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FREITAG, 8. MÄRZ

Am Freitag nachmittag ging Darcy in die Wohnung auf der West Side, in der sie das Zimmer für Lisa, das genesende junge Mädchen, eingerichtet hatte. Sie brachte Pflanzen für die Fensterbank, ein paar Kissen und ein Kosmetikset aus Porzellan mit, das sie bei einer Haushaltsauflösung erworben hatte. Und Erins vielgeliebtes Poster.

Die großen Stücke waren bereits da; das Messingbett, die Kommode, der Nachttisch, der Schaukelstuhl. Der indianische Teppich, der in Erins Wohnzimmer gelegen hatte, paßte perfekt in diesen Raum. Pastellfarben gestreifte Tapeten gaben dem Zimmer Bewegung. Fast wie ein Karussell, dachte Darcy. Vorhänge und Bettüberwurf hatten die gleichen Streifen wie die Tapete. Gestärkte weiße Baumwollrüschen nahmen das strahlende Weiß von Decke und Zierleisten auf.

Sorgfältig suchte Darcy nach dem richtigen Platz für das Poster. Es stellte ein Gemälde von Egret dar, eines seiner frühen, weniger bekannten Werke: eine junge Tänzerin, die mit ausgestreckten Armen auf den Fußspitzen durch die Luft wirbelt. Er hatte dem Bild den Titel Junge Frau, die gerne tanzt gegeben.

Sie schlug Bilderhaken in die Wand und dachte an all die Tanzkurse, die sie und Erin besucht hatten. «Warum sollten wir bei Regen und Kälte draußen joggen, wo wir doch beim Tanzen genausoviel Bewegung haben?» hatte Erin gesagt. «Es gibt ja den alten Spruch: ‹Wenn du ein bißchen Spaß in dein Leben bringen willst, versuch’s mit Tanzen.›»

Darcy trat zurück, um zu prüfen, ob das Poster auch gerade hing. Das tat es. Was also ging ihr nicht aus dem Kopf? Die Kontaktanzeigen. Warum gerade jetzt? Achselzuckend schloß sie ihren Werkzeugkasten.

Sie fuhr direkt zur Sheridan-Galerie. Bisher hatte sich das Betrachten der alten Fotos als nutzlos erwiesen. Sie hatte eines von Jay Stratton gefunden, aber Vince D’Ambrosio hatte seinen Namen bereits durch die Studentenliste erfahren. Gestern hatte Chris Sheridan gesagt, die Chance, das Große Los zu gewinnen, sei wahrscheinlich größer als die, auf ein vertrautes Gesicht zu stoßen.

Sie hatte befürchtet, er bereue vielleicht, daß er ihr den Konferenzraum überlassen hatte, aber das war nicht der Fall.

«Sie sehen müde aus», hatte er gestern am späten Nachmittag zu ihr gesagt. «Wie ich hörte, sind Sie schon seit dem frühen Morgen hier.»

«Ich konnte ein paar Termine verlegen. Das hier erschien mir wichtiger.»

Gestern abend hatte sie Chiffre 3823 getroffen, Owen Larkin, einen Internisten aus dem New York Hospital. Er war ziemlich von sich eingenommen gewesen. «Wenn man Arzt und unverheiratet ist, dann bieten einem sämtliche Krankenschwestern dauernd selbstgekochte Mahlzeiten an.» Er stammte aus Tulsa und haßte New York. «Sobald ich meine Facharztausbildung hinter mir habe, gehe ich sofort wieder nach Hause in Gottes eigenes Land. Diese überfüllten Städte liegen mir nicht.»

Beiläufig hatte sie Erins Namen erwähnt. In vertraulichem Ton hatte er darauf erwidert: «Ich habe sie nicht kennengelernt, aber einer meiner Freunde im Krankenhaus, der solche Anzeigen beantwortet, hat sie getroffen.

Nur einmal. Er hält die Daumen und hofft, daß sie nicht Buch geführt hat. In einer Morduntersuchung vernommen zu werden, wäre das letzte, was er brauchen könnte.»

