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Bei der Lektüre von Die Iden des März stieß ich auf einen düsteren Ausspruch, den der Autor Julius Cäsar zu schreibt: Fast zwangsläufig wird man schließlich zu der Person, für die einen die anderen halten. Ich konnte den Satz zwar weder in den Werken Julius Cäsars noch in denen seiner Biographen, von Sueton bis Carcopino, finden, doch es schadete nicht, ihn zu kennen. Auf mein Leben in den folgenden Monaten angewandt, gab mir der Fatalismus des Ausspruchs die nötige Entschlossenheit, diesen Bericht nicht nur zu schreiben, sondern ihn auch ohne falsche Scham mit der Liebe zu Delgadina beginnen zu lassen.
Ich hatte keinen Augenblick Ruhe, aß kaum einen Bissen und verlor so viel Gewicht, dass die Hosen keinen Halt mehr fanden. Unbestimmte Schmerzen setzten sich in den Knochen fest, meine Stimmung wechselte ohne Grund, und ich verbrachte die Nächte in einem aufgeputschten Zustand, der mir nicht erlaubte zu lesen oder Musik zu hören, durch den Tag dagegen tappte ich in einer tumben Benommenheit, die auch nicht zum Schlafen taugte.
Der Himmel half mir. In der überfüllten Gondel von Loma Fresca flüsterte mir eine Frau auf dem Nachbarsitz, die ich nicht hatte einsteigen sehen, ins Ohr: Na, treibst du es noch? Es war Casilda Armenta, eine wohlfeile Liebe aus alten Zeiten, die mich schon in ihrer stolzen Jugend als Stammkunden ertragen hatte. Im Ruhestand dann, kränklich und mittellos, hatte sie einen chinesischen Gärtner geheiratet, der ihr einen Namen und Schutz gab und vielleicht ein wenig Liebe. Mit dreiundsiebzig Jahren wog sie so viel wie eh und je, war immer noch schön und eigenwillig und hatte sich die Ungezwungenheit ihres Berufs erhalten.
Sie nahm mich mit zu sich nach Hause, in einen chinesischen Gemüsegarten, der auf einem Hügel an der Landstraße zum Meer lag. Wir setzten uns in die Strandstühle auf der schattigen Terrasse, zwischen Farne, üppige Astromelien und Vogelkäfige, die vom Vordach hingen. Auf dem Hang sah man die chinesischen Gärtner mit ihren kegelförmigen Hüten unter sengender Sonne Gemüsepflänzchen setzen und dahinter das graue Meer der Bocas de Ceniza, mit den Wellenbrechern aus Fels, die den Fluss noch mehrere Meilen ins Meer hinaus kanalisieren. Während wir plauderten, sahen wir einen weißen Ozeanriesen in die Mündung einfahren, und wir verfolgten ihn schweigend, bis wir sein Brüllen eines traurigen Stiers am Flusshafen hörten. Sie seufzte. Fällt dir etwas auf? Es ist das erste Mal seit einem halben Jahrhundert, dass ich dich nicht im Bett empfange. Wir sind nicht mehr dieselben, sagte ich. Sie fuhr fort, ohne mich zu hören: Immer wenn sie etwas über dich im Radio sagen, dir Achtung zollen, weil die Leute so an dir hängen und dich Meister der Liebe nennen, dann, stell dir vor, denke ich, dass niemand deinen Charme und deine Unarten so gut gekannt hat wie ich. Im Ernst, sagte sie, niemand hätte dich besser ertragen können.
Ich wurde weich. Sie spürte es, sah meine feuchten Augen, und erst da merkte sie wohl, ich war nicht mehr der, der ich gewesen war, und ich hielt ihrem Blick stand, mit einem Mut, dessen ich mich nie für fähig geglaubt hätte. Ich werde eben alt, sagte ich. Wir sind es schon, seufzte sie. Innerlich spürt man es nicht, aber von außen sieht es alle Welt.
