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Wie sie wohl hieß? Rosa Cabarcas hatte es mir nicht gesagt. Wenn sie von ihr redete, sagte sie nur: la niña, die Kleine. Und ich hatte das Wort zum Vornamen gemacht, es war ja auch eine andere Bezeichnung für die Pupille und der Name der dritten Karavelle. Im Übrigen hießen bei Rosa Cabarcas die Mädchen für jeden Freier anders. Ich belustigte mich damit, vom Gesicht her auf den Namen zu schließen, und war von Anfang an sicher, dass die Kleine einen langen hatte, so etwas wie Filomena, Saturnina oder Nicolasa. Darüber grübelte ich gerade, als sie sich auf dem Bett umdrehte und mir den Rücken zuwandte, wobei es mir so erschien, als habe sie eine Blutlache in der Größe und Gestalt ihres Körpers hinterlassen.
Ein plötzlicher Schreck, bis ich feststellte, dass das Laken vom Schweiß feucht geworden war.
Rosa Cabarcas hatte mir geraten, behutsam mit ihr umzugehen, da sie noch nicht die Angst vom ersten Mal überwunden habe. Ich glaube aber, dass ihre Angst gerade wegen der Feierlichkeit des Rituals gewachsen war und man die Dosis Baldrian hatte erhöhen müssen, denn sie schlief so friedlich, dass es ein Jammer gewesen wäre, sie ohne Liebkosungen zu wecken. Also begann ich, sie mit dem Handtuch abzutupfen, während ich ihr leise das Lied von Delgadina, der jüngsten Königstochter und ganzen Liebe ihres Vaters, vorsummte. Während ich sie abtrocknete, zeigte sie mir im Takt meines Gesangs ihre schweißnassen Flanken. Delgadina, Delgadina, du mein geliebtes Pfand. Es war ein Genuss ohne Grenzen, denn hatte ich die eine Seite abgetrocknet, begann sie an der anderen wieder zu schwitzen, damit das Lied kein Ende nehme. Steh auf, Delgadina, zieh dein seidnes Röcklein an, sang ich ihr ins Ohr. Am Ende, wenn die Diener des Königs sie verdurstend in ihrem Bett auffinden, hatte ich den Eindruck, dass meine Kleine bei dem Klang des Namens aufgemerkt hatte. Sie war es also: Delgadina.
Ich legte mich in meinen Unterhosen mit den aufgedruckten Küssen wieder neben sie ins Bett. Bis fünf Uhr schlief ich, eingewiegt von ihrem friedlichen Atem. Ohne mich zu waschen, kleidete ich mich hastig an, und erst da sah ich den Satz, der mit Lippenstift auf den Spiegel über dem Waschbecken geschrieben war: Der Tiger frisst nicht fern. Ich weiß, dass die Aufschrift am Abend zuvor noch nicht da gewesen war, doch keiner konnte in das Zimmer gekommen sein, also verstand ich sie als Geschenk des Teufels. Ein fürchterliches Donnern überraschte mich an der Tür, und das Zimmer füllte sich ahnungsvoll mit dem Geruch der nassen Erde. Ich kam nicht mehr unbeschadet davon. Bevor ich ein Taxi fand, ging einer jener Wolkenbrüche nieder, die zwischen Mai und Oktober die Stadt aus dem Lot zu bringen pflegen, weil sie die Straßen aus glühendem Staub, die zum Fluss hinunterführen, in Sturzbäche verwandeln und diese alles mitreißen, was ihnen in den Weg kommt. Der Regen in jenem seltsamen September konnte nach dreimonatiger Dürre ebenso glücksbringend wie verheerend sein.
