurde schwermütiger. Nun kamen auch die schwarzen Saiten ins Spiel.
Der Gesichtsausdruck der Menschen veränderte sich, sie sahen entrückt und berauscht aus, als würden sie sich an den Tönen laben. Manche von ihnen seufzten, andere sanken in sich zusammen, während ihnen Tränen über die Wangen liefen.
Will blieb von dem neuen Stück unbeeindruckt; was auch immer das Lied mit den Iren anstellte, ihn rührte es nicht einmal. Es hörte sich traurig an, sicher, aber nicht so ergreifend, dass er deswegen weinen müsste.
Saskia hingegen schluckte; es war, als würde ein dunkler Kern in ihr von den Schwingungen erfasst und zum Aufkeimen gebracht. Wie ein dunkles Öl breitete sich die Melancholie über all ihrem Fühlen aus, sie zog alles, was sie tat und getan hatte, in Zweifel. Nichts ergab mehr Sinn für sie, und mit erschreckender Klarheit wusste sie, dass sie sterben wollte.
Nein! Irgendwo in ihrem Unterbewusstsein tönte das ferne Echo eines Schreis wider, ein letzter Rest ihres klaren Verstandes. Saskia wandte sich hilfesuchend zu Will um und öffnete den Mund.
Unvermittelt hielten Smyles Hände inne, er hob die Lider und blickte zum Haupteingang. Saskias Schwermut verklang mit dem letzten Ton. Von jetzt auf gleich fühlte sie sich wie vor dem Beginn des Liedes. Die Harfe besaß also wirklich eine dunkle Macht über Gefühle! Sie zog leise ihr Schwert. Smyle hatte sie wohl bemerkt.
Krachend wurde die Tür aufgestoßen, und zehn Vermummte sprangen mit schallgedämpften Pistolen im Anschlag in den Raum. Sie leuchteten mit Taschenlampen umher, vor allem in die Gesichter der Zuhörer, und zwei von ihnen schrien Anweisungen, dass sich keiner bewegen sollte.
Will fluchte leise. »Was machen wir jetzt?«
»Abwarten«, sagte Saskia und hoffte, dass Justine ebenfalls stillhielt. Der Schutzgeist hatte in der Vergangenheit bewiesen, dass er es mit einer Überzahl aufnehmen konnte. Mit viel Glück und dem Beistand von Wills indischen Göttern wären sie dieses Mal die lachenden Dritten. Sie beobachteten, dass die Gäste und Smyle ruhig an ihren Plätzen blieben. Weder schaute einer von ihnen ängstlich, noch gab es Anzeichen für eine Panik. Sie sahen eher ... verärgert aus. Eine Vermummte sprang aufs Podest zu Smyle; Will vermutete, dass sie die Anführerin der Truppe war. »Gut, dass Sie alle vernünftig geblieben sind«, rief sie auf Englisch. »Das Konzert kann gleich weitergehen, allerdings ohne die schwarzen Saiten der Harfe.« Sie richtete die Waffe auf Smyle. »Aus dem Weg.«
Smyle legte die Hände gegen die Saiten, als könnte er sie damit beschützen ... oder müsste sie wie ein scheues Tier beruhigen. Er bewegte sich nicht von seinem Hocker. »Sie würden durch Ihren Raub ein jahrhundertealtes Instrument zerstören«, sagte er vorwurfsvoll. »Was wollen Sie mit den Saiten?«
»Verschwinde«, herrschte sie ihn an und zog den Hahn ihrer Waffe zurück. Zwei ihrer Leute kamen zu ihr, um ihr gegen den widerstrebenden Museumsangestellten zu helfen, der Rest behielt die Besucher im Auge.
Smyle erhob sich langsam, doch selbst diese einfache Bewegung verströmte eine merkwürdige Autorität. Trotz des einfachen, dezenten Anzugs, den er trug, wirkte er wie ein mittelalterlicher Herrscher, dem es nie in den Sinn kommen würde, dass gegen ihn aufbegehrt werden konnte. »Ihr verschwindet und behaltet euer wertloses Leben«, entgegnete er bedrohlich. »Kein Dieb ist jemals mit der Harfe entkommen. So war es, und so wird es bleiben.«
»Traditionen sind dazu da, um gebrochen zu werden.« Die Anführerin schoss Smyle zweimal durch die Brust. Das Klirren der leeren Patronenhülsen auf dem Steinboden klang überlaut. Der Mann fiel rückwärts, die Beine blieben auf dem Podest liegen, sein Oberkörper schlug auf den Fliesen auf.
Saskia staunte, wie gelassen die Zuhörer angesichts dieses Mordes blieben. »Wir müssen etwas tun«, raunte Will ihr zu. »Wenn wir nicht handeln, bekommen sie das Haar!« Saskia wusste, dass sie mit ihren Messern nichts gegen diese Übermacht ausrichten konnte. Ihre wahre Waffe war die Gabe, die sie nicht immer zu einhundert Prozent kontrollierte, die ihr Schmerzen zufügte, die sie glauben machte, am Wachs in ihrer Luftröhre ersticken zu müssen. Die Gabe, die sie größenwahnsinnig werden ließ.
»Ich kann nicht, Will!«, flüsterte sie zurück.
Er sah sie so wütend an, dass sie einen Schreck bekam; einen solchen Ausdruck hatte sie noch nie in seinen sonst so sanften Augen gesehen. Obwohl er kein Wort sprach, verstand sie, was er sagen wollte: Du musst! Ihr Blick richtete sich auf die Mas kierten. Sie hasste, was man ihr aufgebürdet hatte. Alles an dieser Mission hing von ihr ab. Die Narben würde sie ewig in ihrer Haut tragen und jeden Tag daran erinnert werden. Die vermummte Frau zog einen Seitenschneider aus der Beintasche und steckte die Pistole unter den Gürtel, dann trat sie einen Schritt vor, um die erste Saite zu entfernen.
Urplötzlich und fauchend sprang Smyle in die Höhe und schlug nach ihr! Seine ausgestreckten Finger stießen in die sanfte Vertiefung, wo Hals und Brustbein aufeinandertrafen; mit einem würgenden Geräusch fiel sie auf die Knie.
Saskia zuckte zusammen. Sie hatte sich doch nicht getäuscht: Er war etwas Besonderes! Smyle zerschmetterte einem der Männer das Gesicht mit einem brutalen Faustschlag. Will sah, wie sich die Züge des Opfers komplett verformten und die Nase mit einem ekelerregenden Knirschen nach innen geschoben wurde. Der zweite Mann schoss nach Smyle, aber der wich mit übermenschlicher Geschwindigkeit aus, riss ihm die Pistole aus der Hand und rammte sie ihm mit dem Lauf voran durch die Brust ins Herz. Sterbend fiel der Mann nieder. Vollkommen ruhig und im erstaunlichen Gegensatz zu seinen rasenden Bewegungen sagte Smyle ein Wort in einer unverständlichen Sprache - und seine gerade noch so passiv auf ihren Stühlen sitzenden Zuhörer warfen sich auf die sieben verbliebenen Maskierten. Er selbst beugte sich zu der Frau hinab und zog ihr die Strumpfmaske vom Gesicht.
Will sah mit an, wie die wild um sich schießenden Dämonendiener einer nach dem anderen niedergerissen wurden. Sie wurden von den Angreifern wahllos in Arme, Hälse oder die Brust gebissen. Laut hallten ihre Schreie durch den Raum. »Sind das ... Vampire?«
»Egal. Los, komm!«, befahl Saskia und rannte geduckt in den Schatten zur Harfe. »Wir müssen das Durcheinander nutzen!«
Will hetzte ihr hinterher und zog seine Messer. Jetzt wünschte er sich sehnlichst, das Schwert tragen zu dürfen.
Von rechts tauchte Justine zwischen zwei Vitrinen auf und hielt auf das Podest zu. »Die Anführerin! Das ist die Frau, die Schmitti erledigt hat«, zischte sie. »Ich habe sie gleich erkannt.«
Smyle sah das Trio auf sich zukommen und begab sich mit einem schnellen Schritt schützend vor die Harfe - um von einer Sekunde auf die nächste zu verschwinden.
Gleich darauf schien Will gegen eine unsichtbare Wand zu rennen. Er prallte zurück und ging zu Boden. Saskia erhielt einen Schlag gegen die rechte Wange, der sie von den Füßen holte und gegen eine Vitrine schleuderte. Sie rutschte an dem dicken Glas herab und hob benommen den Kopf.
Justine war stehen geblieben, hatte die Arme vom Körper abgespreizt und drehte sie suchend nach rechts und links. Durch das Schreien der Maskierten hindurch hörten sie Smyles dunkles, fröhliches Lachen. »An einem Abend kommen so viele Diebe? Einen schlechteren Zeitpunkt hätte es für euch nicht geben können. Meine Verbündeten und mich freut es hingegen. Wir haben Durst!«
Die Anführerin der Dämonendiener schwebte in die Höhe -und flog in hohem Bogen durch die Luft, um dumpf zwischen Will und Saskia aufzuschlagen. Dabei verlor sie ihr Headset, es rutschte neben Will. Einer ihrer Männer versuchte, zu ihr zu gelangen, schrie dabei »Valesca!« und wurde von zwei Vampiren niedergerissen, die wie hungrige Löwen über ihn herfielen. Justine schrie plötzlich auf und hielt sich den Hals; Blut quoll zwischen ihren Fingern hervor. Der unsichtbare Smyle spie aus, wie sie am Geräusch und den Flecken am Boden erkannten. »Eine Wandlerin!«, rief er angewidert - und erschien einen Augenblick später wieder neben der Harfe. Er wischte sich den Mund mit einem Taschentuch ab. »Sehr schade.« Justines Selbstheilungskräfte hatten die Wunde bereits wieder versiegelt. »Und mit wem habe ich das zweifelhafte Vergnügen?«, fragte sie herausfordernd.
Smyle sah hinüber zum erlahmenden Kampf. Seine Freunde hatten inzwischen ebenfalls Verluste hinnehmen müssen; fünf von ihnen Tagen zwischen den Stühlen, ein weiterer hinter Justine. Doch nur noch zwei Maskierte leisteten ihnen Widerstand, und auch sie waren bereits eingekreist worden.
Valesca starrte Smyle an, dessen rote Haare ihm jetzt offen auf die Schultern fielen. »Ein Kind des Judas!«
Er deutete eine Verbeugung an. »Also gehört ihr nicht zu den Dieben, die meinen, schnell ein Vermögen mit dem Raub der Harfe verdienen zu können? Und das da«, er deutete auf das Schwelt, das Saskia trug, »scheint mir keine einfache Waffe zu sein. Ich würde gern verstehen, was hier gerade vor sich geht.« Ein dumpfes Grollen erklang von außerhalb des Gebäudes; ein Gewitter hatte sich über Limerick zusammengezogen. Das einsetzende Rauschen ließ auf einen wahren Sturzbach schließen, der auf die Stadt niederging.
Will und Saskia standen auf und gingen zu Justine hinüber. Valesca kämpfte sich ebenfalls hoch, griff dabei nach ihrem Headset und streifte es wieder über den Kopf. Dann verneigte sie sich tief vor dem Vampir. »Hätten wir gewusst, dass die Harfe einem Judassohn gehört, hätten wir um Erlaubnis gebeten, Euch die Aufwartung machen zu dürfen«, sagte sie schmeichelnd. »Wir sind die Diener Beluas.«
Smyle sah sie abwartend an; das verunsicherte Valesca, die es wohl gewohnt war, dass der Name ihres Meisters Ehrfurcht auslöste.
»Wir ersuchen Euch in seinem (Namen, uns die schwarzen Saiten Eurer Harfe zu überlassen.« Smyle lachte auf. »Das Haar der Banshee wird diesen Ort niemals wieder verlassen. Ich habe es nicht seit langer Zeit vor Räubern und Dieben beschützt, um es nun den armseligen Dienern eines Dämons zu schenken.«
»Die Herrschaft des großen Belua steht kurz bevor. Wenn er zurückkehrt, wird er seine Freunde entlohnen, aber seine Feinde vernichten.« Valesca schaute zu Will hinüber und spuckte aus. »Dann nehme ich an, dass diese drei dort zu einem anderen Dämon gehören und verhindern wollen, dass ihr euer Ziel erreicht.« Smyle wirkte eher amüsiert als beunruhigt und tupfte sich die letzten Reste von Justines Blut aus dem Mundwinkel. »Wem dienst du, Wandlerin?« Justine zuckte die Achseln. »Ich habe hier nicht das Sagen.« Will fand sie, angesichts ihrer bisherigen Schlagfertigkeit und ihres großen Mundwerks, überraschend defensiv. Sie zeigte auf Saskia. »Frag sie.«
Saskias Gedanken überschlugen sich. Valesca wusste anscheinend, wen oder was sie vor sich hatte - sie hingegen hatte keinen Schimmer. Was bedeutete Kind des Judas? Konnte sie es wagen, dem Vampir die Aufsicht über das Artefakt zu überlassen und ihn kurzerhand zu einem Verbündeten zu machen? Mächtig genug war er ohne Frage. Sie würde einen Verhandlungsversuch starten, um nicht auf die Gabe zurückgreifen zu müssen. »Wir dienen keinem Dämon. Im Gegenteil, wir wollen verhindern, dass Belua in unsere Welt zurückkehrt. Deswegen wollten wir die Saite in unseren Besitz bringen.«
»Und zerstören?«, vermutete Smyle. »Nun, so ehrenhaft ich euren Kampf finde: Der Harfe darf kein Leid angetan werden. Meine Verbündeten und ich werden nicht zulassen, dass auch nur ein Splitter von ihr genommen wird.« Er lächelte und zeigte die kräftigen Eckzähne. Valesca verneigte sich. »Verzeiht unser Verhalten. Wir werden das Museum nun verlassen.« Sie schritt mit hocherhobenem Haupt an den Vampiren vorbei zu ihren Leuten und wechselte ein paar leise Worte mit ihnen. Smyle gab seinen Leuten ein Zeichen; die Vampire machten den Dämonendienern Platz. Ohne sich noch einmal umzudrehen, verließen die drei den Raum.
»Sie haben eingesehen, dass sie ohne Aussicht auf Erfolg waren«, sagte Smyle und deutete auf die Schwerverwundeten, die sie zurückgelassen hatten, »und sie waren bereit, ihren Tribut zu zahlen.« Die Vampire machten sich über die hilflos am Boden Liegenden her und saugten ihnen das Blut aus.
»Wie steht es mit euch?«, wandte sich Smyle an Saskia.
»Ist Ihnen klar, Mister Smyle, dass sie zurückkommen werden?«, fragte sie ihn. »Sie benötigen das Haar um jeden Preis!«
»Nun, vielleicht habt ihr recht...«Kreischend fuhren sechs, sieben Blitze fast gleichzeitig um das Schloss nieder, Straßenlaternen verloschen funkensprühend, und auch die Beleuchtung im Raum flackerte. Ein Blick hinaus zeigte, dass rund um das mittelalterliche Bauwerk Dunkelheit herrschte. Limericks Stromnetz war unter den Einschlägen zusammengebrochen. »... vielleicht auch nicht. Nein, ich denke nicht, dass wir sie noch einmal zu Gesicht bekommen«, erwiderte Smyle, der sich an dem Schmatzen und Schlürfen der Vampire neben sich nicht störte. »Ich habe mich sehr oft gefragt, was die Diebe so besonders an meiner Harfe finden, und jetzt habe ich es endlich zu einem Teil enthüllt bekommen.« Er setzte sich auf seinen Hocker. »Erzählen Sie mir, was ich noch wissen muss, um vorbereitet zu sein.«
Nach einem kurzen Blick zu Will und Justine, die beide nickten, berichtete Saskia in Ruhe von dem Haar und was die Belualiten beabsichtigten.
Smyle hörte aufmerksam zu. »Und wenn Sie keinem Dämon dienen, was bewegt Sie dann dazu, sich diesen Menschen in den Weg zu stellen und Ihr eigenes Leben zu riskieren?« »Sie meinen, abgesehen vom Untergang der Welt?«, warf Justine ein.
Der Vampir lachte wieder. »Ja. Abgesehen davon. Sind Sie so eine Art Freizeitgeisterjäger, die aus Versehen über das wirklich Dunkle gestolpert sind?« Smyle betrachtete Will. »Bei Ihnen habe ich den Eindruck, dass Sie doch sehr von der Existenz der Vampire überrascht wurden obwohl Sie mit einer Wandlerin durch die Gegend ziehen.«
»Das sieht man mir an?« Will seufzte.
»Ich habe auch lange Zeit geglaubt, Vampire wären reine Erfindung«, schnarrte Justine, betastete ihren Hals und sah zu den Blutsaugern, die ihr Mahl nach und nach beendeten. »Anscheinend sind wir uns immer aus dem Weg gegangen.«
»Es gibt nicht mehr allzu viele von uns. Wir sind zu Beobachtern geworden und bleiben im Verborgenen. Feinde gibt es in den eigenen Reihen. Wer nicht ausgerottet werden möchte, muss erfinderisch sein und sich tarnen können.« Smyle deutete an sich herab. »Sehen Sie mich an.« Saskia wurde nicht schlau aus ihm. Er plauderte mit ihnen, als seien sie zumindest halbe Verbündete; gleichzeitig traute sie dem Vampir zu, gleich über sie herzufallen. Je länger sie ihn betrachtete, umso mehr Abneigung entwickelte sie gegen ihn - und spürte Bittermandel auf ihrer Zunge. Ihre Gabe lud sich auf und machte sich bereit.
Smyle strich über den Harfenkorpus. »Gehen wir friedlich auseinander, oder werden Sie es auf einen Versuch ankommen lassen, mir mein Liebstes zu nehmen?«, fragte er leise und lauernd zugleich.
Zu einer Antwort kam es nicht mehr: Mit einer gewaltigen Detonation wurden sämtliche Türen des Raums aufgesprengt, die Druckwelle fegte Menschen und Vampire von den Beinen und schleuderte sie meterweit umher. Vitrinen barsten oder fielen um.
Saskia landete rücklings auf etwas Weichem, den Hintern gegen die Wand gedrückt; sie vermutete, dass es sich um die Leiche eines Dämonendieners handelte, und der Ekel, den sie empfand, konnte sich mit dem messen, den ihr der Bittermandelgeschmack in ihrem Mund bereitete. Sie versuchte, sich nach vorn zu drehen und die Gabe zum Einsatz zu bringen - da knallte es ohrenbetäubend. Ein greller Blitz ging damit einher und war stark genug, sie zu blenden, obwohl sie nicht direkt in die Quelle geblickt hatte.
Mehrere Explosionen ließen den Boden erzittern, aber Saskia hörte sie immer leiser, weil sie von einem lauten Piepsen in den Ohren überlagert wurden.
Als sie endlich wieder etwas sah, war der Raum angefüllt mit gräulichem Nebel; es roch penetrant nach abgebrannten Feuerwerkskörpern. Erschrocken griff Saskia an ihre Seite -das Schwert war verschwunden! Und wenn sie es richtig erkennen konnte, stand auch die Harfe nicht mehr auf dem Podest!
Eine starke Hand packte sie im Genick und zog sie ruckartig in die Höhe.
Will stürmte den vier Maskierten hinterher, die eben aus dem Ausstellungsraum gerannt waren und auf den Ausgang zuhielten; zwei von ihnen trugen die Harfe, die anderen flankierten sie. Er hielt das Schwert in der Linken. Er fühlte sich damit sicher und vor Kraft strotzend. Die Blendgranaten hatten ihm nichts anhaben können.
Raum für Raum schloss er mehr zu ihnen auf, und sobald einer von ihnen nach ihm schoss, tauchte er hinter eine Ecke oder ein Ausstellungsstück ab.
Wo Justine und Saskia waren, wusste Will nicht; es interessierte ihn im Moment so wenig wie der Verbleib von Smyle. Er allein würde die Saiten an sich nehmen, und dabei würde ihn nichts aufhalten! Die Vermummten trugen die Harfe aus der Burg heraus in den Hof, wo ein Transporter geparkt stand. Der Asphalt zeigte Einschlagspuren der Blitze, dem Auto selbst war nichts geschehen Faraday sei Dank.
Will stürmte mit erhobenem Schwert auf den ersten Bewaffneten zu, der aus seiner schallgedämpften Pistole auf ihn feuerte und ihn verfehlte. Er sprang, schlug gleichzeitig von oben und nach unten.
Die Schneide hackte seitlich in den Hals des Mannes, und schon wurden die Intarsien flüssig und schössen in die Wunde. Jaulend fiel er nieder und spie silbriges Sekret aus. Will setzte über ihn hinweg und attackierte den zweiten Bewaffneten. Er hatte das Gefühl, dass er übergroß und mächtig war, ein Feldherr, ein Riese, ein Goliath, der seine Feinde zerschmetterte, egal mit welchen Waffen sie gegen ihn antraten.
Die Pistolenmündung schwenkte auf ihn, er sah das rasche Aufblitzen im Innern des Laufs und spürte den Luftzug - aber wieder gingen die Projektile fehl. Das Schwert beschützte seinen Träger.
Will stand eine Armlänge von dem Mann entfernt und erkannte den Unglauben in dessen Augen. Er trat ihm mit dem Bein in den Magen, ein harter Kalari-Kick; der Maskierte wurde ruckartig weggeschleudert und schlitterte mehrere Meter über den polierten Boden des Eingangsbereichs.
Der Transporter fuhr mit quietschenden Reifen an. Will hetzte auf die Straße, mitten hinein in das Unwetter, und rannte neben dem durchstartenden Wagen her. Es bereitete ihm keine Mühe, die Geschwindigkeit zu halten, obwohl der Wagen permanent beschleunigte.
Er schlug mit dem Schwert zu und riss das Metall der Seitenwand auf, als bestünde sie aus Papier. Will stach noch mehrmals zu, die Schneide riss lange Schlitze, doch er traf niemanden im Innern des Transporters. Dann wurde das Fahrzeug doch zu schnell und hängte ihn ab.
Fluchend stand er im strömenden Regen und schrie den Maskierten hinterher. Seine Stimme klang tiefer, dröhnender als sonst, und die Birnen der erloschenen Lampen vor ihm platzten mit hellem Klirren. Überrascht von dieser Wirkung, verstummte er und legte sich die freie Hand an den Hals.
Ein Scheinwerferpaar näherte sich ihm von hinten, ein Wagen hupte und blendete auf. Will sprang zur Seite und blickte zum Fahrer - Justine saß hinter dem Steuer, eine Zigarette im rechten Mundwinkel! Saskia hockte neben ihr. »Waren das die Diebe?«
Er stieg hinten ein, und sie trat aufs Gas. »Ja. Es sind noch zwei. Sie haben die ganze Harfe dabei.«
Abrupt riss Justine das Lenkrad herum, dennoch überrollte sie mit dem rechten Rad das Hindernis auf der Fahrbahn, das unvermittelt aufgetaucht war. Der Wagen hüpfte etwas und war schon weitergefahren.
»Das war die Harfe!«, rief Saskia.
»Smyle will not be amused«, meinte Justine erheitert. »Sie haben sich genommen, was sie brauchten, und den Rest weggeworfen.« Sie kniff die Augen zusammen und sah die Rücklichter des Transporters in einiger Entfernung vor sich. »So einfach wird man mich nicht los!« »Kann mir jemand sagen, was passiert ist?«, bat Saskia. Sie streckte die Hand aus, um das Schwert zurückzubekommen.
»Valesca kam mit Verstärkung zurück. Sie hatten Blendgranaten und was weiß ich noch dabei«, sagte Will und ignorierte Saskias offene Hand. »In dem ganzen Durcheinander ist das Schwert zu mir gerutscht, ich sah sie mit der Harfe flüchten und habe mich an ihre Fersen gehängt.« »So etwas dachte ich mir. Ich habe dich losrennen sehen, mir so schnell wie möglich Saskia geschnappt und ein Auto besorgt«, berichtete Justine. Sie ließ das Auto mit einem gekonnten Schlenker in die Kurve gleiten, die regennasse Fahrbahn machte die Bewegung noch geschmeidiger und eleganter. »Wo ist Smyle?«
»Ich habe ihn nicht gesehen.« Saskia wandte sich an Will. »Gib mir das Schwert.« »Du hast es verloren«, sagte er anklagend. »Wenn ich nicht darauf aufgepasst hätte, besäßen die Dämonendiener jetzt zwei Artefakte.«
Sie starrte ihn an. »Will, gib mir das Schwert. Du kannst damit nichts anfangen. Du kannst nicht fechten.«
»Durch das Kalari kenne ich mich mit Waffen aus«, widersprach er mit fester Stimme. »Ich kann es genauso gut beschützen wie du!«
Sie sah ihm in die Augen und versuchte, seine Gedanken zu ergründen, da sie sich die Vehemenz, mit der er sprach, nicht erklären konnte. Warum war ihm das Artefakt auf einmal so wichtig? Ihre Aufmerksamkeit wurde durch ein verfranstes Loch in seinem Sakko unterhalb des rechten Schlüsselbeins angezogen. »Du bist verletzt!«, rief sie erschrocken.
Will betrachtete den Einschuss und zog den Stoff zur Seite, um von oben unter das Hemd schauen zu können. Die Haut war unversehrt. »Nichts passiert«, verkündete er. »Aber ... ich sehe es doch ...«, begann Saskia.
»Das Schwert hat mich geschützt«, sagte Will überzeugt. »Es möchte, dass ich es trage, nicht du.«
»Werdet ihr beide jetzt kindisch und wollt euch streiten, wer es behalten darf?«, mischte sich Justine ein und beschleunigte weiter, trotz des Regens. Der Transporter hielt seinen Vorsprung, und das machte sie wütend; es kratzte an ihrer französischen Fahrerinnenehre. »Gib es Saskia«, wies sie Will an.
»Nein«, rief er aufgebracht. »Sie hat es verloren, jetzt bin ich an der Reihe.«
Saskia wandte sich nach vorn. Das war eine Wendung, die ihr nicht behagte. War es möglich, dass das Schwert Besitz von Will ergriff? Bahnte sich dies seit dem Schlag an, den er in der Kammer erhalten hatte? Sie sah zu Justine und glaubte an dem Ausdruck auf ihrem Gesicht zu erkennen, dass sie ähnlich dachte.
Sie rasten am Ortsausgangsschild vorbei und verließen Limerick Richtung Süden. Der Transporter hatte immer noch einen guten halben Kilometer Vorsprung.