Es war unmöglich, ihr nicht das Herz zu öffnen, und so erzählte ich ihr die vollständige Geschichte, die in mir brannte, angefangen mit meinem ersten Anruf bei Rosa Cabarcas am Vortag meines neunzigsten Geburtstags bis zu der tragischen Nacht, als ich das Zimmer zertrümmerte und dann nicht mehr zurückkehrte. Sie hörte sich mein Geständnis an, als erlebte sie alles mit, bedachte es gemächlich und lächelte schließlich.
»Mach, was du willst, aber verlier dieses Geschöpf nicht«, sagte sie zu mir. »Es gibt kein größeres Unglück, als allein zu sterben.«
Wir stiegen in den Spielzeugzug, der so langsam wie ein Pferd ist, und fuhren nach Puerto Colombia. Am Kai aus morschen Holzbohlen, hier, wo alle Welt an Land gekommen war, bevor die Bocas de Ceniza ausgebaggert wurden, aßen wir zu Mittag. Wir setzten uns unter ein Palmstrohdach, wo große, schwarze Matronen gebackenen Fisch mit Kokosreis und grünen Bananenscheiben servierten. Wir nickten in der drückenden Zwei-Uhr-Hitze ein und plauderten dann weiter, bis der riesige Feuerball im Meer versank. Die Wirklichkeit erschien mir phantastisch. Schau, wohin unser Honigmond uns geführt hat, spottete sie. Fuhr dann aber ernst fort: Heute schaue ich zurück, sehe die Schlange der vielen tausend Männer, die durch mein Bett gegangen sind, und gäbe meine Seele darum, mit einem, und sei es dem schlechtesten, zusammengeblieben zu sein. Gott sei Dank habe ich noch rechtzeitig meinen Chinesen gefunden. Es ist, als wäre man mit dem kleinen Finger verheiratet, aber der gehört mir ganz allein.
Sie sah mir in die Augen, um abzuschätzen, wie ich auf das reagierte, was sie gerade erzählt
hatte, und sagte zu mir: Also lauf schon und such dieses arme Geschöpf, selbst wenn deine Eifersucht dir die Wahrheit sagen sollte, sei es, wie es sei, das Erlebte kann dir keiner nehmen. Aber bitte, ohne großväterliche Sentimentalität. Weck sie auf, vögele sie bis zu den Ohren mit diesem erstaunlichen Eselsschwanz, mit dem dich der Teufel für deine Feigheit und Kleinlichkeit ausgezeichnet hat. Im Ernst, schloss sie aus tiefstem Herzen: Stirb ja nicht, bevor du das Wunder erlebt hast, aus Liebe zu vögeln.
Die Hand zitterte mir, als ich am nächsten Tag die Telefonnummer wählte. Sowohl aus Aufregung über ein Wiedersehen mit Delga-dina als auch aus Unsicherheit darüber, wie Rosa Cabarcas reagieren würde. Wir hatten einen ernsten Streit gehabt über ihre unverschämten Forderungen für die Schäden, die ich in ihrem Zimmer angerichtet hatte. Ich musste ein Bild verkaufen, das meine Mutter besonders geliebt hatte und dessen Wert auf ein Vermögen geschätzt wurde, das aber in der Stunde der Wahrheit nicht einmal ein Zehntel des Erhofften erbrachte. Ich stockte die Summe mit meinen Ersparnissen auf und trug das Ganze zu Rosa Cabarcas, mit einer unabweisbaren Losung: Nimm es, oder lass es. Es war ein selbstmörderischer Akt, denn wenn sie nur eines meiner Geheimnisse verkaufte, wäre mein guter Name ruiniert gewesen. Sie bockte jedoch nicht, gab aber auch nicht die Bilder heraus, die sie in der Nacht der Zerstörung als Pfand einbehalten hatte. Ein einziger Spielzug hatte mich zum absoluten Verlierer gemacht: Ich stand da ohne Delgadina, ohne Rosa Cabarcas und ohne meine letzten Ersparnisse. Nichtsdestoweniger hörte ich jetzt das Telefon klingeln, einmal, zweimal, ein drittes Mal, und endlich sie: Hallo? Mir versagte die Stimme. Ich hängte auf, warf mich in die Hängematte, versuchte mich mit der asketischen Lyrik von Satie zu beruhigen und schwitzte so sehr, dass das Leinen nass wurde. Erst am nächsten Tag fand ich den Mut, wieder anzurufen.
