TEIL VIER
DER HUND, DEN MAN FÜTTERT
SIEBENUNDZWANZIG
Bosch und Walling nahmen Boschs Mustang, weil er im Vergleich zu ihrer FBI-Limousine, die förmlich nach Polizei stank, zumindest ein gewisses Maß an Tarnung bot. Sie fuhren nach Echo Park, aber nicht direkt zum Haus der Saxons in der Figueroa Lane 710. Die Sache hatte nämlich einen Haken. Die Figueroa Lane war eine Sackgasse, die am Ende der Figueroa Terrace abzweigte und entlang des Hügels unterhalb von Chavez Ravine verlief. Sie konnten dort also nicht einmal in Boschs Mustang durchfahren, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Falls Waits in dem Haus war und nach anrückender Polizei Ausschau hielt, hätte er den Vorteil, sie zuerst zu sehen.
Bosch hielt an der Kreuzung von Beaudry und Figueroa Terrace und trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad.
»Für seine geheime Burg hat er sich einen guten Platz ausgesucht. Es ist praktisch unmöglich, sich ihr unbemerkt zu nähern. Vor allem bei Tageslicht.«
Rachel nickte.
»Aus genau diesem Grund wurden mittelalterliche Burgen auf Hügeln errichtet.«
Bosch blickte nach links, in Richtung Downtown, und entdeckte einige höhere Gebäude, die über die Dächer der Häuser in der Figueroa Terrace ragten. Eins der nächsten und höchsten Gebäude war die Zentrale der Stadtwerke, des Department of Water and Power. Es stand gleich auf der anderen Seite des Freeway.
»Ich habe eine Idee«, sagte Bosch.
Sie fuhren in Richtung Downtown zurück, und Bosch parkte auf einem der Besucherparkplätze in der Tiefgarage des DWP. Er löste die Kofferraumverriegelung, stieg aus und holte ein starkes Fernglas, eine Kamera und einen zusammengerollten Schlafsack heraus, die er dort für Observierungen immer mit sich führte.
»Was willst du fotografieren?«, fragte Walling.
»Nichts. Aber die Kamera hat ein Teleobjektiv, und vielleicht willst du ja auch was sehen, wenn ich durchs Fernglas schaue.«
»Und der Schlafsack?«
»Könnte sein, dass wir uns auf einem Dach auf die Lauer legen müssen, und ich möchte nicht, dass du dir dein schickes FBI-Kostüm versaust.«
»Mach dir um mich mal keine Gedanken. Sorg dich lieber um dich selbst.«
»Ich mache mir Sorgen um das Mädchen, das Waits entführt hat. Komm.«
Sie gingen durch die Garage zum Lift.
»Ist dir eigentlich schon mal aufgefallen, dass du ihn immer noch Waits nennst, obwohl wir inzwischen sicher sind, dass sein richtiger Name Foxworth ist?«, fragte sie, als sie im Aufzug nach oben fuhren.
»Ja, ist mir schon aufgefallen. Liegt wahrscheinlich daran, dass er mir als Waits bei der Vernehmung gegenübersaß. Und als er zu schießen anfing, war er für mich ebenfalls Waits. Das ist irgendwie hängen geblieben.«
Sie nickte und äußerte sich nicht mehr dazu, aber er nahm stark an, dass sie es unter irgendwelchen psychologischen Gesichtspunkten betrachtete.
Als sie im Foyer aus dem Lift stiegen, ging Bosch zu einem Informationsschalter, zeigte Dienstmarke und Ausweis und verlangte den zuständigen Sicherheitschef zu sprechen. Er sagte dem Mann, es sei dringend.
Keine zwei Minuten später kam ein groß gewachsener Schwarzer in grauer Hose und marineblauem Blazer durch eine Tür und steuerte direkt auf sie zu. Diesmal zeigte nicht nur Bosch seinen Ausweis, sondern auch Walling, und der Mann schien gebührend beeindruckt von dem Tandem aus FBI und LAPD.
»Hieronymus«, sagte er nach einem Blick auf Boschs Dienstausweis. »Laufen Sie normalerweise unter Harry?«
»Ja.«
Der Mann streckte seine Hand aus und lächelte.
»Jason Edgar. Ich glaube, Sie und mein Cousin waren mal Partner.«
Bosch lächelte, nicht nur wegen des Zufalls, sondern auch, weil er wusste, dass er auf die Unterstützung dieses Mannes zählen konnte. Er klemmte sich den Schlafsack unter den anderen Arm und schüttelte ihm die Hand.
»So ist es. Er hat mir erzählt, dass er einen Cousin bei den Stadtwerken hat. Sie haben ihm immer Informationen über Stromrechnungen beschafft, wenn wir welche brauchten. Schön, Sie mal persönlich kennenzulernen.«
»Ganz meinerseits, Mann. Worum dreht es sich? Etwa irgendeine Terrorismusgeschichte, wenn das FBI mit eingeschaltet ist?«
Rachel hob in einer abwiegelnden Geste die Hand.
»Ganz so wild ist es nicht.«
»Jason, wir sind nur auf der Suche nach einer Stelle, von der wir gute Sicht auf einen bestimmten Teil von Echo Park auf der anderen Seite des Freeway haben. Da steht ein Haus, das wir ein bisschen unter die Lupe nehmen wollen. Allerdings kommen wir dort nicht ran, ohne Aufmerksamkeit zu erregen, wenn Sie wissen, was ich meine. Deshalb dachten wir, wir könnten vielleicht vom Dach oder einem der Büros aus einen Blick nach da drüben werfen, was sich dort so tut.«
»Da habe ich genau das Richtige für Sie«, sagte Edgar, ohne lang zu überlegen. »Kommen Sie.«
Er führte sie zurück zu den Aufzügen und brachte mit einem Schlüssel den Knopf für den fünfzehnten Stock zum Aufleuchten. Auf der Fahrt nach oben erklärte er ihnen, dass das Gebäude gerade Etage für Etage renoviert wurde. Zurzeit war die fünfzehnte an der Reihe. Sie war entkernt worden und wartete darauf, dass die Baufirma mit den Renovierungsmaßnahmen begann.
»Sie haben das ganze Stockwerk für sich allein«, sagte er. »Suchen Sie sich einfach den geeigneten OP.«
Bosch nickte. OP war die Abkürzung für Observationspunkt. Das verriet ihm etwas über Jason Edgar.
»Bei welcher Einheit waren Sie?«, fragte er.
»Marines, Desert Storm, das volle Programm. Deshalb bin ich hinterher auch nicht zur Polizei gegangen. Ich hatte die Schnauze voll von Kriegsgebieten. Bei diesem Job hier habe ich feste Arbeitszeiten und wenig Stress, und trotzdem kommt man nicht um vor Langeweile, wenn Sie wissen, was ich meine.«
Bosch hatte zwar keine Ahnung, nickte aber trotzdem. Die Lifttür ging auf, und sie traten hinaus in das Stockwerk, das von einer gläsernen Front bis zur gegenüberliegenden vollkommen leer vor ihnen lag. Edgar führte sie zu dem Fenster, von dem aus man auf Echo Park hinabsah.
»Worum geht es in dem Fall eigentlich?«, fragte er.
Bosch hatte mit dieser Frage gerechnet und sich schon eine Antwort zurechtgelegt.
»Dort unten ist ein Haus, das möglicherweise als konspirative Wohnung für Flüchtlinge dient. Wir wollen uns nur vergewissern, ob es dort irgendetwas zu sehen gibt, wenn Sie wissen, was ich meine.«
»Klar.«
»Da ist noch etwas, das Sie für uns tun könnten«, sagte Walling.
Auch Bosch wandte sich ihr zu. Er war neugierig, was jetzt käme.
»Ja, was?«, fragte Edgar.
»Könnten Sie die Adresse durch Ihren Computer laufen lassen und nachsehen, wer Strom, Gas und Wasser bezahlt?«
»Klar, kein Problem. Ich zeige Ihnen nur noch schnell Ihren Platz.«
Bosch nickte Rachel anerkennend zu. Das war ein geschickter Schachzug. Er schaffte ihnen nicht nur den neugierigen Edgar eine Weile vom Hals, sondern verhalf ihnen auch zu wertvollen Informationen über das Haus in der Figueroa Lane.
Von der Glasfront auf der Nordseite des Gebäudes konnten Bosch und Walling über den Freeway 101 hinweg auf Echo Park hinabsehen. Sie waren zwar weiter von dem am Hang gelegenen Wohngebiet entfernt, als Bosch gedacht hatte, aber sie hatten trotzdem einen guten Blick. Er zeigte Rachel die geografischen Orientierungspunkte.
»Das dort ist die Fig Terrace, und darüber die Straße mit den drei Häusern, das ist die Fig Lane.«
Sie nickte. In der Figueroa Lane gab es nur drei Häuser. Aus dieser Höhe und Entfernung sah es so aus, als wäre die Sackgasse nachträglich hineingezwängt worden, als sich nach der Fertigstellung des Bebauungsplans herausstellte, dass dort noch etwas Platz war.
»Welches davon ist 710?«, fragte sie.
»Gute Frage.«
Bosch ließ den Schlafsack fallen und hob das Fernglas. Er sah sich die drei Häuser der Reihe nach an und hielt nach einer Hausnummer Ausschau. Schließlich entdeckte er vor dem mittleren Haus eine schwarze Mülltonne, auf die jemand in großen weißen Ziffern 712 geschrieben hatte. Bosch wusste, dass die Hausnummern höher wurden, weil die Straße sich von Downtown entfernte.
