Kapitel 4
Die von den Messern angerichteten Verwüstungen waren nur ein Vorspiel der gnadenlosen Autopsie, zu deren Durchführung sich Pater Carmen Amador in Abwesenheit von Doktor Dionisio Iguarán verpflichtet sah. »Es war, als hätten wir ihn nach seinem Tode noch einmal getötet«, sagte der alte Pfarrer in seinem Alterssitz Calafell zu mir. »Aber es war eine Anordnung des Bürgermeisters, und die Anordnungen dieses Barbaren, mochten sie auch noch so blöde sein, mussten ausgeführt werden.« Das war nicht ganz gerecht. In der Verwirrung jenes verrückten Montags hatte Oberst Aponte mit dem Provinzgouverneur dringende Telegramme gewechselt, und dieser hatte ihn ermächtigt, die Vorermittlungen zu führen, bis ein Untersuchungsrichter geschickt würde. Der Bürgermeister war vorher Offizier beim Heer gewesen, ohne jegliche Erfahrung in gerichtlichen Angelegenheiten und viel zu eitel, um sich bei einem Fachmann zu erkundigen, wie er den Fall angehen müsse. Als Erstes machte ihm die Autopsie Sorgen. Cristo Bedoya, der Medizin studierte, verwies auf seine enge Freundschaft mit Santiago Nasar und wurde von der Aufgabe entbunden. Der Bürgermeister dachte, man könne die Leiche bis zu Doktor Dionisio Iguaráns Rückkehr gekühlt halten, aber er fand keinen Kühlschrank in Menschengröße, denn der einzige passende auf dem Markt war außer Betrieb. Der Leichnam war für die Öffentlichkeit auf einer schmalen Eisenpritsche mitten im Wohnzimmer aufgebahrt, dieweil der Sarg eines Reichen für ihn geschreinert wurde. Man hatte die Ventilatoren aus den Schlafzimmern und einigen Nachbarhäusern herbeigeschafft, doch so viele Menschen verlangten, ihn zu sehen, dass die Möbel fortgeschoben und die Käfige und Farntöpfe von den Wänden abgehängt werden mussten, die Hitze aber dennoch unerträglich wurde. Außerdem erhöhten die durch den Geruch des Todes aufgestörten Hunde noch die Unruhe. Sie hatten nicht aufgehört zu jaulen, seit ich das Haus betreten hatte. Da rang Santiago Nasar in der Küche noch mit dem Tode, während Divina Flor die Tiere schreiend und schluchzend mit einer Holzlatte in Schach zu halten suchte.
»Hilf mir«, schrie sie mir zu, »die wollen sein Gedärm fressen.«
Wir sperrten sie im Stall ein. Plácida Linero ordnete später an, die Hunde sollten bis nach der Beerdigung an einen entlegenen Ort gebracht werden. Doch gegen Mittag entwichen sie aus ihrem Gefängnis, niemand wusste wie, und brachen wie toll ins Haus ein. Dieses eine Mal verlor Plácida Linero die Nerven.
»Diese Scheißköter!«, schrie sie. »Schlagt sie tot!«
Der Befehl wurde unverzüglich befolgt, und das Haus war wieder still. Bis dahin waren keine Befürchtungen über den Zustand des Leichnams laut geworden. Das Gesicht war unversehrt und zeigte den gleichen Ausdruck wie beim Singen, und Cristo Bedoya hatte die Eingeweide wieder an Ort und Stelle gelegt und den Leib mit einer Leinenbinde umwickelt. Nachmittags begann jedoch eine sirupfarbene Flüssigkeit aus den Wunden zu sickern und lockte die Fliegen an, während auf der Oberlippe ein maulbeerfarbener Fleck erschien, der langsam wie Wolkenschatten auf dem Wasser zum Haaransatz hinaufzog. Das stets milde Gesicht nahm nun einen feindseligen Ausdruck an, und die Mutter bedeckte es mit einem Taschentuch. Da begriff Oberst Aponte, dass man nicht länger warten konnte, und er wies Pater Amador an, die Autopsie vorzunehmen. »Schlimmer wäre es gewesen, die Leiche eine Woche später wieder auszugraben«, sagte er. Der Pfarrer hatte zwar in Salamanca Medizin und Chirurgie studiert, war aber ohne akademischen Grad ins Seminar eingetreten, und sogar der Bürgermeister wusste, dass diese Autopsie keine Gültigkeit vor dem Gesetz hatte. Trotzdem bestand er auf der ordnungsgemäßen Durchführung.
Es war ein Gemetzel, das im städtischen Schulhaus mit Hilfe des Apothekers, der Protokoll führte, und eines Medizinstudenten im ersten Jahr, der gerade seine Ferien hier verbrachte, vollzogen wurde. Sie verfügten nur über ein paar Instrumente der kleinen Chirurgie, alles Übrige war Handwerkszeug. Doch abgesehen von den am Körper verursachten Verheerungen schien Pater Amadors Bericht korrekt, und der Untersuchungsrichter fügte ihn als nützliche Unterlage seiner Beweisaufnahme bei.