»Nun gut, meine Liebe«, sagte ich mit fester Stimme: »Heute ist es so weit.«
Rosa Cabarcas war, natürlich, über alles erha-ben. Ach, mein trauriger Gelehrter, seufzte sie, die sich von nichts unterkriegen ließ, du lässt zwei Monate vergehen und meldest dich nur, um Illusorisches zu fordern. Sie erzählte mir, sie habe Delgadina seit über einem Monat nicht gesehen, damals schien sie sich aber von dem Schrecken über meine Zerstörungswut so gut erholt zu haben, dass sie gar nicht davon sprach, auch nicht nach mir fragte; sie sei sehr glücklich über ihre neue Stelle gewesen, die bequemer sei und besser bezahlt werde als das Knopfannähen. Feuer loderte in meinen Einge-weiden auf. Dann kann sie nur als Hure arbeiten. Rosa erwiderte unerschrocken: Sei nicht blöd, wenn es so wäre, dann wäre sie hier. Wo sonst könnte sie es besser haben? Diese schnelle Logik verstärkte nur meinen Argwohn: Und woher weiß ich, dass sie nicht da ist? In diesem Fall, entgegnete Rosa Cabarcas, wäre es das Beste für dich, es nicht zu wissen. Oder etwa nicht? Und wieder hasste ich sie. Sie ließ sich nicht aus der Fassung bringen und versprach, nach dem Mädchen zu forschen. Allerdings ohne große Hoffnung, denn das Telefon der Nachbarin, wo sie die Kleine zu erreichen pflegte, war immer noch abgestellt, und Rosa hatte nicht die geringste Ahnung, wo sie wohnte. Aber deshalb müsse man nicht gleich die Flinte ins Korn werfen, was soll's, sagte sie, in einer Stunde rufe ich dich an.
Es war eine Stunde, die drei Tage dauerte, aber Rosa trieb die Kleine auf, die verfügbar und gesund war. Beschämt kehrte ich zu ihr zurück, und zur Sühne küsste ich sie von Kopf bis Fuß, von zwölf Uhr nachts bis zum ersten Hahnenschrei. Ein langes Flehen um Verzeihung, das ich bis in alle Ewigkeit zu wiederholen gelobte, und es war, als finge alles noch einmal von neuem an. Das Zimmer war verwahrlost, und all das, was ich einst angeschleppt hatte, war durch unachtsamen Gebrauch ruiniert. Rosa Cabarcas hatte es so gelassen und sagte mir, jede Verbesserung gehe zu meinen Lasten, denn ich schulde ihr ja noch einiges. Ich war jedoch finanziell am Ende. Die Pensionsgelder reichten hinten und vorne nicht. Die paar verkaufbaren Gegenstände, die noch im Haus waren - mit Ausnahme der heiligen Schmuck-stücke meiner Mutter - hatten keinen Marktwert, und nichts war alt genug, um als Antiquität durchzugehen. In besseren Zeiten hatte der Gouverneur mir das verführerische Angebot gemacht, die Bücher der griechischen, römischen und spanischen Klassiker en bloc für die Bezirksbibliothek aufzukaufen, aber ich hatte es nicht übers Herz gebracht, sie wegzugeben. Nun, nach dem politischen Wandel und dem allgemeinen Verfall, dachte keiner in der Regierung mehr an Kunst und Literatur. Müde davon, nach einer ehrbaren Lösung zu suchen, steckte ich den Schmuck, den Delgadina mir zurückgegeben hatte, in die Tasche und ging zu einem Pfandhaus in einer düsteren Gasse, die zum Marktplatz führte. Ich gab mich als zerstreuter Gelehrter und durchschritt ein paarmal dieses üble Viertel, in dem sich erbärmliche Kaschemmen, Gebrauchtwarenläden und Pfandhäuser drängten, doch die Würde von Florina de Dios stand mir im Weg: Ich traute mich nicht. Daraufhin beschloss ich, den Schmuck erhobenen Hauptes beim ältesten und renommiertesten Juwelier zu verkaufen.