»Sie wollen nicht zum Flughafen Shannon«, stellte Justine verwundert fest. »Will er sich ein Rennen mit mir über die Landstraße liefern?« Sie grinste. »Das wird er bereuen.« »Oder sie locken uns in den nächsten Hinterhalt.« Saskia fühlte sich ohne das Schwert merkwürdig nackt. Sie hatte sich an sein Gewicht gewöhnt, und jetzt saß Will damit hinter ihr. »Wer weiß, was sie noch auf Lager haben.«
»Nach den Vampiren wird mich so schnell nichts mehr überraschen«, versicherte Justine. »Ich glaube es immer noch nicht. Es gibt sie also wirklich! Und dieser rothaarige Bastard hat die Frechheit besessen, mich zu beißen.«
Obwohl ihr im Moment nicht nach einem Scherz zumute war, konnte Saskia nicht verhindern, dass sich ein Lächeln auf ihre Lippen stahl. »Eine Werwölfin kann nicht glauben, dass es wirklich Vampire gibt - was kommt mir an dieser Situation nur so merkwürdig vor?« Justine lachte und nestelte ein Päckchen Zigaretten aus ihrer Jackentasche.
»Valesca hat ihn Kind des Judas und Judassohn genannt«, sagte Will. »Was mag das zu bedeuten haben?«
»Vielleicht ... eine besondere Sorte? So wie Justine zu den Wölfen unter den Wandlern gehört, haben die Vampire vielleicht verschiedene Stammväter«, sagte Saskia.
»Einen Judas als Stammvater? Jamais de la vie«, antwortete die Französin. Sie war näher an den Transporter herangefahren. Die Kurvenlage ihres Wagens war deutlich besser. »Dann lieber une loupette.«
»Wie viele es wohl von ihnen gibt?« Saskia schaute aus dem Fenster. Sie fröstelte und sah Smyles Gesicht vor sich. »Ich hätte ihn nicht von einem einfachen Menschen unterscheiden können, wenn er sich anders benommen hätte.«
»Du hättest auch mich nicht von einem einfachen Menschen unterscheiden können, wenn wir uns auf einer Party kennengelernt hätten und nicht vor einem Blutportal«, grinste Justine. »Was mich viel mehr wundert, ist, dass er sich dir andeutungsweise zu erkennen gegeben hat. Wie hat er spüren können, was wir vorhaben?«
Diese Frage hatte sich Saskia auch schon gestellt. »Ich hoffe mal, dass Vampire nicht die ganzen Fertigkeiten besitzen, die sie in den Büchern haben.«
»Es wird bestimmt schlimmer sein«, unkte Justine und stieß zischend Rauch aus. »Das verspricht spannend zu werden.«
Will dachte bereits über etwas anderes nach. »Was hat er mit der Harfe gemacht? Es sah so aus, als würde sein Spiel auf den schwarzen Saiten etwas bei den anderen Blutsaugern auslösen. Hat jemand von euch etwas gespürt?«
Saskia beschrieb ihre Empfindungen, und auch Justine hatte sich dem Spiel des Instruments nicht entziehen können.
»Dann sollte klar sein, wer ab sofort das Artefakt schützt«, sagte Will leidenschaftslos. »Mich hat das Lied nämlich kaltgelassen.«
Bevor Saskia etwas entgegnen konnte, schrie Justine: »Merde«
»Was?« Saskia war erschrocken und sah nach vorn. Der Transporter gewann wieder an Vorsprung. »Gib Gas!«
Justine stampfte auf das Pedal, das Auto ruckelte. »Kein Benzin mehr«, schrie sie wütend und schlug mehrmals auf die Hupe ein. Mit einem letzten Röhren erstarb der Motor. Sie rollten an einer der unzähligen grauen Mauern vorbei, dann kam der Wagen zum Stehen.
Alle drei sprangen heraus und schauten dem Transporter nach, dessen rote Hecklampen kleiner und kleiner wurden.
XVII. KAPITEL
15. November
Republik Irland, County Kerry
Will, Saskia und Justine gaben nicht auf. In der Nacht hatten sie von einem freundlichen, zufällig vorbeifahrenden Iren einen Reservekanister Sprit bekommen. Will entschied an den Kreuzungen, wohin sie abbiegen mussten, und nach vier Stunden sahen sie den Transporter weit vor sich auf der Straße. »Woher willst du wissen, dass das der richtige Weg ist?«, fragte Saskia misstrauisch, weil die Strecke für sie keinen Sinn ergab.
»Ich weiß es einfach«, erwiderte Will knapp und sah angespannt nach vorne, das Schwert fest umklammert. Wie sollte er den Frauen auch erklären, dass er das Gefühl hatte, das Bansheehaar regelrecht fühlen zu können? Es schien leise nach ihm zu rufen, ihn anzuziehen; es flehte darum, von ihm gerettet zu werden.
Saskias Misstrauen war stummem Staunen gewichen, als sie die Dämonenanbeter schließlich zum ersten Mal wieder sahen. Seitdem klebten sie ihnen an den Fersen und warteten auf einen günstigen Moment, um zuzuschlagen. Die Belualiten wechselten zwar die Fahrzeuge, doch das nutzte ihnen nichts. Anscheinend wollten sie sich nicht aufteilen, was für die Verfolger einen Vorteil bedeutete. »Immerhin etwas«, sagte Will grimmig. Der Sir war immer noch nicht erreichbar, und auch alle Anrufe beim Professor waren erfolglos geblieben.
Saskia hatte sich beim letzten Tankstopp Notizen vor dem Fernseher gemacht, der hinter dem Tresen in einer Deckenhalterung befestigt war. Die irischen Nachrichten waren voll mit Meldungen über den tollkühnen Raub und die unverständliche Behandlung der Banshee-Harfe, die man schwer ramponiert und ohne die herausgeschnittenen Saiten am Straßenrand gefunden hatte. Für Hinweise wurde eine Belohnung in Höhe von dreißigtausend Euro ausgesetzt. »Die Polizei kann den Tathergang immer noch nicht rekonstruieren«, berichtete Saskia. »Sie versuchen immer noch, die Leichen zu identifizieren, und selbst das macht ihnen größere Schwierigkeiten. Aber ratet mal, nach wem sie fahnden - nach einem langjährigen und verdienten Angestellten des Museums, einem gewissen Jonathan Smyle, der vermisst wird.« »Wenn sie wüssten, was Smyle wirklich ist, würden sie ihn kaum vermissen«, knurrte Justine. »Ich verwette meinen Platz in der Hölle, dass er ganz in der Nähe der Diebe ist. Er will Rache.« Sie ließ den dunkelblauen Lancia, das aktuelle Fahrzeug der beiden Diebe, auf dem Motorway etwa vierhundert Meter vor sich nicht aus den Augen. »Merde, wie lange wollen wir ihnen noch folgen, ohne etwas zu unternehmen? Es ist nicht das letzte Artefakt, das wir suchen müssen. Nach Syrien ist es nicht gerade ein Katzensprung, zumal meine Kontakte in Antalya auf uns warten. Sie werden allmählich ungeduldig.«
Saskia wusste, warum die Französin so schlechte Laune hatte: Die Nonnen waren unerreichbar, und das machte der Wandlerin zu schaffen. Der Kontakt zu den Schwestern bedeutete ihr sehr viel. Justines Schale aus Coolness, Schnoddrigkeit und Ironie vermochte Saskia nicht zu täuschen. »Dann sag ihnen, dass wir übermorgen da sind.« Saskia hatte gehofft, dass sich die Diebe mit anderen Dämonenanbetern treffen würden. Die Idee war gewesen, noch mehr von ihnen auszuschalten, am besten alle, bevor sie nach Syrien reisten. Derzeit hatte es jedoch mehr den Anschein, als würden die Belualiten einfach nur in Bewegung bleiben wollen. »Du hast recht, Justine. Fragen wir die beiden, warum sie durch Irland fahren.« »Finalement!« Justine beschleunigte.
Saskias Anspannung stieg. Wie von selbst zogen die Narben, und der Bittermandelgeschmack legte sich über ihre Zunge.
Will hatte sich umgedreht und schaute aus dem Rückfenster. »Ich bin mir nicht sicher, aber ich denke, wir werden verfolgt«, sagte er aufgeregt. »Ein dunkelroter Rover. Mir ist er bei der letzten Rast aufgefallen. Er hat ebenso Gas gegeben wie wir. Er ist seit ungefähr zehn Meilen hinter uns.«
Saskia sah in den Außenspiegel. Will hatte sich nicht getäuscht. »Könnte es sein, dass er den Dieben gefolgt ist und nicht uns?«
Der Rover fuhr dichter zu ihnen auf, schwenkte aus der Spur, kurz bevor er gegen ihre Stoßstange zu prallen drohte, und überholte sie mit einem sehr riskanten Manöver. Im Vorbeifahren sahen sie zwei Männer und zwei Frauen darin sitzen, die sich miteinander unterhielten und nach vorn deuteten. Waffen waren nicht zu erkennen.
»Merde!« Justine machte sich plötzlich hinter dem Lenkrad klein und achtete darauf, nicht gesehen zu werden. »Ich kenne sie«, sagte sie. »Und es ist nicht gut, dass sie aufgekreuzt sind.« »Du kennst sie?«, fragte Will erstaunt.
»Einen von ihnen, den Fahrer. Sein Name ist Greg. Er ist ein Wandler, der einen Wolfshund in sich trägt«, erklärte sie. »Als er zum Alpha aufstieg, hat sein Rudel begonnen, alle anderen Wandler aus Irland zu vertreiben. Jedenfalls war es so, bevor ich in die Verbannung geschickt wurde.« Erst als der Rover vorbeigerast war, rutschte sie wieder in die richtige Höhe. »Das sind Hardcore-Traditionaliste. Greg und sein Rudel sehen sich als Verteidiger des Keltischen und Gälischen und allem Überlieferten. Zut alors! Und ich dachte, ich hätte in der Hölle mit genug Arschlöchern zu tun gehabt.«
»Anscheinend haben sie es wirklich auf die Diebe abgesehen.« Saskia fluchte. »Sie sind zu viert«, sagte Will ungerührt, »das schaffen wir.« Doch plötzlich erinnerte er sich schaudernd an etwas. Wolfshunde! Waren sie es gewesen, die ihn durch die Gassen gehetzt und angegriffen hatten?
»Das sagt der Mann, der ein Schwert trägt. Silberdolche wären jetzt was Feines.« Justine beschleunigte weiter. »Aber da wir die nicht haben, werden wir es mal auf diese Weise probieren.« Sie setzte zum Überholen an, rammte den Rover seitlich und drängte den Wagen von der Straße.
Die Köpfe der Insassen auf der Rückbank ruckten zu ihnen herum. Greg verlor die Kontrolle, der Rover schoss die flach abfallende Böschung hinab und bohrte sich mit der Schnauze voran in den weichen Untergrund. Braunes Torfwasser spritzte in die Höhe, Grassoden flogen durch die Luft.
»Au revoir, Greg!« Justine lachte dreckig und schloss zu den Dieben auf, die erkannt hatten, dass es jetzt ihnen an den Kragen gehen sollte.
Es begann eine wilde Verfolgungsjagd, die auf der kurvenreichen Landstraße abenteuerliche Züge annahm. Die Französin beherrschte den Stil einer Rallyefahrerin perfekt. Immer wieder rempelte sie den Lancia der Diebe an und brachte ihn ins Schlingern, während sie sich die nächste Zigarette ansteckte.
Dann senkte sich die Straße leicht - und sie sahen die Schafherde auf der Fahrbahn! Die Menge der Tiere war enorm, und selbst ein Lastwagen hätte seine Schwierigkeiten bekommen, sich durch sie hindurchzuwühlen. Auf der gegenüberliegenden Seite standen bereits zwei Autos und warteten, bis die Tiere die Straße überquert hatten.
Das intakte rechte Bremslicht des Lancia flammte auf; die Diebe hatten eingesehen, dass sie niemals mit dem Wagen durch die Herde gelangen würden. Die Türen öffneten sich, noch ehe das Fahrzeug zum Stehen gekommen war, dann sprangen sie heraus - und feuerten mit ihren Pistolen.
Es prasselte und klirrte, als die Kugeln durch Blech und das Glas der Windschutzscheibe schlugen. Justine bremste, schrie kurz auf und grollte. Aus ihrem Arm lief Blut. Saskia spürte einen Luftzug an ihrer rechten Schläfe, als sie sich duckte und in den Fußraum fallen ließ. Will hatte sich hinter die Sitze geworfen.
Der Beschuss endete. Krachend fuhr Justine auf den Lancia auf.
»Alles in Ordnung?« Saskia tauchte aus dem Fußraum auf und rollte sich zur Seite aus dem Auto; Will und Justine folgten ihr.
»Nein«, gab die Französin zurück. »Aber das wird sich gleich ändern.«
Sie nahmen unverzüglich die Verfolgung der Diebe auf, die durch die Herde stakten. Es war klar, was sie wollten: zu den Autos auf der anderen Seite gelangen.
Saskia zögerte, ihre Gabe einzusetzen. Will und Justine bewegten sich sehr schnell durch die Schafherde, sie holten immer weiter auf und erreichten die Diebe, noch bevor sie am Ende der Herde angelangten. Doch die Macht schien sie zu locken, sie wollte benutzt werden. Saskia betrachtete es als weitere Übung und benutzte ihre Gabe nun doch, um sich eine Gasse durch die wolligen Leiber zu bahnen. Die Schafe reagierten mit lautem Blöken, als eine unsichtbare Kraft sie einfach zur Seite schob.
Saskia gelang es, die Nebenwirkungen sehr gering zu halten, und so blieb die Welt in ihren drei Dimensionen.
Will hatte einen der Dämonendiener erreicht und malträtierte ihn mit einer schnellen Serie von Tritten. Der Mann ging zwischen den Tieren zu Boden und hob abwehrend die Arme. Saskia fand die Geschwindigkeit, die Will an den Tag legte, ungewöhnlich hoch und beinahe auf dem gleichen Level wie die, die Justine als Halbwesen beherrschte.
Justine machte sich einen Spaß daraus, den Schlägen des Feindes auszuweichen und ihm unmittelbar danach jedes Mal genau auf die Nase zu schlagen. Beim vierten Hieb brach der Mann zusammen, aus seinen Nasenlöchern schoss Blut.
Saskia sah zu den wartenden Wagen. Die beiden Fahrer waren ausgestiegen und verfolgten, was gerade vor ihren Augen geschah. Einer hatte sein Handy gezückt.
Will und Justine durchwühlten die Taschen der Dämonenanbeter, die Schafe sprangen um sie herum. Es fiel Saskia auf, dass sie versuchten, Abstand zu der Französin zu halten; sie witterten die Wölfin in ihr.
»Alles okay«, rief sie auf Englisch zu den Wagen hinüber und hielt ihren Personalausweis in die Luft, als sei er eine Dienstmarke. »Polizei. Gehen Sie zu Ihren Fahrzeugen zurück, wir müssen davon ausgehen, dass die Männer bewaffnet sind.« Sie hatte sich Mühe gegeben, den irischen Akzent zu imitieren, und hoffte, dass ihre Geste die Zuschauer so weit verwirren würde, dass sie sich nicht einmischten. Und tatsächlich: Die Schaulustigen stiegen schnell wieder in ihre Autos. »Meiner hat die Saiten nicht dabei«, meldete Justine und hielt den Dieb am Kragen. »Meiner auch nicht«, fügte Will hinzu.
»Wer von euch beiden hat sie?« Als Saskia die verschlossenen Gesichter der Dämonendiener sah, wusste sie, was zu tun war; mit einfacher Gewalt würden sie bei diesen Kerlen nicht weiterkommen. Aber ihre Gabe war begierig, sich beweisen zu dürfen. Die Mediatrice hob die rechte Hand und deutete auf den linken Mann, dessen Augen schlagartig groß wurden. Er ächzte, und Saskia sah, wie sich die Gesichtshaut spannte und eine dünne rote Linie im Fleisch bildete, die exakt in der Mitte der Stirn begann und sich gerade nach unten fortsetzte. »Ich werde dich schälen«, sagte Saskia drohend, »ohne ein Messer, ohne dich anfassen zu müssen. Du wirst deine Haut vor dir liegen sehen, wenn du mir nicht sagst, wer von euch die Saiten hat.«
Der zweite Dämonendiener sah fassungslos, was seinem laut schreienden Kumpanen passierte. Er versuchte, ihm in einer unbekannten, arabisch klingenden Sprache Mut zuzusprechen; Justine versetzte ihm eine Ohrfeige, die ihn zum Verstummen brachte.
Mit jedem Millimeter, die seine Epidermis weiter nach oben und unten aufriss, schrie der Gepeinigte lauter; Blut strömte aus seiner geplatzten Lippe, ein erster Sprung zog sich sogar durch die Zähne.
Saskia wurde sich selbst unheimlich und hielt ihre Gabe zurück. »Hast du mir jetzt etwas zu sagen?«
Will musste sich beherrschen, er war aufgewühlt und ... empört? Wut durchflutete ihn: Wie konnten die beiden es wagen, sich ihnen zu widersetzen? Der Wille dieses wertlosen Diebes ist nichts gegen mich! Er spürte, dass seine Gabe sich weiterentwickelt hatte, dass sie sich von ihm steuern ließ.
Will trat vor, zog seinen Handschuh aus - und packte die Kehle des Mannes, den Justine immer noch mit einem Fuß auf der Brust am Boden hielt. Sofort brach ein Bilderrausch über ihn herein, und er musste tief einatmen. Doch nach einem kurzen Augenblick begriff er, dass er die Erinnerungen des Mannes aus dessen Sicht sah; er konzentrierte sich und hatte sie plötzlich wie ein Kaleidoskop vor sich. In einem Prisma erkannte er die Eindrücke des Abends, an dem die Dämonendiener über das Museum hergefallen waren. In einem anderen zeigte sich der Innenraum des Transporters mit der Harfe. Will zog diese Erinnerung zu sich heran - und tauchte in sie ein. Durch die Augen seines Opfers sah er, wie der Mann, den Saskia gerade eben noch gemartert hatte, vollkommen unversehrt die Saiten durchtrennte und sie sich nicht in die Taschen, sondern nach kurzem Überlegen mit einem dreckigen Grinsen in seine Unterhose stopfte; danach wurde die Ladeklappe geöffnet und die Harfe hinausgeschleudert. Will zog sich aus der Erinnerung des Mannes zurück ...
... doch statt wieder das Kaleidoskop vor sich zu sehen, fand er sich im Körper des Dämonendiebes wieder!
Will sah sich selbst durch die Augen des Feindes, sein eigenes, vor Triumph und Hochmut verzerrtes Gesicht. Es war ein erschreckender, grauenhafter Anblick, und die Dunkelheit, die ihn auf einmal überfiel, schien für einen kurzen Moment ein Segen zu sein. Doch dann roch Will brackiges Wasser, einen modrigen Gestank, und als er versuchte, nach Atem zu ringen, füllten sich seine Lungen mit dem stinkenden Nass. Er schwebte, nein, er sank in zähem Brei nach unten, Bewegungen fielen ihm schwer und fanden wie in Zeitlupe statt. Er ... er starb! Ihm fehlte die Luft, Schwindel packte ihn, er musste husten, wobei er noch mehr Wasser einsog, seine Lunge schien zu platzen ...
Will benötigte mehrere Sekunden, bis er begriff, dass er wieder mitten zwischen den Schafen stand und sich nicht mehr in dem fremden Verstand befand. »Der andere hat sie«, sagte er matt und ließ den Kerl los. »Er hat sie in seine Wäsche gesteckt.«
Saskia und Justine tauschten einen schnellen Blick. Sie hatten gespürt, dass sich um Will herum etwas verändert hatte, dass er etwas ebenso Machtvolles wie Furchteinflößendes ausstrahlte. Saskia kniff die Augenbrauen zusammen - und Will sah, wie die Kleidung des Mannes aufriss, als sei sie von innen mit einer Schere durchstoßen worden.
Justine ging hinüber. »Mach dir keine Hoffnungen«, sagte sie und griff in den klaffenden Spalt. Der blutende Mann stöhnte gequält auf, als sie ihre Hand zurückzog. »Voilä!« Die Französin hob ein Knäuel aus langen, schwarzen Haaren in die Höhe und steckte es in die Hosentasche. Dann wandte sie sich an Saskia. »Alors?«
Saskia schaute zu den Wagen der irischen Zaungäste, die inzwischen wieder ausgestiegen waren und hektisch miteinander diskutierten. »Da drüben steht unser Taxi.« Sie ging los. »Wir sperren die beiden zusammen mit den Iren in den Kofferraum des anderen Autos und lassen sie hier.«
Justine nahm sich eine der Pistolen der Angreifer und zielte auf die Iren. »Kofferraum auf«, wies sie den Fahrer des größeren Wagens an. »Und rein mit euch.«
Der Anblick der schallgedämpften Waffe machte genügend Eindruck. Sie taten, was Justine von ihnen verlangte; danach zwang die Französin die Dämonendiener mit hinein. Bevor sie die Klappe schloss, jagte sie zwei Kugeln durch das Metall, damit die Männer noch Luft bekommen würden. »Es wird ein bisschen eng und heiß werden, Messieurs, aber zumindest werdet ihr nicht ersticken.« Will sperrte vorsichtshalber ab. Irgendwer würde die Eingeschlossenen sicher finden, aber hoffentlich nicht zu bald.
Justine klemmte sich hinter das Steuer des zweiten Wagens, eines Daihatsu. »Alors, wohin?« »Nach Shannon«, entschied Saskia. »Der Flughafen ist zwar klein, aber wir kommen von dort sicher ohne Schwierigkeiten aufs Festland und können von dort weiter in die Türkei fliegen.« »Dann ... merde!«
Plötzlich stand ein nackter Mann neben der Fahrerseite; er war groß und hager und sehr behaart. »Hi, Justine. Lange her«, rief er, damit man ihn durch das Glas hindurch verstand, und pochte gegen die Scheibe. »Gib mir die Saiten.«
Saskia wusste sofort, dass es sich bei dem Mann nur um Greg handeln konnte. Da er keine Kleidung trug, ging sie davon aus, dass er die Strecke in seiner Wolfshundgestalt zurückgelegt und sich eben zurückverwandelt hatte. Wie zur Bestätigung richteten sich nun zwei Frauen und ein weiterer Mann auf, die ebenso nackt waren. Als Justine den Schlüssel drehte, bückten sie sich, der Wagen wurde auf einer Seite angehoben und umgekippt, bevor er losfahren konnte.
Saskia versuchte, sich abzuschnallen, was dadurch erschwert wurde, dass Justine halb auf ihr lag. Will schnaufte und richtete sich auf.
»Wenn du mir die Saiten gibst, lasse ich dich und deine Freunde am Leben«, vernahmen sie die Stimme des Mannes.
»Fahr zur Hölle, Greg«, schrie Justine und raunte Saskia zu: »Bereit?«
Will kam ihnen beiden zuvor: Er benutzte das Schwert, um das Dach aufzuschlitzen ... und bog die Enden auseinander, als bestünden sie aus Alufolie! Er sprang ins Freie und schlug sofort nach dem ersten Mann, der sich auf ihn stürzen wollte.
»Incroyabk! Was hast du mit ihm gemacht?« Justine sah Saskia fassungslos an. Will hatte den Wandler an der Schulter getroffen - und schon flutete das Schwert die Wunde mit seinem flüssigen Gift. Der Mann kreischte und stürzte zuckend nieder, Schaum stand ihm vorm Mund, der silbrig schimmerte.
Ein mehrstimmiges Heulen erklang, von dem nicht klar war, ob die Meute trauerte oder nach dem Tod des Mörders verlangte.
»Wir müssen ihm helfen, los!«, zischte Justine. Saskia konzentrierte sich und ließ ihre Gabe den Sicherheitsgurt durchtrennen.
Die Wandler hatten ihre Halbgestalt angenommen, waren zu Mischwesen aus Wolfshund und Mensch geworden und sahen furchterregend aus. Sie drangen von verschiedenen Seiten auf Will ein, der Mann auf allen vieren, eine Frau aufrecht stehend und die andere im Sprung. Doch als Saskia und Justine sich endlich aus dem Wagen befreit hatten, erkannten sie staunend, dass sie nicht eingreifen mussten. Wills Anblick machte Saskia sprachlos. Während er der springenden Wandlerin auswich, stach er mit dem Schwert gleichzeitig nach dem kriechenden Angreifer und durchbohrte seine Flanke. Dann zog er die Waffe aus der Wunde, wirbelte einmal um die eigene Achse und trat dabei nach dem heraneilenden dritten Feind. Die Sohle traf das Hundewesen in den Unterleib und warf es zwei Schritte zurück.
Das Ganze geschah so rasch, dass Saskia glaubte, die Zeit würde für die Kämpfenden schneller vergehen.
»Du hast ihn verändert«, sagte Justine gebannt. »Sieh dir an, wie er mit dem Schwert kämpft! Hast du irgendeinen in ihm schlummernden indischen Krieger erweckt?«
Saskia hatte die Technik, mit der Will kämpfte, noch nie gesehen. Es mochte an dem indischen Kalari liegen; jedenfalls unterschied sich das, was dort vor ihr passierte, von allen traditionellen Formen des Fechtens. Sie war sich sicher, dass sie in einem Kampf gegen ihn in Schwierigkeiten geraten würde. Auch diese Geschwindigkeit hätte sie Will niemals zugetraut. Unangenehme Erinnerungen an den Maitre stiegen in ihr empor.
Die Wandlerin sprang ihn wieder an und benutzte ihre langen, klauenhaften Hände, um seinen Schwertarm zu fassen. Will ließ sich von ihr packen, spannte die Muskeln an und zog sie zu sich heran, um ihr die andere Faust gegen die Kehle zu schmettern. Die Wandlerin schnappte nach der heranfliegenden Hand, konnte sie jedoch nicht aufhalten. Will riss sich die Haut auf, doch seine Faust krachte in ihren Gaumen. Es knackte laut, und das Wesen bellte undeutlich auf. Das Schwert stieß vor, durchbohrte die Körpermitte und schnitt mühelos durch die Knochen.
Will stieß die Sterbende, die sich im Tod in eine Frau zurückverwandelte, von sich und lachte dabei. Ein tiefer, satter Laut, der Saskia Angst machte. Sie war sich nicht sicher, ob sie das hatte öffnen wollen. Will wirkte entrückt, hochmütig und zugleich unbesiegbar kraftvoll; jede Bewegung zeugte von einer unerreichbaren Geschmeidigkeit. Und obwohl das, was mit Will geschah, sie beunruhigte, konnte sie doch nicht verhindern, dass sie den Anblick, der sich ihr bot, ausgesprochen anziehend fand.