Sieben der zahlreichen Verletzungen waren tödlich. Die Leber war von zwei tiefen Perforationen im linken Leberlappen fast durchtrennt worden. Der Magen hatte vier Inzisionen, eine von ihnen so tief, dass er durchstoßen und die Bauchspeicheldrüse beschädigt worden war. Es gab sechs weitere kleinere Perforationen im Dickdarm und mehrere Verletzungen des Dünndarms. Der einzige Stich im Rücken, auf Höhe des dritten Lendenwirbels, hatte die rechte Niere perforiert. Die Bauchhöhle war angefüllt mit großen Blutgerinnseln, und im Magenschlamm kam ein goldenes Medaillon der Heiligen Jungfrau vom Carmen zum Vorschein, das Santiago Nasar im Alter von vier Jahren verschluckt hatte. Die Brusthöhle wies zwei Perforationen auf: eine im zweiten rechten Interkostalraum, die bis in die Lunge hineinreichte, und eine weitere in unmittelbarer Nähe der linken Achselhöhle. Er hatte außerdem sechs kleinere Wunden an Armen und Händen und zwei horizontale Schnitte: einen im rechten Schenkel und den zweiten in der Bauchmuskulatur. Ein tiefer Stich war in der rechten Handfläche. Im Bericht hieß es: »Es sah aus wie ein Wundmal des Gekreuzigten.« Die Gehirnmasse wog sechzig Gramm mehr als die des Durchschnittsengländers, und Pater Amador legte in seinem Bericht nieder, dass Santiago Nasar eine ausgeprägte Intelligenz und eine glänzende Zukunft hatte. Jedoch wies er in seiner letzten Anmerkung auf eine Hypertrophie der Leber hin, die er auf eine nicht ausgeheilte Hepatitis zurückführte. »Das heißt«, sagte er zu mir, »er hatte auf jeden Fall nur noch wenige Jahre zu leben.« Doktor Dionisio Iguarán, der bei Santiago Nasar, als dieser zwölf Jahre alt war, in der Tat eine Hepatitis behandelt hatte, erinnerte sich empört an diese Autopsie. »So beschränkt kann nur ein Geistlicher sein«, sagte er zu mir. »Er wollte einfach nicht begreifen, dass wir Tropenmenschen eine größere Leber haben als die Spanier.« Der Bericht schloss, der Tod sei nach einer massiven Blutung als Folge einer der sieben schweren Verletzungen eingetreten.
Uns wurde ein anderer Körper zurückgegeben. Die Hälfte der Hirnschale war durch die Trepanation zertrümmert, und das Antlitz des schönen Jünglings, das der Tod verschont hatte, verlor damit endgültig seine Identität. Zudem hatte der Pfarrer die zerstückelten Eingeweide mit Stumpf und Stiel herausgerissen, wusste jedoch am Ende nichts mit ihnen anzufangen, so dass er wütend einen Segen über sie sprach und sie in den Mülleimer warf. Den letzten zu den Fenstern der Schule geströmten Gaffern verging die Neugierde, der Gehilfe fiel in Ohnmacht, und Oberst Lázaro Aponte, der so viele Massaker der Repression erlebt und verursacht hatte, war seitdem nicht nur Spiritist, sondern auch noch Vegetarier. Die leere, mit Lumpen und Ätzkalk ausgestopfte und mit grobem Bindfaden und Packnadeln lieblos zusammengeflickte Hülle zerfiel fast, als wir sie in den neuen seidengepolsterten Sarg legten. »Ich dachte, so würde der Leichnam sich länger halten«, sagte Pater Amador zu mir. Das Gegenteil trat ein: Wir mussten ihn eilends im Morgengrauen beerdigen, denn er war in so schlechtem Zustand, dass er im Haus nicht länger zu ertragen war.
Ein trüber Dienstag brach an. Ich fand nicht
den Mut, mich nach Ende des bedrückenden Tages allein schlafen zu
legen, und drückte gegen die Tür zu María Alejandrina Cervantes’
Haus, für den Fall, dass sie den Riegel nicht vorgeschoben hatte.
Die Lampions waren in den Bäumen angezündet, und im Patio auf dem
Tanzboden brannten mehrere Holzfeuer unter riesigen dampfenden
Kochtöpfen, in denen die Mulattinnen ihre
Flitterkleider trauerschwarz färbten. Ich fand María Alejandrina
Cervantes wie immer bei Tagesanbruch wach, und wie immer, wenn
keine Fremden im Hause waren, gänzlich nackt. Sie saß im Türkensitz
auf ihrem Königinnenbett vor einer babylonischen Platte mit Essen:
Kalbskoteletts, gekochtes Huhn, Schweinelende und als Beilage
Gemüse und Bananen, die für fünf gereicht hätten. Maßlos zu essen
war für sie immer die einzige Art des Weinens gewesen, und nie
hatte ich sie dies mit solchem Gram tun sehen. Ich legte mich
angezogen neben sie, sprach kaum und weinte ebenfalls auf meine
Weise. Ich dachte an Santiago Nasars grausames Schicksal, das ihn
für zwanzig Jahre Glück nicht nur mit dem Tod hatte bezahlen
lassen, sondern auch noch damit, dass sein Leib zerstückelt,
verstreut und vernichtet wurde. Ich träumte, eine Frau trete ins
Zimmer, ein kleines Mädchen auf dem Arm, und dieses zerknabbere,
ohne Luft zu holen, Maiskörner, die halbgekaut in sein Leibchen
fielen. Die Frau sagte zu mir: »Es kaut auf Teufel komm raus, ein
bisschen schlampig, ein bisschen pampig.« Plötzlich spürte ich
begehrliche Finger mein Hemd aufknöpfen, spürte den gefährlichen
Geruch der Liebesbestie, die sich an meinen Rücken schmiegte, und
versank voller Wonne im Treibsand ihrer Zärtlichkeit. Doch mit
einem Mal hielt sie inne, hustete von weither und zog sich
von
mir zurück.