«Wann ist er ihr begegnet?»

«Anfang Februar.»

«Ich frage mich, ob ich ihn wohl kenne.»

«Nur, wenn Sie ihn um diese Zeit herum getroffen haben. Er hatte sich damals von seiner Freundin getrennt, und inzwischen sind sie wieder zusammen.»

«Wie heißt er?»

«Brad Whalen. Sagen Sie, ist das ein Verhör? Reden wir besser über Sie und mich.»

Brad Whalen. Noch ein Name, den Vince D’Ambrosio überprüfen konnte.

Chris stand am Fenster seines Büros, als er das Taxi vorfahren und Darcy aussteigen sah. Er schob die Hände in die Hosentaschen. Es war windig, und er beobachtete, wie Darcy die Tür des Taxis schloß und sich dem Gebäude zuwandte.

Sie hielt den Halsausschnitt ihrer Jacke zu und beugte sich leicht nach vorn, während sie den Gehsteig überquerte.

Gestern hatte er viel zu tun gehabt. Ein paar wichtige japanische Kunden hatten das Silber aus dem Wallens-Nachlaß besichtigt, das nächste Woche versteigert werden sollte. Den größten Teil des Nachmittags hatte er mit ihnen verbracht.

Mrs. Vail, die in der Galerie für Ordnung sorgte, hatte Darcy Scott mit Morgenkaffee, einem leichten Mittagessen und Tee bewirtet. «Das arme Mädchen wird sich noch die Augen ruinieren, Mr. Sheridan», hatte sie gejammert.

Um halb fünf war Chris in den Konferenzraum gegangen. Er hatte erkannt, welchen Fehler er gemacht hatte, als er sagte, die Aufgabe sei hoffnungslos. So ernst hatte er das nicht gemeint. Aber wenn man sie analysierte, waren Darcy Scotts Chancen, jemanden zu treffen, der Nan gekannt hatte, und ihn dann auf einem fünfzehn Jahre alten Foto zu erkennen, ziemlich gering.

Gestern hatte sie ihn gefragt, ob Nan sich je mit einem Mann namens Charles North getroffen habe.

Er wußte nichts davon. Als er nach Darien gekommen war, hatte Vince D’Ambrosio ihm und seiner Mutter die gleiche Frage gestellt.

Chris merkte, daß er Lust hatte, nach unten zu gehen und jetzt mit Darcy zu sprechen. Er fragte sich, ob sie wieder das Gefühl haben würde, er wolle sie loswerden.

Das Telefon läutete. Er ließ seine Sekretärin den Hörer abnehmen. Einen Augenblick später sagte sie über die Sprechanlage: «Es ist Ihre Mutter, Chris.»

Greta kam gleich zur Sache. «Chris, du weißt ja, es war die Rede von jemandem, der Charles heißt. Nachdem wir alle Bilder herausgesucht hatten, habe ich mich entschlossen, Nans restliche Sachen durchzusehen. Es hat ja keinen Sinn, daß du das eines Tages machen mußt. Ich habe ihre Briefe wieder gelesen. Es gibt einen vom September vor … vor ihrem Tod. Sie hatte gerade das Wintersemester begonnen. Sie schrieb, sie sei mit einem Burschen namens Charley tanzen gegangen, und er habe sie aufgezogen, weil sie flache Schuhe trug.

Sie hat sich so ausgedrückt: ‹Kannst du dir vorstellen, daß ein Junge meiner Generation findet, Mädchen sollten Stöckelschuhe tragen?›»

«Um drei Uhr war ich mit meinen Patienten fertig, und ich fand es einfacher, herzukommen und mit Ihnen zu reden, als die Sache am Telefon zu besprechen.» Michael Nash veränderte leicht seine Haltung und versuchte, auf dem grünen Zweiersofa in Nonas Büro eine bequemere Stellung zu finden. Unwillkürlich überlegte er, warum eine offensichtlich intelligente und kontaktfreudige Person wie Nona Roberts ihren Besuchern dieses Folterobjekt zumutete.