Der Angestellte stellte mir ein paar Fragen, während er den Schmuck mit der Lupe untersuchte. Er trat auf wie ein Arzt und flößte Angst ein. Ich erklärte ihm, es seien Erbstücke von meiner Mutter. Mit einem Knurren bestätigte er jede meiner Erläuterungen und legte endlich die Lupe nieder.
»Ich bedaure«, sagte er, »aber es handelt sich um Flaschenglas.«
Angesichts meiner Verblüffung beschwichtigte er mich mit sanftem Erbarmen: Nur gut, dass das Gold wirklich Gold und das Platin Platin ist. Ich tastete nach meiner Brusttasche, um mich zu vergewissern, dass ich die Rechnungen dabeihatte, und sagte ohne Bedenken:
»Nun, alles wurde in diesem noblen Haus vor mehr als hundert Jahren gekauft.«
Er blieb gelassen. Es kommt mitunter vor, sagte er, dass bei ererbten Schmuckstücken im Laufe der Zeit die kostbarsten Steine verschwinden; sie werden von schwarzen Schafen der Familie oder von fragwürdigen Juwelieren ausgetauscht, und erst wenn jemand den Schmuck verkaufen will, kommt der Betrug ans Licht. Aber geben Sie mir einen Augenblick Zeit, sagte er und verschwand mit dem Schmuck durch die Hintertür. Kurz darauf kam er zurück und bedeutete mir ohne weitere Erklärung, auf einem Sessel Platz zu nehmen und zu warten; sodann ging er weiter seiner Arbeit nach.
Ich musterte das Geschäft. Ich war mit meiner Mutter öfter hier gewesen und erinnerte mich an einen wiederkehrenden Satz: Sag deinem Papa nichts davon. Plötzlich kam mir ein Gedanke, der mich aufbrachte: Konnte es nicht sein, dass Rosa Cabarcas und Delgadina in schönem Einverständnis die Edelsteine verkauft und mir den Schmuck mit falschen Steinen zurückgegeben hatten?
Ich brannte vor Argwohn, als mich eine Sekretärin aufforderte, ihr durch die Hintertür zu folgen. Sie führte mich in ein kleines Büro mit einem großen Regal voll dickleibiger Bände. Ein grobschlächtiger alter Mann erhob sich hinter dem Schreibtisch und drückte mir die Hand, duzte mich dabei mit der Herzlichkeit eines langjährigen Freundes. Wir haben zusammen Abitur gemacht, sagte er zum Gruß. Es war leicht, sich an ihn zu erinnern: Er war der beste Fußballspieler der Schule und Champion bei unseren ersten Bordellbesuchen gewesen. Irgendwann hatten sich unsere Wege getrennt, und er hielt mich wohl nur deshalb für einen Mitschüler aus seiner Kindheit, weil ich so hinfällig wirkte.
Auf der Glasplatte des Schreibtischs lag geöffnet einer der Wälzer aus dem Archiv, in dem der Schmuck meiner Mutter verzeichnet war. Dort stand auch, mit Datum und Details, ein genauer Bericht darüber, dass sie selbst die Edelsteine von zwei Generationen schöner und würdiger Cargamantos hatte auswechseln lassen und an eben dieses Geschäft verkauft hatte. Das war zu der Zeit geschehen, als der Vater des jetzigen Besitzers das Juweliergeschäft führte und er und ich zur Schule gingen. Doch er beruhigte mich: Solche Tricks waren gang und gäbe, wenn reiche Familien in Geldschwierigkeiten kamen, man rettete sich so ohne Ehrverlust aus einer peinlichen Situation. Angesichts dieser kruden Realität zog ich vor, den Schmuck zu behalten, als Erinnerung an eine andere Florina de Dios, die ich nie kennen gelernt hatte.