»Das Haus rechts von dem mit der Mülltonne davor ist 710«, sagte er.
»Aha«, sagte sie.
»Das ist also die Adresse?«, sagte Edgar. »Fig Lane 710?«
»Ja, Figueroa Lane«, sagte Bosch.
»Alles klar. Dann sehe ich mal, was ich tun kann. Falls jemand ankommt und wissen will, was Sie hier machen, sagen Sie ihm einfach, er soll mich unter 3-3-8 rufen. Das ist meine Pagernummer.«
»Danke Jason.«
»Keine Ursache.«
Edgar ging zu den Aufzügen zurück. Bosch fiel noch etwas ein, und er rief ihm hinterher.
»Das Glas ist doch beschichtet, Jason? Wir sind von draußen nicht zu sehen, oder?«
»Nein, natürlich nicht. Sie könnten splitternackt am Fenster stehen, und niemand würde Sie sehen. Aber versuchen Sie das bloß nicht nachts, denn dann sieht die Sache anders aus. Wenn die Innenbeleuchtung an ist, kann man sehr wohl von draußen reinschauen.«
Bosch nickte.
»Danke.«
»Wenn ich zurückkomme, bringe ich Ihnen zwei Stühle mit.«
»Das wäre nett.«
Nachdem Edgar im Lift verschwunden war, sagte Walling: »Gut, wenigstens können wir dann nackt am Fenster sitzen.«
Bosch grinste.
»Hörte sich so an, als wüsste er das alles aus Erfahrung.«
»Hoffen wir mal, nicht.«
Bosch hob das Fernglas und schaute auf das Haus Nummer 710 hinab. Wie die zwei anderen Häuser in der Figueroa Lane lag es ein Stück oberhalb der Straße und war durch eine Treppe mit einer Garage verbunden, die auf Straßenhöhe in den Hang unter dem Haus gegraben war. Es war im spanischen Stil gebaut, mit einem roten Ziegeldach. Aber während die anderen Häuser in der Straße gepflegt und gut in Schuss waren, machte 710 einen heruntergekommenen Eindruck. Der rosafarbene Anstrich war verblichen und der Hang zwischen Haus und Garage von Unkraut überwuchert. An dem Mast an der Ecke der Veranda flatterte keine Fahne.
Bosch drehte an der Entfernungseinstellung des Fernglases und studierte Fenster um Fenster. Er suchte nach einem Hinweis, ob sich jemand im Haus aufhielt, und hoffte, Waits hinausschauen zu sehen.
Er hörte, wie Walling neben ihm ein paar Fotos machte.
»Ich glaube nicht, dass ein Film in der Kamera ist. Es ist keine Digital.«
»Macht nichts. Reine Gewohnheit. Außerdem hätte ich nicht erwartet, dass ein Fossil wie du eine Digitalkamera besitzt.«
Bosch lächelte hinter dem Fernglas. Er versuchte, sich eine Replik einfallen zu lassen, gab aber schnell wieder auf und konzentrierte sich auf das Haus. Es war in einer für L. A.s ältere, in den Hügeln liegende Wohngebiete typischen Bauweise errichtet. Während bei Bauten jüngeren Datums die Beschaffenheit des Geländes das Aussehen bestimmte, war man bei den Häusern auf der Hangseite der Figueroa Lane architektonisch weniger rücksichtsvoll vorgegangen. Auf Straßenhöhe hatte man den Hang für eine Garage ausgehöhlt und darüber für ein eingeschossiges kleines Wohnhaus eine Terrasse planiert. Als sich in den 40er- und 50er-Jahren des letzten Jahrhunderts die Stadt immer weiter ausbreitete und wie die steigende Flut aus den flachen Zonen die Hügel hinaufkletterte, waren alle Hügel und Hänge von Los Angeles so bebaut worden.
Bosch bemerkte, dass am Ende der Treppe, die von der Garage zur Veranda des Hauses hinaufführte, eine kleine Metallplattform angebracht war. Er nahm die Treppe genauer in Augenschein und entdeckte stählerne Führungsstangen.
»An der Treppe ist ein Aufzug angebracht«, sagte er. »In dem Haus wohnt jemand, der im Rollstuhl sitzt.«
Bosch richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Fenster, konnte jedoch hinter keinem etwas erkennen, das sich bewegte. Schließlich richtete er das Fernglas auf die Garage. Sie hatte eine Eingangstür und zwei große Tore, die vor langer Zeit rosa lackiert worden waren. Was von dem Anstrich noch übrig war, war inzwischen grau, und das der Nachmittagssonne ungeschützt ausgesetzte Holz begann an mehreren Stellen zu splittern. Eins der Tore stand leicht schief und machte nicht den Eindruck, als ließe es sich noch öffnen. In der Eingangstür befand sich ein kleines Fenster, hinter dem jedoch ein Rollo heruntergelassen war. In die obersten Kassetten der Garagentore waren kleine, quadratische Fenster eingesetzt, aber weil das Sonnenlicht direkt darauffiel und heftig blendend zurückgeworfen wurde, konnte Bosch nicht nach drinnen sehen.
Als Bosch das leise Bing des anhaltenden Aufzugs hörte, setzte er zum ersten Mal das Fernglas ab. Er drehte sich um und sah Jason Edgar mit zwei Stühlen auf sie zukommen.
»Perfekt«, sagte Bosch.
Er nahm einen der Stühle und stellte ihn an die Fensterfront, sodass er sich umgekehrt darauf setzen und die Ellbogen auf die Lehne stützen konnte – die typische Observierungshaltung. Rachel stellte ihren Stuhl so hin, dass sie normal darauf sitzen konnte.
»Sind Sie schon dazu gekommen, in den Unterlagen nachzusehen, Jason?«, fragte sie.
»Ja«, antwortete Edgar. »Die Stromrechnungen für diese Adresse gehen an eine Janet Saxon und das schon seit einundzwanzig Jahren.«
»Danke.«
»Gern geschehen. Ich nehme mal an, das ist vorerst alles, was Sie von mir brauchen?«
Bosch blickte zu Edgar auf.
»Jerry – ich meine natürlich, Jason – Sie waren uns eine große Hilfe. Vielen Dank. Wir bleiben wahrscheinlich noch eine Weile und verschwinden dann. Möchten Sie, dass wir Ihnen Bescheid geben, oder sollen wir die Stühle einfach irgendwo abgeben?«
»Geben Sie einfach dem Kollegen im Foyer Bescheid, wenn Sie gehen. Er informiert mich dann. Und lassen Sie die Stühle einfach stehen. Darum kümmere ich mich schon.«
»Gut. Danke.«
»Viel Erfolg. Hoffentlich kriegen Sie Ihren Mann.«
Sie schüttelten sich die Hände, und Edgar kehrte zum Aufzug zurück. Bosch und Walling gingen wieder dazu über, das Haus in der Figueroa Lane zu beobachten. Bosch fragte Rachel, ob sie sich lieber abwechseln sollten, und sie sagte Nein. Er fragte sie, ob sie lieber das Fernglas haben wollte, und sie erwiderte, sie bliebe bei der Kamera. Mit dem Teleobjektiv könnte sie sogar mehr sehen als mit dem Fernglas.
Zwanzig Minuten vergingen, und nichts im Haus bewegte sich. Bisher hatte Bosch den Blick zwischen Haus und Garage hin- und herwandern lassen, aber inzwischen konzentrierte er sich auf das dichte Gebüsch auf dem Hang darüber und suchte nach einem Beobachtungspunkt, von dem sie das Haus aus der Nähe beobachten konnten.
»Harry, die Garage.« Walling hörte sich aufgeregt an.
Bosch senkte das Fernglas, bis die Garage im Blickfeld auftauchte. Die Sonne war hinter einer Wolke verschwunden, und das Blitzen in den kleinen Fenstern der Tore war erloschen. Bosch sah sofort, was Rachel meinte. Durch die Fenster des Tors, das noch intakt aussah, war das Heck eines weißen Kastenwagens zu sehen.
»Ich habe gehört, bei der Entführung gestern Abend wurde ein weißer Kastenwagen verwendet«, sagte Walling.
»Genau das habe ich auch gehört. Es war Teil der Fahndungsmeldung.«
Sein Puls beschleunigte sich. Ein weißer Lieferwagen in der Garage eines Hauses, in dem Raynard Waits einmal gewohnt hatte.
»Wir haben ihn!«, rief er. »Da drinnen muss er mit dem Mädchen sein. Komm, Rachel!«
Sie standen auf und eilten zum Lift.
ACHTUNDZWANZIG
Während sie aus der DWP-Tiefgarage schossen, debattierten sie darüber, ob sie Verstärkung hinzuziehen sollten. Walling war dafür. Bosch war dagegen.
»Alles, was wir haben, ist ein weißer Kastenwagen«, sagte er. »Durchaus möglich, dass sie im Haus ist, er aber nicht. Wenn wir jetzt mit der ganzen Mannschaft anrücken, geht er uns möglicherweise durch die Lappen. Ich will mir das Ganze nur mal aus der Nähe ansehen. Verstärkung können wir immer noch anfordern, wenn wir da sind. Falls sie überhaupt nötig ist.«
Er war fest davon überzeugt, dass sein Standpunkt vernünftig war, aber das war ihrer auch.