«Tut mir leid, Doktor.» Nona räumte Aktenordner von dem einzigen bequemen Stuhl, der neben ihrem Schreibtisch stand. «Bitte.»

Bereitwillig wechselte Nash den Platz.

«Ich sollte das Ding wirklich abschaffen», entschuldigte sich Nona. «Ich komme bloß nie dazu. Immer gibt es Interessanteres zu tun, als Möbel umzuräumen.» Sie lächelte schuldbewußt. «Aber sagen Sie das bloß nicht Darcy.»

Er erwiderte das Lächeln. «In meinem Beruf ist man zur Verschwiegenheit verpflichtet. So, und womit kann ich Ihnen behilflich sein?»

Ein wirklich attraktiver Mann, dachte Nona. Ende Dreißig. Eine gewisse Reife, die er wahrscheinlich durch seinen Beruf als Psychiater erworben hat. Darcy hatte ihr von ihrem Besuch in seinem Haus in New Jersey erzählt. Heirate nie des Geldes wegen, wie Nonas alte Tanten zu sagen pflegten, aber es ist genauso leicht, einen reichen Mann zu lieben wie einen armen. Nicht, daß Darcy es nötig gehabt hätte, Geld zu heiraten, Gott bewahre! Aber Nona hatte bei ihr immer eine gewisse Einsamkeit gespürt, das verlorene kleine Mädchen. Ohne Erin mußte das schlimmer werden. Es wäre wunderbar, wenn sie jetzt den richtigen Mann kennenlernte.

Sie merkte, daß Dr. Michael Nash sie mit einem amüsierten Ausdruck beobachtete. «Na, habe ich bestanden?»

fragte er.

«Gewiß.» Sie griff nach dem Ordner mit den Unterlagen für die Dokumentarsendung. «Darcy hat Ihnen wahrscheinlich gesagt, warum sie und Erin auf Kontaktanzeigen antworteten.»

Nash nickte.

«Wir haben die Sendung so ziemlich fertig, aber ich möchte, daß ein Psychiater sich über die Menschen äußert, die Anzeigen aufgeben oder beantworten, und über ihre Motive spricht. Vielleicht wäre es möglich, ein paar Hinweise auf Verhaltensweisen zu geben, die Warnsignale sein könnten. Drücke ich mich da richtig aus?»

«Sie sagen es sehr deutlich. Vermutlich wird sich der FBI-Agent auf den Aspekt der Serienmorde konzentrieren.»

Nona spürte, wie sie sich versteifte. «Ja.»

«Mrs. Roberts, Nona, wenn Sie gestatten, ich wünschte, Sie könnten jetzt Ihren Gesichtsausdruck sehen. Sie und Darcy sind einander sehr ähnlich. Sie müssen aufhören, sich selbst zu quälen. Sie sind nicht mehr für Erin Kelleys Tod verantwortlich als eine Mutter, die mit ihrem Kind spazierengeht und miterleben muß, wie es von einem außer Kontrolle geratenen Auto überfahren wird. Manche Dinge sind eben Schicksal. Trauern Sie um Ihre Freundin.

Tun Sie alles, was Sie können, um andere davor zu warnen, daß da draußen ein Verrückter herumläuft. Aber versuchen Sie nicht, Gott zu spielen.»

Nona bemühte sich, mit klarer Stimme zu sprechen. «Ich wünschte, das würde mir jemand fünfmal am Tag sagen.

Für mich ist es schon schlimm, aber für Darcy ist es zehnmal schlimmer. Ich hoffe, Sie haben ihr das auch gesagt.»

Michael Nash lächelte breit. «Meine Haushälterin hat mich diese Woche dreimal angerufen und Speisepläne vorgeschlagen, damit ich Darcy auch ja wieder mitbringe. Sie wird am Sonntag nach Wellesley fahren, um Erins Vater zu besuchen, aber am Samstag ißt sie mit mir zu Abend.»

«Gut! Und jetzt zu unserer Sendung. Wir zeichnen sie am kommenden Mittwoch auf, und sie wird Donnerstag abend ausgestrahlt.»

«Normalerweise scheue ich vor solchen Sachen zurück.