Als ich die Haustür öffnete, hatte ich sogleich die körperliche Empfindung, nicht allein zu sein. Ich sah gerade noch den Schemen der Katze, die vom Sofa sprang und über den Balkon entwischte. Auf ihrem Teller lagen die Reste einer Mahlzeit, die ich ihr nicht serviert hatte. Der Gestank ihres abgestandenen Urins und der frischen Kacke hatte alles verpestet. Ich hatte mich dem Studium der Katze gewidmet wie einst dem des Lateins. In dem Handbuch stand, dass Katzen die Erde aufkratzen, um ihren Kot zu verscharren, und dass sie in Häusern wie diesem, das keinen Patio hat, Blumentöpfe oder sonst einen Winkel dazu benutzen würden. Es empfehle sich, ihnen gleich am ersten Tag eine Kiste mit Sand bereitzustellen, damit sie sich daran gewöhnen könnten, und das hatte ich gemacht. Es hieß auch, dass sie in einem neuen Haus zuallererst ihr Revier markieren, indem sie überallhin urinieren, und das konnte der Fall gewesen sein, doch im Handbuch stand nicht, wie dem zu begegnen sei. Ich folgte ihren Spuren, um mich mit ihren ureigenen Gewohnheiten vertraut zu machen, stieß aber nicht auf ihre geheimen Verstecke, ihre Ruheplätze, auf die Gründe für ihre wechselnden Launen. Ich wollte ihr beibringen, zu bestimmten Stunden zu fressen, in das Sandkistchen auf der Terrasse zu machen, weder auf mein Bett zu springen, wenn ich schlief, noch an den Speisen auf dem Tisch zu schnüffeln, doch sie wollte nicht verstehen, dass sie zwar alle Rechte im Haus hatte, dieses aber nicht als Kriegsbeute ansehen sollte. Also ließ ich sie nach ihrer Façon walten.
Gegen Abend bot ich dem Unwetter die Stirn, dessen Orkanböen das Haus auf den Kopf zu stellen drohten. Ich musste ständig niesen, der Schädel tat mir weh, und ich hatte Fieber, doch ich fühlte mich von einer Kraft und einer Entschlossenheit besessen, die ich noch nie, in keinem Alter und aus keinem Anlass, gehabt hatte. Ich stellte Becken auf den Boden, um die Tropfen aus den Lecks im Dach aufzufangen, und sah, dass seit dem vergangenen Winter neue hinzugekommen waren. Durch das größte Leck wurde allmählich die rechte Seite der Bibliothek überschwemmt. Ich beeilte mich, die griechischen und römischen Autoren zu retten, die in jenem Bereich zu Hause waren, doch als ich die Bücher wegräumte, begegnete mir ein Wasserstrahl, der mit Hochdruck aus einem schadhaften Rohr hinten in der Mauer schoss. Ich knebelte es notdürftig mit Lappen, um Zeit für die Rettung der Bücher zu gewinnen. Das Getöse des Regens und das Heulen des Windes im Park wurden heftiger. Ein geisterhafter Blitz und gleichzeitiger Donner erfüllten die Luft mit starkem Schwefelgeruch, die Windsbraut drückte die Scheiben der Balkontüren ein, und eine ungeheure Böe vom Meer brach die Riegel auf und drang ins Haus. Nach kaum zehn Minuten klarte es jedoch plötzlich auf. Eine strahlende Sonne trocknete die mit Schutt und Trümmern übersäten Straßen, und die Hitze kehrte wieder ein.
Als das Unwetter vorüber war, hatte ich immer noch das Gefühl, nicht allein im Haus zu sein. Ich konnte es mir nur so erklären, dass genau wie man reale Begebenheiten vergisst, auch solche, die nie stattgefunden haben, erinnert werden können, als seien sie gewesen. Denn wenn ich mich an die Notlage bei dem Unwetter erinnerte, dann sah ich mich nicht allein im Haus, sondern immer in Begleitung von Delgadina. Ich hatte sie in der Nacht so nah gespürt, dass ich den Hauch ihres Atems im Schlafzimmer wahrnahm und das Pochen ihrer Wange auf meinem Kopfkissen. Erst jetzt begriff ich, warum wir in so kurzer Zeit so viel hatten schaffen können. Ich sah mich auf dem Schemel in der Bibliothek stehen und sie, nun wach in ihrem Blümchenkleid, die Bücher entgegennehmen und in Sicherheit bringen. Ich sah sie gegen den Sturm ankämpfend hin und her rennen, triefend nass, bis zu den Knöcheln im Wasser. Ich erinnerte mich daran, wie sie am nächsten Tag das Frühstück bereitete, das es nie gegeben hat, und den Tisch deckte, während ich die Böden trockenwischte und wieder Ordnung im schiffbrüchigen Haus herstellte. Nie werde ich ihren düsteren Blick beim Frühstück vergessen: Warum hast du mich erst kennen gelernt, als du schon so alt warst? Ich sagte die Wahrheit: Man ist nicht so alt, wie man ist, sondern so alt, wie man sich fühlt.