Der letzte Wandler attackierte ihn, unterlief seinen Hieb mit der Klinge und schlug mit beiden Fäusten gleichzeitig gegen Wills Brust. Der wurde mit enormer Wucht gegen den Wagen geschleudert, in dem die vier Männer im Kofferraum gefangen saßen. Das Auto begann, sich selbständig zu machen und die Böschung herabzurollen; der Fahrer musste vergessen haben, den Gang einzulegen.
Saskia wollte in den Kampf eingreifen, aber Justine hielt sie eisern am Arm fest. »Er braucht unsere Hilfe nicht«, erklärte sie. »Und ich will sehen, was er noch alles vermag!« Will stieß einen undefinierbaren Schrei aus, hielt sich mit einer Hand und schmerzverzerrtem Gesicht den Rücken und streckte im nächsten Moment den Arm mit dem Schwert gegen den Wandler, bei dem es sich um den Alpha des Rudels handeln musste. »Dein Ende ist gekommen!«, sagte er in bedrohlichem Tonfall.
Greg stieß ein lautes Grollen aus und hob die Lefzen.
»Beneidenswert«, merkte Justine seufzend an. »Ich vermisse das Knurren so sehr.« Im nächsten Augenblick griff er Will an, und der wurde von den schnellen Attacken in Bedrängnis gebracht. Die scharfen Krallen schlitzten seine Jacke und das Hemd darunter auf, dann öffnete sich die Hand mit der Waffe, und das Schwert fiel zu Boden.
Saskia wollte auf ihre Gabe zurückgreifen, um Will beizustehen - aber sie war weg! Sie hatte sich vom Zuschauen so sehr ablenken lassen, dass die Konzentration geschwunden war; der Bittermandelgeschmack kaum mehr als ein Hauch. »Justine!«, rief sie.
Die Französin rannte vor und sprang mit beiden Füßen voran in die Seite des Wandlers, der sich eben mit geöffnetem Maul auf Will werfen wollte. Sie fegte ihn von den Beinen, landete auf ihm, rollte sich blitzschnell ab und langte nach dem Schwertgriff.
Wills Fuß schnellte heran und stellte sich auf die Klinge. »Fass es nicht an!«
»Was soll das?«, schrie Justine und spürte die Hand des Gegners um ihr Fußgelenk. Da wurde sie schon zurückgerissen.
Saskia hetzte los, stieß Will zur Seite, riss das Schwert an sich und attackierte den Wandler, der seine Reißzähne in Justines Hals schlagen wollte. Tief rammte sie die Klinge in den haarigen Rücken, und mit einem Heulen brach das Wesen über Justine zusammen.
»Merci, ma chère.« Fluchend rollte sie den sich verwandelnden Greg von sich herunter, erhob sich und kam wutschnaubend auf Will zu. »Und dir, mon ami...«
Will reckte sich kampfbereit - und sank mit einem neuerlichen Schmerzenslaut zusammen und hielt sich das Kreuz. Seine Beine wurden gefühllos und taub.
Unschlüssig blieb Justine vor ihm stehen. Die Selbstgefälligkeit, der Eindruck der Unbesiegbarkeit waren von einer Sekunde auf die andere verschwunden. »Ich müsste dir eine reinschlagen, dass du bis ins Moor fliegst«, fauchte sie ihn an.
Saskia schaute erschrocken an ihr vorbei: Das Auto mit den Eingeschlossenen war im Moor gelandet und versank blubbernd, die Stoßstange schaute noch heraus; der Rest war bereits abgesoffen. »Mein Gott«, sagte sie bestürzt, weil sie an die beiden unschuldigen Iren dachte. Du musst sie retten! Doch sosehr sie auch versuchte, die Gabe zu aktivieren - es gelang ihr nicht. Überanstrengung? Vor Hilflosigkeit traten ihr Tränen in die Augen. Ihre Macht hatte sie im entscheidenden Moment im Stich gelassen - und wieder waren Unschuldige wegen ihr gestorben! Justine ging derweil kopfschüttelnd um Will herum zu dem Lancia der Dämonenanbeter, der immer noch auf der Seite stand; sie warf sich mit Wucht dagegen, so dass er wieder auf die Räder fiel. Dann warf sie die Leichen der Wandler ins Moor. Nachdem sie zuletzt Greg dort versenkt hatte, stieg sie in den Wagen. Abgesehen von den Blutflecken, die vom nächsten irischen Regen davongespült werden würden, erinnerte nichts an den Kampf.
»Wir fahren mit dem verbeulten Ding weiter, bis wir was Besseres gefunden haben«, sagte sie, gleich darauf heulte der Motor auf. »Bien! Ca marche.«
Saskia wischte sich die Tränen weg und half Will beim Aufstehen. Er hatte das Gesicht verzogen und keuchte bei jeder noch so kleinen Bewegung. »Was ist?«
»Ich weiß es nicht«, ächzte er und sah dabei auf das Schwert in ihrer Hand.
Saskia ahnte, dass er es nicht wagte, sie danach zu fragen. Nicht nachdem er Justines Leben durch seine kindische Tat aufs Spiel gesetzt hatte. Außerdem hätte sie es ihm ohnehin nicht gegeben.
Sie fuhren los. Will rollte sich auf der Rückbank zusammen wie ein verwundetes Tier, Justine zündete sich die erste Zigarette an. Saskia versuchte, den Professor zu kontaktieren, die Nonnen und, Wills schwachen Protest ignorierend, gleich danach den Sir. Doch niemand meldete sich.
15. November
Republik Irland, County Clare, Oakwood-Arms-Hotel,
ShannonFlughafen
Der Flug, der sie nach London bringen würde, ging um 22.45 Uhr; von dort hatten sie einen direkten Anschluss nach Antalya.
Drei Stunden blieben ihnen noch, um in einem Hotel auszuruhen und zu überlegen, wie sie in Syrien vorgehen sollten, um den Besitzer des Pergaments ausfindig zu machen. Draußen tobte ein Unwetter und peitschte den Regen über den Landstrich. Er prasselte gegen das Fenster und erzeugte ein gleichbleibendes Rauschen, das von einem Pfeifen begleitet wurde. Sturmböen drückten den Wind durch die Dichtungsritzen.
Justine telefonierte mit ihren Verbindungsleuten in der Türkei und organisierte den unerlaubten Grenzübertritt. Will lag auf dem Bett und starrte an die Decke, nachdem er vier Schmerztabletten genommen hatte. Das Stechen im Kreuz wurde immer heftiger.
Saskia untersuchte die schwarzen Saiten. Sie hatte sie vor sich auf dem Tisch ausgebreitet und versuchte zu erkennen, welche davon die entscheidende war. Sie hielt die Hand mit geringem Abstand darüber und horchte in sich hinein, ob es ein Gefühl in ihr auslöste. Sie hoffte, dass man die negative Schwingung des Dämonenhaars körperlich spürte. Andernfalls würde sie die Haare eines nach dem anderen in einen Rahmen spannen und anschlagen müssen. Die Töne würden die Wahrheit zutage fördern.
Sie meinte ein ähnliches, jedoch viel schwächeres Kribbeln in der Hand zu spüren als beim ersten Kontakt mit dem Schwert. Saskia zog die Hand zurück. Hieß das, dass alle Haare vom Dämon stammten? Oder von verschiedenen Dämonen?
»Ich habe Hunger«, sagte Justine. »Geht jemand mit mir essen?«
»Wir sollten besser zusammenbleiben. Greg hat bestimmt Freunde, die ihn suchen werden«, sagte Saskia.
Justine winkte ab. »Ein Rudel ohne Alpha ist erst einmal mit sich beschäftigt, glaub mir.« Sie stand auf und ging zur Tür. »Soll ich jemandem ein Sandwich mitbringen?« Will entgegnete nichts, Saskia lehnte mit einem Lächeln ab. Die Französin verschwand.
Saskia konzentrierte sich wieder auf die Fäden, die sich äußerlich durch nichts unterschieden. Jeder hätte es sein können. Das Haar der Banshee oder des Dämons stach nicht durch eine besondere Auffälligkeit hervor. Schließlich ließ sie die Haare einzeln zwischen Daumen und Zeigefinger hindurchlaufen, aber auch am Widerstand auf der Haut ließ sich kein Unterschied erkennen. Dann roch sie daran, konnte aber nichts als Staub ausmachen. - Das Böse stank nicht nach Unrat und Schwefel.
Saskia hörte, wie sich Will im Bett umdrehte. Sie schaute zu ihm hinüber. Er lag mit dem Gesicht zum Fenster, das Hemd war nach oben gerutscht, und sie hatte erwartet, die Narbe sehen zu können, die vom Schwerthieb des Wächtergeists herrührte. Stattdessen blickte sie auf eine langgezogene, schwarzrote Linie, von der weitere kleinere Verästelungen abgingen. Anzeichen einer Blutvergiftung. »Will!«
Er drehte den Kopf. »Ja?«
»Du musst sofort zum Arzt.« Sie zeigte auf seinen Rücken. »Das sieht entzündet aus.« »Ich weiß«, erwiderte er ruhig. »Daher kommen meine Schmerzen. Aber wir haben keine Zeit, zum Arzt zu gehen.«
Saskia blickte auf die Uhr. »Es sind noch zweieinhalb Stunden. Am Flughafen oder in der Nähe gibt es bestimmt so etwas wie einen Arzt oder eine Erste-Hilfe-Einrichtung.« Will hob ablehnend die Hand. »Das wird schon wieder. Ich habe mir ein paar Tabletten besorgt. Der Rezeptionist war so nett.«
»Gegen eine Blutvergiftung?«
»Das ist keine normale Entzündung, das hat etwas mit der Waffe zu tun, die mich verletzt hat ... glaube ich. Da wird ein Arzt nichts machen können.« Jetzt drehte er sich doch wieder um. »Es wird schon wieder. Es tut höllisch weh, ja, aber ich fühle mich nicht schlecht, ich ... ich habe kein Fieber oder so etwas.«
»Hast du dir das mal in einem Spiegel angeschaut?« Sie stand auf, nahm kurzerhand den Wandspiegel ab und hielt ihn so, dass er seinen Rücken betrachten konnte. Er wurde noch bleicher, sagte aber nichts. »Ich kann dich nicht dazu zwingen, zum Arzt zu gehen ...« »Mach du es.«
»Was?« Sie senkte den Spiegel.
»Du bist die Médiatrice. Öffne die Stelle, an der du die Entzündung siehst, und lass den Eiter herauslaufen, danach schließe sie wieder.« Will streifte sein Shirt ab.
Saskia schluckte. »Du weißt, dass ich es nicht immer kontrollieren kann?«
»Du hast bewiesen, dass du es kannst. Ich vertraue dir«, antwortete er mit einem angespannten Lächeln und sah wieder zum Fenster. »Die Schmerzmittel sollten wirken. Ich werde nicht zu viel spüren ... hoffe ich.«
Sie betrachtete die entzündete rote Narbe, von der dunkle Bahnen nach oben und unten ausgingen.
Wenn sie es nicht tat und er allen Ernstes nicht zu einem Arzt ging, könnte er wirklich sterben. Aber nur ein einziger gedanklicher Ausrutscher, wenn man so wollte, und ihre Gabe würde quer durch ihn hindurchfahren und ihm die Gedärme zerreißen und die Bauchdecke dazu! Saskia konzentrierte sich, wollte in die Zweidimensionalität eintauchen und den Bittermandelgeschmack spüren. Langsam verlor alles um sie herum seine Farbe und Kontur. Die nächste Böe, die um das Hotel fegte, war besonders heftig. Saskia spürte den kalten Luftzug, der drei der Saiten vom Tisch wirbelte. Das Heulen schraubte sich höher und höher und wurde immer schriller, während sie den Eindruck hatte, dass die Scheibe in Schwingung geriet ... dann barst das Glas krachend, und ein heftiger Sturm fuhr durch ihr Hotelzimmer!
Mit dem Wind kam ein Mann mit langen roten Haaren hereingesprungen, landete neben Wills Bett und funkelte die beiden Menschen dämonisch an.
Justine bestellte sich ein Cheddar-Schinken-Sandwich und ein Murphy's, eines der typisch irischen Stout-Biere. Dabei sah sie sich immer wieder in der Bar um und hielt Ausschau nach möglichen Feinden. Sie hoffte sehr, dass Gregs Verschwinden sein Rudel lange genug beschäftigen würde, bis sie außer Landes waren. Viele Wandler hielten innerhalb ihrer Art zusammen wie eine große Familie. Sie dagegen war immer eine einsame Wölfin gewesen. Daran konnte auch das Zwangsrudel, zu dem sie im Moment gehörte, nichts ändern. Die Barkeeperin brachte ihr das Bier und stellte das Sandwich vor ihr ab. »Slainte«, wünschte sie.
Justine bedankte sich, trank einen Schluck und biss vom Brot ab. Wieder wunderte sie sich, wie schmackhaft das Essen war. Nach ihrem Höllentrip genoss sie jeden Bissen, jeden Schluck, jeden Atemzug. Ihr Hals schien enger zu werden, und das Mal an ihrem Arm erwärmte sich. Immer wenn sie an ihr Martyrium dachte, schien ihr Dienstherr dies zu merken und ließ sie wissen, dass er immer noch Macht über sie besaß. Diese Verbindung musste beendet werden! Auch wenn es bedeutet, dass ich so ende wie mein Bruder, dachte sie und sah in das pechschwarze Bier. Schwarz wie der unendliche Raum, durch den sie getrieben war, kaum dass er sie aus dem brennenden Haus gerettet hatte. Ein Raum voller Nichts: kein Licht, keine Sterne, keine Geräusche, keine Hoffnung. Er hatte sie darin treiben lassen, unendlich lange, bis sie dachte, sie verlöre endgültig den Verstand.
Und dann hatte der Spaß erst richtig begonnen. Für ihn jedenfalls.
Doch Justine hatte erfahren müssen, dass es nicht der Schmerz war, mit dem er sie am meisten foltern konnte. Nicht alles, was sie erlebt hatte, war ekelhaft gewesen. Und die Gewissheit, dass sie sich in seinen Fängen wieder und wieder selbst verraten hatte, war die größte Qual für sie. Hastig trank sie das Bier leer und bestellte mit einer Geste das nächste. Wieder kostete sie von ihrem Essen. Der Geschmack sollte die aufsteigenden Erinnerungen vertreiben. Kaum stand das Bier vor ihr, stürzte sie es schon hinab und orderte das dritte.
Es war nicht klug, in ihrer Lage Alkohol zu trinken. Aber klug war Justine nach eigener Einschätzung niemals gewesen. Clever ja, klug äußerst selten.
Sie versuchte, sich abzulenken, indem sie die Marken auf den fünfzig Flaschen Whisky hinter der Bar las. Es wirkte tatsächlich. Die Namen waren größtenteils zungenbrecherisch, und meistens hatte sie nicht einmal eine leise Vorstellung davon, wie man sie aussprach. Die Barkeeperin erklärte ihr geduldig eine nach der anderen, während sie aß und lauschte. Nur nicht an die Hölle denken müssen!
»Sie sind eine sehr interessante Frau«, sagte eine männliche Stimme in perfektem Französisch. Justine blieb der Bissen im Hals stecken. Gerade eben hatte sie sich doch noch mit einem Blick versichert, dass es keinen anderen Menschen in ihrer Nähe gab, der sie bei ihrer Nahrungsaufnahme störte. Ein Rest von Wolfsverhalten.
Sie schluckte angestrengt und sah den Mann an, der sich ihr hatte nähern können, ohne dass sie etwas davon mitbekam. Als Werwölfin wäre ihr das nicht passiert, jemanden so einfach zu übersehen.
Justine konnte ihr Erstaunen nicht verbergen, als sie den Fremden betrachtete. »Merde«, entfuhr es ihr, und sofort kam ihr ein intuitiver Gedanke: der Maitre! Von der Beschreibung her musste es sich um ihn handeln. Das Gelbliche in seinen Augen war das sicherste Indiz dafür. Seine Statur, das Auftreten, das attraktive Äußere - es passte alles. »Finden Sie?«
Er setzte sich ungefragt neben sie an den Tresen. »Schauen Sie sich an: Sie sind tot und haben für eine Verstorbene dennoch ordentlichen Appetit.«
Justine senkte die rechte Hand, in der sie das Cheddar-Schinken-Sandwich hielt, und legte ihr Essen langsam auf den Teller zurück. Da er sie nicht angriff, hatte er offenbar andere Gründe, sich mit ihr zu beschäftigen. Ihre Neugier erwachte.
»Sie sind der Maitre«, stellte Justine fest, nahm einen Schluck aus ihrem Glas. »Sie sind Justine Marie Jeanne Chassard. Ihr Bruder heißt Eric von Kastell und nennt sich nun de Lavall. Sie denken, er wohnt immer noch in München, aber da täuschen Sie sich«, sagte er freundlich, ohne die Augen von ihr zu nehmen. »Seine Münchner Nummer ist auf den neuen Anschluss umgeleitet.« Er bekam von der Barkeeperin - scheinbar unaufgefordert - ein Bier hingestellt. »Außerdem gehören Sie der Schwesternschaft vom Blute Christi an, ohne aber eine Nonne zu sein.« Er prostete ihr zu.
»Aha. Monsieur haben sich kundig gemacht«, gab sie sich gelassen, was ihr schwerer fiel, als es sollte. Sie musste Zeit gewinnen, um ihre Gedanken zu ordnen. »Man sollte sich einer Dame immer vorstellen, bevor man sich zu ihr setzt, meinen Sie nicht?«
»Mein Name ist Levantin.«
»Ist das der Vor- oder der Nachname?«
»Mein einziger Name.« Er trank von seinem Bier und verzog das Gesicht. »Ich vergesse immer wieder, dass diese Stout-Gebräue kaum Kohlensäure haben.«
Sie lächelte ihn herausfordernd an. »Und so etwas passiert einem Mann, der meint, so gut informiert zu sein?«
»Ich weiß mehr über Ihre Freunde, als Sie denken, Madame Chassard - aber eigentlich interessiere ich mich vor allem für Sie.« Er schenkte ihr ein Lächeln, und sie fand, dass ihn dies auf eine verwirrende Art noch maskuliner wirken ließ als das bisher ernste Gesicht. Das Gelbliche in seinen Augen erinnerte sie an sich selbst, an das Animalische, die andere Seite, das Böse, das in ihr lauerte. Levantin war attraktiv; höchst attraktiv! »Ich würde es begrüßen, wenn dieses Gespräch unser kleines Geheimnis bliebe. Es geht weder Saskia Lange noch Will Gul etwas an.«
»Warum?«
»Weil ich Ihnen einen Vorschlag unterbreiten möchte, nicht den anderen.« Levantin beugte sich langsam vor, damit er in ihr Ohr flüstern konnte: »Sie sind etwas Besonderes, Madame Chassard, nicht nur innerhalb der Menschen, sondern auch ... Ihresgleichen. Ich lasse Ihnen deswegen selbst die Wahl, ob Sie mich zum Feind oder zum Freund haben wollen. Für den Rest der Welt entscheide ich selbst.« Er richtete sich auf.
Nach dem, was sie von Saskia wusste, hätte sie einfach nur auf der Hut sein sollen. Aber dieser Levantin sah nicht nur äußerst gut aus, er hatte auch eine dunkle, besondere Ausstrahlung - und Justine konnte nicht verhindern, dass sie sich zu ihm hingezogen fühlte.
Justine nahm ihr Sandwich wieder auf und aß einfach weiter. Desinteresse vortäuschen. Er brach die Stille. »Ich finde Sie faszinierend, Madame Chassard. Eine Kreatur mit Ihrem Charme, mit Ihrer Vergangenheit und Ihrer Ausstrahlung hat mehr verdient als ein Dasein in dieser Welt.«
»Sie sind nicht der Erste, der mir das sagt.« Sie spülte die Reste des Sandwichs mit Bier hinunter. »Ich frage mich, ob Sie es mit ihm aufnehmen können - oder ob Sie doch nur ein ganz normaler Mann mit einem zu großen Ego sind?«
Levantin bekam ein Ginger Ale gebracht; wieder hatte er kein Wort mit der Barkeeperin gewechselt. »Ich befürchte, Madame, ich werde Sie dies selbst herausfinden lassen müssen.« Erneut beugte er sich vor. »Wenn Sie mir im entscheidenden Moment helfen, wird Ihr Lohn jegliche Erwartung übertreffen.«
»Der entscheidende Moment? Was könnte das wohl sein, Monsieur?« Während ihr Mund noch mit ihm flirtete, nahmen ihre Augen einen kalten Ausdruck an. »Sie geben sich hoffentlich nicht der Illusion hin, ich würde eine Freundin verraten?«
»Sie denken, ich will Madame Lange töten? Ganz im Gegenteil!« Er lachte auf. »Ich will, dass sie die Artefakte findet und verhindert, dass sie den erbärmlichen Dienern Beluas in die Hände fallen. Allerdings möchte ich, dass Madame Lange mir dann hilft, das Portal in eine andere Welt zu öffnen. Etwas, auf das ich seit dem ersten Tag meiner Existenz auf der Erde warte.« »Was habe ich dabei zu tun?«
»Verhindern Sie, dass die Artefakte vernichtet werden, bevor ich das bekomme, was ich mir wünsche. Was Sie danach damit anstellen, ist mir egal.«
Justine wischte sich die Hände an der Serviette ab. »Was bekomme ich dafür?« Er ließ seinen Blick über sie schweifen, über das Gesicht, den Hals, die Schultern. »Ihre Ausstrahlung ist bemerkenswert ... -und bemitleidenswert gleichermaßen. Als würde das, was Sie außergewöhnlich macht, in Ihnen durch eine Wand abgeschirmt.« Levantin schloss die Augen, hob den Arm und legte die Spitze des Zeigefingers an ihre Stirn. Sie hielt still. »Ich kann sie spüren, die Bestie. Sie tobt und geifert, weil sie die Freiheit sieht, aber sie nicht aus eigenem Antrieb erlangen kann.« Justine fühlte ein Ziehen hinter der Stirn - und ehe sie etwas unternehmen konnte, glaubte sie ein Knacken zu hören. Die Wölfin in ihr war ...
... frei! Die Barriere war verschwunden! Justine sog überrascht die Luft ein und erkannte die vielen, vielen Nuancen der Gerüche wieder: alter Tabak aus der Zeit, als Rauchen in den Pubs noch erlaubt war; die flüchtige Erinnerung an Pommes frites und Sandwiches, Burger und Lammhackbraten, die vor Stunden hier serviert worden waren, der Atem der Barkeeperin, nichts entging ihrer feinen Nase. Sie stieß einen lauten Freudenruf aus - und schon befand sich die Bestie wieder hinter der Mauer, von wo Justine sie grässlich heulen hörte.
Levantin nahm den Zeigefinger von ihrer Stirn und hob die Lider. Seine Augen waren fast goldgelb und schimmerten. Es sah nicht menschlich aus, und ergriffen musste Justine an einen Gott denken. Was auch immer Levantin war, er stammte wirklich nicht von dieser Welt. »Ich vermag Ihnen Ihren größten Wunsch zu erfüllen, Madame Chassard. Sorgen Sie nur dafür, dass Ihrer Freundin nichts geschieht und die Artefakte nicht zu früh vernichtet werden.« Justine kämpfte mit dem raschen Wechsel zwischen der Freude über die Rückkehr der Bestie und der ohnmächtigen Wut darüber, sich ihrer Kraft erneut beraubt zu fühlen. »Wenn Sie solche Macht besitzen, dass Sie mich heilen können, weswegen holen Sie sich die Artefakte nicht selbst und tun damit, was immer Sie möchten?«, keuchte sie ihn an. Im gleichen Moment wusste sie, dass dies ein Fehler gewesen war: Wesen wie Levantin durfte man niemals seine Schwäche zeigen.
»Ich vermag vieles, aber nicht alles«, erwiderte er leichthin. »Manchmal benötigt man die Hilfe der Schwächeren, um sich noch weiter emporzuschwingen. Ihre Freundin ist wertvoll für mich und Sie sind es auch.«
Justine musterte ihn, sein attraktives Gesicht, seinen Körper. Sie spürte seine Macht - und die alte Begierde erwachte, die sie so lange nicht mehr hatte austoben können. Wer wäre dazu besser geeignet als der rätselhafte Levantin? Das Spiel mit dem Feuer lag ihr. »Kann ich Ihnen auf Ihr Angebot antworten, sobald ich etwas versucht habe?«
»Und das wäre?«
Sie beugte sich zu ihm vor - und küsste ihn, lang und intensiv. Damit hatte er offensichtlich wirklich nicht gerechnet, wie sie zufrieden an dem winzigen Zucken erkannte; doch dann öffnete sich sein Mund, und seine Zunge begann überraschend sanft, mit ihrer zu spielen. Justine fühlte sich von den Gefühlen überwältigt, ein Schauder der Wollust raste durch sie hindurch. In ihrem Schritt wurde es warm, und die Leidenschaft loderte stärker denn je empor. Justine wollte ihn. Auf der Stelle.
Sie zog den Kopf zurück. »Küssen kannst du gut, Levantin. Wie steht es mit dem Rest?« Er nahm sie bei der Hand und führte sie aus der Bar den Flur entlang, wo sich die Zimmer befanden.
XVIII. KAPITEL
15. November
Republik Irland, County Clare, Oakwood-Arms-Hotel,
ShannonFlughafen
Saskia erkannte Mister Smyle sofort wieder. Zwischen seinen roten Haaren glitzerten Scherbensplitter im Licht der niederzuckenden Blitze.
Will war aufgesprungen und gab dabei einen drohenden Laut von sich, der nicht menschlich klang; Saskia kniete noch immer vor dem Bett und regte sich nicht.