»Und was, wenn er im Haus ist?«, hielt sie ihm entgegen. »Wir zwei könnten in einen Hinterhalt geraten. Wir brauchen wenigstens ein zweites Team zur Verstärkung, Harry, wenn wir es korrekt und sicher durchziehen wollen.«
»Wir verständigen sie, sobald wir da sind.«
»Dann ist es zu spät. Ich weiß, was du vorhast. Du willst diesen Kerl ganz für dich allein haben, und dafür bist du bereit, das Leben des Mädchens – und unseres – aufs Spiel zu setzen.«
»Möchtest du, dass ich anhalte und dich aussteigen lasse, Rachel?«
»Nein, ich möchte nicht aussteigen, Harry.«
»Gut. Und ich möchte, dass du dabei bist.«
Entscheidung getroffen, Diskussion beendet. Bosch fuhr auf der Figueroa Street, die hinter dem Gebäude der Stadtwerke vorbeiführte, in Richtung Osten, unter dem Freeway 101 hindurch, über den Sunset Boulevard und dann weiter nach Norden und unter dem Freeway 110 hindurch. Dann ging die Figueroa Street in die Figueroa Terrace über, und sie fuhren bis zu der Stelle, wo sie endete und die Figueroa Lane den Hügel hinaufführte. Vor der Abzweigung hielt Bosch am Straßenrand an.
»Das letzte Stück gehen wir zu Fuß und halten uns bis Nummer 710 dicht an den Garagen. Dann kann er uns vom Haus aus nicht sehen.«
»Und wenn er gar nicht im Haus ist?«, fragte Rachel. »Was, wenn er in der Garage auf uns wartet?«
»Auch kein Problem. Wir sehen nach, ob jemand in der Garage ist, und gehen dann zum Haus rauf.«
»Die Häuser liegen alle auf der Hangseite. Das heißt, wir müssen erst mal die Straße überqueren.«
Bosch blickte sie über das Autodach hinweg an, als sie ausstiegen.
»Kommst du jetzt mit, Rachel, oder nicht?«
»Ich hab dir doch gesagt, ich komme mit.«
»Dann los.«
Bosch schloss die Tür und begann, auf dem Gehsteig den Hügel hinaufzulaufen. Er holte das Handy heraus und schaltete es aus, damit es nicht zu vibrieren anfing, während sie das Haus auskundschafteten.
Bis er oben ankam, war er völlig außer Atem. Rachel, die sich dicht hinter ihm hielt, hatte weit weniger mit Sauerstoffmangel zu kämpfen. Bosch hatte zwar schon vor einigen Jahre mit dem Rauchen aufgehört, aber der in den fünfundzwanzig Jahren davor angerichtete Schaden war kaum wiedergutzumachen.
Der einzige Moment, in dem sie von dem rosafarbenen Haus aus zu sehen waren, kam, als sie die Straße an ihrem höchsten Punkt überqueren mussten, um zu den Garagen auf der Hangseite zu gelangen. Bosch nahm Walling im Gehen beiläufig am Arm und flüsterte ihr ins Ohr.
»Ich benutze dich jetzt, um ihm den Blick auf mein Gesicht zu versperren. Mich hat er schon mal gesehen, dich nicht.«
»Das spielt jetzt keine Rolle mehr«, sagte sie, als sie die Straße überquert hatten. »Wenn er uns gesehen hat, weiß er ohnehin, was Sache ist.«
Ohne auf ihre Warnung zu achten, begann er, an den Garagen entlangzugehen, die unmittelbar an den Gehsteig gebaut waren. Sie hatten Nummer 710 rasch erreicht. Bosch hielt seine Hände an eines der schmutzigen kleinen Fenster, die oben in die Garagentore eingelassen waren, und spähte hindurch. Inmitten von Stapeln aus Kisten, Plastikcontainern und allem möglichen Gerümpel stand ein weißer Kastenwagen. Nichts bewegte sich, kein Laut drang nach draußen. In der Rückwand der Garage befand sich eine Tür.
Bosch ging zur Eingangstür der Garage und drehte am Griff.
»Abgeschlossen«, flüsterte er.
Er trat einen Schritt zurück und betrachtete die beiden Schwingtore. Rachel hatte sich an das andere Tor gestellt und lauschte. Sie warf Bosch einen kurzen Blick zu und schüttelte den Kopf. Nichts. Bosch sah, dass zwar an jedem der zwei Schwingtore ein Griff angebracht war, aber nichts, womit sie sich von außen hätten abschließen lassen. Er bückte sich und versuchte, das Tor, vor dem er stand, nach oben zu ziehen. Er bekam es ein paar Zentimeter hoch, aber dann ließ es sich nicht mehr bewegen. Es war von innen abgeschlossen. Er versuchte es beim zweiten Tor, mit dem gleichen Ergebnis. Es gab ein paar Zentimeter nach, dann war Schluss. Wegen des leichten Spielraums nahm Bosch an, dass beide Tore von innen mit Vorhängeschlössern gesichert waren.
Er richtete sich auf und sah Rachel an. Dann schüttelte er den Kopf und deutete nach oben. Zeit, zum Haus hinaufzugehen.
Leise stiegen sie die Betontreppe hinauf. Auf der viertletzten Stufe blieb Bosch, der die Führung übernommen hatte, stehen. Er ging in die Hocke und versuchte, zu Atem zu kommen. Er sah Rachel an. Er wusste, sie improvisierten jetzt. Er improvisierte. Die einzige Möglichkeit, sich dem Haus zu nähern, war, direkt auf die Eingangstür zuzugehen.
Er wandte sich von Rachel ab und beobachtete die einzelnen Fenster. Er konnte keine Bewegung im Innern des Hauses erkennen, glaubte aber, das Geräusch eines Fernsehers oder Radios zu hören. Er zog seine Pistole – diese Verstärkung hatte er sich am Morgen aus dem Schrank in der Diele geholt – und stieg die letzten Stufen zum Haus hinauf. Dann huschte er, die Waffe an seiner Seite haltend, über die Veranda und blieb vor der Eingangstür stehen.
Ein Durchsuchungsbefehl, wusste er, stand in einer Situation wie dieser nicht zur Debatte. Waits hatte eine Frau entführt, und es ging um Leben und Tod. Da war kein Platz für derlei Formalitäten. Er legte seine Hand um den Türgriff und drehte vorsichtig. Es war nicht abgeschlossen.
Als Bosch die Tür langsam öffnete, sah er, dass an der Schwelle eine fünf Zentimeter hohe Rollstuhlrampe angebracht war. Das Geräusch des Radios wurde lauter. Ein religiöser Sender, ein Mann, der von himmlischer Glückseligkeit sprach.
Sie betraten die Diele des Hauses, die sich auf der rechten Seite in ein Wohnzimmer mit einem Essbereich öffnete. Direkt vor ihnen führte ein Bogendurchgang in die Küche. Links zweigte ein Flur in den übrigen Teil des Hauses ab. Ohne sich nach Rachel umzublicken, deutete Bosch nach rechts, das Zeichen, dass sie in diese Richtung gehen sollte. Er wollte zunächst einen Blick in die Küche werfen und sich dann den Flur auf der linken Seite vornehmen.
Als er den Türbogen erreichte, sah er, dass Rachel, ihre Waffe mit beiden Händen vor dem Körper haltend, durchs Wohnzimmer ging. Er betrat die Küche. Sie war sauber und ordentlich, in der Spüle war kein einziger Teller. Das Radio stand auf der Arbeitsplatte. Der Prediger mahnte seine Zuhörer, dass die Ungläubigen nicht erlöst würden.
Von der Küche führte ein weiterer Bogendurchgang in den Essbereich des Wohnzimmers. Rachel erschien in der Öffnung, drehte ihre Pistole nach oben, als sie Bosch sah, und schüttelte den Kopf.
Nichts.
Blieb nur noch der Flur, der zu den Schlafzimmern des Hauses führte. Bosch drehte sich um und ging durch den Türbogen zurück in den Eingangsbereich. Als er sich dem Flur zuwandte, stellte er erschrocken fest, dass auf der Schwelle eine alte Frau in einem Rollstuhl saß. In ihrem Schoß hielt sie einen langläufigen Revolver. Er sah aus, als wäre er zu schwer für ihre dünnen Arme.
»Wer ist da?«, fragte sie streng.
Ihr Kopf war leicht zur Seite gedreht. Ihre Augen waren offen, aber auf den Boden gerichtet statt auf Bosch. Es war ihr Ohr, das ihm zugewandt war, und er merkte, sie war blind.
Er hob seine Pistole und richtete sie auf die alte Frau.
»Mrs. Saxon? Kein Grund zur Aufregung. Mein Name ist Harry Bosch. Ich suche Robert.«
Über ihr Gesicht huschte ein Ausdruck der Verwunderung.
»Wen?«
»Robert Foxworth. Ist er hier?«
»Da sind Sie an der falschen Adresse, und was denken Sie sich eigentlich, hier einfach reinzukommen, ohne anzuklopfen?«
»Ich …«
»Bobby benutzt nur die Garage. Ins Haus lasse ich ihn nicht. Diese ganzen Chemikalien – ein Gestank ist das.«
Ohne ihren Revolver aus den Augen zu lassen, bewegte sich Bosch langsam auf sie zu.