Zu viele meiner Kollegen drängen sich bei Kriminalprozessen auf den Bildschirm oder in den Zeugenstand. Doch hier kann ich vielleicht einen Beitrag leisten. Sie können mit mir rechnen.»

«Großartig.» Beide standen gleichzeitig auf. Nona wies mit der Hand auf die Schreibtische in dem Raum vor ihrem Büro.

«Wie ich hörte, schreiben Sie ein Buch über Bekanntschaftsanzeigen. Wenn Sie weitere Recherchen brauchen – die meisten unverheirateten Mitarbeiter hier spielen das Spiel mit.»

«Danke, aber ich habe schon ziemlich viel Material. Ich werde mein Manuskript gegen Ende des Monats abliefern.»

Nona beobachtete Nashs lange, leichtfüßige Schritte, während er zum Aufzug ging. Sie schloß die Tür ihres Büros und wählte Darcys Privatnummer.

Als sich der Anrufbeantworter meldete, sagte sie: «Ich weiß, daß du noch nicht zu Hause bist, aber ich mußte es dir sagen. Ich habe soeben Michael Nash kennengelernt, und er ist wirklich ein Schatz.»

Dougs Antennen fingen eine Warnung auf. Als er heute früh mit Susan telefoniert und ihr gesagt hatte, er habe sie letzte Nacht nicht durch einen Anruf wecken wollen, um ihr mitzuteilen, er könne nicht nach Hause kommen, hatte sie lieb und freundlich reagiert.

«Das war nett von dir, Doug. Ich bin nämlich früh zu Bett gegangen.»

Das Warnsignal war ertönt, als er aufgelegt hatte und sich darüber klargeworden war, daß sie ihn nicht gefragt hatte, ob er heute abend pünktlich kommen werde. Bis vor ein paar Wochen hatte sie immer routinemäßig gejammert:

«Doug, diese Leute müssen doch begreifen, daß du eine Familie hast. Es ist nicht fair, wenn sie Abend für Abend von dir erwarten, daß du zu späten Sitzungen dableibst.»

Sie hatte ganz glücklich gewirkt, als sie ihn in New York zum Abendessen getroffen hatte. Vielleicht sollte er noch einmal anrufen und vorschlagen, sie solle heute abend wieder zum Essen kommen.

Vielleicht wäre es besser, früh nach Hause zu fahren und etwas mit den Kindern zu unternehmen. Letztes Wochenende waren sie nicht dagewesen.

Wenn Susan böse würde, wirklich böse, und das gerade jetzt, wo die Kontaktanzeigenmorde so hochgespielt wurden und man sich wieder für Nan interessierte …!

Dougs Büro lag im 43. Stock des World Trade Center. Ohne etwas zu sehen, starrte er auf die Freiheitsstatue hinunter.

Es war Zeit, die Rolle des hingebungsvollen Ehemannes und Vaters zu spielen.

Noch etwas. Er würde für eine Weile aufhören, das Apartment zu benutzen. Seine Kleider. Seine Skizzen. Die Annoncen. Wenn er nächste Woche Gelegenheit dazu hätte, würde er sie ins Landhaus bringen.

Vielleicht sollte er auch den Kombiwagen dort abstellen.

War es möglich? Darcy blinzelte und griff nach dem Vergrößerungsglas. Der kleine Schnappschuß von Nan Sheridan und ihren Freundinnen am Strand. Der Strandwart im Hintergrund. Sah er bekannt aus, oder war sie verrückt?

Sie hörte Chris Sheridan nicht hereinkommen. Als er ruhig sagte: «Ich will Sie nicht stören, Darcy», fuhr sie zusammen.

Chris entschuldigte sich eilig. «Ich habe angeklopft. Sie haben mich nicht gehört. Tut mir schrecklich leid.»

Darcy rieb sich die Augen. «Sie brauchen doch nicht anzuklopfen. Das ist Ihr Zimmer. Ich glaube, ich werde allmählich nervös.»

Er schaute auf das Vergrößerungsglas in ihrer Hand.