Smyle richtete sich langsam aus seiner hockenden Position auf und bedachte sie mit einem warnenden Blick. Seine Fangzähne waren deutlich zu sehen, eine Hand hielt er erhoben, die Finger auf sie gerichtet. »Wo sind die Saiten?«
Sie sah zum leergefegten Tisch. »Bis eben lagen sie dort. Durch Ihren Auftritt sind sie davongeweht worden.«
Der Vampir reckte sich. »Suchen Sie sie. Ich möchte sie wiederhaben. Diese Macht gehört nicht in die Hände von Menschen.«
»Aber in die von untoten Blutsaugern?« Saskias Mund füllte sich mit Bittermandel, die Umgebung wurde für Sekunden grau, doch dann flackerte es vor ihren Augen, und sie sah alles so wie immer. »Ich denke nicht.« Sie konzentrierte sich stärker, die Welt wurde vollkommen farblos und flach wie ein Fernsehschirm. Zu ihrer Verwunderung schrie Smyle sofort auf und tat einen Schritt zurück. Saskia war erstaunt. Der Vampir war der erste Gegner, der ihre Macht fühlte und sich vor ihr in Sicherheit bringen wollte.
Oder wollte er nur seine Gegenwehr starten?
Eine heftige Windböe brach in das Zimmer ein, wirbelte sämtliche losen Gegenstände umher und bildete einen Sog, der alles nach draußen riss, was nicht befestigt war. Immer wieder flog Saskia etwas ins Gesicht, sie musste zur Abwehr die Arme heben und die Augen bis auf einen schmalen Schlitz schließen.
Smyle nutzte seine Chance: Er sprang aus dem Fenster und verschwand in der sturmgepeitschten Dunkelheit.
Will reagierte sofort und ließ das schwere Rollo nach unten rasseln.
Sofort legte sich der Wind; zwar rüttelten die Böen heftig am Rollladen, aber die Streben hielten. Der Raum kam zur Ruhe.
Saskia besah sich das Chaos. Irgendwo darin lagen die Haare.
Will schrie auf und brach zusammen, wobei er halb auf das Bett fiel. Mit beiden Händen griff er sich in den Rücken.
Sie musste sich unverzüglich um seine Verletzung kümmern. Smyle würde in den nächsten Minuten wahrscheinlich nicht wieder auftauchen. Seine Furcht hatte ihm deutlich im Gesicht gestanden. »Warte, ich bin bei dir.« Schnell hob sie seine Beine auf das Bett und streifte ihm die Kleidung so auseinander, dass der Rücken freigelegt war.
Er ächzte, denn es kostete ihn Überwindung, die Stelle ungeschützt zu lassen.
Saskia war nervös, aufgeregt und hatte tatsächlich Angst, Will mehr zu schaden als zu nützen. Diese beschissene eingeschränkte Sicht! Hier ging es um Millimeter! Ein Ausrutscher konnte ihn schwer schädigen oder sogar töten.
»Tu es, Saskia«, murmelte Will, »bitte!«
Saskia atmete einmal tief ein und aus - dann beschwor sie ihre Gabe herauf. Sie konzentrierte sich auf die dunkle Linie auf Wills Rücken und setzte ihre Kraft so behutsam ein, wie sie konnte.
Es ließ sich nicht mit dem Öffnen des Sees vergleichen. Saskia spürte die Wärme des Männerkörpers und wie sich die einzelnen Schichten der Haut zuerst störrisch dehnten. Es fühlte sich an, als würde sie nicht mit ihrem Geist in Wills Körper eindringen, sondern mit den Fingerspitzen.
Sich langsam vortastend, stieß sie schließlich bis zum Entzündungsherd vor, traf auf heiße Flüssigkeit, viel heißer als Blut und Gewebe. Das Empfinden änderte sich, die Abscheu erschwerte ihr die Arbeit. Sie bohrte weiter wie eine Pfeilspitze, bis sie traf; schwarzrotes Blut und Eiter liefen aus dem bebenden Spalt auf die weiße Bettwäsche.
Will stöhnte auf und vergrub Gesicht und Hände im Laken. Die Schmerztabletten schienen kaum zu helfen.
Doch Saskia ließ nicht locker: Sie öffnete die alte Wunde weiter, verbreiterte den Spalt, bis er weit aufklaffte und sie das rohe Fleisch betrachten konnte, aus dem Blut und stinkendes, gelbliches Sekret liefen. Atemnot befiel sie, das Wachs flutete ihre Lunge und brachte sie zum Japsen.
Es kam immer mehr Blut - zu viel Blut! Sie hatte eine Ader verletzt, und es kam in rhythmischen Schüben hervorgesprudelt! Sie fühlte es durch ihre Finger rinnen, obwohl sie Will nicht physisch berührte.
Saskia rang die aufsteigende Panik nieder und kehrte trotz des Hustens ihre Gabe um; der Eiter war abgelaufen, auch die dunklen Verästelungen verschwunden. Jetzt war es Zeit zum Heilen. Die Bittermandeln in ihrem Mund wurden weniger und weniger. Gleichzeitig verwuchsen Wills Wundränder durch ihren Willen miteinander, versiegelten den glatten Schnitt, und wie mit einem leisen Flüstern fügte sich auch die Epidermis wieder zusammen. Was blieb, war eine weiße, feine Narbenlinie.
»Geschafft«, krächzte Saskia, räusperte sich und hustete das nicht reale und doch schrecklich echte Wachs aus der Kehle. Es war widerlich. Die Furcht, bei der nächsten Anwendung vielleicht daran zu ersticken, ließ niemals nach. Sie fühlte sich ausgelaugt und am Ende ihrer mentalen Kraft. Für den See hatte sie eine andere Art der Anstrengung unternehmen müssen, die eher physischer Natur gewesen war. Diese geistige Erschöpfung machte ihr ganz anders zu schaffen.
Sie brauchte einige Sekunden, bevor sie sich auf die Füße stemmen konnte. Vorsichtig, Schritt für Schritt bewusst setzend, ging sie ins Bad, um ein Handtuch zu holen und Wills Rücken zu säubern. »Du kannst aufstehen.«
Er rührte sich nicht. Die Schmerzen hatten ihn ohnmächtig werden lassen.
Rasch prüfte sie seinen Puls und stellte fest, dass er gleichmäßig und kräftig war. Kein Grund zu noch mehr Sorge; er brauchte einfach Ruhe.
Saskia wandte sich von ihm ab und begann mit ihrer Suche im Zimmer. Sie wusste, dass es die Suche nach den Nadeln im Heuhaufen werden würde. Sie gab bald auf, setzte sich inmitten des Durcheinanders in den Sessel und betrachtete Will. Unter Umständen konnte er die Haare mit Hilfe einer Vision finden, wenn er wieder aufgewacht war.
Ihr Blick wanderte an ihm entlang. Er hatte sich in den letzten Tagen so sehr verändert. Aus dem freundlichen, charmanten Mann, unter dessen geschickten Händen die schönsten Blumengestecke entstanden, war jemand geworden, der ihr durch seine neuen Kräfte durchaus Angst einflößte; noch dazu schien er auf unheilvolle Art von dem Schwert besessen zu sein. Es konnte seinen Verstand beeinflussen.
Hoffentlich verliert er ihn nicht, dachte Saskia beunruhigt.
Sie wünschte sich den alten Will zurück, mit dem sie scherzen konnte, den sie verstand - und mit dem sie, wie sie auf einmal verstand, inzwischen wohl wirklich deutlich mehr wollte, als nur einen Kaffee zu trinken. Nach dieser Sache.
Dass es ihm genauso ging, hatte sie nun oft genug in seinen Augen gesehen. Allerdings hatte sich auch dieser Ausdruck verändert. Zuerst war es unterschwellig und zurückhaltend gewesen, inzwischen zeigte er sein Interesse direkt und beinahe aggressiv. So etwas mochte Saskia ganz und gar nicht. Sie stand nicht auf Machos. Sie wollte den alten Will zurück.
In die Stille nach dem Sturm läutete das Satellitentelefon. Der Sir meldete sich zurück. Saskia brauchte eine Weile, bis sie das Gerät in dem Chaos gefunden hatte. »Ja?«, sagte sie atemlos. »Ist Herr Gul da?«, fragte die bekannte Stimme mit dem britischen Akzent.
»Wo haben Sie gesteckt? Wir versuchen die ganze Zeit...«
»Wenn ich mich nicht melde oder unerreichbar bin, habe ich wichtige Gründe. Und jetzt geben Sie mir Herrn Gul!«
»Er ist ohnmächtig. Wir hatten eine Auseinandersetzung mit einem unserer Gegner«, antwortete sie nicht ganz wahrheitsgemäß. »Aber es wird wieder.«
»Die Dämonenanbeter haben Sie gefunden?«
»Nein. Ein Vampir.« Sie wunderte sich, wie selbstverständlich ihr das über die Lippen kam, ohne zu lachen, vor Wahnsinn zu heulen oder zu schreien. »Er hat eins der Artefakte beschützt und wollte es zurück. Wir fliegen in ein paar Stunden weiter nach ...«
»Sagen Sie es nicht!«, fiel er ihr ins Wort. »Die Leitung kann abgehört werden.« »Sie haben recht. Jedenfalls haben wir zwei Artefakte, das aus Russland und das aus Irland, und das dritte werden wir uns auch schnappen. Wie sieht es bei Ihnen aus?«
»Das Monokel ist nach wie vor in meinem Besitz, und ich gehe selbst Hinweisen nach, die mich zu einem weiteren Fundstück bringen. Melden Sie sich, sobald Sie Erfolg haben, damit wir einen Treffpunkt vereinbaren, von dem ich Sie abholen lasse. Entweder reisen wir gemeinsam zum Marianengraben oder bergen das letzte Artefakt gemeinsam.« Er klang dabei wieder sehr gehetzt, als müsste er rennen oder eine andere sportliche Aufgabe bewältigen. »Wir haben nur noch ein paar Tage! Denken Sie daran.« Er legte auf.
Saskia stand auf und ging zur Minibar, um sich ein Bitter Lemon zu nehmen. Dabei drückte sie die Wahlwiederholung ihres Handys. Kein Professor, keine Nonnen.
Sie kontrollierte Wills Atmung und seine Herzfrequenz, bevor sie den Fernseher einschaltete und sich durch die Nachrichtenkanäle zappte.
Es gab Berichte über ein starkes Unwetter, das absolut unerwartet über Limerick hereingebrochen war und sich aktuell über Shannon austobte, was mit verheerenden Überflutungen einherging. Der Flughafen hatte den Betrieb einstellen müssen. Saskia fluchte. Smyle hatte einen Weg gefunden, sie an der Flucht zu hindern. Demnach würde er bald einen weiteren Überfall auf sie planen. Und der Vampir war zu allem Unglück jetzt auch noch vor ihren Fähigkeiten gewarnt und würde sich nicht ein zweites-Mal derart offen wie im Hotel zeigen.
Sie stieß auf einen Bericht über die Ermittlungen zum Überfall auf das Museum. Verschiedene Experten wurden dazu befragt, keiner wusste eine Antwort, warum man die Harfe zerstört hatte. Ein Raub, ja, aber die Zerstörung ergab keinen Sinn.
Nach den Kunstexperten kamen die etwas anderen Gelehrten zu Wort, welche die Geschichte der Harfe ausbreiteten und auf ihre tödliche Rolle in der Vergangenheit hinwiesen. Das Wort »übersinnlich« fiel sehr oft, und einer der Männer meinte lapidar, dass eine sehr große Gefahr gebannt worden sei. »Ach ja?«, sagte Saskia wütend. »Du bist ja ein ganz Schlauer!«
Sie schaute auf die Uhr. Wo blieb Justine?
Saskia wurde aufmerksam, als eine Expertin auf den Raub eines Schwertes verwies; es sei unter dubiosen Umständen in einem russischen Kloster aufgetaucht. Ihr lägen Zeugenaussagen von zwei russischen Handwerkern vor, die in dem Gebäude Sanierungsmaßnahmen vorgenommen hatten und von einer rätselhaften Macht gezwungen worden seien, ihre Freunde zu attackieren. Der gleichen Macht, wie sie auch die Teufels-Harfe aus Irland besaß, nämlich aus Verbündeten, Freunden und Angehörigen Todfeinde zu machen. Über den Verbleib des Schwertes konnte die Frau auf Nachfrage des Moderators keine Angaben machen.
Saskia sah zum Schwert, das harmlos auf dem anderen Bett lag. Sie hatte gemerkt, dass die Menschen um sie herum abweisend auf sie reagierten, seit sie die Waffe mit sich trug. Ihre Gabe schien sie vor den Auswirkungen zu schützen und sie nicht wahnsinnig zu machen wie die Handwerker. Ließ sich damit Wills Veränderung erklären?
Ein deutscher Nachrichtensender brachte die neusten Entwicklungen aus Hamburg: Die Pest war offiziell in die Hansestadt zurückgekehrt und breitete sich immer weiter aus. Die Ärzte sprachen nicht mehr von einem Anschlag, sondern von einer unerklärlichen Epidemie und einem Erreger, der sich als schwer eindämmbar erwies. Nachdem sie zuerst von einer Mutation oder einem unbekannten Pest-Bakterium ausgegangen waren, wurde nun darüber spekuliert, ob es sich um einen sehr alten Erreger handeln konnte, der vor Jahrhunderten ausgestorben sein sollte. Saskia beugte sich vor und stützte den Kopf mit den Armen ab, während sie gebannt lauschte. Untersuchungen hätten unter anderen auf die Pestepidemie in Venedig im siebzehnten Jahrhundert aufmerksam gemacht. Zwar habe man keine Erreger aus dieser Zeit zum direkten Vergleich, da sich das Bakterium nicht mehr als hundert Jahre im Boden oder alten Pestgruben hielt, doch die Beschreibungen der Kranken und die sehr besonderen Umstände würden den Schluss erlauben, es mit einem alten Erreger zu tun zu haben. Auf dem Bildschirm wurden Aufnahmen aus Venedig gezeigt, Ausgrabungen von damaligen Pestgruben.
Saskia meinte plötzlich, sich im alten Venedig wiederzufinden; sie roch das Wasser, hörte es tröpfeln, roch den Moder, eilte gleich danach durch die Zimmer eines Palazzos und hörte dabei sogar ihre Schritte! Verblüfft kniff sie die Augen zusammen, riss sie wieder auf und sah sich ... im Hotelzimmer um. Die Eindrücke der Lagunenstadt waren schon wieder verschwunden. Sie konzentrierte sich wieder auf den Fernsehbeitrag. Mehr als elfmal war die Pest in den letzten Jahrhunderten in der Hansestadt ausgebrochen, und anscheinend hatte sich ein Relikt davon als außergewöhnlich resistent erwiesen. Der Schluss des Reporters war, dass das Bakterium die Medizinermeinungen Lügen strafte. Es hatte überlebt. Im Gegensatz zu den Experten wusste Saskia, warum sie im Garten einer Villa, in deren Umfeld es keine Pestgruben gegeben hatte, ausgebrochen war: Die Pest und Belua gehörten zusammen.
Auf die Sondersendung und die Kontroverse, ob die Bakterien nun doch wie Milzbrandviren im Erdreich überlebten, verzichtete Saskia. Sie war einfach dankbar, dass sie bislang davon verschont geblieben waren.
Wieder blickte sie auf die Uhr. Wo steckte Justine?
Will hob den brummenden Kopf - und sah die steile Treppe vor sich aufragen. Seine Gemahlin jedenfalls in diesem Leben -kam besorgt auf ihn zu. »Hast du dich verletzt?« Seine Vision ging an dem Punkt weiter, an dem sie das letzte Mal geendet hatte.
Will rieb sich die Stelle am Rücken, auf die er gefallen war. »Nichts geschehen«, sagte er und stand rasch auf, bevor sie ihn erreichen und ihm helfen konnte. »Du warst einfach zu überwältigend für mich.« Schaudernd dachte er an ihre pestversehrten Leisten.
Sie strahlte ihn an. »Ich bin dir noch immer gut genug? Auch wenn du bald ein so mächtiger Mann sein wirst?«
»Immer«, erwiderte er mit einem raschen Lächeln und deutete auf die Stufen. »Aber nun lass uns nach oben gehen. Ich muss Vorbereitungen treffen.« Das war natürlich eine Lüge, aber er wusste, dass sie ihm so keine weiteren Fragen stellen würde.
Sie stiegen aus dem geheimen Zugang in der Küche, gingen durch das Haus, und seine Gemahlin, deren Namen er noch immer nicht kannte, verließ ihn vor dem Eingang in ihr Gemach. »Ich erwarte dich, Liebster«, hauchte sie in sein Ohr, bevor sie durch die Tür verschwand.
Er musste sich abwenden, damit sie den Ekel auf seinem Gesicht nicht sah. Geschlechtsverkehr mit einer Pestverseuchten war nicht das, was er sich erträumte. »Ich freue mich«, presste er hervor und schritt hastig weiter.
Will eilte dorthin, wo er sich mit Capitano Rastani unterhalten hatte. Er betrat das hohe Zimmer, setzte sich in seinen Sessel und trank von dem Wein, der auf dem Tisch stand. Partello, in dessen Körper er steckte, war also verantwortlich für den Ausbruch der Pest. Eine Vorbereitung für die Herbeirufung des Dämons, die fehlgeschlagen war - schließlich existierte Venedig nach wie vor, und die Welt wurde nicht von einem Dämon namens Belua beherrscht. Ruhig. Es wird gut enden. Mach dir keine Sorgen. Will betrachtete seine fremden Hände. Jemand wird diese Spinner aufhalten.
Schnelle Schritte und Gebrüll auf dem Gang rissen ihn aus seinen Gedanken. Die Tür wurde aufgestoßen, und seine Frau erschien auf der Schwelle, das Kleid zur Hälfte in Fetzen gerissen. Blutspritzer hafteten in ihrem Gesicht, in der Linken hielt sie einen Dolch, an dem Blut hinablief. »Flieh!«, schrie sie ihm zu. »Ich halte sie auf, Gemahl, bis du ...« Sie bekam einen Schlag in den Rücken, unter dem sie wankte.
Eine rotgefärbte Schwertklinge schaute aus ihrer Schulter hervor und wurde wieder zurückgerissen. Unmittelbar darauf enthauptete das gleiche Schwert sie mit einem brachialen Hieb. Sie stürzte nieder, und über sie hinweg stieg - Lentolo! Ihm folgten zwanzig Bewaffnete in Brustharnischen.
Will war aufgesprungen. Auf der einen Seite war er erleichtert, dass Partello von dem Mann zur Strecke gebracht wurde, gleichzeitig wusste er noch sehr genau, wie weh das Sterben tat. Lentolo und seine kleine Streitmacht eilten auf ihn zu. »Ihr seid verhaftet, Domenico Partello«, rief er. »Im Namen des sanctum officium setze ich Euch auf Geheiß des Papstes und des Magistrats von Venedig unter Arrest, bis Eure Beteiligung an der in Venedig vorgefallenen Häresie und Blasphemie untersucht ist. Euch wird weiterhin vorgeworfen, durch schwarze Magie die Pest über Venedig gebracht und tausendfachen Mord begangen zu haben. Der Prozess wird das genaue Ausmaß Eurer Schuld darlegen.« Zwei Meter vor ihm kam Lentolo zum Stehen. »Wenn Ihr geständig seid und die Namen Eurer Mitverschwörer nennt, wird Euch ein gnädiger, schneller Tod gewährt.«
Will hätte mit Vergnügen alle an die Inquisition ausgeliefert, doch außer Rastani fiel ihm kein weiterer ein. »Capitano Rastani«, rief er und fühlte, wie sich das Bewusstsein des echten Partello gegen den Verrat aufbäumte. Will drängte es zurück, um dem Legatus noch mehr berichten zu können. »Er ist noch in der Stadt. Alle weiteren Namen nenne ich Euch, wenn ich Eure Zusicherung schriftlich erhalten habe«, antwortete er und hoffte, diesen Körper bald wieder verlassen zu können. Aber wie? Indem er Parteilos Bewusstsein freiließ?
»Ihr seht mich überrascht.« Lentolo ließ ihn von zwei Männern festhalten, ein dritter band ihm die Hände auf dem Rücken zusammen. »Ich hatte mit Widerstand gerechnet. Mit schwarzer Magie gegen mich, den Legatus des Papstes.«
»Nein. Ich möchte meine Seele retten«, antwortete Will und hoffte, dass es einigermaßen plausibel klang. Er sah das Schwert an Lentolos Seite. Das Hornschwert! »Nehmt auch die anderen Artefakte an Euch, Legatus. Damit sie nicht in die Hände des Bösen fallen. Ich sage mich los davon! Betet für mich!«, schrie er und wand sich, damit es aussah, als bereue er wirklich. »Legatus, betet für mich zu Gott!« Er beschrieb ihnen, wie sie in den geheimen Keller unter dem Wasserspiegel der Lagune gelangten. Der echte Partello, mit dem er sich den Körper teilte, versuchte mit immer mehr Kraft, die Kontrolle an sich zu reißen, und bald musste Will die Schmerzen, unter denen er sich wand, nicht mehr vortäuschen, sondern spürte sie wirklich. Lentolo und einige seiner Leute tauschten verwunderte Blicke. Sie waren sich nicht schlüssig, ob sie hier an der Nase herumgeführt wurden.
»Glaubt mir, ich flehe Euch an«, rief Will - und ließ die mentale Kontrolle fallen. »Gleich schon fährt der Teufel wieder in mich ein ...«
Überall an ihm kribbelte und stach es. Er spürte die Veränderung. Er wurde nach hinten gedrängt, mehr und mehr übernahm eine andere Macht die Herrschaft über den Körper. Der echte Partello verlangte nach seinem Recht, das zu sagen, was er für nötig hielt. Wie schon einmal wurde Will Zuschauer durch die Augen eines anderen.
»Ihr werdet vergehen!«, hörte er den Mann schreien und toben. Er riss sich los - und sprengte die Fesseln mit übermenschlicher Kraft! Dass er sich durch die Eisenringe an den Handgelenken das Fleisch von den Knochen schabte, störte ihn nicht. Partello raste! Er stieß dunkle Silben aus und streckte den Soldaten die Arme entgegen. Ein schwarzer Nebel löste sich aus den Fingerspitzen, fegte gegen die Häscher und blies ihnen ins Gesicht. Die Getroffenen schrien auf, und Pestgeschwüre entstanden aus dem Nichts auf ihren Zügen und an allen Stellen, die nicht von Stoff bedeckt waren.
»Herr, gib mir Kraft!«, rief Lentolo und zog das Hornschwert. Er war ebenfalls von dem schattenhaften Hauch getroffen worden, doch er trotzte den grässlichen Auswirkungen. »Mit dem Schwert des Bösen werde ich dich niederstrecken! Soll der Dämon das Blut seiner Anhänger kosten, ohne dass er auf die Erde kommen darf!« Der Legatus sprang vor und schlug nach Partello.
Der Venezianer machte einen Satz nach hinten, entriss einem seiner Häscher das Rapier und drang seinerseits auf Lentolo ein. »Ihr werdet sterben und meinem Herrn als Opfer dienen«, schmetterte er ihm lachend entgegen. »Da Ihr mir das verloren geglaubte Schwert gebracht habt, kann ich die Herbeirufung vollenden! Der Boden ist bereitet, die Pest schwärt, und die Stadt vergeht. Belua wird kommen, wenn ich ihn durch sein Blutportal rufe.« Er wich Lentolos Stich aus. »Gegen meine Gabe mögt Ihr geschützt sein, gegen das Eisen jedoch nicht«, rief er und rammte ihm das Rapier unterhalb des Bauchnabels in den Leib! Mit einem Ruck zog die Klinge nach oben.
Erschrocken wollte Will eingreifen, konnte aber nichts ausrichten. Partello hatte ihn dorthin verbannt, wo er selbst vorher gesessen hatte. Er hatte sich übertölpeln lassen.
Die Männer des Legatus und des Magistrats sanken einer nach dem anderen auf die Fliesen, die Körper mit aufbrechenden Pestbeulen übersät. Niemand von ihnen war in der Lage, ihrem tödlich verwundeten Anführer beizustehen.
Lentolo schwankte und sackte auf die Knie.
»Ihr seht, Lentolo, das Böse lässt sich nicht aufhalten.« Partello stieß den Gesandten nieder. »Kam Euch jemals in den Sinn, dass Gott nicht mit Euch sein könnte, Legatus? Dass Ihr auf den falschen Herrn vertraut? Denkt darüber nach, während Ihr zu meinen Stiefelspitzen sterbt.« Er warf sein Rapier weg und bückte sich, um das Hornschwert aus dem Griff des Feindes zu nehmen.
Plötzlich verschwand alles Leid aus Lentolos Gesicht. Er schien in einem einzigen Augenblick gesundet zu sein! Die Hand mit der Klinge zuckte vor, und die Spitze jagte durch Parteilos Hand in seine Schulter.
»Mein Herr ist mit mir«, sagte er wie in einem Gebet, stand dabei auf und stieß den Venezianer nach hinten. »Das sanetum officium verleiht seinen Streitern für den Glauben und das Gute mehr als weltliche Waffen, Partello. Seht Ihr mich von Eurer magischen Pest befallen?« Will wusste, was nun passierte: Die verflüssigten Intarsien würden in den Körper schießen und ihn von innen heraus töten. Trotz der beginnenden Schmerzen verspürte er eine große Erleichterung. Partello brach vor dem Legatus ächzend in die Knie. Silbriges Blut sprudelte aus seinem Mund, er hatte die Augen weit aufgerissen, aus denen ebenfalls das metallisch schimmernde Rot lief. Er versuchte, etwas zu sagen, doch es kamen lediglich rote Blasen von seinen Lippen.
»Die Wege des Herrn sind unergründlich, das werdet Ihr mir zugestehen. Ihr werdet vernichtet von dem Artefakt, auf das Ihr sehnlichst gewartet habt«, sagte Lentolo leise und bekreuzigte sich. »Die Wandler, die Trinker, die Dämonischen - so viele Kreaturen der Dunkelheit trachteten danach, und doch landete dieses Artefakt des Teufels in der Hand des Guten. Nach Eurem Tod wird es sicher sein, Partello.«
Des Legaten Stimme wurde leiser und undeutlicher, und Will löste sich unvermutet aus dem Leib des Sterbenden. Er schwebte dankbar empor - und erschrak: Partello hatte sein menschliches Äußeres verloren! Vor dem Legatus kauerte ein Wesen, das doppelt so breit und hoch wie ein Mensch war. Schwarze, schillernde Haut war unter dem gesprengten Kleidungsstoff sichtbar geworden, die Ansätze von Flügeln stachen aus dem Rücken hervor. Mehrere Hörner ragten aus dem Schädel, und Will glaubte sogar, dass rechts und links des fratzenhaften Gesichts zwei seitliche Gesichter wuchsen. Ein Schweif mit vier Enden schlängelte sich zwischen den Beinen ... dann durchstieß Will die Decke und verließ den Palazzo. Der Legatus und der Dämonenjünger verschwanden. Er sah die Dulcissima ein weiteres Mal aus der Perspektive eines Vogels, der über die Dächer glitt und sich dabei immer weiter in den Nachthimmel emporschraubte.