»Sie müssen entschuldigen, Mrs. Saxon, aber ich dachte, er wäre hier oben bei Ihnen. War er in letzter Zeit mal hier?«
»Er kommt und geht, wie es ihm passt. Hier rauf kommt er nur, um mir die Miete zu bringen, sonst nicht.«
»Für die Garage?«
Er hatte die alte Frau fast erreicht.
»Habe ich Ihnen doch gesagt. Weshalb suchen Sie ihn? Sind Sie ein Freund von ihm?«
»Ich will nur mit ihm reden.«
Bosch streckte die Hand aus und nahm ihr den Revolver aus der Hand.
»Hey! Den brauche ich zu meinem Schutz.«
»Keine Sorge, Mrs. Saxon. Sie kriegen ihn zurück. Ich finde nur, er sollte mal gereinigt werden. Und geölt. Damit er auch funktioniert, wenn Sie ihn tatsächlich mal brauchen.«
»Ich brauche ihn.«
»Ich nehme ihn mit nach unten in die Garage und sage Bobby, er soll ihn sauber machen. Dann bringe ich ihn Ihnen zurück.«
»Das will ich mal hoffen.«
Bosch sah sich den Revolver an. Er war geladen und schien zu funktionieren. Er steckte ihn sich am Rücken in den Hosenbund und blickte zu Rachel. Sie stand einen Meter hinter ihm im Durchgang. Sie machte eine Handbewegung, als drehte sie einen Schlüssel. Bosch schaltete sofort.
»Haben Sie einen Garagenschlüssel, Mrs. Saxon?«, fragte er.
»Nein. Bobby wollte auch den Zweitschlüssel haben.«
»Okay, Mrs. Saxon. Dann kläre ich das mit ihm.«
Er zog sich zur Eingangstür zurück. Rachel folgte ihm, und sie gingen nach draußen. Auf halbem Weg die Treppe hinunter packte ihn Rachel am Arm und zischte.
»Wir müssen Verstärkung anfordern. Sofort!«
»Dann mach zu und ruf an, aber ich gehe jetzt in die Garage. Wenn er mit dem Mädchen da drinnen ist, dürfen wir nicht warten.«
Er schüttelte ihre Hand ab und stieg weiter die Treppe hinunter. Als er die Garage erreichte, spähte er noch einmal durch eins der kleinen Fenster oben in den Toren. Auch diesmal bemerkte er nichts Auffälliges. Seine Aufmerksamkeit richtete sich auf die Tür in der Rückwand. Sie war immer noch geschlossen.
Er ging zu der Tür neben den Garagentoren und klappte das kleine Taschenmesser an seinem Schlüsselbund auf.
Er schob die Klinge auf Höhe des Schlosses in den Türspalt und bekam sie über die Falle. Dann gab er Rachel mit einem Nicken zu verstehen, sich bereitzuhalten, und zog an der Tür. Aber sie ließ sich nicht öffnen. Er versuchte es noch einmal und zog fester. Sie ging nicht auf.
»Sie ist von innen mit einem Vorhängeschloss gesichert«, flüsterte er. »Das heißt, er ist da drinnen.«
»Nicht unbedingt. Er könnte auch durch eins der Tore nach draußen gekommen sein.«
Bosch schüttelte den Kopf.
»Sie sind ebenfalls von innen abgeschlossen«, flüsterte er. »Alle Zugänge zur Garage sind von innen verschlossen.«
Rachel nickte.
»Was machen wir jetzt?«
Bosch überlegte kurz, dann reichte er ihr seine Schlüssel.
»Geh schnell das Auto holen, und fahr rückwärts vor das Tor. Dann entriegelst du den Kofferraum.«
»Was hast …«
»Mach einfach. Los!«
Sie lief den Gehsteig vor den Garagen entlang, überquerte die Straße und verschwand. Bosch ging zu dem schiefen Tor. Es sah aus, als ließe es sich leichter aufbekommen als das andere.
Bosch hörte den starken Motor seines Mustang, bevor er den Wagen die Straße heraufkommen sah. Rachel fuhr schnell auf ihn zu. Er drückte sich mit dem Rücken an die Garage, damit sie möglichst viel Platz zum Rangieren hatte. Sie machte eine scharfe Linkskurve und stieß dann rückwärts auf das Garagentor zu. Der Kofferraumdeckel sprang auf, und Bosch wollte das Seil herausnehmen, das er immer dabeihatte. Es war weg. Ihm fiel ein, dass Osani es an sich genommen hatte, nachdem er es an dem Baum im Beachwood Canyon entdeckt hatte.
»Scheiße!«
Er sah sich hastig um und entdeckte ein Stück Wäscheleine, mit dem er den Kofferraumdeckel festgebunden hatte, als er einmal ein Möbelstück zur Heilsarmee transportiert hatte. Rasch band er das eine Ende der Leine am Abschleppring unter der Stoßstange fest, das andere am Griff des Garagentors. Irgendetwas würde auf jeden Fall nachgeben. Das Tor, der Griff oder die Leine. Die Chancen, das Tor aufzubekommen, standen eins zu drei.
Inzwischen war Rachel ausgestiegen.
»Was hast du vor?«, fragte sie.
Leise schloss Bosch den Kofferraum.
»Wir ziehen das Tor auf. Steig wieder ein und fahr los. Aber langsam, sonst reißt die Leine. Mach schon, Rachel. Beeilung.«
Wortlos stieg sie in den Wagen, legte den Gang ein und fuhr langsam an. Sie schaute in den Rückspiegel, und er signalisierte ihr mit einem Kreisen des Zeigefingers, weiterzufahren. Die Leine spannte sich, und Bosch hörte, wie das Garagentor unter dem zunehmenden Zug zu ächzen begann. Er machte einen Schritt zurück und zog seine Pistole.
Plötzlich gab das Garagentor nach und schnellte etwa einen Meter nach außen und oben.
»Stopp!«, brüllte Bosch, denn inzwischen war es nicht mehr nötig, zu flüstern.
Rachel hörte auf zu ziehen, aber die Leine blieb straff und hielt das Tor offen. Bosch machte einen Satz darauf zu und nutzte den Schwung, um sich darunter durchzurollen. In der Garage kam er, die Pistole schussbereit, sofort wieder hoch. Er schwenkte sie von einer Seite zur anderen, sah aber niemanden. Ohne den Blick von der Tür in der Rückwand abzuwenden, bewegte er sich seitwärts auf den Lieferwagen zu. Er riss eine der Schiebetüren auf und sah hinein. Leer.
Um zur Rückwand der Garage zu kommen, musste sich Bosch an aufrecht stehenden Fässern, Rollen mit Plastikplane, Lappenballen, Gummiwischern und anderen Fensterputzutensilien vorbeizwängen. Es roch stark nach Ammoniak und anderen Chemikalien. Boschs Augen begannen zu tränen.
Weil die Angeln der Tür in der Rückwand zu sehen waren, nahm Bosch an, dass sie sich in seine Richtung öffnete.
»FBI!«, rief Walling von draußen. »Ich komme rein!«
»Okay!«, rief Bosch zurück.
Er hörte sie unter dem Garagentor durchkriechen, behielt aber weiter die Tür in der Rückwand im Auge. Er bewegte sich darauf zu, angespannt lauschend, ob irgendein Geräusch dahinter hervordrang.
Dann postierte er sich neben der Tür, streckte die Hand nach dem Türgriff aus und drehte daran. Die Tür war nicht verschlossen. Jetzt erst sah er sich nach Rachel um. Sie hatte schräg hinter ihm Kampfhaltung eingenommen und nickte ihm kurz zu, worauf er die Tür aufriss und hindurchtrat.
Der Raum dahinter war dunkel und fensterlos, und er sah niemanden. Er wusste, er gäbe ein hervorragendes Ziel ab, wenn er, das Licht hinter sich, in der Türöffnung stehen bliebe, und machte rasch ein paar Schritte zur Seite. Er sah eine Schnur von der Decke hängen, griff danach und zog. Die Schnur riss in seiner Hand, aber das Licht ging an. Die Glühbirne schwang wild hin und her. Er befand sich in einem vollgestellten, etwa drei Meter tiefen Arbeits- und Lagerraum, in dem sich niemand aufhielt.
»Frei!«
Rachel rückte zu ihm auf, und dann standen sie da und blickten sich um. Rechts war eine Werkbank, übersät mit alten Lackdosen, Werkzeug und Taschenlampen. Auf der linken Seite lehnten vier alte, verrostete Fahrräder, mehrere Klappstühle und ein umgestürzter Stapel Pappschachteln. An der gemauerten Rückwand hing die staubige alte Fahne für den Mast an der Veranda des Hauses. Davor stand ein Ventilator, dessen Propellerblätter von einer dicken Staubschicht überzogen waren. Anscheinend hatte irgendwann mal jemand versucht, damit die abgestandene modrige Luft aus dem Raum zu blasen.
»Scheiße!«, fluchte Bosch.
Er ließ seine Pistole sinken, machte kehrt und ging an Rachel vorbei in die Garage zurück. Sie folgte ihm.
Bosch schüttelte den Kopf und rieb sich wegen der ätzenden chemischen Dämpfe die Augen. Er wusste nicht mehr weiter. Kamen sie zu spät? Waren sie auf einer völlig falschen Spur?