Von da an hatte ich sie so deutlich vor mir, dass ich mit ihr machte, was ich wollte. Ich änderte ihre Augenfarbe je nach meiner Stimmung: Wasserfarben beim Aufwachen, sirupfarben, wenn sie lachte, glutfarben, wenn ich sie verstimmte. Ich kleidete sie gemäß dem Alter und den Rollen ein, die meinen wechselnden Launen entsprachen: verliebte Novizin mit zwanzig, Salondirne mit vierzig, Königin von Babylon mit siebzig und Heilige mit hundert. Wir sangen Liebesduette von Puccini, Boleros von Agustin Lara, Tangos von Carlos Gardel und stellten wieder einmal fest, dass wer nicht singt, sich gar nicht vorstellen kann, was für ein Glück es ist zu singen. Heute weiß ich, das war keine Halluzination, sondern ein weiteres Wunder der ersten Liebe meines Lebens mit neunzig Jahren.
Als das Haus wieder in Ordnung war, rief ich Rosa Cabarcas an. Heiliger Himmel, jubelte sie, als sie meine Stimme hörte, ich dachte schon, du wärst ertrunken. Sie konnte nicht begreifen, dass ich weder die Nacht mit der Kleinen verbracht hatte, ohne sie anzurühren. Du hast alles Recht der Welt, sie nicht zu mögen, aber benimm dich wenigstens wie ein Erwachsener. Ich versuchte es zu erklären, aber sie wechselte einfach das Thema: Wie dem auch sei, ich habe ein etwas älteres Mädchen für dich ausgeguckt, sie ist schön und ebenfalls Jungfrau. Ihr Vater will sie für ein Haus eintauschen, aber man kann über einen Preisnachlass reden. Mir gefror das Herz. Das fehlte gerade noch, protestierte ich erschrocken, ich will dieselbe, und so wie immer, ohne Scheitern, ohne Streit, ohne schlechte Erinnerungen. Die Leitung blieb eine Weile stumm, und schließlich hörte ich die ergebene Stimme, mit der sie zu sich selbst sagte: Nun ja, hier handelt es sich wohl um das, was die Ärzte Altersdemenz nennen.
Ich ließ mich um zehn Uhr nachts von einem Chauffeur hinfahren, der für die seltene Tugend, keine Fragen zu stellen, bekannt war. Ich hatte einen tragbaren Ventilator dabei und ein Bild von Orlando Rivera, dem lieben Figurita, sowie einen Hammer und einen Nagel, um es aufzuhängen. Auf der Fahrt ließ ich den Chauffeur anhalten und kaufte Zahnbürsten, Zahnpasta, Duftseife, Agua de Florida und Lakritzbonbons. Ich wollte auch eine ordentliche Vase und einen Strauß gelber Rosen mitbringen, um den Fluch der Papierblumen zu bannen, aber kein Geschäft war offen, sodass ich aus einem Garten einen Strauß eben erst erblühter Astromelien klauen musste.
Auf Anweisung der Hausherrin sollte ich jetzt immer über die Straße hinter dem Haus, von der Seite des Aquädukts, kommen, damit mich keiner durch die Gartenpforte eintreten sah. Der Chauffeur warnte mich: Vorsicht, Gelehrter, in diesem Haus wird getötet. Ich antwortete: Macht nichts, wenn es denn aus Liebe geschieht. Der Hof lag im Finstern, aber in den Fenstern brannte Licht, und aus jedem der sechs Zimmer drang eine andere Musik, ein lebhaftes Potpourri. In meinem erkannte ich in voller Lautstärke die warme Stimme von Pedro Vargas, dem Tenor Amerikas, der einen Bolero von Miguel Matamoros sang. Ich meinte, ich müsse sterben. Mit stockendem Atem stieß ich die Tür auf und sah Delgadina im Bett liegen, ganz wie in meiner Erinnerung: nackt und friedlich auf der Seite des Herzens schlafend.