Will war erleichtert. Er musste nicht mit Partello zusammen sterben, sondern kehrte auf dem sanfteren Weg in seine Zeit zurück.
Im Palazzo des Patriziers ereignete sich eine gewaltige Detonation, die schwarze Staubwolken meterweit aus den Fenstern und den Kaminen schießen ließ. Zugleich erklang ein dunkles, angstmachendes Geräusch, das an einen sehr tiefen Schrei erinnerte, nur viel lauter. Die Häuser und Brücken um den Palazzo wurden davon in Schwingung versetzt, Ziegel und Steine lockerten sich, fielen in die Kanäle oder auf die Straßen, Menschen und Gondeln wurden von dem Hagel getroffen.
Will beobachtete, wie sich der schwarze Staub zu einer Wolke zusammenschloss und über die Lagune hinwegzog, ehe er sich verwirbelnd auflöste und verschwand.
Dann sah er nichts mehr, schien in geronnener Tinte gefangen zu sein, ehe sich aus weiter Ferne ein helles, weißsilbriges Licht auf ihn zubewegte und verharrte. Wind streifte sein Gesicht, und Will begriff, dass er den vollen Mond anstarrte.
Er kniete auf weichem Gras. Vereinzelte abgestorbene Bäume verteilten sich über die Ebene, und in einiger Entfernung sah er einen Hügel. Ein Hügelgrab? Will rieb sich mit den Fingern über das Gesicht, und er roch Erde. Als er an sich hinabschaute, erkannte er die heruntergekommene Kleidung eines einfachen Mannes aus einem lange vergangenen Jahrhundert, der sein Geld ohne Zweifel mit niedriger Arbeit verdiente. Wo bin ich gelandet?
Seine übrigen Sinne kehrten einer nach dem anderen zu ihm zurück. Zuerst spürte er, dass die Luft angenehm kühl und feucht war, dann senkte er den Kopf und roch fauliges Wasser, und schließlich hörte er das leise Schmatzen um sich herum. Will erhob sich, und sofort schwankte der Boden unter seinen Füßen. Die Reise hatte ihn mitten in ein unbekanntes Moor geschleudert, ohne dass er eine Ahnung davon besaß, wie er lebend hinausgelangen sollte. Also blieb er, wo er war, tastete an sich herum und durchwühlte seine Taschen, um einen Anhaltspunkt zu finden, wer er war, in welcher Zeit er sich befand, was auch immer. Er fand ein kleines Messer, etwas Proviant sowie einen Beutel mit einem Zahn, den er sehr genau kannte. Der Dämonenzahn!
Schnell blickte er sich um. Niemand war in seiner Nähe, er vernahm keinerlei Geräusche, abgesehen von dem Blubbern und Gären des Sumpfs.
»Ich bin unpünktlich«, sagte eine Männerstimme auf Deutsch zu ihm, in der ein französischer Akzent mitschwang. »Aber nicht zu spät, wie ich sehe.«
Will wandte sich um, die rechte Hand um den Zahnbeutel geschlossen und so gegen seine schäbige Jacke gepresst, dass man ihn nicht sah. »Ja, das seid Ihr«, entgegnete er und versuchte dabei, recht unverbindlich zu klingen.
Der Mann trug einen grauen Dreispitz auf den zum Zopf gebundenen Haaren. Den Kragen seines knielangen schwarzen Ledermantels hatte er nach oben geschlagen, so dass sein Gesicht gegen das Mondlicht abgeschirmt und nahezu unkenntlich war. Lange, verdreckte Stulpenstiefel schützten seine Füße, die Hose endete über den Knien, er trug weiße Wollstrümpfe. »Führt Ihr meine Habe mit Euch?«
Will hatte keine Ahnung, was er tun oder wie er sich verhalten sollte. »Mir gefällt dieser Ort nicht.«
Der Mann lachte. »Da Ihr ihn selbst gewählt habt, macht Ihr mich staunen. Ich wäre beinahe ersoffen, weil mich das Moor zu sich ziehen wollte.« Er trat einen Schritt vor, und der grüne Pflanzenteppich wogte leicht. Seine rechte Hand glitt in die Manteltasche, und er nahm einen Beutel hervor, dessen Inhalt leise klimperte. »Goldmünzen, wie Ihr verlangtet. Die Prägung ist schon lange Zeit aus der Mode, aber der Wert von Gold vergeht niemals, nicht wahr?« Er hielt ihn Will hin. »Kann ich nun den Beutel verlangen?«
»Marat!«, hallte ein lauter, kehliger Ruf über das Moor. »Dominic de Marat, du wirst uns nicht entkommen!«
Der Mann schaute über die Schulter, dann nach rechts, wo einige Lichter aufleuchteten. »Nehmt endlich die Münzen«, zischte er Will an. »Her mit dem Beutel!«
Schüsse peitschten durch die Nacht, glucksend schlugen die Kugeln um sie herum ein. Hunde bellten wütend, Männer riefen.
Will hatte schreckliche Angst. Gehörten die Männer zu ihm? Hatten sie Marat eine Falle gestellt, um den Dämonenanbeter zu jagen - oder gehörte er selbst wieder zu den Dämonendienern? Einmal mehr wusste er überhaupt nicht, was sich um ihn herum abspielte. Er presste den Beutel an sich.
»Wird's bald, Mann!« Marat stand dicht vor ihm und packte ihn an der Schulter. »Wo ist es?« Durch seine Bewegung klaffte der Mantel auseinander, und Will erkannte den Korbgriff des Dämonenschwertes an der Seite des Rothaarigen.
»Ihr werdet ihn nicht bekommen!« Will schleuderte das Säckchen weit hinaus ins Moor, verfolgte seinen Flug - und sah, wie es von Marat aufgefangen wurde!
Wie er das Kunststück vollbracht hatte, sich derart schnell zu bewegen, vermochte Will nicht zu sagen. Er starrte den Mann mit offenem Mund an.
»Ihr seid ein Verräter«, schnarrte Marat und verstaute den Beutel unter seinem Mantel. »Verdanke ich es Euch, dass mich die Wandler gefunden haben?«
Will wurde eiskalt. Er sah vier, nein, fünf hundeähnliche Schatten durch das hohe Gras rennen und glutrote Augen leuchten. Es waren keine einfachen Suchhunde gewesen, deren Bellen er vernommen hatte.
Marat kümmerte sich nicht um ihn, sondern zog das Dämonenschwert, und schon war der erste Wandler heran. Sie sahen nicht aus wie die Wolfshund-Wesen in Venedig, sondern erinnerten mehr an echte Wölfe, wenn auch größer und kräftiger.
Das Wesen sprang Marat an, genau auf die ausgestreckte Hand zu. Marat unterbrach den Flug, indem er die lange Schnauze packte; er störte sich nicht an den Zahnreihen, schleuderte die Bestie vor sich auf den Grasteppich und durchbohrte sie mit dem Schwert. Jaulend verging sie. Zwei weitere Wandelwesen hatten ihre Halbform angenommen und eilten auf Marat zu, der seinen Dreispitz davonschleuderte und sie herausfordernd anfauchte. Mondlicht fiel auf die roten Haare des Mannes.
Er sah, wie aus dem Gebiss des Mannes lange, kräftige Reißzähne wuchsen, der Unterkiefer klappte mir einem Knirschen weiter herab als bei einem gewöhnlichen Menschen. Marat war ein Vampir - und die roten Haare ließen die Vermutung zu, dass er auch ein Judassohn war wie Smyle.
Marat hielt jetzt einen langer silbernen Dolch in der linken Hand. Es knallte mehrmals, und die Kleidung des Vampirs zuckte an verschiedenen Stellen. Die Geschosse hatten ihn getroffen, bereiteten ihm jedoch keine Schwierigkeiten. Die Wandler griffen ihn an, sobald der letzte Schuss verklungen war. Doch Marat war ihnen an Geschwindigkeit weit überlegen: Er schlitzte einem die Kehle auf und rammte ihm das Schwert zusätzlich durch den Kopf. Als der zweite Wandler heranstürmte und ihn ansprang, verschwand Marat plötzlich. Seine Kleidung und Waffen fielen ins Grün. Der verdutzte Werwolf biss in Halme anstelle von Fleisch. Grollend witterte er um sich herum. Unvermittelt erschien Marat nackt hinter ihm, packte das Kinn des Feindes und wollte es nach hinten drehen, um ihm das Genick zu brechen. Die Halsmuskeln des Wandlers schwollen an und blockten den Angriff ab. Gleich danach wälzten sich die beiden auf dem Boden. Der Wandler schnappte nach der Kehle des Vampirs, die Klauen rissen tiefe Wunden in seinen Körper, gleichzeitig schlug Marat immer wieder auf den Kopf seines Feindes ein. Dann bekam er den Silberdolch zu fassen und stach zu.
Zischend glitt das Silber durch das Herz der Kreatur, die sich krümmte und mit der Verwandlung in einen Menschen begann.
»Verdammt seist du«, fluchte Marat in Wills Richtung, erhob sich, warf sich den Ledermantel über und tastete im Gras nach dem Schwert. Jetzt konnte Will sein Gesicht erkennen, und wenn er sich nicht sehr täuschte, besaß der Vampir ein helles und ein dunkles Auge. »Dein Leben nehme ich mir als nächstes!«
Will war es egal, was mit dem Schwert, dem Vampir, dem Zahn und den Wandelwesen geschah. Er drehte sich auf den Absätzen herum und rannte ins Moor hinein. Die Angst hetzte ihn.
Er erlaubte dem Bewusstsein des Mannes, in dessen Körper er steckte, das Gefängnis zu verlassen und den Leib für die Flucht u übernehmen. Will nahm an, dass er sich hier auskannte. Doch er hielt den fremden Verstand an einer kurzen Leine, um ihn schnell zurück in die Zelle sperren zu können.
Der Boden schwang unter seinen Stiefeln und federte gleich einer weichen Matte, es blubberte und gurgelte. Dann spritzte Wasser auf und gelangte in seine Augen. Er wischte es weg. Hinter ihm erklangen neuerliche Schüsse. Wandelwesen heulten auf, Marats triumphierendes Lachen erklang in seinen Ohren. Will fühlte sich verfolgt, auch wenn er niemanden erblicken konnte, wenn er hinter sich schaute. Der Boden unter ihm wurde trockener, und bald ließ es sich ganz normal darauf laufen. Er übernahm erneut die volle Kontrolle über den Körper, ohne Widerstand zu spüren.
»Gleich habe ich dich, Verräter!«, vernahm er Marats Stimme dicht neben sich. »Du wirst sterben.«
Will schlug einen Haken und hielt auf den kleinen Bachlauf zu, den er im Mondlicht sah. Hatte man in Venedig nicht davon gesprochen, dass die Vampire kein Wasser überqueren konnten? Mit einem gewaltigen Satz sprang er über das Gewässer, landete auf der anderen Seite, rutschte aus und fiel auf den sandigen Boden. Hustend wälzte er sich auf den Rücken und zog sein Messer, um sich gegen den Vampir zu verteidigen.
Zähnefletschend verharrte Marat am gegenüberliegenden Ufer. »Bastard!«, schrie er ihm zu. »Ich kriege dich doch!«
Will richtete sich auf, sah den wütenden Vampir - und ein erleichtertes, gelöstes Lachen entstieg ihm. Ein harmloser Bach hielt dieses erschreckende, übermächtige Wesen auf und hatte sein Leben gerettet!
Stöhnend erhob er sich. »Fahr zur Hölle«, entgegnete er. Die Lichter näherten sich ihnen. »Das Sachwert wird dir auch nichts nützen. Sie werden dich zur Strecke bringen.«
»Ich habe das Schwert und den Zahn«, erwiderte der Vampir. »Den Rest suche ich mir auch noch. Ich lebe lange genug und kann mir Zeit lassen.« Er schüttelte den Kopf, damit die langen roten Haare nach hinten rutschten. »Du nicht, Mensch.« Blitzschnell warf er den blutigen Dolch.
Der Einstich in Wills Brust fühlte sich wie ein kräftiger Fauststoß an, erst nach zwei Sekunden kamen die Schmerzen und das Brennen. Will knickte ein und starrte auf das Emblem, das auf dem Ledergriff eingebrannt war: drei gekreuzte Dolchpaare, eines oben, die zwei anderen darunter ...
XIX. KAPITEL
15. November
Republik Irland, County Clare, Oakwood-Arms-Hotel,
ShannonFlughafen
Justine konnte nicht mehr reden und nicht mehr denken. Ein Strudel aus Leidenschaft riss sie davon. Mit halbgeschlossenen Augen steuerte sie dem nächsten Orgasmus entgegen, den ihr Levantin verschaffte. Er steckte tief in ihr, füllte sie aus und ließ sie einen Lustschauer nach dem anderen erleben.
Justine stand nackt und vornübergebeugt neben dem Bett und hielt
sich daran fest. Er stieß sie von hinten mit gezügelter Kraft,
seine Hände lagen auf ihren Hüften und bewegten sie in immer
schnellerem Rhythmus. Ihre Brüste schwangen vor und zurück. Sie
stöhnte immer lauter, dann musste sie nach Luft schnappen und
aufhören, weil die Ekstase zu gewaltig über sie hereinbrach. Ihre
Fingernägel hatten tiefe Rillen ins dunkle Holz gezogen.
Bestienkrallen. Justine ließ sich nehmen, gab sich hin und fühlte,
wie Levantin in ihr vor- und zurückglitt und sie immer feuchter
machte. »Härter«, raunte sie und schlug die Nägel der rechten Hand
in seine Pobacke. »Härter!«
Levantins Finger schraubten sich förmlich um ihr Becken. Er fickte sie hart und erbarmungslos und achtete nicht darauf, dass sie sich nicht mehr halten konnte und aufs Bett fiel. Er stürzte mit ihr zusammen hin, und beim Aufprall auf das Laken schrie sie, weil sie ihre Lust nicht mehr kontrollieren konnte. Das Tier hatte endlich eine Lücke in seinem Gefängnis gefunden, um auszubrechen und sich auszutoben! Justine wollte sich umdrehen und auf ihm reiten, ihn dominieren, wie sie es immer mit ihren Männern tat, aber er hielt sie mit seiner Hand im verschwitzten Nacken nach unten gedrückt. Sie wollte aufbegehren, doch der Druck war zu stark. Niemals hätte sie Levantin diese Wucht zugetraut. Gleichzeitig empfand sie eine unerklärliche Freude, bezwungen zu werden. Das Bett ächzte, knackend rissen Verstrebungen, während Levantin sie weiter mit viel Kraft und Ausdauer bearbeitete.
Justine kam und schrie in die Kissen.
»Du genießt es, Bestie.« Levantin ließ ihren Nacken los, packte ihre Handgelenke und zog die Arme nach hinten. Sein Unterleib stoppte abrupt, seinen Harten hatte er fast ganz aus ihr gezogen. »Vermisst du etwas?«
»Ja«, stöhnte Justine und wünschte ihn sich zwischen ihre Beine zurück, auf der Stelle. Er bog ihre Arme nach oben, es schmerzte und machte sie gleichzeitig wieder scharf. »Ja«, ächzte sie bewegungsunfähig. »Ich will dich! Ich ...«
Ansatzlos schob er sich wieder in sie hinein; Justine gab einen spitzen Schrei von sich. Ihr Saft lief an ihren Schenkeln herab. So etwas hatte sie noch nie erlebt!
Levantin bewegte seine Hüfte langsam, veränderte die Position, stimulierte Stellen in ihr, die sie verrückt machten. »Was willst du, das ich mit dir tue, Bestie?«
»Egal«, stöhnte sie. Es hörte sich beinahe nach Weinen an, nach Unterwerfung, nach vollkommener Hingabe. »Hör nicht auf! Bitte, hör nicht auf!« Sie konnte es selbst nicht glauben, dass sie um etwas bat. Nicht beim Sex - und nicht so!
Levantin lehnte sich nach vorn, und ihre Schultergelenke knirschten leise. Justine stöhnte auf und biss sich auf die Unterlippe. »Ich werde aufhören, wenn es mir passt, Bestie«, sagte er und steigerte den Schmerz noch ein wenig, bevor er ihre Arme wieder senkte und ihre Hände küsste. Danach breitete er sie zu den Seiten aus, legte sich mit dem Oberkörper auf ihren Rücken und raubte ihr fast vollständig den Atem. Wieder achtete er darauf, dass sie sich nicht bewegen konnte. »Du hast Glück«, sagte er. »Warum?«, keuchte sie.
»Weil mir nicht danach ist, aufzuhören.« Er versenkte sich in ihr, presste sie nach unten und nahm sie erneut.
Justines Umfeld verschwamm vor ihren Augen. Der Sauerstoffmangel, die Lust, alles mischte sich zu einer Erfahrung, die sie noch niemals zuvor gemacht hatte. Sie spürte ihn in sich, spürte den nächsten anrollenden Orgasmus auf eine neue Weise, ehrlicher, direkter und von einer kaum erträglichen Intensität.
Sie war jedoch zu erschöpft zum Schreien und ließ sich von der heißen Welle, die sich von ihrem Unterleib in alle Richtungen ihres Körpers ausbreitete, davonreißen. Sternchen und Punkte flimmerten in der Luft, dann wich Levantins Gewicht von ihr. Er zog sich aus ihr zurück.
Gierig sog sie Luft ein, und die drohende Ohnmacht schwand. Sie drehte sich halb auf den Rücken und betrachtete ihn schwer atmend. Er stand vor ihr, im Gegenlicht nur als Umriss erkennbar, die Arme leicht abgespreizt und eine Kraft verströmend, die sie spüren konnte. Eine Aura der Macht.
Sie realisierte, dass sie ihn bewundernd anstarrte und dass er es genoss. Levantin schien das gewohnt zu sein.
»Hat es dir gefallen, Bestie?«, sagte er mit sanfter Stimme.
»Ja«, antwortete sie, fuhr sich durch die blonden Haare, wischte sich den Schweiß von der Stirn und strich ihn ins Laken. »Zut alors, das war der beste Fick meines Lebens!«
Er setzte sich neben sie, das Licht fiel auf sein ansprechendes Gesicht. Die Augen glommen leicht golden, verloren aber allmählich ihren Schimmer. Er legte seinen rechten Zeigefinger auf ihren Bauch und strich behutsam nach unten, wanderte am Bauchnabel vorbei und hielt auf dem Venushügel inne. Justine hätte es niemals zugegeben, aber sie wünschte sich, dass sein Finger weiterwandern, sie liebkosen und in das Pulsieren eintauchen würde. Ihre Weiblichkeit verlangte immer noch nach ihm. Sie war von einer Bestie im wahrsten Sinne zur Schoßhündin geworden. Wie macht er das?
»Wie sieht es nun mit meinem Angebot aus, Bestie?« Er schenkte ihr ein Lächeln, der Finger blieb, wo er war.
Justine versuchte, die Begierde aus ihren Gedanken zu vertreiben. »Ich kann dir darauf keine Antwort geben«, erwiderte sie langsam. »Es steht so vieles auf dem Spiel, und ich weiß nicht, welche Rolle du dabei einnimmst.« Sie sah ihm ins Gesicht. »Was hast du mit Saskia getan? Was bist du, dass du solche Gaben verleihen kannst?«
Er ließ den Finger wieder nach oben wandern, zog ihn über ihre Haut, und sie spürte Enttäuschung. »Ich will dieser Welt nichts Schlechtes«, beteuerte er. »Ganz im Gegenteil: Ich möchte von hier verschwinden, Bestie. Dazu benötige ich die Artefakte und Saskia.« »Verschwinden. Dahin, wo du herkommst?«
Levantin nickte. »Ich bin hier gestrandet. Ich hatte eine Aufgabe zu erledigen, und danach dachte ich, ich könnte zurückkehren. In meine Heimat, in die Gemeinschaft.« Er stand auf und zog sich an. »Aber das Portal, durch das ich gezwungen wurde, kann ich nicht öffnen. Ich suchte nach anderen Möglichkeiten, nach Gehilfen. Menschen, so niedrig sie auch daherkommen mögen, eignen sich unter gewissen Bedingungen dazu.«
»Wie Saskia.«
Er hatte Unterwäsche und Hose angelegt und zog das Hemd über seinen nackten Oberkörper. »Ja. Manche sterben, nachdem ich sie gezeichnet habe, manche verlieren den Verstand, aber ich habe nie die Hoffnung aufgegeben, einen Menschen zu finden, der sich meiner Segnung würdig erweist und mein Werkzeug werden kann.«
Justine richtete sich auf, das Pulsieren in ihrem Unterleib ließ nach, und doch verlangte es sie schmerzhaft nach einer weiteren Berührung dieses Mannes, dieses Wesens. Für einen Kuss von ihm würde sie morden. »Und was bist du?«
Er zuckte mit den Achseln. »Falsch an diesem Ort«, resümierte er. »Wie so viele andere auch.« Levantin hatte sich fertig angezogen und rückte die akkurat gebundene Krawatte zurecht. »Ich bin nicht der Einzige, wohl aber der Einzige, der zurück möchte, wie es den Anschein hat. Einige von uns fanden Gefallen an dieser Form der Existenz und an den Menschen. Ihr seid einfach zu beherrschen und leicht zu beeindrucken. Für was ihr euch nicht alles tötet - für Metall, das ihr aus dem Boden kratzt, oder für bedrucktes Papier. Aber für die wahren Werte, die ihr selbst propagiert, steht beinahe niemand auf. Und wenn doch, ist er allein. Das macht es einfach. Auch für dich, Bestie.« Er ging zur Tür. »Das alles reizt mich nicht. Nicht mehr. Ich lief Gefahr, selbst zu menschlich zu werden.« Seine Hand legte sich auf die Klinke. »Ich gebe dir Bedenkzeit, Justine. Ich werde in eurer Nähe sein. Und bei unserem nächsten Zusammentreffen muss ich wissen, was ich von dir erwarten kann.«
»Was ist mit den Belualiten?«
»Mit ihnen habe ich nichts zu schaffen.« Er öffnete den Eingang. »Belua ist ein Moloch, und ich möchte nicht hier sein, wenn er wirklich einen Weg zu euch findet.«
Sie setzte ein schiefes Grinsen auf. »Hört sich nicht an, als ob ich ihn kennenlernen müsste.« »Oh, das tust du schon, Bestieg Levantin sah sie fest an, und der Zug um seinen Mund war grausam und verführerisch zugleich. »Du kennst einen seiner anderen Namen: Malsinam-sös.«
Justine glaubte, einen Schlag gegen den Kopf bekommen zu haben. »Das ist nicht dein Ernst!« Er seufzte. »Dämonen nutzen verschiedene Namen, um ihre Feinde zu narren. Haben dir deine Freundinnen im Kloster das nie erzählt?« Er trat hinaus und zog die Tür zu.
»Warte!« Sie sprang auf und rannte zum Ausgang, riss die Tür auf - doch Levantin war verschwunden.
Malsinamsösl
Den Namen kannte sie leider nur zu gut. Mit Eis in den Adern kehrte sie zum Bett zurück, rollte sich schutzsuchend in das Laken ein und starrte gegen die dunkle Holzdecke.
Wie konntest du mit dem Feind schlafen? Doch war er ihr Feind? Wie viel Wahrheit in dem steckte, was er ihr offenbart hatte, konnte sie nicht ermessen. Irgendetwas in ihr wollte ihm glauben. Er mochte nicht Saskias Freund sein, aber er war auch keiner ihrer direkten Feinde wie die Dämonendiener. Eher ein ... ein Puppenspieler, ein Strippenzieher. Sie würde ihm gerade beinahe alles glauben und allem zustimmen, nur um ihn noch einmal in sich zu spüren! »Ich bin ihm verfallen«, flüsterte sie und legte eine Hand zwischen ihre Beine. Sie spürte die Feuchtigkeit, die Wärme. Es würde eine Weile dauern, bis sich ihre Erregung gelegt hatte. Justine richtete sich auf und schaute auf die Uhr. Sie fluchte. Es war mehr Zeit vergangen, als sie beabsichtigt hatte; Levantin hatte sie eine Stunde lang um den Verstand gebracht. Während sie aufsprang und sich anzog, musste sie an die Schwestern denken.
Levantin wusste also von ihnen. Dennoch kein Grund zur Sorge, wie sie befand. Die Schwesternschaft hatte in ihrer langen Geschichte jeder Gefahr getrotzt, dann sicher auch einem Weltenwanderer.
Schnell eilte sie durch die Korridore des Oakwood Arms und kehrte ins eigene Zimmer zurück, wo Saskia sie inmitten von Chaos erwartete. Der Anblick des blutverschmierten Betts, in dem Will lag, schockierte sie. »Merde! Was ist passiert?«
»Wo warst du?«
»Essen.«
»So lange?«
»Ich hatte ... ein ziemlich gutes Dessert. Aber was ist denn ...«
»Smyle war hier.« In knappen Worten berichtete Saskia, was sich zugetragen hatte - und von dem kurzen Gespräch mit dem Sir.
Justine fluchte. »Der Vampir wird wiederkommen.« Sie schaute sich um. »Wo sind diese Haare abgeblieben?«
»Irgendwo hier.« Sie zeigte auf Will. »Sobald er wach ist, soll er sie mit seiner Gabe finden. Ich habe wenig Hoffnung, dass wir sie ohne weiteres auf dem Teppich entdecken. Der Wind war sehr stark. Das entscheidende Haar könnte auch an der Lampe kleben.« Sie betrachtete Justine. »Du siehst anders aus als sonst«, meinte sie dann. »Ist was?«
»Nein«, log Justine und dachte an Levantins perfekten Körper. Sie deutete auf die Uhr am Fernseherdisplay. »Wir haben nicht mehr viel Zeit. Wir sollten ihn wecken.« Sie marschierte ins Bad und kehrte mit einem Glas eiskaltem Wasser zurück. Langsam goss sie es Will in den Nacken.
Ein Zucken ging durch seinen Leib. Ächzend drehte er sich zu ihnen. Beide Frauen sahen den blutigen Fleck auf dem Kissen und die rote Bahn an seinem Kinn.