»Sieh mal im Wagen nach, ob du irgendeinen Hinweis auf das Mädchen findest«, sagte er zu Rachel.
Rachel ging hinter ihm vorbei zum Kastenwagen. Bosch blieb vor der Tür stehen, die ins Freie führte, und überlegte, wie es zugehen konnte, dass die Garage leer war, obwohl alles darauf hindeutete, dass sich jemand darin aufhielt.
Sämtliche Zugänge waren von innen verriegelt gewesen, und das hieß, sie konnten auch nur von innen abgeschlossen worden sein. Er ging zu den Garagentoren und bückte sich, um sich anzusehen, wie sie abgeschlossen waren. Er hatte sich nicht getäuscht. Beide waren auf der Innenseite mit einem Riegel versehen, der mit einem Vorhängeschloss gesichert war.
Bosch dachte fieberhaft nach. Alle drei Zugänge waren von innen abgeschlossen gewesen. Das hieß, entweder war doch jemand in der Garage, oder es gab einen Ausgang, den er noch nicht entdeckt hatte. Letzteres schien ihm jedoch ausgeschlossen. Die Garage war in den Hang hineingebaut und konnte unmöglich nach hinten einen Ausgang haben.
Deshalb überprüfte er die Decke, ob es vielleicht eine Klappe zu einem unterirdischen Gang hinauf zum Haus gab. In diesem Moment hörte er Rachel aus dem Kastenwagen rufen.
»Hier ist eine Rolle Klebeband. Und hier liegen mehrere benutzte Streifen mit Haaren dran auf dem Boden.«
Das bestärkte Bosch in seiner Überzeugung, am richtigen Ort zu sein. Er holte sein Handy heraus, ging zur offenen Seitentür des Kastenwagens und spähte zu Rachel hinein. Er sah die Heberampe für den Rollstuhl.
»Ich fordere Verstärkung und die Spurensicherung an«, sagte er. »Wir haben ihn verpasst.«
Er musste das Handy erst einschalten, und während er wartete, bis die Netzsuche beendet war, fiel ihm ein, dass der Ventilator im Hinterraum nicht den Garagentoren zugewandt war. Hätte man den Raum entlüften wollen, hätte man den Ventilator auf das Tor gerichtet.
Das Handy in seiner Hand begann zu summen, und das lenkte ihn ab. Er schaute auf das Display. Eine Nachricht war für ihn eingegangen. Er rief die Nummer auf und sah, dass ihn Jerry Edgar zu erreichen versucht hatte. Er würde die Nachricht später abhören. Er wählte die Nummer der Zentrale und ließ sich mit dem Sonderkommando Raynard Waits verbinden. Ein Beamter namens Freeman meldete sich.
»Hier Detective Harry Bosch. Ich habe …«
»Harry! Achtung Waffe!«
Das kam von Rachel. Plötzlich schien die Zeit stillzustehen. Bosch wirbelte herum. Rachel stand in der offenen Tür des Kastenwagens, den Blick über seine Schulter hinweg in den hinteren Teil der Garage gerichtet. Ohne lange zu überlegen, warf er sich auf sie, umschlang sie mit den Armen und riss sie auf den Boden des Lieferwagens. Von hinten kamen vier Schüsse, dazu das Krachen auf Metall prallender Kugeln und das Klirren von splitterndem Glas. Als er sich von ihr wälzte und die Hand mit der Pistole hob, sah er gerade noch eine Gestalt in den Lagerraum verschwinden. Er gab sechs Schüsse durch die offene Tür ab. Sie schlugen in die Wand dahinter ein.
»Bist du verletzt, Rachel?«
»Nein, alles klar. Hast du was abgekriegt?«
»Ich glaube nicht!«
»Das war er! Waits!«
Sie richteten ihre Aufmerksamkeit auf die Tür des Raums hinter der Garage. Niemand tauchte darin auf.
»Hast du ihn getroffen?«, flüsterte Rachel.
»Ich glaube nicht.«
»Als wir dort nachgesehen haben, war da niemand.«
»Dachte ich eigentlich auch.«
Die Pistole weiterhin auf die offene Tür gerichtet, erhob sich Bosch. Er merkte, dass das Licht im Hinterraum erloschen war.
»Ich habe das Handy fallen lassen«, sagte er. »Fordere Verstärkung an.«
Er begann, auf die Tür zuzugehen.
»Harry, warte. Er könnte …«
»Fordere Verstärkung an! Und vergiss nicht, ihnen zu sagen, dass ich da drin bin.«
Er schlich sich ein Stück nach links und näherte sich der Tür in einem Winkel, aus dem er möglichst viel von dem Raum einsehen konnte. Er lag in tiefem Dunkel, und nichts darin schien sich zu bewegen. Weiter in Schusshaltung, bewegte er sich, immer den rechten Fuß voran, in kleinen Schritten auf die Tür zu. In seinem Rücken konnte er hören, wie sich Rachel am Telefon auswies und zur Einsatzzentrale des LAPD durchstellen ließ.
Bosch erreichte die Tür und schwenkte die Pistole mit gestrecktem Arm vor seinem Körper hin und her, um auch den Teil des Raums abzudecken, den er bis dahin nicht hatte einsehen können. Er machte einen Schritt durch die Tür und dann nach rechts. Nichts bewegte sich, von Waits keine Spur. Der Raum war leer.
Ein Blick auf den Ventilator bestätigte ihm, dass seine ursprüngliche Annahme falsch gewesen war. Der Ventilator war auf die Flagge an der Rückwand gerichtet. Er hatte nicht dazu gedient, feuchte Luft nach draußen zu blasen, sondern frische Luft nach drinnen.
Bosch machte zwei Schritte auf die Flagge zu. Er packte sie an der Seite und riss sie von der Wand.
Dahinter kam die Öffnung eines unterirdischen Gangs zum Vorschein. Aus der Wand waren etwa ein Dutzend Mauersteine herausgelöst worden, und hinter der 1,20 auf 1,20 in großen Öffnung führte ein Tunnel in den Hügel hinein.
Bosch ging in die Hocke, um von rechts in den dunklen Gang zu spähen. In etwa zehn Meter Entfernung war ein schwacher Lichtschein zu erkennen. Allem Anschein nach machte der Gang dort eine Biegung, und dahinter befand sich eine Lichtquelle.
Als Bosch sich weiter vorbeugte, konnte er ein Geräusch aus dem Tunnel dringen hören. Ein leises Wimmern. So entsetzlich das Geräusch auch war, hatte es zugleich etwas Erlösendes. Es hieß, die von Waits entführte Frau war ungeachtet aller Schrecken, die sie durchlebt hatte, noch am Leben.
Bosch griff nach einer der Taschenlampen, die auf der Werkbank hinter ihm lagen. Er knipste sie an. Die Batterie war leer. Er probierte eine andere aus und bekam einen schwachen Lichtstrahl. Das musste genügen.
Er leuchtete in den Tunnel und stellte fest, dass er bis zu der Biegung verlassen war. Er machte einen Schritt auf die Öffnung zu.
»Warte, Harry!«
Er drehte sich um und sah Rachel in der Tür stehen.
»Es ist bereits Verstärkung unterwegs!«, flüsterte sie.
Bosch schüttelte den Kopf.
»Sie ist da drinnen. Sie lebt.«
Er drehte sich wieder um und leuchtete in den Tunnel. Bis zur Biegung war nichts zu sehen. Um Strom zu sparen, knipste er die Lampe aus. Er blickte noch einmal zu Rachel zurück, dann machte er den ersten Schritt in das Dunkel hinein.
NEUNUNDZWANZIG
Gleich hinter dem Eingang des Tunnels hielt Bosch noch einmal kurz inne, um seine Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen. Dann tastete er sich vorsichtig vorwärts. Er musste nicht kriechen. Der unterirdische Gang war hoch genug, um gebückt darin gehen zu können. In der rechten Hand die Taschenlampe, in der linken die Pistole, behielt er unablässig den schwachen Lichtschein im Auge. Das Weinen der Frau wurde lauter, als er sich weiter voranbewegte.
Nach drei Metern wurde der modrige Geruch, der ihm schon am Eingang des Tunnels aufgefallen war, zu einem intensiven Verwesungsgestank. So ekelhaft die Ausdünstungen auch waren, für Bosch waren sie nichts Neues. Vor inzwischen fast vierzig Jahren war er bei der Army eine sogenannte Tunnelratte gewesen und hatte an über hundert Einsätzen in den unterirdischen Gängen Vietnams teilgenommen. Der Feind hatte in den Lehmwänden der Tunnels manchmal seine Toten begraben. Das verbarg sie zwar vor den Blicken der Lebenden, aber den Verwesungsgeruch konnte es nicht überdecken. Und wenn man diesen Gestank einmal in der Nase gehabt hatte, konnte man ihn nie mehr vergessen.
Bosch wusste, dass er auf etwas Schreckliches zuging. Irgendwo da vorne in diesem Tunnel lagen die vermissten Opfer von Raynard Waits. Hierher war Waits an dem Abend unterwegs gewesen, an dem er in seinem Kastenwagen angehalten worden war. Und Bosch konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass auch er die ganze Zeit zu diesem Ort unterwegs gewesen war. Hinter ihm lagen viele Jahre und viele Meilen, aber plötzlich kam es ihm so vor, als hätte er die unterirdischen Gänge nie wirklich hinter sich gelassen, als hätte er sein ganzes Leben lang nichts anderes getan, als sich durch Dunkelheit und Enge langsam zu einem flackernden Licht voranzutasten. Er wusste, er war damals, jetzt und in alle Zukunft eine Tunnelratte.