«Glauben Sie, daß Sie auf etwas gestoßen sind?»

«Ich weiß es nicht genau. Aber dieser Mann da …» Sie zeigte mit dem Finger auf die Gestalt hinter der Mädchengruppe. «Er sieht aus wie jemand, den ich kenne. Erinnern Sie sich, wo dieses Bild aufgenommen wurde?»

Chris betrachtete es. «Auf Belle Island. Das ist ein paar Kilometer von Darien entfernt. Eine von Nans besten Freundinnen hat dort ein Sommerhaus.»

«Kann ich das Bild mitnehmen?»

«Natürlich.» Besorgt beobachtete Chris, wie Darcy den Schnappschuß in ihre Aktentasche schob und die Bilder, die sie durchgesehen hatte, zu sauberen Stapeln ordnete.

Ihre Bewegungen waren langsam, fast mechanisch, als sei sie schrecklich müde.

«Darcy, haben Sie heute abend eine Ihrer Verabredungen?»

Sie nickte.

«Drinks, Abendessen?»

«Ich versuche, es bei einem Glas Wein bewenden zu lassen. In der Zeit kann ich feststellen, ob sie Erin getroffen haben oder nicht oder sich komisch anhören, wenn sie leugnen, sie gekannt zu haben.»

«Sie steigen doch nicht zu ihnen ins Auto oder gehen in ihre Wohnung?»

«Gott behüte, nein.»

«Das ist gut. Sie sehen aus, als hätten Sie nicht viel Kraft, sich zu wehren, wenn jemand über Sie herfällt.»

Chris zögerte. «Ob Sie’s glauben oder nicht, ich bin nicht gekommen, um Sie nach Dingen zu fragen, die mich nichts angehen. Ich wollte Ihnen nur sagen, daß meine Mutter einen Brief von Nan gefunden hat; sie hat ihn ungefähr sechs Monate vor ihrem Tod geschrieben. Darin schreibt sie etwas von einem gewissen Charley, der meinte, Mädchen sollten Stöckelschuhe tragen.»

Darcy schaute zu ihm auf. «Haben Sie das Vince D’Ambrosio erzählt?»

«Noch nicht. Ich werde es natürlich tun. Aber ich dachte, ob es nicht eine gute Idee wäre, wenn Sie mit meiner Mutter sprechen würden. Nachdem sie alle diese Bilder herausgesucht hatte, hat sie Nans Briefe durchgesehen. Niemand hatte das von ihr verlangt. Ich meine nur, wenn meine Mutter etwas weiß, dann kommt es vielleicht schneller an die Oberfläche, wenn sie mit einer anderen Frau spricht, die die Art Schmerz versteht, mit dem sie all die Jahre gelebt hat.»

Nan war sechs Minuten älter als ich. Das ließ sie mich nie vergessen. Sie war kontaktfreudig. Ich war schüchtern.

Chris Sheridan und seine Mutter hatten sich vermutlich mit Nan Sheridans Tod abgefunden, dachte Darcy. Die Sendung Authentische Verbrechen, der Mord an Erin, die zurückgeschickten Schuhe und jetzt ich. Sie mußten alle Wunden, die vielleicht verheilt waren, wieder aufreißen.

Für sie wie für mich wird es erst wieder Frieden geben, wenn das hier vorbei ist.

Der Kummer in Chris Sheridans Gesicht ließ ihn für einen Augenblick nicht mehr so selbstsicher und kultiviert wirken wie noch vor ein paar Tagen.

«Ich würde Ihre Mutter gern kennenlernen», sagte Darcy.

«Sie wohnt in Darien, nicht wahr?»

«Ja. Ich fahre Sie hin.»

«Ich fahre Sonntag früh nach Wellesley, um Erin Kelleys Vater zu besuchen. Wenn es Ihnen recht ist, komme ich am späten Sonntag nachmittag auf dem Rückweg bei Ihnen vorbei.»

«Das wird ja ein langer Tag für Sie. Wäre es nicht besser, Sie kämen morgen?»

Darcy fand es lächerlich, in ihrem Alter noch zu erröten.