»Aber du hast doch die ganze Zeit friedlich dort gelegen!«, entfuhr es Saskia. »Wie konnte ...« »Es geht mir gut«, beruhigte er sie und wischte sich das Blut ab. »Ich muss duschen.« Saskia half ihm, ins Bad zu gelangen und sich zu entkleiden. Es machte ihr nichts aus, ihn nackt zu sehen, und er schämte sich nicht dafür. Wie Patient und Krankenschwester. Kurz darauf kehrten sie wieder zurück, Will halb angekleidet.
Justine steckte sich eine Zigarette in den Mund, zündete sie an und inhalierte den Rauch. Die verspätete Kippe danach. »Bist du sicher, dass es dir gutgeht?«
Saskia legte eine Hand auf seine Stirn. »Er hat Fieber«, sagte sie erschrocken und musste nicht aussprechen, was sie dachte.
Will hob die Arme, damit sie unter seine Achseln sehen konnte. Sie tastete herum, ohne eine Erhebung oder eine beginnende Verhärtung zu finden. Er fuhr mit einer Hand in seine Hose und untersuchte seine Lenden. »Nein, nichts«, vermeldete er. »Es scheint von der Entzündung meines Rückens zu kommen. Es ist nicht die Pest.«
Justine beobachtete die beiden. Ein hübsches Paar. Sie hatte an Wills Augen gesehen, dass er Saskia begehrte. Er ließ es zu, dass man ihm diesen Wunsch offen ablesen konnte. Das war vorher nicht der Fall gewesen und sprach für sein wachsendes Selbstbewusstsein. Er machte Ansprüche geltend. Sie grinste. Vom Blumenmann zum Einzelkämpfer, der sich gegen Wandler und Vampire behaupten musste. Das änderte jedoch nichts daran, dass sie ihm seine Aktion am Moor immer noch übelnahm. Sein Beharren darauf, dass nur er das Schwert führen durfte, hätte sie fast das Leben gekostet. Sie sah immer noch, wie er den Fuß auf die Klinge stellte. Justine richtete ihre gesamte Aufmerksamkeit nun auf Saskia. Die vermied es, Will in die Augen zu schauen, als könnte sie damit etwas herausfordern. Ihre Gemeinschaft war brüchiger, als ihr bisher bewusst war. Argwohn, Eifersucht, Habsucht setzten ihnen zu. Darum behielt sie lieber für sich, dass sie nun eine noch größere Motivation besaß, Beluas Ankunft zu verhindern. Wenn er sie in die Finger bekam, bedeutete die Hölle, aus der sie entkommen war, nur einen Anfang. Ihre Lungenzüge wurden immer tiefer. Will nahm sich frische Wäsche, ging zurück ins Bad und schloss die Tür. Nun wollte er doch etwas Privatsphäre.
Justine sah Saskia ernst an. »Es wird Zeit, dass wir weiterkommen.«
»Dazu müssen wir erst den Vampir finden und vernichten«, erwiderte sie. »Er kann anscheinend das Wetter beherrschen. Die Meteorologen haben keine Erklärung für den Sturm da draußen, aber solange er anhält, wird kein Flugzeug abheben.«
»Und da er uns folgen wird, egal wohin wir gehen, haben wir kaum Chancen, einen anderen Flughafen zu finden«, vollendete Justine. »Bleibt uns nur die Fähre. Bis er das Meer derart aufgewühlt hat, vergeht zu viel Zeit. Und absaufen lassen kann er uns nicht.« Sie zog an der Zigarette. »Kinder des Judas«, sagte sie nachdenklich. »Hast du von denen schon mal gehört?« »Nein. Aber wenn es dich tröstet: Die Schwesternschaft des Blutes Christi war mir bisher auch kein Begriff.«
Justine grinste, aber gleichzeitig brachte sie Saskias Frotzelei auf eine Idee. »Vielleicht gehörte der Vampir wirklich einem Orden an ... oder einer Sekte oder etwas in der Art.« Saskia nahm sich ein Wasser aus der Minibar. »Ich kann dir da wirklich nicht weiterhelfen, denn ich bin neu im Horror-Geschäft«, sagte sie spöttisch. »Du bist die Fachfrau.« Justine lachte. »Touche.«
Saskia sah sie nachdenklich an. »Das habe ich schon lange nicht mehr gehört.« »Touche?« Die Französin benötigte eine Weile, bis sie verstand. »Ach ja, deine union des lames. Alors, so bald wirst du nicht mehr zum Kämpfen auf einer Planche kommen, fürchte ich.« »Im Moment kämpfe ich wirklich mehr als genug.« Sie lachten beide und schauten sich danach beinahe ein bisschen scheu an.
Die Badezimmertür schwang auf, und Will stand auf der Schwelle. Er wirkte bleich, auf seiner Stirn waren Schweißperlen zu sehen. »Suchen wir die Saiten«, sagte er matt. »Und danach gehen wir.«
»Zu einem Arzt«, setzte Saskia hinzu.
»Am Flughafen ist einer.« Justine drückte die Zigarette auf der Tischplatte aus. »Antibiotika werden dir helfen.« Sie schaute Saskia auffordernd an, damit sie Will anfasste und seine visionäre Kraft in Gang setzte.
»Nein, lass. Das ... das brauche ich nicht mehr.« Will trat schleppend nach vorn, hatte die Augen geschlossen und bewegte sich dennoch souverän an allen Hindernissen vorbei, die in seinem Weg standen. Er deutete auf den Boden, und als Justine genauer hinsah, erkannte sie tatsächlich eine schwarze Saite. »Sacre enfer!«
Will sortierte blind jedes einzelne Haar im Raum aus dem Chaos, und innerhalb von fünf Minuten hatten sie alle sieben Saiten zusammen. Erst dann öffnete er die Augen. »Fragt nicht«, bat er mit kratziger Stimme. »Ich könnte es nicht erklären.« Er atmete durch und hielt sich den Rücken.
Laut prasselte der Regen gegen den Rollladen, ein kleines Rinnsal hatte seinen Weg über das Fensterbrett gefunden und tropfte von dort auf den dunkelroten Teppich.
»Ewig wird er das Wetter nicht manipulieren können«, sagte Saskia entschlossen. »Also auf zum Flughafen.« Sie nahm ihren Koffer, Justine das restliche Gepäck. Will wurde geschont. Bald danach fuhren sie im Taxi zum Flughafen, und der Fahrer setzte sie vor dem Eingang einer kleinen Arztpraxis ab. Zu dritt betraten sie den Wartebereich, zehn Minuten danach wurden sie hereingebeten, nachdem sie der Assistentin Bargeld gezeigt hatten. Die Behandlung war sichergestellt. Saskia begleitete Will, Justine blieb bei den Koffern.
Der Arzt, Doktor Indrahar und eindeutig indischer Herkunft, sprach Will sofort in einem Dialekt seines Heimatlandes an; Will musste ihn aufklären, dass er Deutscher war, auch wenn er nicht unbedingt danach aussah. Also blieben sie bei Englisch.
Nach einigen Standarduntersuchungen, einem Urintest und dem Betrachten der Rückenwunde, die Indrahar ein nachdenkliches Brummeln abverlangte, wollte er einen schnellen Bluttest machen lassen. Die Assistentin brachte derweil den Analysebogen des Urins.
»Mister Gul«, rief Indrahar aufgeregt. »Sie haben Dinge in Ihrer Ausscheidung, die definitiv nicht hineingehören: zu viele Salze, Eiweiß und eine leichte Spur von Blut.« Besorgt sah er ihn an. »Kein einziger Wert bewegt sich in der Norm! Da ist mit Antibiotikum nicht viel zu machen. Sie müssen umgehend in ein Krankenhaus, das Sie richtig untersucht.« »Welche Einschätzung haben Sie?«, wollte er wissen.
Indrahar betrachtete die Werte erneut. »Es sind so viele Symptome und Ungereimtheiten, dass ich überfordert bin, Mister Gul«, räumte er ein. »Jede Aussage dazu wäre vorschnell, außer: Sie sind ein sehr, sehr kranker Mann. Sollten Sie nicht bald Hilfe bekommen, werden Sie nicht mehr lange zu leben haben. Nieren und Leber arbeiten nicht so, wie sie sollen. Sie können sich ausmalen, was das bedeutet.«
Saskia sah Will an. »Wir sind auf dem Weg nach Hause. Haben Sie ein Medikament, das ihm Linderung gegen die Schmerzen verschafft?«
»Ihm unter diesen Umständen etwas zu verschreiben, wäre sträflich«, meinte der Arzt bedauernd. Er schaute zum Fenster hinaus, das Unwetter hatte nachgelassen. »Ich verstehe, dass Ihnen die Schmerzen nicht behagen, aber solange ich nicht weiß, was der Grund für diese Werte ist, kann ich nichts verschreiben. Womöglich wäre ich für eine Verschlimmerung oder sogar Ihren Tod verantwortlich.« Er zuckte entschuldigend die Achseln. »Ich gebe Ihnen den Bogen für die Kollegen mit.«
»Was ist mit Morphin?« Wills Hände klammerten sich an die Liege. »Können Sie mir ein, zwei Tabletten überlassen, damit ich etwas habe, bis ich zu Hause angekommen bin?« Indrahar verzog das Gesicht und atmete tief ein. »Nun, zwei Stück kann ich Ihnen überlassen. Es sollte genügen, wenn Sie sich in Deutschland sofort in Behandlung begeben.« Er stellte ein Rezept aus, damit sie mit den Medikamenten durch den Zoll gelangten, und gab es Will. Danach stand der Arzt auf und ging zu einem kleinen Medizinschrank, der stabiler als die restlichen Schränkchen in der Praxis aussah. Er schloss ihn auf, nahm eine Packung heraus und wollte zwei Tabletten aus dem Dispenser reißen. Da stand Will unvermittelt neben ihm und stahl ihm die Packung aus der Hand. »Ich nehme vorsichtshalber alle, Doktor.« »Das geht nicht!« Indrahar griff nach ihm.
Wills Schlag erfolgte derart schnell, dass dem Arzt keine Gelegenheit blieb, der Attacke auszuweichen. Der Handballen traf ihn gegen die Stirn und schleuderte ihn rückwärts gegen die Wand. Bewusstlos sackte er neben dem Safe zusammen. Will bediente sich und suchte auch die restlichen opiatbasierten Medikamente heraus. »Das sollte reichen, bis wir fertig sind«, sagte er. »So viel Zeit haben wir nicht mehr.«
Saskia sah zum Arzt. »Was machen wir mit ihm?«
Will nahm eine der Tabletten, drückte den Sprechknopf und rief die Assistentin herein. »Das Gleiche wie mit ihr.« Kaum war die Tür aufgeschwungen und die Brünette eingetreten, streckte Will sie mit einem Faustschlag nieder und legte sie neben den Arzt. Er fesselte und knebelte sie, zerrte sie in die Teeküche und sperrte ab. »Das genügt als Vorsprung. Bis man sie gefunden hat, sind wir hoffentlich in Syrien.« Die Rettung der Welt setzte neue Maßstäbe, was Recht und Unrecht anging. Sie eilten aus der Praxis und brachten das Schild Closed an - und starrten dann auf den Mann, der zwischen ihren Koffern saß. Einen davon hatte er geöffnet und blätterte völlig selbstverständlich in den Reiseunterlagen.
Er war einen Kopf kleiner als Will, hatte ein dunkelbraunes Auge, das beinahe schwarz erschien, während das andere hellgrau war. Durch den Kontrast funkelte es wie Eis. Der Mann trug schwarze Cargohosen, einen langen Fleece-Sweater und ein dickes Wollsakko darüber. Seine Hände steckten in schmutzigen beigefarbenen Handschuhen, an den Füßen trug er Militärstiefel mit groben Sohlen. Auf den kurzen schwarzen Haaren saß eine dunkle Cordschirmmütze, wie sie von vielen Iren getragen wurde.
»Das sind unsere Koffer«, sagte Saskia. »Legen Sie das sofort wieder zurück, Sir.« Er hob das Gesicht und lächelte. Sie erkannte eine gerade Narbe auf seiner rechten Wange, die von einem Schnitt herrührte. »Sie haben mein Schwert«, sagte er auf Englisch mit irischem Akzent. »Ich hätte es gern wieder.«
Saskias Mund wurde trocken, sie schaute zu Will, der nicht minder verwundert dreinblickte. »Wo ist die Frau, die auf unsere Koffer aufpassen sollte?«
Der Fremde verlor seine Heiterkeit nicht, legte seine Lektüre zurück und hob die Arme kurz an. »Ich weiß es nicht. Als ich hereinkam, war niemand hier.«
Das Rauschen einer Spülung erklang, die Tür zur Toilette schwang auf, und Justine stand im Raum, die Hände mit einem Papierhandtuch beschäftigt. Sie schaute zwischen ihren Freunden und dem Unbekannten hin und her. »Wo kommt der denn her?«
»Das habe ich ihn auch gefragt.« Saskia wusste nicht, was sie mit dem Fremden anfangen sollte. Er wirkte sehr entspannt. »Er behauptet, es wäre sein Schwert.«
»Es ist sein Schwert«, flüsterte Will neben ihr. »Sein Name ist Dominic de Marat.« »Was?« Sie starrte ihn an. »Woher ...?«
»Da hören Sie es«, sagte Marat zufrieden und zugleich verwundert. »Schön, dass Ihr Freund meiner Meinung ist. Auch wenn ich keine Ahnung habe, woher wir uns kennen.« Langsam erhob er sich. Ein Schatten legte sich auf sein Gesicht und ließ es bedrohlich wirken. »Wo ist es?«
Justine begab sich an Saskias Seite und zog eines ihrer Keramikmesser, die sie sich während des Aufenthalts hier gekauft hatte. »Wir haben andere Pläne damit.«
Marat legte einen Arm auf den Rücken, einen Fuß stellte er leicht nach vorn, so dass die Zehen auf sie zeigten. Saskia dachte sofort an die Fechtergrundstellung. »Das kann ich mir gut vorstellen. Aber da wir uns nun getroffen haben ...« Er beließ es bei der Andeutung und lächelte wieder. Dieses Mal konnte man Angst davor haben.
Die neutrale Ausruferstimme verlangte von den Passagieren nach London, unverzüglich an Bord der Maschine zu gehen.
Marat trat plötzlich einen Schritt vor - und Saskia rief ihre Gabe zu Hilfe. Dieses Mal kamen die Anwendung ihrer Macht, der Perspektivwechsel und der schier unerträglich intensive EssigBittermandelgeschmack samt Atemnot synchron, es gab keine Vorlaufzeit. Sie wollte Marat in Stücken vor sich sehen, wenn er unbedingt darauf bestand, sie anzugreifen.
Doch was sie erreichte, überraschte alle, Marat mit eingeschlossen.
Sie sahen zu, wie er von etwas Unsichtbarem getroffen wurde, eine Böe brachte seine Kleider zum Wehen und riss ihm die Mütze vom Kopf. Gleichzeitig schrie er auf, sein Kiefer hängte sich mit einem Knacken aus, und lange Reißzähne wurden sichtbar. Das Schwarz seiner Haare verwandelte sich in Kupferrot, die falsche Farbe lief ihm wie dunkle Tinte übers Gesicht und machte seinen Anblick noch unheimlicher.
Kreischend sank er auf die Knie und hob die Arme zur Abwehr, doch es nützte ihm nichts. Aus seinen Händen wurden Klauen, die Nägel wuchsen und wurden spitz, gleichzeitig verformte sich knirschend sein Gesicht - und nahm die Züge einer Frau an!
Justine sprang zu ihm, stieß ihm das Messer ins Herz und drehte den Griff. Die Keramikklinge brach ab und blieb stecken.
Marat heulte auf und schlug nach ihr, Justine wich aus und trat ihm ins Gesicht. Er kippte zur Seite und schien sich auf einmal aufzulösen! Seine Kleider fielen herab.
»Ha!« Justine sah triumphierend zu Will und Saskia. »Keramik ist so gut wie ein Pflock! Wer hätte das gedacht?«
»Und was ist das!«, rief Will erschrocken - denn zwischen den Kleidungsstücken lag das Klingenstück!
Unbemerkt erschien eine durchsichtige Gestalt hinter Justines Rücken, die den Mund weit zum Biss geöffnet hatte. Die Fangzähne waren so lang wie der kleine Finger eines Erwachsenen und würden schreckliche Wunden reißen.
»Nein!« Saskia setzte ihre Macht ein weiteres Mal ein - und traf. Marat brüllte und wurde sichtbar. Justine schlug sofort mit dem abgebrochenen Messergriff zu, gegen seine Schläfe. Das Holz riss die Haut auf und blieb im Schädelknochen stecken.
Der Vampir wankte nicht einmal unter dem Hieb. Aber anstatt selbst zu attackieren, stieß er einen gellenden Schrei aus und fasste sich mit der Linken ins Gesicht, das sich wieder veränderte. Es war in ständiger Bewegung, die verschiedenen Partien fluktuierten, als könnten sie sich nicht entscheiden, was sie sein wollten.
»Merde!« Justine wich zurück. »Was hast du getan?«
Will nahm Saskia bei der Hand und rannte los, Justine folgte ihnen. Sie hetzten quer durch den Flughafen zu ihrem Gate und gelangten gerade noch rechtzeitig in ihre Maschine. Keuchend warfen sie sich in die Sitze, und Will erkannte die vielen Fragen in den Augen seiner Mitstreiterinnen. »Nicht hier«, sagte er nur schwer atmend und bemerkte, dass das Morphin seine Wirkung tat. Er spürte keinerlei Schmerzen.
»Wer ist Marat?« Saskia klang aufgeregt. »Will, woher kennst du jetzt auf einmal Vampire?« »Ich habe ihn in meiner Vision gesehen. Aber nicht in Venedig. Vor ihm wurde das Schwert verborgen.« Er dachte nach. »Nein, nicht vor ihm direkt. Vor einem seiner Vorfahren, glaube ich. Sie können nicht übers Wasser.«
»Nicht übers Wasser? Merde, Will, Irland ist eine Insel, und drumherum ist nichts als Wasser!«, brach es aus Justine hervor. »Wie soll er denn ...?«
Die Stewardess tauchte neben ihnen auf und bat sie, die Sicherheitsgurte anzulegen. »Wir reden später«, sagte Will und starrte auf die Kopfstütze des Vordermanns. »Gut, dass Sie sich melden«, begrüßte die Stimme des Informanten Levantin aus dem Lautsprecher des Telefons. »Es gibt ein kleineres ... Problem.«
»Dann schaffen wir es aus dieser Welt«, erklärte Levantin ruhig. Aber er war bereit, darüber hinwegzusehen; seine Begegnung mit der kleinen Bestie hatte seine Laune beträchtlich verbessert. Er konnte gut verstehen, warum Belua sie mit seinem Zeichen an sich gebunden hatte. Auch er hegte seit langer Zeit eine Vorliebe für die Wandelwesen dieser Welt, in der er festsaß aber diese Justine war wirklich einzigartig. Und nicht nur im Bett; ob sie das jemals begreifen würde? Denn letztendlich klebte der Makel des Menschseins an ihr wie an all den anderen Frauen, die er im Lauf der Jahrhunderte gekannt hatte. »Also, sprechen Sie.«
»Die Observation des Nonnenordens gestaltet sich doch etwas schwieriger, als wir angenommen haben«, erklärte der Mann. »Wir haben nun den Kontakt zu unserem dritten Team verloren. Es scheint so, als wüssten diese Frauen, dass wir sie verfolgen, und hätten entsprechende Schritte eingeleitet.«
Levantin dachte an die Nonne, die er vor langer Zeit geschont hatte, an die fette Frau Resikowa, der er aus einem Anflug von Mitleid heraus hatte helfen wollen. Niedere Kreaturen. »Dann schaffen wir das Problem aus dieser Welt«, wiederholte er gelassen.
16. November
Syrien, Al-Ladhiqiyah (Latakia)
Die Überfahrt nach Syrien erfolgte mit mehreren Fischerbooten und verlief reibungslos, Justines Kontakte hatten alles organisiert: Auf hoher See stiegen sie mehrmals um und näherten sich unauffällig und ohne Kontrollen ihrem Ziel. Nur Saskia wurde ständig mit feindseligen Blicken bedacht. Sie schwieg und ertrug es, um durch eine Erwiderung nicht noch Schlimmeres auszulösen.
Auf dem letzten Boot bekamen sie Pistolen überreicht, die Justine erst einmal routiniert zerlegte, säuberte und danach wieder zusammensetzte.
Will berichtete ihnen unterwegs noch einmal ausführlich -und diesmal kein Detail aussparend von seinen neuen Visionen und woher er wusste, wer Marat war. Als er den Dolch mit dem eingebrannten Zeichen auf dem Griff erwähnte, verlor Saskia die Gesichtsfarbe. »Der Seegang«, sagte sie schnell, weil sie befürchtete, sich zu verraten. Aber Will spürte ohnehin, dass sie log - und Justine wusste es: »Ich habe den Dolch gesehen, als ich bei dir in der Wohnung war. Drei gekreuzte Dolchpaare, eins oben, die anderen beiden darunter.« Will sah Saskia abwartend an.
Sie wurde noch bleicher. »Aber was ...«, sagte sie erschrocken, »... was soll ich denn mit Vampiren zu tun haben? Vielleicht hast du das Zeichen in Wills Vision gesehen?« »Wie sollte das gehen?«, wollte er gereizt wissen.
»Saskia, niemand macht dir einen Vorwurf«, sagte Justine vorsichtig, die nicht riskieren wollte, dass ihre Gemeinschaft einen weiteren Sprung bekam. »Warum sagst du uns nicht einfach, was das für ein Zeichen ist?«
»Es war das Wappen meines Vorfahren ...« Saskia stockte. Sie hatte gehofft, nicht näher darauf eingehen zu müssen, doch die Ablenkung hatte nicht funktioniert. Dabei stimmte es: Sie war sich sicher, selbst einen Ausläufer von Wills Vision vom alten Venedig gefühlt zu haben. »Tut mir leid, aber ich wollte einfach nicht, dass es eine Beziehung zwischen diesen ... diesen Monstern und meiner Familie gibt. Und es gibt auch keine!«, fügte sie trotzig hinzu. »Es ist ein Zufall.«
Justine sah sie verständnisvoll an. »Niemand hier verurteilt dich - und glaub mir, es ist nicht schlimmer, einen Vampir in der Familie zu haben, als ...«
»... als mit einer Werwölfin durch die Gegend zu ziehen?«, vollendete Will den Satz trocken. Justine rollte mit den Augen. »C'est ca! Aber du darfst nicht anfangen, uns Dinge zu verschweigen. Wer etwas für sich behält, bringt alle anderen in Gefahr.« Kaum hatte sie es ausgesprochen, überfiel sie ein Anflug von schlechtem Gewissen, denn sie musste an Levantin denken. Aber Justine hatte im Laufe ihres Lebens gelernt, sich Gefühle nur dann anmerken zu lassen, wenn sie es wollte.
»Der Name meines Vorfahren war Frans Hohentgar«, murmelte Saskia und fuhr dann lauter fort: »Er reiste viel, war Söldner und Fechtlehrer an den verschiedenen Höfen der Edelleute im siebzehnten Jahrhundert.«
Justine schaute zur Kabinentür. Von draußen war die Unterhaltung der Fischer zu vernehmen. »Ich begegnete Marat irgendwann im ... ich schätze, achtzehnten Jahrhundert«, grübelte Will. »Er könnte ein Schüler deines Vorfahren gewesen sein. Vielleicht hat er ihn umgebracht und ihm den Dolch gestohlen? Nur, wie ist er dann wieder bei deiner Familie gelandet? Das wäre schon ein ziemlicher Zufall.«
»Es geht nicht um Zufälle - es geht darum, dass Saskia eine Beziehung zu diesem Zeichen hat.« Justine rieb die Pistolen mit einem Tuch ab und betrachtete die Oberflächen. »Und es wird einen Grund geben, weswegen du ausgerechnet diese Vision hattest. Sie haben bislang immer einen Zusammenhang zwischen den Artefakten und ihren Besitzern hergestellt, und zwar zu entscheidenden Momenten in der Geschichte der Artefakte.« Sie sah Will an. »Bist du sicher, dass dieser Dolch nicht dazugehört? Zu den Artefakten?«
»Ganz sicher. Sonst hätte ich ihn in Venedig sehen müssen.«
Justine streckte ihm die Hand entgegen. »Gib mir das Satellitentelefon. Ich rufe noch einmal bei den Schwestern an. Vielleicht können sie uns etwas über Dominic de Marat sagen.« Sie lauschte auf das elektronische Klickern, während die Nummer gewählt wurde. »Vielleicht haben die Schwestern auch schon einen Hinweis darauf, wer... der Maitre ist.« Sie lauschte, drückte die Wahlwiederholung, wartete noch einmal. Schließlich streckte sie Will das Gerät wieder entgegen. »Scheinbar haben wir hier keinen Empfang.«
Er sah sie irritiert an. »Das ist ein Satellitentelefon, Justine, damit hat man überall Empfang.« Ohne Vorwarnung schleuderte sie es ihm entgegen; er konnte es gerade noch rechtzeitig auffangen.
»Bist du wahnsinnig geworden?«, rief Will erschrocken.
»Wenn das Ding funktionieren würde, hätte ich ein Freizeichen bekommen müssen - aber es gab gar nichts, nur ein Rauschen!«, fauchte sie ihn an und widmete sich wieder der Waffe. Ihre Anspannung war ihr deutlich anzumerken.
Will drückte die Speichertaste, über die er den Sir erreichen konnte. Ein regelmäßiges Tuten zeigte ihm an, dass die Verbindung hergestellt war, auch wenn sein Auftraggeber das Gespräch wieder einmal nicht annahm. Doch das sagte er Justine im Moment lieber nicht. Saskia hing ihren eigenen Gedanken nach. Marat war aufgetaucht, weil er zu einem früheren Zeitpunkt das Schwert besessen hatte, und der Mann, in den Will eingefahren war, verfügte über den Zahn. Sie fand es merkwürdig, dass ihr Familienwappen in diesem Zusammenhang erschien. Justine hatte recht, das konnte kein Zufall sein. Sie würde nach den Kindern des Judas suchen und recherchieren.
Die Rufe wurden lauter, dann stieß der Kahn gegen etwas Massives. Durch die schmalen, verkrusteten Bullaugen sahen sie, dass sie im Hafen von Al-Ladhiqiyah angekommen waren. Gleich darauf wurden sie an Deck geholt, sie huschten nacheinander von Bord und tauchten in die Gassen der Stadt ein. In Syrien war es heiß und staubig, das genaue Gegenteil ihres russischen Abenteuers. Die drei schwitzten sofort.