»Ich kann nicht«, sagte sie, »du riechst nach ihm.«
Nicht nur ich. Alles roch an jenem Tage nach Santiago Nasar. Die Brüder Vicario rochen ihn in der Zelle, in die sie der Bürgermeister gesperrt hatte, solange er überlegte, was er mit ihnen machen sollte. »Ich konnte mich noch so sehr mit Seife und Strohwisch schrubben, ich wurde den Geruch nicht los«, sagte Pedro Vicario zu mir. Sie hatten drei Nächte nicht geschlafen und konnten dennoch keine Ruhe finden, denn sobald sie einnickten, verübten sie von neuem das Verbrechen. Als er, schon ziemlich alt, mir seinen Zustand an jenem endlos langen Tag erklären wollte, sagte Pablo Vicario ohne viel zu überlegen: »Es war, als wäre man zweimal wach.« Dieser Satz brachte mich auf den Gedanken, das klare Bewusstsein müsse in der Zelle für sie das Unerträglichste gewesen sein.
Der Raum war drei Meter im Quadrat, hatte weit oben ein vergittertes Oberlicht, und es gab eine tragbare Latrine, ein Waschgestell mit Schüssel und Krug sowie zwei gemauerte Betten mit Schilfmatratzen. Oberst Aponte, zu dessen Amtszeit das Gefängnis erbaut worden war, sagte, ein humaneres Hotel als dieses hätte es nie gegeben. Mein Bruder Luis Enrique stimmte dem zu, denn eines Nachts, als er wegen eines Streits unter Musikanten eingesperrt worden war, hatte der Bürgermeister aus Barmherzigkeit gestattet, dass eine der Mulattinnen ihm Gesellschaft leistete. Vielleicht waren die Brüder Vicario ähnlicher Meinung, als sie sich um acht Uhr morgens vor den Arabern sicher fühlen konnten. Zu diesem Zeitpunkt tröstete sie ihr Nimbus, dem eigenen Gesetz Genüge getan zu haben, und ihre einzige Sorge war der hartnäckige Geruch. Sie baten um reichlich Wasser, Kernseife und Strohwische und wuschen sich das Blut von Armen und Gesicht, wuschen auch ihre Hemden, konnten jedoch keine Ruhe finden. Pedro Vicario bat zudem um seine Spülungen und harntreibende Mittel sowie um eine sterile Mullbinde, damit er seinen Verband erneuern konnte, und vermochte so zweimal im Verlauf des Vormittags zu urinieren. Trotzdem wurde ihm das Leben im weiteren Verlauf des Tages so schwer, dass der Geruch in den Hintergrund rückte. Um zwei Uhr nachmittags, als die lähmende Hitze ihnen den Rest hätte geben müssen, war Pedro Vicario so müde, dass er nicht mehr liegen konnte, aber eben diese Müdigkeit hinderte ihn auch daran, sich auf den Beinen zu halten. Der Schmerz in den Leisten stieg bis zum Hals, blockierte den Urin, und es überkam ihn die schauerliche Gewissheit, bis zum Ende seines Lebens nie wieder schlafen zu können. »Ich war elf Monate wach«, sagte er zu mir, und ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er die Wahrheit sprach. Er konnte nicht zu Mittag essen. Pablo Vicario indes aß ein paar Bissen von allem, was ihm gebracht wurde, und entlud sich eine Viertelstunde später in einem pestilenzialischen Durchfall. Um sechs Uhr abends, als die Autopsie von Santiago Nasars Leichnam stattfand, wurde der Bürgermeister eilends gerufen, weil Pedro Vicario davon überzeugt war, man habe seinen Bruder vergiftet. »Ich zerfloss geradezu«, sagte Pablo Vicario zu mir, »und wir konnten den Verdacht nicht loswerden, dass die Türken ihre Hand im Spiel hatten.« Bis dahin war zweimal die tragbare Latrine übergelaufen, und der Gefängnisaufseher hatte ihn sechsmal zum Abort der Bürgermeisterei geführt. Dort fand Oberst Aponte ihn, bewacht vom Wärter im türlosen Abort, und Pablo Vicario entwässerte sich so heftig, dass es keineswegs abwegig war, an Gift zu denken. Doch der Gedanke wurde sogleich verworfen, als sich herausstellte, dass er nur Wasser getrunken und das von Pura Vicario geschickte Mittagessen verspeist hatte. Trotzdem war der Bürgermeister so beunruhigt, dass er die Gefangenen unter Sonderbewachung in sein Haus bringen ließ, bis der Untersuchungsrichter kam und sie ins Zuchthaus von Riohacha überstellte.