Bevor ich mich ins Bett legte, arrangierte ich den Toilettentisch, ersetzte den verrosteten Ventilator durch den neuen und hängte das Bild so auf, dass sie es vom Bett aus sehen konnte. Ich legte mich an ihre Seite und erkannte alles an ihr wieder. Es war sie, die durch mein Haus wandelte: die gleichen Hände, die mich tastend im Dunkeln erkannten, die gleichen Füße mit dem sanften Tritt, der nicht zu unterscheiden war von dem der Katze, der gleiche Schweißgeruch meiner Laken, der Fingerhutfinger. Unglaublich: Nun, da ich sie leibhaftig vor mir hatte und berührte, erschien sie mir unwirklicher als in meiner Erinnerung.
Auf der Wand gegenüber hängt ein Bild, sagte ich. Das hat Figurita gemalt, ein Mann, den wir sehr geliebt haben, der beste Bordelltänzer, den es je gegeben hat, und so gutherzig, dass er sogar mit dem Teufel Mitleid hatte. Er hat das Bild mit Schiffsfarbe auf das verkohlte Segeltuch eines Flugzeugs gemalt, das in der Sierra Nevada von Santa Marta zerschellt ist, und mit Pinseln, die er aus den Haaren seines Hundes fertigte. Die Frau auf dem Bild ist eine Nonne, die hat er aus einem Kloster entführt und geheiratet. Ich lasse es hier, damit du es als Erstes beim Aufwachen siehst.
Sie lag noch immer in derselben Stellung da, als ich um ein Uhr das Licht löschte, und ihr Atem war so schwach, dass ich ihr den Puls fühlte, weil ich das Leben in ihr spüren wollte. Das Blut rann durch ihre Adern, flüssig wie ein Lied, das sich bis in die verstecktesten Winkel ihres Körpers verzweigte und von der Liebe geläutert wieder zum Herzen strömte.
Bevor ich im Morgengrauen ging, zeichnete ich ihre Handlinien auf ein Papier und gab es dann Diva Sahibi zum Lesen, auf dass ich die Seele der Kleinen kennen lernte. Und heraus kam das: eine Person, die nur sagt, was sie denkt. Im Handarbeiten perfekt. Sie steht in Kontakt mit jemandem, der schon gestorben ist und von dem sie Hilfe erwartet; doch da irrt sie, denn die Hilfe, die sie sucht, ist zum Greifen nah. Sie hat sich noch keinem verbunden, wird aber alt und verheiratet sterben. Jetzt hat sie einen dunkelhaarigen Verehrer, der aber nicht der Mann ihres Lebens sein wird. Sie könnte acht Kinder haben, wird sich aber für nur drei entscheiden. Wenn sie nicht der Vernunft folgt, sondern das tut, was ihr das Herz sagt, wird sie mit fünfunddreißig über viel Geld verfügen und mit vierzig eine Erbschaft antreten. Sie wird viel reisen. Sie hat zwei Leben und ein zweifaches Glück und kann auf ihr Schicksal Einfluss nehmen. Aus Neugier probiert sie gern alles aus, wird es aber bereuen, wenn sie dabei nicht auf ihr Herz hört.
Von Liebe gemartert ließ ich die Verwüstungen des Sturms reparieren und nutzte die Gelegenheit, um etliche Ausbesserungen vorzunehmen, die ich aus Geldmangel oder Nachlässigkeit seit Jahren aufgeschoben hatte. Ich ordnete die Bibliothek neu, und zwar in der Reihenfolge, in der ich die Bücher gelesen hatte. Zum Schluss ließ ich das Pianola mit den gut hundert Notenrollen klassischer Musik als historische Reliquie versteigern und kaufte mir einen Plattenspieler, der zwar gebraucht, aber besser als mein alter war, dazu Hi-Fi-Lautsprecher, die das Haus weiträumiger machten. Ich war am Rand der Pleite, jedoch bestens entschädigt durch das Wunder, in meinem Alter noch lebendig zu sein.