Seine Oberschenkelmuskeln schmerzten von der Anstrengung, sich gebückt vorwärtszubewegen. Der Schweiß begann in seinen Augen zu brennen. Und je mehr er sich der Biegung des Gangs näherte, umso deutlicher wurde, dass sich das Licht ständig veränderte. Daraus schloss er, dass es vom Flackern einer offenen Flamme herrührte. Kerzenlicht.
Eineinhalb Meter vor der Biegung hielt Bosch an und ging in die Hocke, um zu lauschen. Hinter sich glaubte er Sirenen zu hören. Verstärkung war im Anmarsch. Er versuchte, sich wieder auf die Geräusche im Tunnel vor ihm zu konzentrieren, aber von dort kam nur das Weinen einer Frau.
Bosch richtete sich wieder auf und schlich weiter. Fast im selben Moment ging das Licht vor ihm aus, und das Weinen nahm eine neue Intensität und Dringlichkeit an.
Bosch blieb stehen. Es ertönte nervöses Gelächter, gefolgt von Raynard Waits’ vertrauter Stimme.
»Sind Sie das, Detective Bosch? Willkommen in meinem Fuchsbau.«
Wieder kurzes Gelächter. Bosch ließ zehn Sekunden verstreichen. Waits sagte nichts mehr.
»Waits? Lassen Sie sie frei. Schicken Sie sie zu mir raus.«
»Nein, Bosch. Sie ist jetzt bei mir. Wenn jemand hier reinkommt, bringe ich sie auf der Stelle um. Die letzte Kugel ist für mich.«
»Nein, Waits. Hören Sie zu. Lassen Sie sie rauskommen, und dafür komme ich zu Ihnen rein. Wir tauschen.«
»Nein, Bosch. Ich finde es gut so, wie es ist.«
»Was sollen wir dann machen? Wir müssen miteinander reden, und Sie müssen sich retten. Sie haben nicht mehr viel Zeit. Schicken Sie das Mädchen raus.«
Ein paar Sekunden verstrichen, dann kam die Stimme aus dem Dunkel.
»Mich retten? Wovor? Wozu?«
Bosch war kurz davor, einen Krampf in den Beinen zu bekommen. Vorsichtig ließ er sich, rechts gegen die Wand gelehnt, in eine sitzende Haltung nieder. Er war sicher, dass das Kerzenlicht von links vorn gekommen war. Der Gang machte eine Biegung nach links. Er behielt die Pistole weiter oben, stützte sie jetzt aber mit der anderen Hand ab.
»Sie haben keine Chance mehr«, sagte er. »Geben Sie auf, und kommen Sie raus. Das Angebot gilt immer noch. Sie brauchen nicht zu sterben. Ebenso wenig wie das Mädchen.«
»Ob ich sterbe oder nicht, ist mir völlig egal, Bosch. Darum bin ich doch hier. Weil es mir scheißegal ist. Das Einzige, was mich interessiert, ist, dass ich die Bedingungen diktiere. Nicht der Staat oder sonst irgendjemand. Einzig und allein ich.«
Bosch merkte, dass von der Frau nichts mehr zu hören war. Was war passiert? Hatte Waits sie zum Schweigen gebracht? Hatte er sie einfach …?
»Waits, was ist passiert? Ist irgendwas mit ihr?«
»Sie ist ohnmächtig geworden. Wahrscheinlich ist ihr die Aufregung zu viel geworden.«
Er lachte, dann war er still. Bosch wurde klar, dass er unbedingt dafür sorgen musste, dass Waits weiterredete. Solange Waits mit ihm beschäftigt wäre, achtete er nicht so sehr auf die Frau und auf das, was außerhalb des Tunnels vor sich ging.
»Ich weiß, wer Sie sind«, sagte Bosch ruhig.
Waits biss nicht an. Bosch versuchte es noch einmal.
»Robert Foxworth. Sohn von Rosemary Foxworth. Aufgezogen vom County. Pflegeeltern, Heime. Sie waren hier bei den Saxons untergebracht. Und eine Weile waren Sie in der McLaren Youth Hall draußen in El Monte. Genau wie ich, Robert.«
Die erste Reaktion war langes Schweigen. Doch dann kam die Stimme ruhig aus dem Dunkel.
»Ich bin nicht mehr Robert Foxworth.«
»Ach?«
»Ich habe dieses Heim gehasst. Das McLaren. Ich habe sie alle gehasst.«
»Es wurde vor ein paar Jahren geschlossen. Nachdem dort ein Junge ums Leben gekommen war.«
»Eine einzige riesige Scheiße, das Ganze. Wie haben Sie Robert Foxworth gefunden?«
Bosch spürte, wie das Gespräch eine eigene Dynamik entwickelte. Er merkte, was Waits damit zum Ausdruck bringen wollte, wenn er von Robert Foxworth wie von einer anderen Person sprach. Er war jetzt Raynard Waits.
»So schwer war das gar nicht«, antwortete Bosch. »Wir sind durch den Fitzpatrick-Fall daraufgekommen. Wir haben den Pfandschein gefunden und die Geburtsdaten verglichen. Was war das eigentlich für ein Erbstück, das Sie damals verpfändet haben?«
Darauf trat langes Schweigen ein, bevor die Antwort kam.
»Es war ein Medaillon von Rosemary. Es war alles, was er von ihr hatte. Er musste es verpfänden, und als er es wieder auslösen wollte, hatte es dieses Schwein Fitzpatrick schon verkauft.«
Bosch nickte. Er hatte Waits jetzt so weit, dass er auf Fragen antwortete. Aber er hatte nicht mehr viel Zeit. Er beschloss, einen Sprung in die Gegenwart zu machen.
»Raynard. Was war das für eine Abmachung? Was haben Sie mit Olivas und O’Shea vereinbart?«
Nur Schweigen. Bosch versuchte es noch einmal.
»Die beiden haben Sie benutzt. O’Shea hat Sie benutzt und wird ungestraft davonkommen. Wollen Sie das wirklich? Dass Sie in diesem Loch hier draufgehen und er ungestraft davonkommt?«
Bosch legte die Taschenlampe weg, um sich den Schweiß aus den Augen wischen zu können. Danach musste er auf dem Boden des Gangs nach ihr tasten.
»Ich kann Ihnen O’Shea und Olivas nicht ans Messer liefern«, sagte Waits aus dem Dunkel.
Das verstand Bosch nicht. Hatte er sich getäuscht? Er ging in Gedanken noch einmal ganz an den Anfang zurück.
»Haben Sie Marie Gesto umgebracht?«
Langes Schweigen.
»Nein, habe ich nicht«, sagte Waits endlich.
»Wie war das Ganze dann möglich? Woher wussten Sie, wo ihre Leiche …«
»Überlegen Sie doch mal, Bosch. Die beiden sind doch nicht blöd. Sie haben nie direkt mit mir gesprochen.«
Bosch nickte. Jetzt verstand er.
»Maury Swann«, sagte er. »Er hat das Ganze eingefädelt. Erzählen Sie mir davon.«
»Was ist da schon groß zu erzählen? Es war ein abgekartetes Spiel, Mann. Er sagte, das Ganze diente nur dem Zweck, dass Sie endlich Ruhe geben. Sie gingen den falschen Leuten auf die Nerven, und dagegen müsste etwas unternommen werden.«
»Wem soll ich auf die Nerven gegangen sein?«
»Das hat er mir nicht gesagt.«
»Und es war Maury Swann, der das gesagt hat?«
»Ja, aber das spielt keine Rolle. Ihm können Sie genauso wenig anhaben. Das sind alles Dinge, die zwischen einem Anwalt und seinem Mandanten verhandelt wurden. Die unterliegen der Schweigepflicht. Damit können Sie nichts anfangen. Außerdem liefe es auf mein Wort gegen seines hinaus. Sie wissen selbst am besten, dass Sie damit nicht weit kommen würden.«
Und wie gut Bosch das wusste. Maury Swann war mit allen Wassern gewaschen und ein angesehenes Mitglied der Anwaltskammer. Außerdem hatten die Medien einen Narren an ihm gefressen. Es war aussichtslos, ihn anhand der Aussage eines seiner Mandanten belangen zu wollen – zumal dieser Mandant auch noch ein Serienmörder war. Ihn als Mittelsmann zu verwenden war ein geschickter Schachzug von O’Shea und Olivas gewesen.
»Das ist mir egal«, sagte Bosch. »Ich will trotzdem wissen, was passiert ist. Erzählen Sie schon.«
Lange herrschte Schweigen, bis Waits schließlich antwortete.
»Swann schlug den beiden einen Deal vor. Ich würde ihnen helfen, diese ganzen offenen Fälle zu lösen, und dafür sollte mir die Todesstrafe erspart bleiben. Das hat er übrigens ohne mein Wissen getan. Hätte er mich gefragt, hätte ich ihm gesagt, er soll sich die Mühe sparen. Mit ist die Todesspritze lieber als vierzig Jahre in einer Zelle. Das verstehen Sie doch sicher, Bosch. Sie sind ein Auge-um-Auge-Typ. Das mag ich an Ihnen, ob Sie’s glauben oder nicht.«
Danach sagte er nichts mehr, und Bosch musste ihm erneut auf die Sprünge helfen.