Die Angst der Zwillinge entsprach der Gemütsverfassung auf der Straße. Eine Vergeltungsmaßnahme der Araber wurde nicht ausgeschlossen, doch niemand mit Ausnahme der Brüder Vicario dachte an Gift. Man vermutete viel eher, die Araber würden die Nacht abwarten, um Benzin durchs Oberlicht zu schütten und die Gefangenen in ihrer Zelle zu verbrennen. Doch auch dies war eine allzu schlichte Vermutung. Die Araber waren eine Gruppe friedlicher Einwanderer, die sich zu Beginn des Jahrhunderts in den Dörfern der Karibik, auch in den entlegensten und ärmsten, niedergelassen hatten, und dort blieben sie und verkauften bunte Fetzen und Jahrmarktsramsch. Sie hielten zusammen, waren arbeitsam und katholisch. Sie heirateten untereinander, führten ihren eigenen Weizen ein, züchteten Lämmer in den Hinterhöfen und pflanzten Origano und Auberginen an, und ihre einzige heftige Leidenschaft war das Kartenspiel. Die Älteren sprachen nach wie vor das aus ihrer Heimat mitgebrachte dörfliche Arabisch und behielten es in der Familie unverändert bis zur zweiten Generation bei, aber die dritte Generation, mit Ausnahme von Santiago Nasar, antwortete ihren arabisch sprechenden Eltern auf Spanisch. Es war also kaum vorstellbar, dass sie mit einem Mal ihre bäuerliche Denkart ablegen würden, um einen Tod zu rächen, an dem wir alle schuld sein konnten. Keiner hingegen dachte an eine Vergeltung von Seiten der Familie Plácida Lineros, dabei waren das, bis ihr Vermögen zerronnen war, mächtige, kriegerische Leute gewesen, die mehr als zwei durch den Klang ihres Namens geschützte Kneipenraufbolde hervorgebracht hatten.
Oberst Aponte, über die Gerüchte besorgt, besuchte die Araber, eine Familie nach der anderen, und zumindest diesmal zog er einen richtigen Schluss. Er fand sie ratlos und voller Kummer, Symbole der Trauer an den Hausaltären, und einige hockten laut wehklagend am Boden, doch keiner von ihnen hegte Rachegedanken. Die Reaktionen vom Vormittag waren der Erregung nach dem Verbrechen entsprungen, und die Urheber selbst erklärten, es wäre auf keinen Fall zu mehr als einer Prügelei gekommen. Mehr noch: Es war Suseme Abdala, die hundertjährige Matriarchin, die zu dem wundertätigen Aufguss aus Passionsblumen und Wermutkraut riet, der Pablo Vicarios Durchfall zum Versiegen und zugleich den Quell seines Zwillingsbruders zum Fließen brachte. Nun überkam Pedro Vicario schlaflose Schläfrigkeit, und der wiederhergestellte Bruder vermochte erstmals ohne Gewissensbisse einzuschlafen. So traf Purísima Vicario sie am Dienstag um drei Uhr früh an, als der Bürgermeister sie zu den Söhnen führte, damit sie sich von ihnen verabschieden könne.
Die ganze Familie, einschließlich der älteren Töchter und deren Männern, verließ auf Anraten von Oberst Aponte das Dorf. Sie verschwand, ohne dass es jemand gemerkt hätte, im Schutz der allgemeinen Erschöpfung, während wir, die Einzigen, die am Ende dieses heillosen Tages noch wach waren, Santiago Nasar beerdigten. Alle sollten, dem Entschluss des Bürgermeisters entsprechend, so lange verschwinden, bis sich die Gemüter beruhigt hätten, doch sie kehrten nie zurück. Pura Vicario wickelte der zurückgegebenen Tochter ein Tuch um den Kopf, damit niemand die Spuren der Schläge sah, und zog ihr ein feuerrotes Kleid an, damit keiner sich einbilden konnte, sie trage um den heimlichen Geliebten Trauer. Vor dem Weggehen bat sie Pater Amador, er möge den Söhnen im Kerker die Beichte abnehmen, doch Pedro Vicario weigerte sich und überzeugte den Bruder davon, dass sie nichts zu bereuen hätten. Sie blieben also allein, und am Tag der Überstellung nach Riohacha hatten sie sich wieder erholt und waren von ihrem Recht so überzeugt, dass sie nicht nachts abgeholt werden wollten, wie es mit der Familie geschehen war, sondern am helllichten Tag und vor aller Augen. Poncio Vicario, der Vater, starb kurz darauf. »Die moralische Bürde hat ihn ins Grab gebracht«, sagte Ángela Vicario zu mir. Als die Zwillinge freigesprochen wurden, blieben sie in Riohacha, eine Tagesreise von Manaure entfernt, wo die Familie lebte. Dorthin fuhr Prudencia Cotes zur Hochzeit mit Pablo Vicario, der in der Werkstatt seines Vaters das Goldschmiedehandwerk erlernt hatte und ein geläuterter Goldschmied wurde. Pedro Vicario, ohne Braut noch Anstellung, trat drei Jahre später wieder in die Streitkräfte ein, verdiente sich die Litzen eines Oberfeldwebels, und eines strahlenden Morgens drang seine Patrouille, Hurenlieder singend, in Guerrillagebiet ein und verschwand auf Nimmerwiedersehen.
Für die überwiegende Mehrheit gab es nur ein Opfer: Bayardo San Román. Man meinte, die anderen Hauptfiguren der Tragödie seien der ihnen vom Leben zugewiesenen Rolle mit Würde und sogar mit einer gewissen Größe gerecht geworden. Santiago Nasar hatte für die Schandtat gebüßt, die Gebrüder Vicario hatten sich als Männer bewiesen, und die verhöhnte Schwester hatte ihre Ehre wieder. Alles verloren hatte nur Bayardo San Román. »Der arme Bayardo«, hieß es noch jahrelang. Zunächst hatte jedoch niemand an ihn gedacht, bis der Witwer de Xius nach der Mondfinsternis am folgenden Samstag dem Bürgermeister erzählte, er habe über seinem ehemaligen Haus einen phosphoreszierenden Vogel flattern sehen und glaube, es sei die Seele seiner Frau, die ihren Besitz zurückfordere. Der Bürgermeister schlug sich mit der Hand an die Stirn, was nichts mit der Vision des Witwers zu tun hatte.