Anfang Juli konnte ich die Nähe des Todes genau ermessen. Mein Herz kam aus dem Tritt, und überall begann ich untrügliche Vorzeichen des Endes zu sehen und zu spüren. Das deutlichste stellte sich bei einem Konzert im Bellas Artes ein. Die Klimaanlage war ausgefallen, und die Creme von Literatur und Kunst wurde in dem überfüllten Raum langsam im Wasserbad gesotten, doch die Magie der Musik war ein himmlisches Klima für sich. Am Ende, beim Allegretto poco mosso, schauderte es mich ob der überwältigenden Offenbarung, gerade das letzte Konzert zu hören, das mir das Schicksal noch vor dem Tod beschieden hatte. Ich verspürte weder Schmerz noch Angst, war nur hingerissen, dies erleben zu können.
Als ich mir endlich schweißnass einen Weg durch die Umarmungen und Blitzlichter bahnen konnte, stieß ich unverhofft mit Ximena Ortiz zusammen, die wie eine hundertjährige Göttin im Rollstuhl saß. Ihre bloße Gegenwart überwältigte mich wie eine Todsünde. Sie trug ein Kleid aus elfenbeinfarbener Seide, die so glatt war wie ihre Haut, eine dreifache Perlenschnur um den Hals und ihr perlmuttenes Haar war nach der Mode der Zwanziger geschnitten, mit der Spitze eines Möwenflügels auf der Wange, und aus dem natürlichen Schatten der Augenhöhlen leuchteten ihre großen gelben Augen. Alles an ihr strafte das Gerücht Lügen, sie sei schwer beeinträchtigt durch den unaufhaltsamen Abbau des Gedächtnisses. Versteinert und ihr gegenüberwehrlos, missachtete ich die feurige Röte, die mir ins Gesicht stieg, und grüßte sie schweigend mit einer höfischen Verbeugung. Sie lächelte wie eine Königin und griff nach meiner Hand. Da merkte ich, dass auch dies ein Wink des Schicksals war, und ich folgte ihm, um mich von einem Dorn zu befreien, der mich schon immer geplagt hatte. Jahrelang habe ich von diesem Augenblick geträumt, sagte ich zu ihr. Sie schien nicht zu begreifen. Nein, so was!, sagte sie. Und wer bist du? Ich erfuhr nie, ob sie es wirklich vergessen hatte oder ob das die letzte Rache ihres Lebens war.
Die Gewissheit, sterblich zu sein, hatte mich allerdings schon kurz vor meinem fünfzigsten Geburtstag bei einer ähnlichen Gelegenheit ereilt, einer Karnevalsnacht, in der ich einen wilden Tango mit einer unglaublichen Frau tanzte, deren Gesicht ich nie zu sehen bekam, sie war etwa vierzig Pfund schwerer und zwei Handbreit größer als ich, ließ sich aber führen wie eine Feder im Wind. Wir tanzten so eng, dass ich spürte, wie ihr das Blut durch die Adern strömte, und ihr mühsames Atmen, ihr Ammoniakgeruch und ihre astronomischen Brüste hatten mich schläfrig vor Wohlbehagen gemacht, als mich zum ersten Mal das Rasseln des Todes erreichte und fast zu Boden zwang. Es war wie ein grausames Orakel im Ohr: Was du auch tust, in diesem Jahr oder in hundert Jahren wirst du für immer tot sein. Sie löste sich erschreckt von mir: Was haben Sie? Nichts, sagte ich und versuchte mein Herz zu bändigen:
»Ich zittere Ihretwegen.«
Von da an zählte ich das Leben nicht nach Jahren, sondern nach Jahrzehnten. Das sechste war entscheidend, weil mir damals bewusst wurde, dass fast alle jünger waren als ich. Das siebte war das intensivste, wegen des Verdachts, keine Zeit mehr für Irrtümer zu haben. Das achte war beängstigend, weil die Möglichkeit bestand, dass es das letzte war. Als ich aber am ersten Morgen meiner neunzig Jahre in Delgadinas glücklichem Bett erwachte, ging mir der wohltuende Gedanke durch den Kopf, das Leben sei nicht der unruhige Fluss, den Heraklit beschreibt, sondern eine einzigartige Gelegenheit, sich auf dem Rost umzudrehen und neunzig weitere Jahre auf der anderen Seite zu braten.