»Und wie ging es dann weiter?«
»Eines Nachts wurde ich im Gefängnis in das Anwaltszimmer gebracht. Dort wartete Maury bereits auf mich. Er eröffnete mir, er hätte mir einen Deal anzubieten. Aus der Sache würde allerdings nur was, wenn ich gratis einen drauflege. Wenn ich einen gestehe, den ich nicht begangen habe. Er sagte, wir würden eine Exkursion machen und ich müsste einen bestimmten Detective zu der Leiche fuhren. Dieser Detective müsste davon überzeugt werden, dass diese Frau allein auf mein Konto ginge. Und ihn zu ihrer Leiche zu führen wäre die einzige Möglichkeit. Dieser Detective waren Sie, Bosch.«
»Und Sie haben eingewilligt.«
»Als er mir sagte, wir würden eine Exkursion machen, habe ich eingewilligt, ja. Das war der einzige Grund. Denn es bedeutete, raus aus dem Knast. Und draußen rechnete ich mir eine Chance aus.«
»Und Ihnen hat man es so dargestellt, dass dieser Deal, dieses Angebot – dass es direkt von Olivas und O’Shea kam?«
»Von wem hätte es denn sonst kommen sollen?«
»Hat Maury Swann in Zusammenhang mit dem Deal jemals ihre Namen erwähnt?«
»Er sagte, das wäre, was sie von mir wollten. Der Vorschlag käme direkt von ihnen. Grundvoraussetzung für den Deal war jedenfalls, dass ich Gesto auf meine Kappe nahm und Sie zu ihr führte, sonst wäre nichts aus der Sache geworden. Verstehen Sie?«
Bosch nickte.
»Ja, ich verstehe.«
Er spürte, wie sein Gesicht vor Wut brannte. Er versuchte, das Gefühl zu kanalisieren, es wegzustecken, damit es ihm bei Bedarf zur Verfügung stünde und nicht in diesem Moment im Weg wäre.
»Woher stammten die Details, die Sie mir bei Ihrem Geständnis nannten?«
»Von Swann. Und er bekam sie von Ihnen. Aus Ihren alten Ermittlungsunterlagen.«
»Und er beschrieb Ihnen, wie Sie die Leiche dort oben im Wald finden würden?«
»Swann sagte mir, es gäbe Wegweiser im Wald. Er zeigte mir Bilder und beschrieb mir, wie ich Sie dorthin führen sollte. Es war ganz einfach. Am Abend vor meinem Geständnis habe ich mir alles eingeprägt.«
Bosch schwieg eine Weile. Er konnte kaum fassen, wie leicht er sich hatte täuschen lassen. Er hatte etwas so sehr und so lang gewollt, dass es ihn blind gemacht hatte für die Umstände.
»Und was wäre bei dem Ganzen für Sie herausgesprungen, Raynard?«
»Meinen Sie aus deren Sicht? Mein Leben, Mann. Sie boten mir mein Leben. Friss oder stirb. Tatsache ist aber, dass mir das egal war. Ich habe Ihnen doch gesagt, als Maury erwähnte, wir würden eine Exkursion machen, war mir sofort klar, dass ich vielleicht eine Chance hätte zu entkommen – und ein letztes Mal meinen Fuchsbau aufzusuchen. Das hat mir gereicht. Alles andere war mir egal. Es hätte mir auch nichts ausgemacht, bei dem Versuch zu sterben.«
Bosch überlegte, was er als Nächstes tun oder fragen sollte. Er spielte mit dem Gedanken, mit seinem Handy den Bezirksstaatsanwalt oder einen Richter anzurufen und Waits am Telefon ein Geständnis ablegen zu lassen. Er legte die Taschenlampe beiseite und griff in sein Jackett, aber dann fiel ihm ein, dass er das Handy hatte fallen lassen, als er sich zu Beginn der Schießerei in der Garage auf Rachel geworfen hatte.
»Sind Sie noch da, Detective?«
»Ja, ich bin noch da. Noch mal zu Marie Gesto. Hat Ihnen Swann erzählt, warum Sie sich zu dem Mord an Gesto bekennen sollten?«
Waits lachte.
»Das musste er nicht. Das lag doch auf der Hand. Der Kerl, der Gesto umgebracht hat, wollte Sie von sich ablenken.«
»Und dabei fiel kein Name?«
»Nein, kein Name.«
Bosch schüttelte den Kopf. Er hatte nichts in der Hand. Weder gegen O’Shea noch gegen Anthony Garland oder sonst jemanden. Er blickte in Richtung Garage zurück. Zwar konnte er in dem dunklen Gang nichts sehen, aber er wusste, dass dort Leute waren. Um kein Gegenlicht zu haben, hatten sie dieses Ende abgedunkelt. Er wusste, sie würden jeden Moment kommen.
»Und wie war das mit Ihrer Flucht?«, fragte er, um die Unterhaltung nicht zum Erliegen kommen zu lassen. »War sie geplant, oder haben Sie die Gelegenheit einfach beim Schopf ergriffen?«
»Ein bisschen von beidem. Ich hab mich am Abend vor der Exkursion mit Swann getroffen. Er hat mir erklärt, wie ich Sie zu der Leiche führen sollte. Er zeigte mir die Fotos und beschrieb mir die Markierungen an den Bäumen – dass sie ab dem Erdrutsch begannen, und dass wir dort ein Stück nach unten klettern mussten. Von da an war der Fall für mich klar. Da wusste ich, ich hätte vielleicht eine Chance. Deshalb hab ich ihm gesagt, er soll unbedingt dafür sorgen, dass sie mir die Handschellen abnehmen, wenn ich irgendwo rauf- oder runterklettern muss. Ich hab ihm klargemacht, dass ich mich nicht an die Abmachung halte, wenn ich mit Handschellen klettern muss.«
Bosch erinnerte sich, wie O’Shea Olivas angewiesen hatte, Waits die Handschellen abzunehmen. Olivas’ Widerstreben war nur Show gewesen, um Bosch zu täuschen. Die ganze Exkursion war nur Show gewesen. Eine perfekte Vorstellung, und er war prompt darauf hereingefallen.
Bosch hörte das Geräusch von Männern, die hinter ihm in den Tunnel gekrochen kamen. Er machte die Taschenlampe an und sah sie. Es war das SWAT-Team. Schwarzes Kevlar, automatische Gewehre, Nachtsichtbrillen. Sie kamen. Jeden Moment würden sie eine Schockgranate in den Tunnel schießen und losstürmen. Er machte das Licht aus. Er dachte an die Frau. Er wusste, Waits würde sie töten, sobald sie zuschlugen.
»Waren Sie wirklich im McLaren?«, fragte Waits.
»Ja. Vor Ihrer Zeit, aber ich war da. Ich war im Schlafsaal B. Er lag bei den Baseballplätzen, sodass wir in der Freizeit immer als Erste dort waren und die beste Ausrüstung bekamen.«
Die Bemerkung sollte seinen Worten mehr Glaubwürdigkeit verleihen und war das Beste, was Bosch spontan einfiel. Er hatte fast sein ganzes Leben lang versucht, die Zeit im McLaren zu vergessen.
»Vielleicht waren Sie tatsächlich da, Bosch.«
»Ich war da.«
»Und sehen Sie uns jetzt an. Sie sind Ihren Weg gegangen und ich meinen. Ich habe wohl den falschen Hund gefüttert.«
»Wie meinen Sie das? Welchen Hund?«
»Erinnern Sie sich nicht? Im McLaren bekam man doch ständig diesen Spruch zu hören, dass jeder Mensch zwei Hunde in seinem Innern hat. Einen guten und einen bösen. Die beiden sind ständig am Kämpfen, weil nur einer der Leithund sein kann.«
»Und?«
»Und der Hund, der gewinnt, ist immer der, den man füttert. Ich habe den falschen gefüttert. Sie haben den richtigen gefüttert.«
Bosch wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Hinter ihm drang ein Klicken aus dem Tunnel. Gleich würden sie die Granate abschießen. In der Hoffnung, sie würden ihn nicht in den Rücken treffen, stand er rasch auf.
»Waits, ich komme jetzt rein.«
»Nein, Bosch.«
»Ich gebe Ihnen meine Waffe. Achten Sie auf die Lampe. Sie kriegen meine Waffe.«
Er knipste die Taschenlampe an und richtete ihren Strahl auf die Biegung des Tunnels. Er bewegte sich vorsichtig vorwärts, und als er die Biegung erreichte, streckte er seine linke Hand in den Lichtkegel. Er hielt die Pistole am Lauf, damit Waits sehen konnte, dass sie keine Gefahr darstellte.
»Ich komme jetzt rein.«
Bosch drückte sich um die Biegung und kam in den letzten Abschnitt des Tunnels. Dieser Bereich war mindestens drei Meter breit, aber immer noch nicht hoch genug, um darin stehen zu können. Er ließ sich auf die Knie fallen und leuchtete mit der Lampe umher. Der schwache gelbe Lichtschein fiel auf einen gespenstischen Haufen aus Knochen und Schädeln und verwesendem Fleisch und Haaren. Der Gestank war so schlimm, dass Bosch sich fast übergeben musste.