»Scheiße!«, schrie er. »Ich habe diesen armen Mann ja ganz vergessen!«
Er stieg mit einer Patrouille zum Hügel hinauf, sah das Automobil mit heruntergeklapptem Verdeck vor dem Landhaus stehen und ein einsames Licht im Schlafzimmer, doch niemand meldete sich auf sein Rufen und Klopfen. Also brachen sie eine Seitentür auf und durchsuchten die Zimmer im fahlen Licht der Mondfinsternis. »Alles sah aus wie unter Wasser«, erzählte mir der Bürgermeister. Bayardo San Román lag bewusstlos auf dem Bett, so wie ihn Pura Vicario im Morgengrauen des Dienstags gesehen hatte, in der modischen Hose und dem Seidenhemd, doch ohne Schuhe. Leere Flaschen lagen auf dem Fußboden und noch viele ungeöffnete neben dem Bett, doch es gab keine Spur von Essbarem. »Er war im letzten Stadium einer Alkoholvergiftung«, sagte mir Doktor Dionisio Iguarán, der ihn als Notfall behandelt hatte. Aber Bayardo San Román erholte sich in wenigen Stunden, und sobald er wieder bei klarem Bewusstsein war, bugsierte er alle so höflich, wie er nur konnte, aus dem Haus.
»Ich will von keinem belämmert werden«, sagte er. »Auch nicht von meinem Papa mit seinen Veteraneneiern.«
Der Bürgermeister meldete General Petronio San Román den Vorfall in einem alarmierenden Telegramm, sogar den letzten Satz, und zwar wortgetreu. Der General San Román muss den Wunsch seines Sohnes wörtlich genommen haben, denn er holte ihn nicht ab, sondern schickte seine Gattin mit den Töchtern sowie zwei ältere Frauen, die seine Schwestern zu sein schienen. Sie kamen mit einem Frachtschiff an, waren wegen Bayardo San Románs Unglück bis zum Hals in Trauerschwarz gehüllt und hatten schmerzzerrauftes Haar. Sie zogen die Schuhe aus, bevor sie festen Boden betraten, und schritten dann barfuß im glühenden Staub des Mittags die Straßen zum Hügel hinauf, rissen sich büschelweise Haare aus, und ihre Klageschreie waren so herzzerreißend, dass es schon fast nach Jubel klang. Ich sah sie von Magdalena Olivers Balkon aus vorbeigehen und erinnere mich, damals gedacht zu haben, dass so viel Untröstlichkeit nur geheuchelt sein könne, um eine größere Schande zu verbergen.
Oberst Lázaro Aponte begleitete sie zum Hügelhaus, und anschließend ritt der Doktor Dionisio Iguarán auf seinem Maultier für Notfälle hinauf. Als die Sonne milder schien, trugen zwei Männer der Stadtverwaltung Bayardo San Román in einer an einem Pfahl befestigten Hängematte zu Tal, er war bis über den Kopf in eine Decke gehüllt, und die Klageweiber gaben ihm das Geleit. Magdalena Oliver glaubte, er sei tot.
»Herrgottsack«, rief sie, »was für eine Vergeudung!«
Wieder hatte ihn der Alkohol niedergestreckt, doch fiel es schwer zu glauben, er werde lebend abtransportiert, denn seine rechte Hand schleifte über den Boden, und jedes Mal wenn seine Mutter ihm den Arm wieder in die Hängematte legte, fiel dieser von neuem herunter, so dass er vom Steilhang bis zum Schiffskai eine Spur auf der Erde hinterließ. Das war das Letzte, was uns von Bayardo San Román blieb: die Erinnerung an ein Opfer.
Sie ließen das Landhaus unangetastet zurück. Wenn wir in den Ferien heim ins Dorf kamen, stiegen meine Brüder und ich in feuchtfröhlichen Nächten zu Erkundungsausflügen hinauf, und jedes Mal fanden wir weniger wertvolle Gegenstände in den verlassenen Wohnräumen. Einmal fischten wir das Handköfferchen hervor, das sich Ángela Vicario für die Hochzeitsnacht von ihrer Mutter erbeten hatte, aber wir maßen ihm keinerlei Bedeutung bei. Was wir darin fanden, schienen die üblichen Mittel zur Körper- und Schönheitspflege einer Frau zu sein, und ich erfuhr ihren wahren Zweck erst, als Ángela Vicario mir viele Jahre später erzählte, welche Hebammentricks man ihr beigebracht hatte, um den Ehemann hinters Licht zu führen. Das war die einzige Spur, die sie an dem Ort hinterlassen hatte, der fünf Stunden lang ihr Heim als Ehefrau gewesen war.