Auf einmal hatte ich nahe am Wasser gebaut. Bei jedwedem Gefühl, das etwas mit Zärtlichkeit zu tun hatte, spürte ich einen Kloß im Hals, mit dem ich nicht immer fertig wurde, und ich wollte schon den einsamen Genuss, über Delgadinas Schlaf zu wachen, aufgeben, nicht so sehr wegen der Ungewissheit meiner Sterbestunde als wegen des Schmerzes, mir vorstellen zu müssen, wie sie den Rest ihres Lebens ohne mich verbrachte. An einem jener zerstreuten Tage gelangte ich zufällig in die noble Calle de los Notarios und war sehr überrascht, dort nur die Ruinen des alten Stundenhotels zu finden, in dem ich kurz vor meinem zwölften Geburtstag gewaltsam in die Liebeskunst eingeführt worden war. Es war das ehemalige Palais einer Reederfamilie, prächtig wie wenige in der Stadt, es hatte mit Alabaster verkleidete Säulen und vergoldete Friese und eine siebenfarbige Glaskuppel über dem Innenhof, der wie ein Gewächshaus im Licht erglänzte. Über ein Jahrhundert lang hatten im Erdgeschoss hinter gotischen Arkaden die Notare der Kolonie residiert, dort hatte auch mein Vater gearbeitet, es zu etwas gebracht und fast alles wieder verloren in einem ganzen Leben phantastischer Träumereien. Die alteingesessenen Familien verließen nach und nach die oberen Stockwerke, und diese wurden schließlich von einer Legion ins Unglück geratener Nachtschwalben besetzt; bis zum Morgengrauen stiegen diese treppauf und treppab mit den Kunden, die ihnen in den Kaschemmen am nahen Flusshafen für anderthalb Pesos ins Netz gegangen waren.
Mit zwölf, ich trug noch kurze Hosen und die Schnürstiefel der Grundschule, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, die oberen Stockwerke kennen zu lernen, dieweil mein Vater sich in einer seiner endlosen Besprechungen erging, und dort bot sich mir ein himmlisches Schauspiel. Die Frauen, die bis zum Morgengrauen ihren Körper verschachert hatten, bewegten sich ab elf, wenn die Gluthitze unter der Glaskuppel schon unerträglich wurde, nackt durch die Räume und erledigten ihre häuslichen Arbeiten, während sie sich schreiend über die Abenteuer der Nacht austauschten. Ich geriet in Panik. Mir fiel nichts anderes ein, als dorthin zu fliehen, woher ich gekommen war, da umfing mich von hinten eine der stämmigen Nackten, deren Fleisch nach Kräuterseife roch, hob mich hoch und trug mich zu ihrer Pappkammer, ohne dass ich sie inmitten des Geschreis und des Applauses der unbekleideten Mieterinnen sehen konnte. Sie warf mich auf ihr überbreites Bett, zog mir mit einem fachkundigen Griff die Hose aus und stieg auf mich, doch der eisige Schrecken, der meine Haut mit Schweiß überzog, hinderte mich daran, sie wie ein Mann zu empfangen. Nachts konnte ich ob der Peinlichkeit des Überfalls und in dem Verlangen, sie wiederzusehen, kaum eine Stunde schlafen. Am nächsten Morgen dann, als die Übernächtigten noch schliefen, stieg ich zitternd zur Kammer dieser Frau hoch, weckte sie laut heulend vor wahnsinniger Liebe, die so lange dauerte, bis sie vom Sturmwind des wirklichen Lebens erbarmungslos hinweggefegt wurde. Die Frau hieß Castorina und war die Königin des Hauses.