«Morgen habe ich etwas vor.»

Sie stand auf, um zu gehen. Um halb sechs traf sie sich mit Robert Kruse. Bis jetzt hatte niemand sonst angerufen.

Und weitere Verabredungen durch Kontaktanzeigen hatte sie nicht.

Nächste Woche würde sie anfangen, auf die Annoncen zu antworten, die Erin angestrichen hatte.

Len Parker hatte bei der Arbeit Ärger gehabt. Er war einer der Hausmeister der New Yorker Universität, und es gab nichts, was er nicht reparieren konnte. Er hatte das zwar nicht gelernt, aber er hatte ein instinktives Gefühl für Drähte, Schlösser und Schlüssel, Scharniere und Schalter.

Eigentlich war er nur für die routinemäßige Instandhaltung zuständig, aber wenn er etwas sah, das kaputt war, dann reparierte er es, ohne darüber zu sprechen. Das war das einzige, was ihm Frieden gab.

Aber heute waren seine Hände ungeschickt gewesen. Er hatte seinen Treuhänder beschimpft, weil der angedeutet hatte, er besitze vielleicht irgendwo ein Haus. Wen ging das etwas an? Wen?

Seine Familie? Was war mit ihr? Seine Brüder und Schwestern luden ihn nicht einmal ein. Sie waren froh, ihn los zu sein.

Dieses Mädchen, Darcy. Vielleicht war er gemein zu ihr gewesen, aber sie wußte nicht, wie kalt es gewesen war, als er vor diesem feinen Restaurant gestanden und auf sie gewartet hatte, um sich zu entschuldigen.

Er hatte Mr. Doran, dem Treuhänder, davon erzählt.

Mr. Doran hatte gesagt: «Lenny, wenn Sie nur begreifen würden, daß Sie genug Geld haben, um jeden Abend Ihres Lebens im ‹Le Cirque› oder sonstwo zu essen.»

Mr. Doran verstand ihn einfach nicht.

Lenny erinnerte sich, wie seine Mutter immer seinen Vater angeschrien hatte. «Du mit deinen verrückten Investitionen wirst noch dafür sorgen, daß die Kinder nicht einmal mehr ein Dach über dem Kopf haben!» Lenny krümmte sich dann ängstlich in seinem Bett zusammen. Er haßte den Gedanken, draußen in der Kälte zu sein.

Hatte er damals angefangen, im Pyjama nach draußen zu gehen, damit er daran gewöhnt war, wenn es wirklich passierte? Niemand wußte, daß er das tat. Als sein Vater dann endlich das große Geld verdient hatte, war er gewohnt, in der Kälte zu stehen.

Er konnte sich nur schwer erinnern. Das verwirrte ihn so.

Manchmal bildete er sich Sachen ein, die gar nicht passiert waren.

Wie Erin Kelley. Er hatte ihre Adresse nachgeschlagen.

Sie hatte ihm gesagt, sie wohne in Greenwich Village, und da stand sie: Erin Kelley, Christopher Street 101.

Eines Abends war er ihr gefolgt, oder?

Oder irrte er sich?

Hatte er nur geträumt, sie sei in diese Bar gegangen, und er habe draußen gestanden? Sie setzte sich hin und bestellte etwas. Was, wußte er nicht. Wein? Mineralwasser?

Welchen Unterschied machte das? Er hatte zu entscheiden versucht, ob er zu ihr hineingehen sollte oder nicht.

Dann war sie herausgekommen. Er hatte sie gerade ansprechen wollen, als der Kombiwagen vorfuhr.

Er konnte sich nicht erinnern, ob er den Fahrer gesehen hatte. Manchmal träumte er von einem Gesicht.

Erin stieg ein.

Das war der Abend, an dem sie angeblich verschwunden war.

Die Sache war nur die, daß Lenny nicht genau wußte, ob er alles nicht nur geträumt hatte. Und wenn er das der Polizei erzählte, würden sie vielleicht sagen, er sei verrückt, und ihn wieder dahin schicken, wo man ihn einsperrte.