Das Haus war aus der Asche auferstanden, und ich schwebte in Delgadinas Liebe, so erfüllt und glückselig, wie ich es in meinem bisherigen Leben nicht gekannt hatte. Ihr verdankte ich, dass ich als Neunzigjähriger zum ersten Mal mit meinem natürlichen Wesen konfrontiert wurde. Ich entdeckte, dass meine Obsession, jedes Ding an seinem Platz, jede Angelegenheit zu ihrer Zeit, jedes Wort im richtigen Stil zu haben, nicht der verdiente Preis eines geordneten Geistes, sondern das ganze Gegenteil war, geradezu ein System der Täuschung, das ich erdacht hatte, um meine unordentliche Natur zu verbergen. Ich entdeckte, dass ich nicht aus Tugend diszipliniert bin, sondern als Reaktion auf meine Nachlässigkeit; dass ich mich großzügig gebe, um meine Kleinlichkeit zu verdecken, dass meine Vorsicht aus Vorurteilen erwächst, dass ich versöhnlich bin, um nicht meiner unterdrückten Wut anheim zu fallen, dass ich nur pünktlich bin, damit niemand erfährt, wie gleichgültig mir fremde Zeit ist. Zu guter Letzt entdeckte ich, dass die Liebe nicht ein Seelenzustand, sondern ein Zeichen des Tierkreises ist.
Ich wurde ein anderer. Ich versuchte, die Klassiker neu zu lesen, die mich beim Heranwachsen geleitet hatten, und konnte nichts mit ihnen anfangen. Ich tauchte in die romantische Literatur ein, die ich verschmäht hatte, als meine Mutter sie mir mit harter Hand hatte aufzwingen wollen, und dabei wurde mir bewusst, dass die unbesiegbare Kraft, die diese Welt bewegt, nicht aus glücklicher, sondern aus verhinderter Liebe erwächst. Als meine musikalischen Neigungen ins Wanken gerieten, entdeckte ich, dass ich alt und rückständig war, und öffnete mein Herz den Wonnen des Zufalls.
Ich frage mich, wie ich diesem ständigen Taumel erliegen konnte, den ich selbst provozierte und fürchtete. Ich schwebte zwischen wandernden Wolken und führte, in der vergeblichen Hoffnung herauszufinden, wer ich war, vor dem Spiegel Selbstgespräche. Mein Wahn ging so weit, dass ich bei einer Studentendemonstration, als Steine und Flaschen flogen, Kraft aus meiner Schwäche ziehen musste, um nicht mit einem Schild vorneweg zu stürmen, das meine Wahrheit ausposaunte: Ich bin verrückt vor Liebe.
Betäubt von der erbarmungslosen Erinnerung an die schlafende Delgadina veränderte ich ohne Hintergedanken den Stil meiner sonntäglichen Glossen. Worüber auch immer, ich schrieb für die Kleine, lachte oder weinte für sie, und mit jedem Wort verging mein Leben. Statt in dem traditionell feuilletonisti-schen Stil, den die Glossen immer gehabt hatten, schrieb ich sie jetzt wie Liebesbriefe, die jeder sich zu Eigen machen konnte. Ich schlug in der Redaktion vor, dass der Text nicht gesetzt, sondern in meiner florentinischen Handschrift veröffentlicht würde. Der Chefredakteur hielt das, klar, für einen weiteren Anfall von seniler Eitelkeit, doch der Direktor überzeugte ihn mit einem Satz, der noch heute in der Redaktion die Runde macht:
»Irren Sie sich nicht: Die harmlosen Verrückten sind der Zukunft voraus.«
Die Öffentlichkeit reagierte sofort, enthusiastische Leserbriefe von Verliebten häuften sich. Manche meiner Texte wurden im Radio mit der Dringlichkeit letzter Nachrichten verlesen, man fertigte Abschriften an, und die wurden mit Kohlepapier oder maschinell vervielfältigt und wie Schmuggelzigaretten an den Ecken der Calle San Blas verkauft. Von Anfang an war klar, dass die Glossen meinem Verlangen gehorchten, mich auszusprechen, doch ich gewöhnte mich daran, dies beim Schreiben zu reflektieren, immer mit der Stimme eines neunzigjährigen Mannes, der nicht gelernt hat, wie ein Greis zu denken. Die intellektuelle Gemeinde zeigte sich, wie es häufig der Fall ist, ängstlich und gespalten, und sogar selbstberufene Graphologen ergingen sich in Kontroversen über die Analysen meiner Schrift. Damit sorgten sie dafür, dass sich die Geister teilten, heizten die Polemik an, und die Nostalgie wurde zur Mode.