Die Kammern des Hotels kosteten einen Peso für ein schnelles Liebesgeschäft, und nur wenigen war bekannt, dass sie für vierundzwanzig Stunden das Gleiche kosteten. Castorina führte mich in ihre abseitige Welt ein: Die Frauen luden arme Freier zu ihren Galafrühstücken ein, liehen ihnen Seife, versorgten sie bei Zahnschmerzen, und in dringlichen Fällen erwiesen sie ihnen auch barmherzige Liebesdienste.
Doch an meinem Lebensabend erinnerte sich schon keiner mehr an die unsterbliche Castorina, die wer weiß wann gestorben war, eine Frau, die von den erbärmlichen Ecken am Kai zum heiligen Thron der Großen Puffmutter aufgestiegen war, eine Piratenklappe über dem bei einer Kneipenschlägerei verlorenen Auge. Ihr letzter angestellter Liebhaber, ein glücklicher Neger aus Camagüey, der Jonas der Galeerensklave genannt wurde, war einer der großen Trompetenspieler in Havanna gewesen, bevor er bei einem Zugunglück sein gesamtes Lächeln verlor.
Nach jenem bitteren Besuch spürte ich ein Herzstechen, das ich auch mit allerlei Hausmittelchen in drei Tagen nicht lindern konnte. Der Arzt, zu dem ich in meiner Not ging, Spross eines vortrefflichen Stammes, war der Enkel desjenigen, den ich mit zweiundvierzig aufgesucht hatte, und es erschreckte mich, dass ich ihn für eben diesen hielt, da er mit seiner vorzeitigen Glatze, den Brillengläsern eines hoffnungslos Kurzsichtigen und seiner untröstlichen Traurigkeit so alt aussah wie sein Großvater mit siebzig. Konzentriert und mit der Sorgfalt eines Goldschmieds untersuchte er meinen ganzen Körper. Er hörte Brust und Rücken ab, prüfte den Blutdruck, die Kniereflexe, den Augenhintergrund, die Färbung des Unterlids. In den Pausen, während ich auf der Untersuchungsliege die Position wechselte, stellte er mir dermaßen schnell vage Fragen, dass ich kaum Zeit hatte, mir die Antworten zu überlegen. Nach einer Stunde sah er mich glücklich lächelnd an. Nun gut, sagte er, ich glaube, ich kann nichts für Sie tun. Was wollen Sie damit sagen? Dass Ihr Zustand der bestmögliche für Ihr Alter ist. Merkwürdig, sagte ich, es ist, als ob die Zeit nicht verginge. Das Gleiche hat mir Ihr Großvater gesagt, als ich zweiundvierzig war. Sie werden immer einen finden, der Ihnen das sagt, meinte er, weil Sie immer ein bestimmtes Alter haben werden. Als wollte ich ihn zu einem furchterregenden Urteil provozieren, sagte ich: Das einzig endgültige Alter ist der Tod. Ja, sagte er, aber es in so guter Verfassung zu erreichen wie Sie, ist nicht leicht. Es tut mir wirklich leid, Ihnen nicht gefällig sein zu können.
Daran erinnerte ich mich gerne, doch am Vortag des 29. Augusts, als ich eisernen Schritts die Treppe meines Hauses erklomm, spürte ich das maßlose Gewicht des Jahrhunderts, das mich voller Gleichmut erwartete. Dann sah ich noch einmal Florina de Dios, meine Mutter, sie lag in meinem Bett, das bis zu ihrem Tod das ihre gewesen war, und sie gab mir den gleichen Segen wie damals, als ich sie zum letzten Mal sah, zwei Stunden bevor sie starb. Völlig durcheinander vor Rührung begriff ich dies als letzte Ankündigung und rief Rosa Cabarcas an, sie solle meine Kleine in eben dieser Nacht kommen lassen, denn ich sah voraus, dass sich meine Hoffnung, den letzten Atemzug meines neunzigsten Jahrs zu überleben, nicht erfüllen würde. Um acht Uhr rief ich noch einmal an, aber Rosa wiederholte, es sei nicht möglich. Es muss möglich sein, koste es, was es wolle, schrie ich sie in Panik an. Sie hängte auf, ohne sich zu verabschieden, doch fünfzehn Minuten später rief sie wieder an.