Jahre später, als ich auf der Suche nach den letzten Zeugenaussagen für diese Chronik zurückkehrte, war nicht einmal mehr ein Abglanz von Yolanda de Xius’ Glück übrig. Trotz Oberst Lázaro Apontes hartnäckiger Wachsamkeit waren die Dinge nach und nach verschwunden, einschließlich des Kleiderschranks mit den sechs mannshohen Spiegeltüren, den die Meisterschreiner von Mompox im Haus hatten zusammensetzen müssen, da er nicht durch die Tür ging. Anfangs dachte der Witwer de Xius erfreut, das seien posthume Einmischungen seiner Gattin, um sich ihren Besitz zu holen. Darüber machte sich Oberst Lázaro Aponte lustig. Doch eines Nachts kam ihm die Idee, eine spiritistische Messe zur Aufklärung des Geheimnisses zu zelebrieren, und Yolanda de Xius’ Seele bestätigte ihm höchstpersönlich, ja, in der Tat, sie hole sich den Plunder des Glücks für ihr Totenheim. Das Landhaus begann zu zerfallen. Das Hochzeitsautomobil vor der Haustür löste sich in seine Bestandteile auf, und zum Schluss blieb nur das von Wind und Wetter zerfressene Gehäuse übrig. Viele Jahre hindurch war nichts von seinem Eigentümer zu erfahren. In der Beweisaufnahme steht eine Erklärung von ihm, allerdings so kurz und nichtssagend, dass sie wie in letzter Minute abgefasst wirkt, um einer unerlässlichen Formalität zu genügen. Dreiundzwanzig Jahre später suchte ich ein einziges Mal mit ihm zu sprechen, und er empfing mich mit einer gewissen Aggressivität, weigerte sich, auch nur die kleinste Angabe beizusteuern, die erlaubt hätte, seinen Anteil an dem Drama ein wenig aufzuklären. Jedenfalls wussten nicht einmal seine Eltern sehr viel mehr von ihm als wir, und sie hatten nicht die geringste Ahnung, was er damals in einem abgelegenen Dorf suchte, außer offenbar eine Frau zu heiraten, die er nie zuvor gesehen hatte.
Von Ángela Vicario hingegen erhielt ich immer windstoßartig Nachrichten, die mir ein idealisiertes Bild vorgaukelten. Meine Schwester, die Nonne, reiste eine Zeit lang durch die Hohe Guajira, weil sie dort die letzten Götzenanbeter bekehren wollte, und machte jedes Mal in dem vom Karibiksalz ausgedörrten Weiler halt, in dem Pura Vicario die Tochter bei lebendigem Leib zu begraben versucht hatte. »Grüße von deiner Kusine«, bestellte sie mir dann. Meine Schwester Margot, die sie in den ersten Jahren gleichfalls besuchte, erzählte mir, sie hätten ein gemauertes Haus mit einem großen, von allen Seiten durchwehten Innenhof gekauft, der einzige Nachteil sei, dass in Nächten mit Hochflut die Klosetts überliefen und die Fische morgens in den Schlafzimmern herumsprangen. Alle, die Ángela Vicario zu jener Zeit sahen, berichteten übereinstimmend, dass sie geschickt und versunken an der Stickmaschine saß und über ihrer Heimarbeit zu vergessen gelernt hatte.
Viel später, in einem recht unsicheren Abschnitt meines Lebens, als ich etwas über mich zu erfahren suchte, indem ich Enzyklopädien und medizinische Bücher in den Dörfern der Guajira verkaufte, gelangte ich zufällig in jenes verlorene Indiokaff. Am Fenster eines am Meer gelegenen Hauses saß eine Frau in Halbtrauer mit einer Drahtbrille und vergilbtem Haar und stickte in der Stunde der größten Hitze auf der Maschine, und über ihrem Kopf hing ein Käfig mit einem Kanarienvogel, der ununterbrochen sang. Als ich sie so idyllisch umrahmt sah, wollte ich nicht glauben, dass sie die Frau war, die ich zu sehen glaubte, weil mir der Gedanke widerstrebte, das Leben könne am Ende so sehr einem schlechten Roman gleichen. Doch sie war es: Ángela Vicario – dreiundzwanzig Jahre nach dem Drama.
Sie behandelte mich wie immer, wie einen entfernten Vetter, und beantwortete meine Fragen verständig und mit Sinn für Humor. Sie war so reif und gescheit, dass ich kaum glauben mochte, es handele sich um dieselbe Person. Am meisten überraschte mich die Art, wie sie schließlich ihr eigenes Leben angenommen hatte. Nach wenigen Minuten wirkte sie nicht mehr so gealtert wie auf den ersten Blick, sondern fast so jung wie in meiner Erinnerung, hatte aber nichts gemein mit jenem Mädchen, das mit zwanzig Jahren gezwungen worden war, ohne Liebe zu heiraten. Ihre Mutter, die ihr Alter nicht angenommen hatte, empfing mich wie ein unangenehmes Gespenst. Sie weigerte sich, von der Vergangenheit zu sprechen, und so musste ich mich für diese Chronik mit wenigen zusammenhangslosen Sätzen aus ihren Gesprächen mit meiner Mutter und ein paar weiteren begnügen, die ich aus meiner Erinnerung geborgen hatte. Sie hatte mehr als das Mögliche getan, um Ángela Vicario bei lebendigem Leibe zu begraben, doch die Tochter vereitelte dieses Vorhaben, weil sie nie ein Geheimnis aus ihrem Unglück machte. Im Gegenteil: Jedem, der es hören wollte, erzählte sie es in allen Einzelheiten, bis auf jene Einzelheit, die nie aufgeklärt werden sollte: Wer, wie und wann der wahre Urheber des Schadens war, denn niemand glaubte wirklich, es sei Santiago Nasar gewesen. Sie gehörten zwei unterschiedlichen Welten an. Niemand hatte sie je zusammen gesehen und schon gar nicht allein zu zweit. Santiago Nasar war viel zu stolz, um ein Auge auf sie zu werfen. »Deine Kusine, das Dummerchen«, sagte er zu mir, wenn er sie erwähnen musste. Außerdem war er, wie wir damals sagten, ein Hühnerhabicht. Er war ein Einzelgänger, genau wie sein Vater, und pflückte jedes ziellose Mädchen, das in jener Berggegend zu knospen begann, im Dorf aber wusste man nicht, dass er je eine andere Beziehung eingegangen war als die förmliche mit Flora Miguel und die stürmische zu María Alejandrina Cervantes, die ihm vierzehn Monate lang den Verstand geraubt hatte. Die landläufigste, vielleicht weil besonders perverse Lesart lautete: Ángela Vicario wollte jemanden schützen, den sie wahrhaft liebte, und hatte Santiago Nasars Namen gewählt, weil sie nie gedacht hätte, ihre Brüder würden sich an ihn heranwagen. Ich selbst versuchte, ihr diese Wahrheit zu entlocken, als ich sie, mit einer gut aufgebauten Argumentation, zum zweiten Mal besuchte, doch sie hob kaum den Kopf von ihrer Stickerei, um mich zurückzuweisen.