Noch vor Jahresende hatte ich mit Rosa Cabarcas abgesprochen, den elektrischen Fächer, die Toilettenartikel und das, was ich fürderhin anschleppen würde, um das Zimmer wohnlich zu machen, dort zu lassen. Ich kam um zehn Uhr, hatte immer etwas Neues für die Kleine oder für unser beider Vergnügen dabei und verbrachte einige Minuten damit, das versteckte Arsenal herauszuholen und die Bühne für unsere Nächte aufzubauen. Bevor ich ging, nie später als fünf Uhr morgens, schloss ich alles wieder ein. Das Zimmer blieb dann so karg zurück, wie es ursprünglich für die tristen Liebesspiele zufälliger Kunden gewesen war. Eines Morgens hörte ich, dass Marcos Pérez, der beliebteste Radiosprecher am Vormittag, beschlossen hatte, meinen Sonntagstext in seiner Nachrichtensendung am Montag zu verlesen. Als ich des Schwindelgefühls Herr geworden war, sagte ich erschüttert: Du weißt schon, Delgadina, der Ruhm ist eine dicke Frau, sie schläft nicht mit dir, steht aber immer am Bett und beobachtet dich beim Aufwachen.
An einem jener Tage blieb ich zum Frühstück bei Rosa Cabarcas, die inzwischen weniger hinfällig auf mich wirkte, trotz der Trauerkleidung und des schwarzen Baretts, das selbst ihre Augenbrauen verdeckte. Ihre Frühstücke waren berühmt, außerdem so stark gepfeffert, dass ich weinen musste. Nach dem ersten flammenden Bissen sagte ich unter Tränen zu ihr: Heute Nacht wird mir auch ohne Vollmond der Hintern brennen. Keine Klagen, sagte sie. Wenn erbrennt, dann doch deshalb, weil du ihn noch hast, dem Himmel sei Dank.
Sie war überrascht, als ich den Namen Delgadina erwähnte. So heißt sie nicht, sie heißt. Sag es mir nicht, unterbrach ich sie, für mich ist sie Delgadina. Sie zuckte mit den Schultern: Na gut, sie gehört schließlich dir, aber der Name klingt nach Abführmittel. Ich erzählte ihr von dem Satz mit dem Tiger, den die Kleine auf den Spiegel geschrieben hatte. Sie kann es nicht gewesen sein, sagte Rosa, denn sie kann weder lesen noch schreiben. Wer sonst? Sie zuckte mit den Schultern: Vielleicht jemand, der in dem Zimmer gestorben ist.
Ich nützte solche Frühstücke aus, um Rosa Cabarcas mein Herz auszuschütten, und bat sie um kleine Gefälligkeiten für Delgadina, auf dass es ihr gut ginge und sie schön anzusehen wäre. Rosa gewährte sie, ohne weiter nachzudenken, schelmisch wie ein Schulmädchen. Das ist ja witzig, sagte sie einmal zu jener Zeit. Es ist mir, als hieltest du um ihre Hand an. Übrigens, fiel ihr ein, warum heiratest du sie nicht? Ich erstarrte. Ich meine es ernst, beharr-te sie, es kommt dich billiger. Taugen oder nicht taugen ist schließlich die Frage in deinem Alter, aber du hast mir ja schon gesagt, dass sich das für dich erledigt hat. Ich pflichtete ihr bei: Sexualität ist ein Trost, wenn die Liebe nicht reicht.
Sie lachte auf: Ach, mein weiser Freund, ich wusste schon immer, dass du ein ganzer Mann bist, es immer warst, und ich freue mich, dass du es noch immer bist, während deine Feinde die Waffen strecken. Kein Wunder, dass so viel von dir geredet wird. Hast du Marcos Pérez gehört? Alle Welt hört ihn, sagte ich, um das Thema zu beenden. Doch sie fuhr fort: Auch Professor Camacho y Cano hat gestern in der Stunde für Allerlei gesagt, die Welt sei nicht mehr, was sie einmal war, da es nur noch wenige Männer gebe wie dich.