»Nun gut, hier hast du sie.«
Ich traf um zwanzig nach zehn bei Rosa Cabarcas ein und übergab ihr die letzten Briefe meines Lebens, in denen ich Verfügungen zu Gunsten der Kleinen nach meinem schrecklichen Ende getroffen hatte. Sie dachte, die Geschichte mit dem Erstochenen ginge mir noch nach, und sagte spöttisch: Wenn du sterben willst, dann bitte nicht hier. Ich aber erwiderte: Sag einfach, mich habe der Zug nach Puerto Colombia überrollt, diese jämmerliche Schrottkiste, die keinen in den Tod befördern kann.
Ich war auf alles vorbereitet, als ich mich in dieser Nacht aufs Bett legte und jenen finalen Schmerz im ersten Augenblick meines einundneunzigsten Jahrs erwartete. Ich hörte ferne Glocken, spürte den Seelenduft von Delgadina, die auf der Seite schlief, hörte einen Schrei am Horizont und die Schluchzer von jemandem, der vielleicht vor einem Jahrhundert in diesem Zimmer gestorben war. Dann löschte ich mit letzter Kraft das Licht, verschränkte meine Finger mit den ihren, um sie an der Hand mitzu-nehmen, und zählte die zwölf Glockenschläge der Mitternacht mit meinen zwölf letzten Tränen, bis dann die Hähne zu krähen begannen und gleich darauf die Siegesglocken läuteten, die Feuerwerkskörper krachten und vom Jubel kündeten, dass ich meine neunzig Jahre gesund und munter überlebt hatte.
Meine ersten Worte waren an Rosa Cabarcas gerichtet: Ich kauf dir das Haus ab, ganz und gar, mit Laden und Obstgarten. Sie sagte zu mir: Lass uns doch vor dem Notar eine Abmachung unter alten Leuten treffen: Wer als Erster stirbt, vermacht alles dem anderen. Nein, denn wenn ich sterbe, soll alles für die Kleine sein. Das kommt aufs Gleiche raus, sagte Rosa Cabarcas, ich kümmere mich um sie und hinterlasse ihr dann alles, deines und meines; ich habe sonst keinen auf der Welt. Bis es so weit ist, gestalten wir dein Zimmer neu, mit einem anständigen Bad, Klimaanlage, deinen Büchern und deiner Musik.
»Glaubst du, sie ist damit einverstanden?« »Ach, mein trauriger Gelehrter, es ist ja in Ordnung, dass du alt bist, aber sei bitte kein
Trottel«, sagte Rosa Cabarcas und wollte sich tot lachen. »Dieses arme Geschöpf ist ganz närrisch vor Liebe zu dir.«
Ich ging hinaus auf die strahlende Straße, und zum ersten Mal sah ich mich selbst am fernen Horizont meines ersten Jahrhunderts.
Mein Haus, still und geordnet um Viertel nach sechs, begann sich an den Farben eines glücklichen Morgenrots zu erfreuen. Damiana sang aus voller Kehle in der Küche, und die gesundete Katze ringelte ihren Schwanz um meine Knöchel und begleitete mich bis zu meinem Schreibtisch. Ich ordnete gerade meine vergilbten Blätter, das Tintenfass, den Gänsekiel, als die Sonne zwischen den Mandelbäumen des Parks explodierte und der Flussdampfer mit der Post, wegen der Dürre eine Woche verspätet, tutend in den Hafenkanal einfuhr. Das war endlich das wirkliche Leben, mein Herz war gerettet und dazu verdammt, an wahrer Liebe zu sterben, in glücklicher Agonie, an irgendeinem Tag nach meinem hundertsten Geburtstag.