Auf ihrem Weg durch die Sträßchen kauften sie sich einheimische Kleidung. Sie wollten sie bei der Suche nach dem Pergament tragen, um nicht auf einhundert Meter als Ausländer erkannt zu werden. Mit Kopftuch und Sonnenbrille fielen sie kaum mehr auf, außerdem half die einheimische Tracht gegen die Hitze. Zum Glück fanden sie auch schnell ein kleines Hotel, das mit englischsprachigem Personal warb. Fremde Devisen, vor allem Euro, waren in Syrien willkommen.
Nachdem sie sich geduscht hatten - eine Wohltat nach der langen Reise -, setzten sie sich in Saskias und Justines Zimmer zusammen, um das weitere Vorgehen zu beratschlagen. Auf dem Tisch lagen die Saiten und das Schwert.
»Ich werde versuchen, über sie eine Verbindung zum Pergament herzustellen«, sagte Will und legte seine Hände auf die Gegenstände. »Da sie alle Teil der gleichen Kreatur waren, sollte es mir ...« Er unterdrückte einen Schrei, der zu einem lauten Stöhnen wurde; die Augen wurden trüb, und seine Atmung beschleunigte sich.
»Hat er eine Vision?« Justine blickte zu Saskia. »Sieht irgendwie anders aus als in Irland ...« Aus Wills leicht geöffnetem Mund drang noch immer ein Stöhnen, das dunkler und dunkler wurde, vergleichbar mit einem sehr tiefen Hornton. Schwarzrotes Blut sickerte aus seinem rechten Mundwinkel. Aus den Augen sprangen schwarze Tränen, die ihm über die Wangen rollten und auf die Tischoberfläche tropften.
»Will!«, rief Saskia entsetzt. »Will, was ist mit dir?«
Justine hörte das Knistern und schaute zur Wand. Der Putz darauf zeigte Risse, kleine Stückchen brachen heraus und fielen auf den Boden. Auch die Mauer darunter hatte Sprünge bekommen, die Backsteine platzten auseinander. »Sacre enfer«, murmelte sie fassungslos. »Sein Blick ist...«
Wills Finger krampften sich noch fester um die Artefakte, doch der Strom der Tränen versiegte allmählich. »Es ist ein Mann, der das Pergament bei sich hat«, sagte er undeutlich. »Er ist auf dem Rückweg von der Ruinenstadt. Ich sehe, dass er gestohlene Gegenstände bei sich hat... eine Vase, zwei Schmuckstücke.« Er schluckte und hustete, das Blut sprühte auf den Tisch. »Ich sehe ein Geschäft ... es heißt ... Wunderlampe. Er
betritt den Laden und stellt sich hinter den Tresen ... Es ist sein Laden ...« Will schloss die Augen und lehnte sich zurück, seine Hände gaben die Artefakte frei.
»Ein Grabräuber. Wir suchen einen Plünderer«, verkündete er erschöpft. »Er benutzt die Macht des Pergaments zum Aufstöbern von antiken Gegenständen.« Er sah betroffen auf seine feuchten schwarzen Finger und bemerkte nun erst sein Blut auf dem Tisch.
Saskia reichte ihm eine Packung Taschentücher. »Tut es weh?«
Er schüttelte den Kopf. Ein Teil seines Verstands schien noch in der Vision zu hängen und sich nur langsam zu lösen.
»Dann ist er jetzt im Laden? Hier in Al-Ladhiqiyah?« Saskia betrachtete ihn gespannt. Will erhob sich, ging zum Waschbecken, schüttete sich Wasser ins Gesicht und betrachtete, wie das verdünnte Blut durch den Ausguss rann. »Nicht hier. In der Nähe von Tudmur. Ich erkenne die Stadt, wenn ich sie sehe«, sagte er dumpf und trocknete sich das Gesicht ab. Er warf das Handtuch neben sich auf den Boden und ging zur Tür. »Wir treffen uns in zehn Minuten in der Lobby. Ich ziehe mir die anderen Sachen an.« Laut schlug er die Tür hinter sich zu. »Er bekommt seine Visionen nun also wirklich immer, ohne dass du ihn anfasst«, sagte Justine nachdenklich, steckte die Pistolen ein und warf sich eines der weißen Gewänder über. »Er entwickelt seine Gabe sehr schnell weiter. Du auch?«
»Es fällt mir immer leichter«, bestätigte Saskia und zog sich ebenfalls um. Sie sah die Französin an und musste lachen. »Scheiße, wir sehen jetzt aus wie verkleidete Touristen.« Justine grinste. »Aber wir sind bewaffnete, verkleidete Touristen. Das ist ein großer Unterschied und wird uns einige Probleme ersparen.« Sie steckte die Haare ein, Saskia nahm das Schwert und verbarg es unter ihrem weiten Kleid. »Vas-y.«
Sie nahmen in der Lobby neben einem kleinen Springbrunnen Platz und warteten auf Wills Ankunft. Saskia nutzte die Gelegenheit und ging zum Rezeptionisten, um die Gebühr für einen Internetzugang am Kunden-PC neben dem Eingang zu bezahlen. Zuallererst prüfte sie die Lage in Hamburg. Die Pest war eingedämmt, doch die Ärzte mussten eine Reihe Todesfälle einräumen. Noch immer standen sie dem Bakterienstamm hilflos gegenüber. Mehr gab es nicht, was sie interessierte.
Also surfte Saskia durchs Netz und machte sich auf Informationssuche. Als sie Kinder des Judas eingab, entdeckte sie auf obskuren Websites zahlreiche Verweise auf Vampire mit besonderen Merkmalen: rote Haare, ein Biss, der zu totalem, schlagartigem Blutverlust des Opfers führte und es sofort tötete. All das passte sowohl zu Marat als auch zu Smyle. Sie markierten ihre Beute mit drei X, lateinisch für dreißig, die Zahl der Münzen, die Judas für seinen Verrat an Jesus bekommen hatte.
»Meine Güte«, flüsterte sie. Erschütternd fand sie, dass die Vampire ihre Existenz nicht einmal verbargen. Man konnte diese Beschreibungen ohne Mühe im Internet finden. Welche Dreistigkeit!
»Quelle merde«, sagte Justine neben ihr. Sie war leise zu ihr getreten, um zu schauen, was Saskia an Neuigkeiten herausgesucht hatte. »Es gibt sie also wirklich.« Sie fluchte anhaltend auf Französisch. »Ich habe eben noch mal versucht, die Schwesternschaft zu erreichen, aber die Leitung ist tot.«
»Wir sind in Syrien. Es können simple technische Probleme sein«, versuchte Saskia sie zu beruhigen. »Sie waren doch die ganze Zeit schwer zu erreichen, oder? Hast du nicht gesagt, dass sie mit irgendetwas Wichtigem beschäftigt waren? Vielleicht ist das ... also ... noch wichtiger geworden?«
Justine erwiderte nichts. Sie konnte Saskia einfach nicht sagen, dass sie den ihr so verhassten Maitre getroffen hatte - und schon gar nicht, was zwischen ihnen geschehen war. Natürlich konnte es wirklich Zufall sein, dass sie - seit Levantin die Schwestern erwähnt hatte - keine Verbindung mehr mit ihnen herstellen konnte, aber ...
»Ich glaube nicht an Zufälle. Darf ich?« Es war natürlich eine rhetorische Frage. Sie schnappte sich die Tastatur und rief im Stehen die Website der Zeitung auf, von der sie wusste, dass sie in Genzano gelesen wurde - und fand dort eine Meldung, die sie bis ins Mark traf: Es hatte eine gewaltige Explosion gegeben, bei der das Kloster bis auf die Grundmauern niedergebrannt war.
Und es gab keine Spur von Überlebenden.
»Non«, flüsterte sie. Ihre Zigarette fiel auf den Boden.
»Scheiße!«, entfuhr es Saskia, die zwar kein Italienisch sprach, aber die Bilder auf der Website richtig interpretierte. »Heißt es das, was ich ...«
»Chut! Halt den Mund, ich muss ...« Sie las, so schnell sie konnte, und mit jedem Wort wurde ihr übler, kälter. Die italienische Polizei ermittelte in alle Richtungen, wie es hieß, schloss einen Unfall jedoch aus. Selbst die Schächte im Berg, die als Museumsarchiv genutzt wurden, seien vollständig ausgebrannt. Die Zahl der Opfer wurde mit siebenundachtzig angegeben, darunter elf Touristen.
Saskia stand vorsichtig auf und drückte Justine dann mit sanfter Gewalt auf den Stuhl. Sie ließ ihre Hände auf den Schultern der Französin liegen, um ihr Trost zu spenden, doch die schüttelte sie unwirsch ab und gab ihr zu verstehen, dass sie alleine sein wollte.
Saskia ging schnell davon. Justine blieb zurück; eine einsame Wölfin. Ihr war zum Schreien, doch der Schock verhinderte einen lauten Ausbruch. Die Bestie in ihr jaulte schmerzlich auf. »Je vais le tuer«, sagte sie kehlig und zerbrach die Tastatur zwischen ihren Händen in zwei Hälften.
Fünkchen zuckten in die Höhe, und die Sicherung unterbrach die Stromzufuhr. Knisternd erlosch der Monitor, und damit verschwanden auch die Bilder des zerstörten Klosters. »Ich werde dich finden«, sagte Justine leise. »Pour cela, tu payeras.«
XX KAPITEL
17. November
Syrien, nahe Tudmur (Palmyra)
Will hatte einen Taxifahrer gefunden, der sie in einem verbeulten und zerkratzten Fiat Panda in Richtung Palmyra fuhr. Dabei spähte er ständig umher, um Ausschau nach etwas zu halten, was er in seiner Vision gesehen hatte. Saskia achtete derweil auf mögliche Verfolger. Zumindest wollte sie das. Aber immer wieder musterte sie die Frau, die neben ihr auf der Rückbank saß, und überlegte, wie sie ihr helfen konnte. Und ob es überhaupt ratsam war, dies zu versuchen. Justine hatte seit der erschütternden Nachricht kein Wort mehr gesprochen. Sie verbarg ihre Augen hinter einer großen Sonnenbrille; hin und wieder musste sie sich mit der Hand über die Wangen fahren, um Tränen verschwinden zu lassen.
Saskia hatte gewusst, dass die Schwesternschaft - oder zumindest einige Nonnen - Justine sehr viel bedeutete. Trotzdem überraschte sie die unerwartet heftige Emotionalität. Mehr noch, sie bereitete ihr große Sorge. Justine hatte ihre Trauer und ihren Schmerz bisher nie in der Öffentlichkeit gezeigt, sie hatte sich stets zurückgezogen, in einen Höhlenersatz. Doch nun hatte der Schmerz, den sie empfand, ihrer Maske einen irreparablen Sprung zugefügt. Will dirigierte sie nach Hamäh und dort zielstrebig durch die Straßen und Gassen, so dass der Fahrer nicht ein einziges Mal anhalten musste. Will schien sich schon wochenlang durch diese Stadt bewegt zu haben, er zeigte nie auch nur einen Anflug von Unsicherheit oder ein kurzes Zögern. Die Vision hatte einen starken, nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Das Taxi hielt gegen Mittag vor einem etwas versteckt liegenden Laden an, auf dem in mehreren Sprachen Wunderlampe geschrieben stand. Darunter warb ein Schild mit echten Antiquitäten, die direkt aus dem untergegangenen Palmyra stammten. Das Gitter war zugezogen, der Inhaber nicht da. Will ließ den Fahrer aussteigen und fragen, wo man ihn fände. Der Mann nickte und machte sich gegen die Zahlung von weiteren zehn Euro auf den Weg. Sie waren allein im Wagen.
Justine zog die Nase hoch, steckte sich eine Zigarette an, entzündete sie, paffte schnell und blies den Rauch aus dem Fenster.
»Du musst mit uns reden, Justine«, sagte Saskia eindringlich. »Sag uns endlich, wen du für die Schuldigen hältst, damit wir etwas unternehmen können.«
»So viele kommen dafür nicht in Frage«, steuerte Will bei, als Justine weiterhin schwieg. »Es waren die Belualiten.«
»Wenn ich das alles richtig verstanden habe, existiert die Schwesternschaft seit langer Zeit«, hielt Saskia dagegen. »Und wenn man bedenkt, mit wem sich allein Justine in ihrem Auftrag schon angelegt hat, muss man davon ausgehen, dass die Nonnen eine ganze Reihe Feinde gehabt haben.«
»Es war der Maitre«, sagte Justine mit dünner Stimme, sah starr aus dem Fenster und rauchte weiter; ihre Hand zitterte. »Ich weiß es.«
Bevor Saskia oder Will auf diese Enthüllung eingehen konnte, kehrte der Taxifahrer zurück und verkündete, dass der Inhaber, Shafiq Barakeh, in Palmyra sei, wo er gewöhnlich um diese Uhrzeit Reisegruppen durch die Ruinenstadt führte. Will bat ihn, sofort loszufahren, und so rauschten sie in dem klapprigen Panda durch die Wüste zu der uralten Metropole. Die Straße dorthin war gut ausgebaut. Touristenmagneten wie Palmyra zogen Geld an, und das konnte ein nicht eben reicher Staat wie Syrien sehr gut gebrauchen. Asphalt wurde zu Gold. Sie schwiegen wieder.
Justine starrte aus dem Fenster. Offensichtlich wollte sie in ihrem Schmerz allein sein und keinen Trost.
Saskia seufzte, kramte in ihrem Rucksack und verteilte Wasserflaschen und Schokoriegel zur Stärkung. Justine nahm beides stumm entgegen; Will bedankte sich ebenfalls nicht. Er spülte wortlos eine Morphintablette mit einem Schluck aus der Flasche hinunter. Seit er sie nahm, bewegte er sich ohne Einschränkung. Der Preis war offenbar, dass er mehr Visionen bekam und sie wesentlich stärker durchlebte. Saskia war aufgefallen, dass er sich während der Fahrt mehrmals an seinem Sitz festklammerte und tonlos die Lippen bewegte, als redete er mit einem Unsichtbaren oder würde ein Gebet sprechen. Wenn sie ihn darauf ansprach, betonte er, dass es ihm gutginge und die Wunde in seinem Rücken ihm keinerlei Schwierigkeiten mehr bereite. Saskia machte sich dennoch Sorgen um ihn - und um seine Kräfte. Was würde geschehen, wenn dieser Blick, der Putz und Steine sprengte, einen Menschen traf? Sie hatte bemerkt, dass er zudem einen merkwürdigen Geruch verströmte, selbst nachdem er frisch geduscht war: sauer, vergoren und stechend. Und das war noch milde ausgedrückt.
Als habe er ihre Gedanken gehört, wandte er sich unvermittelt um. Sie lächelte ihn an - und erschrak, als sie merkte, dass sein Blick auf der Stelle ihres Kaftans ruhte, unter der sich das Schwert befand. Noch immer trachtete er nach dem Artefakt, und das machte ihr Angst. Es wurde Zeit, dass sie ihre Gaben, Flüche, was auch immer, zusammen mit den Artefakten loswurden. Die neuen Fähigkeiten veränderten sie zunehmend. Sie spürte, dass sie sich zu sehr an die Macht gewöhnte, die in ihr schlummerte, und auch Will schien es nicht anders zu gehen. Jedenfalls hatte er sich nicht gewundert oder geschämt oder sonst irgendeine Regung gezeigt, als er die zerstörte Wand gesehen hatte. Für ihn war es bereits so selbstverständlich geworden wie sein inzwischen fast immer arroganter Blick. »Wie finden wir Shafiq Barakeh?«, fragte Saskia ihn, um sich abzulenken und ihn dazu zu bringen, die Augen zu heben. Starrte er nun auf ihren Schoß oder auf das Schwert, das über ihren Beinen unter dem Tuch lag?
»Das ist kein Problem für mich«, bekam sie herablassend zur Antwort. »Dazu benötige ich die Dienste einer Mediatrice nicht. Kümmere du dich darum, dass wir nicht verfolgt werden, und überlass alles andere mir.«
Saskia fasste es nicht: Jetzt wurde er sogar spöttisch!
Will bemerkte, dass er sich im Ton vergriffen hatte, und schien sich in einem Sekundenbruchteil wieder in den freundlichen Mann zu verwandeln, als den sie ihn kennengelernt hatte. Dieses Unstete wusste sie nicht zu deuten.
»Entschuldige«, sagte er zerknirscht. »Es war nicht so gemeint. Das Morphin macht mich etwas ... überheblich.«
»Schon vergessen«, murmelte Saskia.
Dann sah er Justine an und fragte mit sanfter Stimme: »Wie kommst du darauf, dass es der Maitre war, der den Nonnen das angetan hat? Was ist mit den Dämonenanbetern?« »Oder dem Sir?«, entschlüpfte es Saskia.
Will sah sie verblüfft an. »Der Sir?«
»Naja, wir wissen nichts über ihn«, verteidigte sie ihren Einwurf. »Wir wissen nicht einmal, wo er steckt. Warum sollte er Mitwisser nicht ausschalten wollen?«
»Nein. Das würde er nicht tun«, sagte er heftig und wollte aufbrausen, atmete tief ein und aus, bis er weniger laut, aber überzeugt fortfuhr: »Ich will ihn nicht in Schutz nehmen, ich kenne ihn nicht einmal persönlich, aber...« Er dachte kurz nach. »Vergiss es. Er kann es ebenso gewesen sein wie alle anderen, die hinter den Gegenständen her sind.«
»Es war der Maitre«, beharrte Justine und sah aus dem Fenster.
Danach herrschte wieder Schweigen im Auto, bis ihr Fahrer Will einen abgegriffenen Touristenführer hinhielt. Will gab ihn weiter an Saskia, die ihn aufschlug und laut vorlas. »Etwa seit dem Jahr 1900 wird das antike Palmyra, vor allem die Bauten aus der Kaiserzeit, methodisch freigelegt. Die Hauptachse der Stadt bildet eine über einen Kilometer lange, elf Meter breite, von hohen Kolonnaden aus korinthischen Säulen gesäumte Prachtstraße aus dem frühen dritten Jahrhundert.« Sie schaute nach vorn, wo die Ausgrabungsstätte zu sehen war. Die Mauern waren schon jetzt ein beeindruckender Anblick.
»Der einzige Knick der Straße wird von einer dreibogigen Toranlage, dem Tetrapylon, angezeigt. An der Straße liegt das Theater, in dem noch immer Aufführungen stattfinden. Daneben liegt der Handelsplatz mit der Karawanserei. Im Ostteil der Stadt stand der geweihte Baal-Tempel auf einem ausgedehnten, von Säulenhallen und Propyläen umgebenen Platz. Zudem wurden ein späterer Baal-Schamin-Tempel, ein Nabu-Tempel und verschiedene andere Heiligtümer ausgegraben. In der nordwestlichen Nachbarschaft der Stadt wurden zahlreiche Grabbauten in Tempel- und Turmform sowie unterirdische Grabanlagen mit reichen Beigaben gefunden.«
Saskia blickte nach vorne, wo Palmyras Reste sich vor ihnen ausbreiteten. Vor der grünenden Oasenstadt erhoben sich die Ruinen aus einer uralten, vergangenen Zeit. Eine Stadt von hoher Bedeutung, ein Schmelztiegel und Machtzentrum, das im zweiten Jahrtausend vor Christus schon besiedelt war.
Sie bemerkte, dass auch Willrich von dem Anblick nicht losreißen konnte. Jetzt beneidete sie ihn fast um seine Visionen; er konnte wirklich durch die Zeit reisen und sich die bedeutungsvollen Stätten oder entscheidenden Momente der menschlichen Geschichte betrachten. Einige Stunden oder Tage in einer antiken Welt zu leben, nicht nur majestätische Überreste, sondern die Originale als intakte Bauwerke zu sehen - das wäre sicherlich einmalig und unvergleichlich. Es musste ja für sie nicht gleich das pestverseuchte Venedig sein.
Ihr Fahrer steuerte auf den Parkplatz und hielt an. Sie gaben ihm wieder eine kleine Anzahlung und versprachen weitere Euros, wenn er auf sie wartete. Er nickte.
Justine, Saskia und Will stiegen aus und waren sofort von einheimischen Kindern umringt, die ihnen lauthals Souvenirs, Snacks und Getränke anboten. »Achtet auf eure Geldbeutel.« Will herrschte die Meute in einer unbekannten Sprache an und scheuchte sie mit hektischen Bewegungen weg; die Kinder wichen auf der Stelle vor ihm zurück und wagten sich nicht mehr näher heran.
»Du kannst Arabisch?«, fragte Justine erstaunt. Wills Ausbruch hatte sie aus ihrer Lethargie gerissen. »Oder was war das für eine Sprache?«
»Keine Ahnung. Die Worte kamen mir einfach so in den Sinn«, antwortete er ohne das leiseste Anzeichen von Erstaunen und ging auf das Kassenhäuschen zu, um den Obolus für das Betreten der antiken Stadt zu entrichten. Es war wieder dieser Tonfall gewesen: herrisch, maßregelnd, abkanzelnd.
Gemeinsam passierten die drei die Kontrollen. Saskia und Justine bemerkten jede Menge Touristen, die sich in kleinen und großen Gruppen bewegten. Einige Einzelgänger streiften auf eigene Faust durch die Ausgrabungen. In unregelmäßigen Abständen standen Soldaten der syrischen Armee Wache.
»Der Mann an der Kasse sagte, dass Barakeh eine Gruppe Amerikaner führt«, teilte ihnen Will mit. »Er sei um diese Zeit bei der Nekropole außerhalb der Stadtmauern. Nordwestlich.« Er zeigte in die Richtung, wo sich ein Hügel und ein Turm erhoben.
»Wann schnappen wir ihn uns?« Justine schaute in die Sonne und rückte die dunkle Brille zurecht. »Ich bin für sofort. Warum zögern?«
»Nun ...« Saskia sah zu den bewaffneten Männern.
»Sie werden nichts merken.« Will sagte es dahin, als seien die Soldaten nicht mehr als ein harmloses Hindernis. »Sie können mir ... sie können uns nichts entgegensetzen.« Er ging los, und die Frauen folgten ihm durch den Sand.
Die turmartigen Bauten, in denen die Bewohner des längst untergegangenen Palmyra ihre Toten bestattet hatten, rückten näher. Die drei kamen an verschiedenen Ausgrabungsstellen vorbei, erklommen den Hügel und sahen endlich ein Grüppchen Touristen vor einem der Bestattungstürme, das sich um einen Mann mit dunkler Hautfarbe scharte. Sie waren etwa zwanzig Meter entfernt und standen etwas unterhalb von ihnen. Saskia nahm an, dass es sich um Amerikaner handelte. Die fünf hochgewachsenen Männer, die Baseballcaps, dicke Turnschuhe und seltsame Shorts trugen, waren allesamt über zwei Meter groß und erinnerten sie an eine Gruppe Basketballspieler, die vor einigen Monaten im Bon Goût eingefallen waren. Justine schüttelte ihre letzte Zigarette aus der Schachtel. »Ich hoffe, dass er das Pergament dabeihat.« Sie lud ihre Pistolen durch und achtete darauf, dass niemand die Waffen sah. »Wieso haben wir uns das eigentlich nicht früher gefragt? Wir hätten den Laden ohne weiteres durchsuchen können!«, merkte Saskia an und ärgerte sich, dass sie in Hamäh nicht daran gedacht hatte.
»Er hat es dabei.« Will setzte sich in den Schatten, legte die Beine im Schneidersitz übereinander und hob den Kopf. »Ihr werdet es gleich sehen.« Er atmete tief ein - und sprach mit veränderter Stimme: »Geliebte! Möge der Mond über dich wachen, mögen die Sterne dir den Weg leuchten, der dich zu mir führt.«
Es war ein Gedicht, das er da rezitierte, und wenn sie genau hinhörte, glaubte sie, es nicht nur auf Deutsch zu vernehmen, sondern eine zweite Sprache leise mitflüstern zu hören. Die gleiche Sprache, in der er vorhin die Kinder angefahren hatte. Sie wagte nicht, ihn anzusprechen und zu fragen. Eine Windböe umspielte die drei und bildete für Sekunden eine Sandhose, in deren Auge sie sich befanden, alsdann legte sie sich wieder. Leise rieselnd landeten die Sandkörner auf der Erde.
Ein paar Amerikaner waren auf das Schauspiel aufmerksam geworden und hatten die Fotoapparate gehoben. Saskia spürte ein Ziehen im Nacken, das den Rücken nach unten und gleichzeitig nach oben über die Kopfhaut wanderte. In ihrem Mund schmeckte es leicht nach Bittermandel: Ihre Gabe aktivierte sich. Und es machte beinahe den Eindruck, als sei Will dieses Mal der Mediateur, der die Dinge in Gang setzte, nicht sie!
Justine hielt die Pistolen in den Händen, ihre Arme hingen locker herab. Sie wartete auf ihren Einsatz und darauf, sich Shafiq schnappen zu können.
Will setzte seinen Singsang fort. »Entgehe dem Dolch der falschen Freundin und kehre keinem den Rücken. Sie wollen unsere Liebe vernichten, sie wollen unsere Herzen versteinern. Nichts soll von uns bleiben. Doch damit machen sie uns umso stärker.«
Die Böe kehrte zurück, viel stärker diesmal und mit einem merkwürdigen, brüllenden Geräusch; sie fegte über sie hinweg und brachte ihre Kleidung zum Flattern, dann jagte sie den Hang hinab und warf sich gegen die Amerikaner! Die Frauen in der Gruppe schrien vor Überraschung auf, einige hielten ihre Hüte fest, andere verbargen die Kameras zum Schutz vor dem heranfliegenden Sand unter der Kleidung.
Saskia bemerkte, dass sich der Himmel über der Nekropole verfinsterte und die Nacht nach Palmyra trug, obgleich es höchstens sechzehn Uhr Ortszeit war. Blitze zuckten von der Turmspitze nach oben in die schwarzen Wolken. Prompt leuchtete es darin auf, und ein anhaltendes Grollen erklang aus der Finsternis.
»Will!« Saskia kniete sich neben ihn und packte ihn an der Schulter. »Will, was tust du?« »Er sucht das Pergament.« Justine zeigte mit einer Pistole auf die Gruppe, und Saskia schaute hinab.