»Hör auf damit, Vetter«, sagte sie. »Er war es.«
Alles Übrige erzählte sie ohne Vorbehalt, sogar das Desaster der Hochzeitsnacht. Sie erzählte, ihre Freundinnen hätten ihr eingeschärft, den Gatten im Bett besinnungslos betrunken zu machen, sich schamhafter zu geben, als sie in Wirklichkeit war, damit er das Licht lösche, eine scharfe Alaunwaschung vorzunehmen, um Jungfräulichkeit vorzutäuschen, und das Leintuch mit Chromquecksilber zu beflecken, damit sie es am nächsten Tag in ihrem Patio einer Neuvermählten vorzeigen könne. Nur mit zwei Dingen hatten die Kupplerinnen nicht gerechnet: mit der außergewöhnlichen Trinkfestigkeit Bayardo San Románs und dem unverdorbenen Anstand, den Ángela Vicario unter der ihr von der Mutter aufgezwungenen Einfältigkeit verbarg. »Ich tat nichts von dem, was man mir gesagt hatte«, sagte sie zu mir, »denn je mehr ich darüber nachdachte, desto klarer wurde mir, dass das Ganze eine Schweinerei war, die man niemandem antun konnte, am allerwenigsten dem armen Mann, der das Pech gehabt hatte, mich zu heiraten.« Daher ließ sie sich ohne weitere Umstände im erleuchteten Schlafzimmer ausziehen, befreit von all den angelernten Ängsten, die ihr Leben verpfuscht hatten. »Es war ganz einfach«, sagte sie zu mir, »denn ich war entschlossen zu sterben.«
Tatsächlich sprach sie von ihrem Unglück ohne jede Scham, um das andere, das wahre Unglück zu überspielen, das in ihrem Leib brannte. Niemand hätte es auch nur im Entferntesten vermutet, als sie sich entschloss, mir davon zu erzählen: Bayardo San Román gehörte für immer zu ihrem Leben, seitdem er sie in ihr Elternhaus zurückgebracht hatte. Es war ein Gnadenstoß. »Auf einmal, als Mama mich zu schlagen begann, musste ich an ihn denken«, sagte sie zu mir. Die Fausthiebe taten ihr weniger weh, weil sie wusste, dass sie mit ihm zu tun hatten. Noch gelinde über sich selbst erstaunt dachte sie an ihn, während sie schluchzend auf dem Esszimmersofa lag. »Ich weinte nicht wegen der Schläge noch wegen sonst etwas, das passiert war«, sagte sie zu mir, »ich weinte um ihn.« Sie dachte noch an ihn, als ihre Mutter ihr Arnikakompressen aufs Gesicht legte, und dachte noch mehr an ihn, als sie das Geschrei von der Straße hörte, die Feuerglocken auf dem Turm, und ihre Mutter hereinkam und sagte, jetzt könne sie schlafen, das Schlimmste sei vorüber.
Sie hatte schon längere Zeit bar jeder Hoffnung an ihn gedacht, als sie ihre Mutter zu einer Augenuntersuchung ins Krankenhaus von Riohacha begleiten musste. Unterwegs gingen sie ins Hafenhotel, dessen Besitzer sie kannten, und Pura Vicario bat in der Bar um ein Glas Wasser. Sie trank es mit dem Rücken zur Tochter, während diese den Mittelpunkt ihrer Gedanken in den zahlreichen Spiegeln des Raums reflektiert sah. Ángela Vicario wandte mit letzter Kraft den Kopf und sah ihn vorbeigehen, ohne dass er sie sah, und sah ihn das Hotel verlassen. Dann blickte sie mit zerrissenem Herzen wieder zu ihrer Mutter. Pura Vicario hatte ihr Glas ausgetrunken, sie trocknete sich mit dem Ärmel die Lippen und lächelte ihr von der Theke aus durch ihre neue Brille zu. In diesem Lächeln sah Ángela Vicario, zum ersten Mal in ihrem Leben, die Mutter so, wie sie war: eine arme Frau, die sich dem Kult ihrer Schwächen geweiht hatte. »Scheiße«, sagte sie zu sich. Sie war so verstört, dass sie während der ganzen Rückreise laut sang, anschließend warf sie sich aufs Bett und weinte drei Tage lang.