An jenem Wochenende fand ich Delgadina fiebernd und hustend vor. Ich weckte Rosa Cabarcas, damit sie mir irgendein Hausmittel gäbe, und sie brachte mir ein Erste-Hilfe-Käst-chen ins Zimmer. Zwei Tage später ging es Delgadina immer noch schlecht, und sie hatte nicht zum Knöpfeannähen in die Fabrik gehen können. Der Arzt hatte ihr ein Mittel für eine einfache Grippe gegeben, die innerhalb einer Woche vorbei sein würde, zeigte sich aber besorgt über Delgadinas Unterernährung und ihren Allgemeinzustand. Ich sah sie nicht mehr und spürte, dass sie mir fehlte, so dass ich die Zeit nutzte, um in ihrer Abwesenheit das Zimmer herzurichten.
Ich brachte noch eine Federzeichnung von Cecilia Porras mit, die für Alle warteten wir, den Erzählungsband von Alvaro Cepeda, entstanden war. Ich schleppte die sechs Bände Jean Christophe von Romain Rolland an, um meine Schlaflosigkeit zu beschäftigen. So war das Zimmer, als Delgadina zurückkam, eines häuslichen Glücks würdig: die Luft gereinigt mit einem aromatisierten Insektengift, rosen-farbene Wände, gedämpftes Licht, frische Blumen in den Vasen, meine Lieblingsbücher und die guten Bilder meiner Mutter, nach neuestem Geschmack gehängt. Ich hatte das alte Radio durch einen Kurzwellenempfänger ersetzt, den ich auf ein Programm mit klassischer Musik eingestellt hatte, damit Delgadina sich daran gewöhnte, bei Mozartquartetten zu schlafen, doch eines Abends war ein Sender eingeschaltet, der sich auf populäre Boleros spezialisierte. Zweifellos war das ihr Geschmack, und ich nahm ihn ohne Schmerz an, denn auch ich war in meinen besten Tagen dem Bolero von Herzen verfallen gewesen. Bevor ich am nächsten Morgen nach Hause ging, schrieb ich mit dem Lippenstift auf den Spiegel: Meine Kleine, wir sind allein auf der Welt.
Zu jener Zeit hatte ich den seltsamen Eindruck, dass sie vor der Zeit erwachsen wurde. Ich bemerkte das Rosa Cabarcas gegenüber, und sie fand es ganz natürlich. Am fünften Dezember wird sie fünfzehn, sagte sie zu mir. Ein richtiger Schütze. Es beunruhigte mich, dass sie so irdisch war, Geburtstag zu haben. Was sollte ich ihr schenken? Ein Fahrrad, sagte Rosa Cabarcas. Zum Knöpfeannähen muss sie zweimal täglich quer durch die Stadt. Sie zeigte mir im Schuppen das Fahrrad, das Delgadina benutzte, und ich fand das klapprige Gestell tatsächlich einer so innig geliebten Frau unwürdig. Aber es rührte mich als greifbarer Beweis für Delgadinas Existenz im wirklichen Leben.
Als ich für sie das denkbar beste Fahrrad kaufen ging, konnte ich nicht der Versuchung widerstehen, es selbst auszuprobieren, und drehte ein paar müßige Runden in der Einfahrt des Geschäfts. Dem Verkäufer, der nach meinem Alter fragte, sagte ich mit der Koketterie des Greises: Demnächst werde ich einundneunzig. Der Angestellte sagte genau das, was ich wollte: Sie sehen aber zwanzig Jahre jünger aus. Ich begriff selbst nicht, wie mir die Übung aus der Schulzeit erhalten geblieben war, und fühlte mich von strahlendem Übermut erfüllt. Ich begann zu singen. Erst leise vor mich hin, dann aus voller Kehle, mit dem Gehabe des großen Caruso, zwischen den farbig wuchernden Basaren und dem wahnwitzigen Verkehr am öffentlichen Markt. Die Leute schauten mir amüsiert zu, feuerten mich an und forderten mich auf, im Rollstuhl am Kolumbien-Rennen teilzunehmen. Wie ein glücklicher Seemann winkte ich ihnen zu und sang weiter. In jener Woche schrieb ich, dem Dezember zu Ehren, eine weitere kecke Glosse: Wie man mit neunzig auf dem Fahrrad glücklich wird.