Der Reiseführer starrte auf seine linke Beintasche, in der ein goldener Stern aufgegangen zu sein schien. Etwas darin funkelte derart gleißend, dass Stoff und Fleisch von der Hüfte bis zum Unterschenkel durchsichtig wurden; man erkannte problemlos Adern und Knochen. Die Touristen wichen vor ihrem Führer zurück, filmten und fotografierten dabei aber unaufhörlich, um das ungewöhnliche Schauspiel zu dokumentieren.
Shafiq schien keine Schmerzen zu verspüren. Er überwand endlich seine Starre und bückte sich, um den Gegenstand, der das Strahlen verursachte, herauszunehmen. Es war ... ein zusammengefaltetes Stück Papier, das er in einem Klarsichtbeutel aufbewahrte. Jetzt wurden seine Arme bis zu den Ellbogen durchscheinend, wie auf einem Röntgenschirm.
Shafiq hielt das Beutelchen unschlüssig in seinen Fingern, sah zum Turm, aus dessen Spitze noch immer Blitze zuckten, die finsteren Wolken penetrierten und im wahrsten Sinne des Wortes das Unwetter aufstachelten.
»Ich hole es«, sagte Justine und stürmte den Hügel hinab.
»Nein, warte!« Saskia sprang auf, während Will weiter rezitierte: »Und töten sie uns« Jetzt wurde der Bittermandelgeschmack zu stark. Saskia musste sich von einer Sekundre auf die andere übergeben. Das war ihr schon lange nicht mehr passiert! Die Gabe sammelte sich in ihrer stärksten Form, um ihrer Trägerin Beistand leisten zu können. Aus irgendeinem Grund bestand in Palmyra allerhöchste Gefahr.
Shafiq sah die grimmig blickende Justine durch den Sturm auf sich zukommen, bemerkte die beiden Pistolen und drehte sich um. Er flüchtete sich in den Turm.
»sind wir bei den Toten glücklicher als bei«
Saskia hatte das Gefühl, dass dieses Gedicht nicht bis zum Schluss vorgetragen werden durfte. »Will, nein«, schrie sie und schüttelte ihn an den Schultern. Aber seine braunen Augen sahen verzückt an ihr vorbei. Wieder trat dunkles Blut aus Mund und Tränenkanälen.
»den Lebenden.«
Saskia spürte es kommen. Sie warf sich auf den Boden - gerade noch rechtzeitig, denn einen Sekundenbruchteil später flutete ein gewaltiger Stoß unsichtbare Energie aus seinen Augen über sie hinweg, geradewegs auf die Gruppe Touristen zu! Der Sand spritzte hoch, als wäre er Wasser. »Justine!«, brüllte Saskia. Die Französin rettete sich mit einem Satz aus der Gefahrenzone und drückte sich an die Turmwand.
Als Wills Macht die Menschen traf, erinnerte die Wirkung fatal an die einer Atombombe: Kleidung stand plötzlich in Flammen, dann schmolz das Fleisch und fiel von den Knochen; schließlich wirbelten Asche und Knochenfragmente davon. All das geschah innerhalb dreier Herzschläge; die Amerikaner hatten nicht einmal die Gelegenheit bekommen, ihre Schmerzen hinauszuschreien, zu schnell war das schreckliche Ende über sie gekommen.
»Mein Gott«, war alles, was Saskia über die sandigen Lippen brachte.
Will hatte sich erhoben, stieg mit einem Lachen über sie hinweg und ging in aller Ruhe den Hügel hinab, genau auf den Turm zu, in dem sich Shafiq verbarg.
»Was soll ich machen?«, schrie Justine Saskia zu, die sich aus dem Sand stemmte. »Folge ihm!« Sie rannte den Hügel hinab und sah dabei, wie zuerst Will und danach die Französin in dem Bestattungsturm verschwanden. Der nun überall um sie herum tobende Wüstensturm brachte sie mehrmals aus dem Gleichgewicht. Sie brauchte ihrem Empfinden nach unendlich lange, bis sie endlich durch den Eingang trat.
Die plötzliche Ruhe im Gebäude überfiel sie, bereitete ihr weiteres Unbehagen. Mit zitternden Knien ging Saskia weiter hinein und rieb sich die Augen.
»Justine? Will?«, brüllte sie dabei, um das Tosen des Sturms zu übertönen. Im Turm klang es mehr nach einem anhaltenden Donnern, als stünde sie neben einer Kaskade, die sich aus vielen Metern Höhe in ein Bassin ergoss.
Saskia sah sich im trüben Halblicht um, ohne einen von ihren Mitstreitern oder Shafiq ausmachen zu können. »Wo seid ihr?«
Eine Faust traf sie an der rechten Wange, sie wurde zur Seite geschleudert und musste sich an der Wand abstützen.
Vor ihr stand der Grabräuber und hielt eine Pistole auf ihr Gesicht gerichtet!
»Wer seid ihr?«, schrie er auf Englisch. Er wirkte verängstigt und bebte, ständig sah er sich um. »Los! Wer seid ihr?« In der anderen Hand hielt er das Pergament, auf dem Zeilen silbrig leuchteten. Will hatte es durch sein Rezitieren zum Leben erweckt und vermutlich noch viel Schlimmeres angerichtet.
»Wir suchen Sie, Barakeh«, gestand Saskia. »Sie befinden sich in großer Gefahr!« Langsam zeigte sie auf das Blatt. »Darin steckt eine Kraft, die Sie töten kann.«
»Wie die Amerikaner da draußen?« Shafiq schluckte. »Machen Sie, dass es aufhört!« »Das kann ich nicht.« { »Was wollen Sie dann von mir?«
»Geben Sie mir das Pergament. Ich muss es untersuchen, und danach«, betonte Saskia, »kann ich vielleicht etwas ausrichten.«
Ein Zittern lief durch den Turm, der Sturm rüttelte an dem uralten Monument. Steinchen und Mörtelstücke fielen herab und trafen Saskia schmerzhaft an der Schulter.
»Bitte«, sagte sie eindringlich, »geben Sie es mir, bevor alles einbricht und wir lebendig begraben werden!« Sie streckte vorsichtig die Hand aus. Ihre Gabe hatte sich vollkommen aufgeladen und wartete nur darauf, etwas auslösen oder beenden zu können. Sie würde sie gleich einsetzen, um die entfesselte Macht des Pergaments einzudämmen und weitere Katastrophen zu verhindern - auch wenn sie noch nicht die geringste Idee hatte, wie sie das tun sollte.
Shafiq betrachtete sie, sah gehetzt um sich und sprach etwas auf Arabisch. Da es sich monoton wiederholte und mehrmals allähu akbar fiel, nahm Saskia an, dass es sich um ein Gebet handelte. Und trotzdem hatte er den Arm mit der Waffe immer noch nicht gesenkt. Der sandige Boden unter ihnen geriet in Bewegung, hob und senkte sich sanft, als würde Wasser darunter fließen und nach oben dringen wollen. Beide mussten sich anstrengen, die Balance nicht zu verlieren.
»Mister Barakeh, bitte!«, rief sie laut. »Ich weiß nicht, wie viel Zeit uns noch bleibt, um ...« Mannsgroße Sandfontänen spritzten um sie herum in die Höhe. Feine Körner stachen in Saskias Augen, und sie musste die Lider schließen. Dann wurde sie auf einmal nach oben katapultiert und stürzte gleich darauf in den weichen Sand zurück.
Sie hörte Shafiqs Schreie, er schoss mehrmals auf irgendjemanden, dann klickte es hohl, das Magazin war leer. »Justine? Will?«
Der Plünderer hörte nicht mehr auf, vor Entsetzen zu schreien.
Saskia gelang es endlich, sich die Augen freizureiben und nach dem Mann zu schauen: Die Welt hatte sich verändert. Der Raum, in dem sie sich befand, war zweidimensional und in ein vielschichtiges Grau getaucht. Doch dadurch konnte Saskia umso besser erkennen, dass Shafiq umzingelt war - von ätzend grünen Gestalten. Es waren Silhouetten von Männern, Frauen und Kindern, und sie strebten von allen Seiten auf den Plünderer zu. Als die Ersten ihn erreicht hatten, schlossen sich ihre schimmernden Finger um seine Kleidung und das verletzliche Fleisch darunter. Dann zogen sie - und Shafiq kreischte!
Immer schneller grabschten die Gestalten nach ihm, rissen seine schrecklichen Wunden weiter auf. Blut durchtränkte seine Kleidung.
Shafiq hielt das Pergament schon lange nicht mehr. Es lag einen Meter von ihm entfernt, halb von Sand bedeckt und mit Blutspritzern besudelt. Die Schriftzeichen leuchteten noch immer. Die Gestalten kümmerten sich nicht darum. Sie setzten ihr grausiges Unterfangen fort, den Mann bei lebendigem Leib auseinanderzureißen.
Saskia musste die Gelegenheit nutzen, das Pergament an sich zu bringen! Da sich die Gestalten, von denen sie annahm, dass es sich um die Geister der Toten des Grabturms handelte, nicht um sie kümmerten, erschien es ihr möglich. Danach würde sie sich auf ihre Gabe verlassen müssen. Vorsichtig rutschte sie zwischen den Gestalten hindurch und bemühte sich, bloß keine davon zu berühren.
Das Pergament war nun zum Greifen nah. Sie streckte behutsam den rechten Arm aus, Zentimeter trennten sie noch davon - als sich die Silhouette eines Kindes zu ihr umdrehte. Das Gesicht war eine ebene Fläche, die Augen schwarze Löcher. Und doch hatte Saskia das Gefühl, dass sie sehr genau beobachtet wurde.
Die Kleine hob den linken Arm und deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger auf sie, dann öffnete sich ein drittes Loch, das den Mund markierte. Der Ton, den sie ausstieß, ließ Saskia das Blut in den Adern stocken.
Eine Gestalt nach der anderen wandte sich zu ihr um, die Geister ließen vom zerfetzten Shafiq ab, der daraufhin tot zu Boden fiel.
»Du musst sie aufhalten!« Ohne Vorwarnung hechtete Justine an ihr vorbei und schnappte sich das Pergament. »Los, lass sie platzen oder sonst was, bevor sie sich auf uns stürzen!« Sie rollte sich ab, kam sofort wieder auf die Beine und trat an Saskias Seite, als könne sie ihre Freundin mit bloßen Händen gegen die Angreifer verteidigen. Das Grollen aus ihrer Kehle hörte sich fast so an, als habe sie einen Weg gefunden, die Werwölfin in sich zu befreien.
Die Médiatrice erlaubte ihrer Gabe, sich gegen die Geister zu werfen und sie auseinanderzureißen. Sie merkte, wie die Energie aus ihr hinausbrandete, aber einen sichtbaren Effekt hatte der Angriff nicht. Dafür schien sich ihre Kehle auf den Umfang eines Strohhalms zusammenzuziehen. Die Schemen zuckten zusammen, einige wiegten hin und her, doch sie verschwanden nicht.
»Es geht nicht!«
»Gib mir das Schwert. Damit kann ich sie vielleicht so lange auf Abstand halten, bis Will uns gefunden hat.« Justine griff nach der Waffe. Doch kaum hielt sie das Schwert in der Hand, erschallte ein kollektives Kreischen: Die Wesenheiten drängten nach vorn, gegen sie! »Sie hassen das Schwert!«, rief Justine - und schlug zu. Die Schneide zerteilte die erste grün schimmernde Gestalt, doch die Ränder fügten sich gleich wieder zusammen. Gegen diese Feinde richtete die Waffe nichts aus. »Merde! Saskia«, rief sie angespannt und drosch um sich. »Tu endlich etwas!«
Saskia atmete tief durch, sammelte ihre Macht und wollte etwas anderes versuchen. Sie hatte vor nicht allzu langer Zeit ein Portal in verschiedene Welten oder Höllen geöffnet - warum sollte sie dann nicht ein Portal schaffen, durch das sie aus diesem Turm flüchten konnten? Sie konzentrierte sich auf ihr Hotelzimmer, auf die Sicherheit, die es versprach. Und wirklich: Vor ihr öffnete sich ein Spalt, wie damals im Parkhaus, und in ihm erkannte sie undeutlich die Einrichtung eines Zimmers. Der Fluchtweg stand ihnen offen; nun musste nur noch Will auftauchen, und sie konnten endlich fort von hier.
Justine wurde von einem Arm ergriffen. Mit einem Schrei hackte sie ihn ab und trat gegen das Wesen, um den Rest der Kreatur nach hinten zu schleudern; der Geist machte nur einen Schritt zurück, als würde er lediglich vor ihrer Energie zurückweichen. Drei weitere stürzten sich auf sie und versuchten, sie zu packen. Justine gelang es nur mit Mühe, sich ihnen zu -entwinden, und bemerkte dabei den Spalt. »Was ...?«
»Unser Hotel«, sagte Saskia knapp und rang nach Luft. »Aber wir müssen ...« »Non! Komm mit.« Justine sprang durch die Spalte. »Es hat funktioniert!«, rief sie und klang dabei wie aus weiter Ferne. Doch dann wurde sie bleich. »Sie haben mir das Pergament wieder abgenommen!«
Saskia hatte das Gefühl, dass sie kurz davor war, aufgrund des Luftverlustes ohnmächtig zu werden, starrte aber trotzdem in die grüne Menge, die sich nun drohend auf sie zubewegte, und erkannte in einer Geisterhand das Artefakt.
Ein lautes Brüllen erklang, in dem kaum Menschlichkeit steckte, und die Geister wichen vor etwas zurück, das sich Saskia von rechts näherte. Saskia starrte dorthin - und sah Will auf sich zukommen. In der Zweidimensionalität wirkte er aus irgendeinem Grund größer, kräftiger und sehr beeindruckend.
Er hatte wenig mit dem Mann zu tun, den sie kannte. Sein Anblick war respekteinflößend, herrschaftlich.
Er bemerkte sie, dann schaute er kurz auf den toten Reiseführer, dessen Blut den Sand rot gefärbt hatte. »Wo ist mein Pergament?«, tönte er. »Haben sie es?«
Sein Pergament? Saskia gefiel der Ausdruck in seinem Gesicht überhaupt nicht. Es war eine Mischung aus hochgradiger Entrückung und einer Entschlossenheit, die Saskia höchstens von Porträts bekannter Diktatoren kannte. »Da vorne«, antwortete sie knapp. Mit gewaltiger Anstrengung rang sie nach Atem, und der Schwindel legte sich etwas. »Komm durch das Portal.«
Will machte das Wesen aus, das die Schrift mit sich trug. Er war mit vier schnellen Schritten bei ihm und zerschmetterte es mit einem Faustschlag. Dabei färbte sich seine eigene Hand schwarzbraun ein, die Adern dehnten sich um das Doppelte und standen dick hervor. Er bückte sich und hob das Pergament auf. Sofort erklangen aufgeregte Schreie. »Geh!«, befahl er Saskia. »Ich habe es!«
Saskia taumelte nach vorn und durch den Spalt. Zwei Arme reckten sich ihr entgegen und rissen sie hinüber. Ihre Konzentration brach mit ihrem Kreislauf zusammen. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass Will die Arme in ihre Richtung hob. Etwas war schiefgelaufen!
Doch es war zu spät: Sie brach neben Justine zusammen. »Will, komm!«, hauchte sie. Die Umgebung erhielt ihre Dreidimensionalität zurück, die Bittermandel auf ihrer Zunge verschwand, während sie verzweifelt nach Luft rang.
Justine sah, dass einige Geister sich an Will vorbeigewagt hatten und versuchten, durch den sich langsam schließenden Spalt zu gelangen und mit ihnen das Gleiche anzustellen wie mit Shafiq. Die anderen stellten sich Will in den Weg, der sich mit fliegenden Fäusten eine Schneise durch sie freikämpfte.
»Will!« Sosehr sich Saskia anstrengte, sie konnte das Schließen des Portals nicht aufhalten. »Ich ...«
Drei der Geisterwesen zwängten sich schon zur Hälfte durch den Spalt, als Will sie mit beiden Händen ergriff und festhielt. »Kommt zurück!«, schrie er ihnen zu. »Die Artefakte dürfen nicht getrennt...«
Das Portal schloss sich.
Die Wesen wurden zerteilt, die Stücke lösten sich im Fallen auf und wurden zu einer schleimigen, stinkenden Masse auf dem lehmgestampften Boden.
Zuerst dachte sich Saskia nichts dabei, aber dann begriff sie beim Anblick des ungewöhnlichen Untergrunds, auf dem sich die Lache bildete, dass sie nicht in ihrem Hotel gelandet waren. »Verdammt, wo ...«
Justine stand in einem rundbogenartigen Durchgang, der nach draußen führte, und hielt die bestickten Vorhänge zur Seite. Sonnenlicht fiel herein, und ein heißer, trockener Wind wehte Geräusche und fremdartige Gerüche ins Innere.
»Justine, wir müssen ...«
»Das ist nicht unser Hotel.«
»Sind wir ... sind wir nicht mehr in Palmyra?«, fragte sie erschrocken.
»Das schon«, Justine trat beiseite, damit sie an ihr vorbei ins Freie schauen konnte, »aber nicht in unserer Zeit!«
Saskia erhob sich unsicher und ging schleppend nach vorne, die Augen auf die atemberaubenden antiken Bauwerke gerichtet, durch deren Ruinen sie vorhin gestreift war. Nur dass sie sich jetzt vor einem herrlich blauen Himmel als intakte Gebäude in die Höhe erhoben! Justine versetzte ihr einen Rempler in die Seite. »Tres bien. Damit kannst du in der Reisebranche groß rauskommen. Ich sehe schon deinen Slogan vor mir: Erleben Sie die antiken Stätten, wie sie wirklich waren.« Sie ließ die Vorhänge zurückgleiten. »Bon, ma chère. Aber jetzt bring uns nach Hause.« Saskia konnte es noch immer nicht fassen. Die Gabe hatte ein Portal in die Vergangenheit geöffnet. Eben hatte sie noch geglaubt, einigermaßen damit umgehen zu können, aber jetzt musste sie erkennen, dass sie meilenweit davon entfernt war, diese Macht zu kontrollieren. Sie sackte neben dem Torbogen zusammen. »Ich bin zu erschöpft«, sagte sie.
Justine setzte sich ihr gegenüber auf den Tisch, der unter ihrem Gewicht knarzte. »Es wird schon gehen. Es muss gehen! Wir haben nur noch wenige Tage, um unsere Mission zu erfüllen.« Sie zwinkerte. »Außerdem spricht hier niemand Französisch. Vas-yl Dann bin ich dir auch nicht böse.«
Saskia musste es nicht einmal versuchen. Sie spürte, dass die Gabe in ihr Ruhe brauchte. »Ich weiß nicht, wie ich es schaffen soll.«
»Dann machen wir eben eine kleine Pause.«
»Es geht nicht nur um die Pause! Ich habe an unser Hotel gedacht - und wir landen in einem Palmyra, das aussieht, als sei es gestern erst errichtet worden«, fuhr Saskia sie an. »Wie stellst du dir das vor, dass ich ein Portal öffnen kann, das uns genau an dem Tag in dem Jahr zurückbringt, an dem wir verschwunden sind?«
Justines vorgetäuschte gute Laune verschwand ansatzlos. »Du kannst es wirklich nicht? Merde!« Wütend warf sie das Schwert auf den Boden und trat gegen ein Schränkchen, dann sah sie aus dem Fenster. »Schau dir das an! Wir stecken irgendwo ... irgendwann. Ich kann dir nicht einmal sagen ...« Sie zerrte Saskia ihren Rucksack weg. »Du hast den Touristenführer! Gib her.« Sie blätterte in dem Prospekt und suchte nach Zeitangaben. »Nicht, dass ich irgendeine Ahnung hätte, aber ich schätze, wir sind irgendwo im ersten Jahrhundert gelandet. Vor Christus.«
Saskia spähte durch einen Spalt zwischen den Vorhängen nach draußen. Es war, als würde sie die Mini-Serie Rom schauen, nur dass sie plötzlich zu den Darstellerinnen gehörte: Menschen in Tuniken liefen auf der Agora, dem Marktplatz, umher, Händler boten lautstark ihre Waren feil, Vieh stand umher, angebunden an dicken Stricken. Rings um den Platz erhoben sich wuchtige Bauwerke, alle symmetrisch und perfekt. Der gemeine Bürger von Palmyra lebte sicher an weniger schönen Orten als in diesem prachtvollen Stadtzentrum.
Die Mode der Zeit war leicht und luftig, viel Kleidung benötigte man nicht unter der starken Sonne, die über Syrien schien. Das Land, in dem sie sich befanden, hieß vermutlich nicht mal Syrien.
Saskia fühlte sich an die Mode erinnert, die sie aus römischen Geschichtsbüchern kannte: Tuniken, gewickelte Tücher, Sandalen, Togen. Laut Reiseführer hatten die Römer auch in Palmyra regiert. Natürlich erkannte sie auch gänzlich anders gekleidete Menschen orientalischer Herkunft, die sie in erster Linie an Beduinen erinnerten. Manche der offenkundig Reichen wurden von Sklaven in Sänften umhergetragen und von einem ganzen Hofstaat Diener und Bewaffneter begleitet. Man zeigte in der Handelsstadt Palmyra anscheinend gern seinen Wohlstand.
»Ich denke, wir sind einhundert nach Christus«, meinte sie über die Schulter. »Es sieht nach römischer Kultur aus.« Dann lachte sie matt auf. »Du weißt schon, dass ein Historiker dafür morden würde, um mit uns tauschen zu können und die Kultur, die er nur von Ausgrabungen her kennt, zu entdecken.«
»Na wie schön«, ätzte Justine. »Aber irgendetwas sagt mir, dass ein Historiker auch andere Sorgen hat als wir und nicht den drohenden Weltuntergang verhindern muss. Wie sollen wir das machen, fast zweitausend Jahre bevor er sich anbahnt?«
Der Kommentar erinnerte Saskia an eine spannende Frage, die sie sich immer gestellt hatte, wenn in Science-Fiction-Seri-en Zeitreisen stattfanden: Ab wann veränderte man die Geschichte - und mit welchen Auswirkungen auf die Gegenwart?
»Was immer wir tun, wir dürfen nicht auffallen«, sagte sie zu Justine. »Wir müssen durch die Geschichte huschen, ohne Spuren zu hinterlassen.«
Die Französin hielt ihre Pistolen in den Händen. »Schade. Ich hätte das Zeug dazu, hier eine mächtige Kriegsherrin zu werden - wenn ich mehr Munition dafür mitgenommen hätte.« Sie zwinkerte wieder, um Saskia zu zeigen, dass sie es nicht ernst meinte. Jedenfalls zu etwa siebzig Prozent. »Du bist diejenige, die uns nach Hause bringen kann. Sag, was wir tun sollen.« Saskia schaute sich um. Sie befanden sich in einem Zimmer mit einer Kochstelle und einem breiten Bett. Eine Leiter führte zu einem schmalen Alkoven, vermutlich die Schlafstatt der Kinder. Die Einrichtung wirkte nicht sehr luxuriös. Sie waren in das Haus eines Menschen oder einer Familie gelangt, die nicht zu den ganz Betuchten gehörte. »Ausruhen. Und danach versuche ich es.« Sie hob das Schwert auf, dachte an Will und betete still, dass er den Geistern entkommen war. Die Situation hatte sich von einem Schlag auf den anderen gravierend zum Schlechten verändert.
»Ich frage mich, was mit Will geschehen ist«, sagte Justine und wühlte sich durch die Schränke. Sie fand mehrere Behältnisse mit Vorräten, gemahlenes Salz, Getreide und Brot, getrocknete Datteln und Feigen. Sie langte zu und machte sich über das Obst her. »Das ist sehr gut«, schwärmte sie und suchte weiter. Sie nahm einen hellen leichten Umhang von der Wand. »Chic! Das ist meiner.« Sie warf ihn sich über. »Jetzt gehöre ich dazu«, sagte sie lachend. »Aber du kannst auch so gehen, wie du bist, Saskia. Du wirst nicht zu sehr auffallen.«
Saskia nickte. Sie passten halbwegs in diese alte Welt, die sie durch den Vorhang sah. Nicht perfekt, aber allemal besser als mit Shorts und Hawaiihemden.
»Meinst du, die Artefakte befinden sich auch hier?« Justine warf Saskia ein Stück Brot zu, sie selbst schöpfte mit einer groben Kelle aus einem Wasserbecken neben dem Herd. »Ich meine, gibt es jetzt zwei Schwerter?«
»Woher soll ich das wissen?« Saskia biss ins Brot. Es schmeckte ganz anders als das, was sie kannte. Die Köchin in ihr verlangte, dass sie sich unbedingt das Rezept besorgen musste. Die Gäste des Bon Got würden sich darum reißen!
In dem Menschenstrom draußen bildete sich eine Lücke. Legionäre bahnten einen Weg für eine sehr große Sänfte, auf der im Schutz eines Baldachins ein Mann im Schneidersitz saß. Der Wind brachte die Vorhänge an den Querstangen zum Wehen und verdeckte sein Gesicht. Er trug eine dunkle Tunika mit einem roten Rand, an den Füßen saßen Sandalen. In seinen kurzen blonden Haaren steckte ein geflochtener Kranz aus Goldranken; sogar die Blätter waren aus Gold. Um den Mann herum saßen mehrere berauschend schöne Frauen und sahen gelangweilt drein.
Zehn Legionäre hatten sich um die Sänfte verteilt, davor und dahinter liefen zwanzig Bedienstete, deren Kleidung im Vergleich zu den anderen Sklaven auf der Agora prächtig zu nennen war.
»Zwei Dutzend Träger? Da kommt der König der Angeber«, sagte sie leise, und Justine trat neugierig neben sie. Beide spähten hinaus. »Das ist bestimmt der römische Statthalter.« Die Sänfte hielt auf den Befehl eines Bewaffneten, die Sklaven setzten sie ab, und zwei, die besonders kräftig wirkten, kauerten sich davor, um dem Hochgestellten eine lebende Trittstufe zu sein.
Der Mann stieg aus, und die Menge auf dem riesigen Platz fiel auf die Knie oder senkte das Haupt vor ihm. Die Gespräche verstummten. Ein Ausrufer, den sie nicht verstanden, hatte seine Stimme erhoben und verkündete lautstark etwas. Dann wandte sich der Mann in der dunklen Tunika um, so dass auch sie nun sein Gesicht sahen. »Merde«, entfuhr es Justine.
Sie hatten den Maitre gefunden.