Sie wurde von neuem geboren. »Ich war verrückt nach ihm«, sagte sie zu mir, »total verrückt.« Sie brauchte nur die Augen zu schließen, um ihn zu sehen, sie hörte ihn im Meer atmen, und die Hitze seines Körpers im Bett weckte sie um Mitternacht. Gegen Ende jener Woche, nachdem sie keine Minute Ruhe gefunden hatte, schrieb sie ihm den ersten Brief. Es war ein konventionelles Billett, in dem sie ihm erzählte, sie habe ihn das Hotel verlassen sehen und gewünscht, er hätte sie gesehen. Vergebens wartete sie auf eine Antwort. Nach zwei Monaten, des Wartens müde, schickte sie ihm in ebenso geschraubtem Stil einen zweiten Brief, dessen einzige Absicht zu sein schien, Bayardo San Román seine mangelnde Höflichkeit vorzuwerfen. Sechs Monate später hatte sie sechs Briefe geschrieben, die unbeantwortet blieben, gab sich aber damit zufrieden, dass er sie nachweislich erhalten hatte.
Zum ersten Mal Herrin ihres Schicksals, entdeckte Ángela Vicario nun, dass Hass und Liebe sich bedingende Leidenschaften sind. Je mehr Briefe sie ihm sandte, desto wilder loderte die Glut ihres Fiebers, desto hitziger glühte aber auch der selige Groll, den sie gegen ihre Mutter empfand. »Wenn ich sie nur sah, drehte sich mir schon der Magen um«, sagte sie zu mir, »aber ich konnte sie nicht ansehen, ohne an ihn zu denken.« Ihr Leben einer zurückgegebenen Ehefrau ging ebenso schlicht weiter wie das der Ledigen, stets stickte sie mit ihren Freundinnen auf der Maschine, so wie sie früher Stofftulpen und Papiervögel hergestellt hatte, doch wenn ihre Mutter zu Bett ging, blieb sie im Zimmer und schrieb Briefe ohne Zukunft bis zum Morgengrauen. Sie entwickelte einen klaren Verstand, wurde gebieterisch, Meisterin ihres Willens und nur für ihn wieder Jungfrau, und sie erkannte keine andere Autorität an als die seine noch eine andere Knechtschaft als die ihrer Besessenheit.
Ein halbes Leben lang schrieb sie wöchentlich einen Brief. »Mitunter fiel mir nichts ein«, sagte sie zu mir und lachte sich fast tot, »aber es genügte mir zu wissen, dass er die Briefe erhielt.« Anfangs waren es förmliche Karten, dann die Zettelchen einer heimlichen Liebschaft, duftende Billetts einer flüchtig Versprochenen, Geschäftsberichte, Liebesdokumente, und schließlich waren es die würdelosen Briefe einer verlassenen Gattin, die grausame Krankheiten erfand, um ihn zur Rückkehr zu zwingen. In einer heiteren Nacht ergoss sich das Tintenfass über den beendeten Brief, und statt ihn zu zerreißen, fügte sie einen Nachsatz an: »Als Beweis meiner Liebe sende ich dir meine Tränen.« Bisweilen, müde vom Weinen, machte sie sich über ihren eigenen Wahnsinn lustig. Sechsmal wurde die Postbeamtin ausgewechselt, und sechsmal gewann Ángela Vicario die jeweils neue zur Komplizin. Was ihr überhaupt nicht in den Sinn kam, war aufzugeben. Doch Bayardo San Román schien ihrem Delirium gegenüber unempfindlich zu sein: Es war, als schriebe sie an niemanden.
Frühmorgens an einem stürmischen Tag im zehnten Jahr weckte sie die Gewissheit, dass er nackt in ihrem Bett lag. Sie schrieb ihm daraufhin einen fiebrigen, zwanzig Seiten langen Brief, in dem sie ihm ohne Scham die bitteren Wahrheiten entgegenschleuderte, die seit der verhängnisvollen Nacht in ihrem Herzen gärten. Sie sprach von den ewigen Schwären, die er auf ihrem Leib hinterlassen hatte, vom Salz seiner Zunge, von dem Feuerstoß seiner afrikanischen Rute. Sie übergab den Brief der Postbeamtin, die freitagnachmittags zum Sticken zu ihr kam, um die Post mitzunehmen, und war überzeugt, dass dieser erschöpfende Ausbruch ihrer Agonie ein Ende setzen würde. Doch es kam keine Antwort. Von nun an war ihr nicht mehr bewusst, was sie schrieb, noch an wen sie eigentlich schrieb, aber sie schrieb erbarmungslos siebzehn Jahre lang weiter.
An einem Mittag im August, als sie mit ihren Freundinnen stickte, spürte sie, dass jemand auf die Tür zukam. Sie brauchte nicht aufzublicken, um zu wissen, wer es war. »Er war fett, das Haar war dünn geworden, und er brauchte schon eine Brille, um nah zu sehen«, sagte sie zu mir. »Aber er war es, verdammt noch mal, er war es!« Sie erschrak, denn sie wusste, dass sie ihm ebenso verwelkt vorkommen musste wie er ihr, und glaubte nicht, dass er so viel Liebe wie sie in sich habe, um das zu ertragen. Sein Hemd war durchgeschwitzt, wie sie es beim ersten Mal auf dem Volksfest gesehen hatte, und er trug denselben Gürtel und dieselben silberbeschlagenen, halb aufgerissenen Reisetaschen. Bayardo San Román machte einen Schritt vorwärts, ohne sich um die anderen verblüfften Stickerinnen zu kümmern, und stellte die Taschen auf die Nähmaschine.
»Nun«, sagte er, »hier bin ich.«
Er hatte einen Koffer voller Wäsche bei sich, um dazubleiben, und einen weiteren mit den fast zweitausend Briefen, die sie ihm geschrieben hatte. Sie waren nach Datum geordnet, mit bunten Bändern gebündelt und alle ungeöffnet.