Am Abend ihres Geburtstags sang ich Delgadina das vollständige Lied vor und küsste sie am ganzen Körper, bis ich außer Atem war: das Rückgrat, Wirbel um Wirbel, bis zu dem schmachtenden Gesäß, die Seite mit dem Muttermal und die ihres unermüdlichen Herzens. Indes ich sie küsste, wurde ihr Körper heißer und verströmte einen wilden Duft. Sie antwortete mir mit immer neuem Beben auf jedem Zollbreit ihrer Haut, und jedes Mal fand ich eine andere Wärme, einen besonderen Geschmack vor, ein neues Stöhnen, das ganze Geschöpf hallte im Innern wider wie bei einem Arpeggio, und ohne berührt zu werden, blühten ihre Brüstchen auf. Im Morgengrauen, als ich fast eingenickt war, fuhr mir vom Meer her ein Raunen wie von Menschenmassen und die Panik der Bäume durchs Herz. Ich ging ins Badezimmer und schrieb auf den Spiegel: Delgadina, mein Leben, die Weihnachtswinde sind da.
Zu meinen glücklichsten Erinnerungen gehört eine Verstörung, die ich an einem Morgen wie jenem beim Verlassen der Schule spürte. Was ist mit mir los? Ach, Junge, sagte die Lehrerin beschwingt, merkst du denn nicht, dass es die Winde sind? Achtzig Jahre später spürte ich Vergleichbares, als ich in Del-gadinas Bett erwachte, und wieder war es der Dezember, der pünktlich mit seinen klaren Himmeln kam, den Sandstürmen, den durch die Straßen streunenden Wirbelwinden, die Häuser abdeckten und den Schülerinnen die Röcke hochwehten. Die Stadt wurde zu einem gespenstischen Resonanzboden. In windigen Nächten war bis hinauf in die höher liegenden Viertel das Geschrei vom Markt zu hören, als wäre er gleich um die Ecke. Nicht selten erlaubten uns die Böen, unsere Freunde, die sich in abgelegenen Bordellen aufhielten, über ihre Stimmen zu orten.
Mit den Dezemberwinden erreichte mich aber auch die schlechte Nachricht, dass Delga-dina nicht mit mir, sondern mit ihrer Familie Weihnachten verbringen würde. Wenn ich etwas auf dieser Welt hasse, dann sind es die obligatorischen Feste, auf denen die Leute weinen, -weil sie fröhlich sind, das Feuerwerk, die einfältigen Weihnachtslieder, die Girlanden aus Krepppapier, die nichts mit einem Kind zu tun haben, das vor zweitausend Jahren in einem ärmlichen Stall geboren wurde. Am Heiligen Abend konnte ich der Sehnsucht jedoch nicht widerstehen und begab mich in das leere Zimmer. Ich schlief fest und wachte neben einem Plüschbären auf, der wie ein Eisbär auf zwei Beinen stand; auf dem beiliegenden Kärtchen stand: Für den hässlichen Papa. Rosa Cabarcas hatte mir erzählt, Delgadina lerne anhand meiner auf den Spiegel geschriebenen Lektionen lesen, und ich bewunderte ihre gute Schrift. Doch Rosa enttäuschte mich dann mit der schlimmen Mitteilung, dass der Bär ein Geschenk von ihr sei, also blieb ich Silvester daheim, legte mich um acht ins Bett und schlief ohne Bitterkeit ein. Ich war glücklich, weil ich Schlag zwölf unter dem wütenden Hall der Glocken, den Sirenen der Fabriken und der Feuerwehr, dem Heulen der Schiffe, den Böllerschüssen und Raketen spürte, wie Delgadina auf Zehenspitzen in mein Zimmer trat, sich zu mir legte und mir einen Kuss gab. Der war so wirklich, dass mir ihr Lakritzgeruch auf den Lippen blieb.