Dann traf der Lichtstrahl das Gesicht des Mannes, den Bosch als Raynard Waits kennengelernt hatte. Er saß an der Rückwand seines Fuchsbaus auf einem aus dem Fels und der Erde herausgehauenen Thron. Links von ihm lag auf einer Decke nackt und bewusstlos die Frau, die er entführt hatte. Waits hielt den Lauf von Freddy Olivas’ Pistole an ihre Schläfe.
»Keine Angst«, sagte Bosch. »Ich gebe Ihnen meine Waffe. Nur tun Sie ihr nichts mehr.«
Waits lächelte. Er wusste, er hatte die Lage vollkommen unter Kontrolle.
»Bosch, Sie sind und bleiben ein Trottel.«
Bosch senkte den Arm und warf die Pistole rechts neben den Thron. Als Waits nach ihr griff, nahm er den Lauf seiner Pistole vom Kopf der Frau. Im selben Moment ließ Bosch die Taschenlampe fallen und fasste an seinen Rücken, wo er den Revolver stecken hatte, den er der blinden Frau abgenommen hatte.
Wegen seines langen Laufs hatte er eine hohe Zielgenauigkeit. Bosch drückte zweimal ab und traf Waits beide Male mitten in die Brust.
Waits wurde gegen die Wand zurückgeschleudert. Seine Augen wurden groß, und dann wich das Licht aus ihnen, das Leben und Tod voneinander scheidet. Sein Kinn sank nach unten, und sein Kopf kippte nach vorn.
Bosch kroch auf die Frau zu und fühlte ihren Puls. Sie lebte noch. Er deckte sie mit der Decke zu, auf der sie lag. Dann rief er den anderen im Tunnel zu.
»Hier Bosch – RHD! Alles klar! Sie können reinkommen! Raynard Waits ist tot!«
Hinter der Biegung flammte grelles Licht auf Es war ein Blendscheinwerfer, und er wusste, dass dahinter die Männer mit den Waffen warteten.
Trotzdem fühlte er sich jetzt in Sicherheit. Er bewegte sich langsam auf das Licht zu.
DREISSIG
Als er aus dem Tunnel kam, wurde Bosch von zwei Beamten des Einsatzkommandos mit Gasmasken in Empfang genommen und aus der Garage geführt. Sie übergaben ihn den dort bereitstehenden Leuten von der Fahndungsabteilung und anderen mit dem Fall Befassten. Neben Randolph und Osani von der OIS war auch Abel Pratt von Offen-Ungelöst da. Bosch hielt nach Rachel Walling Ausschau, konnte sie aber nirgendwo entdecken.
Als Nächstes kam Waits’ letztes Opfer aus dem Tunnel. Die junge Frau wurde zu einem Krankenwagen getragen und umgehend ins County-USC Medical Center gebracht. Bosch wusste, er würde die Schrecken, die sie durchgemacht hatte, niemals ermessen können. Aber andererseits – Hauptsache war, sie hatte überlebt.
Der Chef des Einsatzkommandos wollte, dass Bosch sich in einen Kastenwagen setzte und den Ablauf schilderte, aber Bosch sagte, er wolle nicht in einem geschlossenen Raum sein. Selbst im Freien, in der Figueroa Lane, bekam er den Geruch aus dem Tunnel nicht aus der Nase, und ihm entging nicht, dass die Männer der Task Force, die sich zunächst dicht um ihn gedrängt hatten, alle ein paar Schritte zurückgewichen waren. An der Treppe, die zum Haus neben Nummer 710 hinaufführte, sah er einen Wasserhahn, an den ein Gartenschlauch angeschlossen war. Er ging darauf zu, hob den Schlauch hoch, drehte den Hahn auf und ließ sich das Wasser über Haar, Gesicht und Nacken laufen. Dabei wurden zwar seine Kleider nass, aber es war ihm egal. Das Wasser spülte viel von dem ganzen Schmutz und Schweiß und Gestank fort, und er wusste, die Kleider wären sowieso zu nichts mehr zu gebrauchen.
Der Anführer des Einsatzkommandos war ein Sergeant namens Bob McDonald, der früher bei der Hollywood Division gearbeitet hatte. Zum Glück kannte Bosch ihn noch aus seiner eigenen Zeit dort. Die Grundvoraussetzungen für eine wohlwollende Einsatzbesprechung waren gegeben. Bosch wusste jedoch, das Ganze war nur ein Aufwärmen. Noch vor Ende des Tages müsste er sich einem formellen Verhör durch Randolph und die OIS unterziehen.
»Wo ist die FBI-Agentin?«, fragte Bosch. »Wo ist Rachel Walling?«
»Sie wird bereits vernommen«, sagte McDonald. »Ein Nachbar hat uns sein Haus zur Verfügung gestellt.«
»Und die alte Frau oben im Haus?«
McDonald nickte.
»Unsere Leute reden gerade mit ihr. Sie ist blind und sitzt im Rollstuhl. Offensichtlich hat Waits einen Teil seiner Jugend hier verbracht. Sie waren seine Pflegefamilie, und sein richtiger Name ist Robert Foxworth. Sie kann das Haus ohne fremde Hilfe nicht mehr verlassen, deshalb ist sie mehr oder weniger die ganze Zeit dort oben. Das Essen wird ihr ins Haus gebracht. Foxworth hat ihr für die Garage etwas Geld gegeben. Er hat dort das ganze Zeug untergestellt, das er zum Fensterputzen benötigt. Und seinen alten Lieferwagen. Er hat einen Rollstuhl-Lift.«
Bosch nickte. Vermutlich hatte Janet Saxon keine Ahnung, wofür ihr ehemaliger Pflegesohn die Garage sonst noch verwendet hatte.
McDonald bat Bosch, zu erzählen, was passiert war. Das tat Bosch und schilderte ihm Schritt für Schritt sein Vorgehen, seit er herausgefunden hatte, dass zwischen Waits und dem Pfandleiher Fitzpatrick eine Verbindung bestand.
Sie hatten keine Fragen. Noch nicht. Niemand wollte wissen, warum er das Einsatzkommando nicht verständigt hatte oder Randolph oder Pratt oder sonst jemanden. Sie hörten zu und nahmen einfach seine Darstellung des Hergangs zu Protokoll. Bosch machte sich keine allzu großen Sorgen. Er und Rachel hatten das Mädchen gerettet, und er hatte den Täter getötet. Er war sicher, diese zwei Verdienste würden alle Verstöße gegen die Dienstvorschriften aufwiegen und ihm den Job retten.
Er brauchte zwanzig Minuten, um alles zu erzählen, und dann schlug McDonald vor, eine Pause zu machen. Als sich die Gruppe um ihn herum auflöste, sah Bosch, dass sein Chef auf eine Gelegenheit wartete, mit ihm zu sprechen. Bosch wusste, diese Unterredung würde nicht einfach werden.
Endlich erspähte Pratt eine Lücke und kam auf Bosch zu. Er wirkte besorgt.
»Und, Harry? Was hat er Ihnen da drinnen alles erzählt?«
Bosch war überrascht, dass Pratt ihm nicht die Hölle heißmachte, weil er auf eigene Faust und ohne Genehmigung gehandelt hatte. Aber das sollte ihm nur recht sein. In verkürzter Form erzählte er Pratt, was er von Waits über das abgekartete Spiel im Beachwood Canyon erfahren hatte.
»Er hat mir erzählt, Swann hätte das Ganze eingefädelt«, sagte er. »Swann war die Schaltstelle. Er hat Waits das Angebot von O’Shea und Olivas überbracht. Waits hat Gesto zwar nicht umgebracht, aber er hat sich bereiterklärt, den Mord auf seine Kappe zu nehmen. Das war Teil des Deals, durch den er der Todesstrafe entgehen wollte.«
»Das ist schon alles?«
»Das ist doch schon einiges, oder etwa nicht?«
»Weshalb sollten Olivas und O’Shea so etwas tun?«
»Aus den altbekannten Gründen natürlich. Geld und Macht. Und die Garlands haben von beidem einiges.«
»Anthony Garland war doch der Kerl, auf den Sie sich in der Gesto-Sache eingeschossen haben. Der Typ, der eine einstweilige Verfügung gegen Sie erwirkt hat.«
»Ja, bis mich Olivas und O’Shea mit Waits’ Hilfe eines Besseren belehren wollten.«
»Haben Sie außer dem, was Waits da drinnen gesagt hat, sonst noch etwas in Erfahrung gebracht?«
Bosch schüttelte den Kopf.
»Nicht viel. Nur, dass von T. Rex Garlands Ölgesellschaft und seinen Anwälten Spendengelder in Höhe von fünfundzwanzigtausend Dollar für O’Sheas Wahlkampf eingegangen sind. Aber alles vollkommen legal und korrekt. Es beweist eine Verbindung, mehr nicht.«
»Fünfundzwanzigtausend Dollar erscheinen mir nicht gerade viel.«
»Sicher. Aber diese fünfundzwanzigtausend sind das Einzige, wovon wir wissen. Vielleicht finden wir ja mehr, wenn wir anfangen, ein bisschen nachzubohren.«
»Haben Sie das alles auch McDonald und seinen Leuten erzählt?«
»Nein. Nur das, was Waits mir dort drinnen erzählt hat. Die Spenden habe ich nicht erwähnt.«
»Glauben Sie, die werden Maury Swann deswegen belangen?«
Bosch überlegte kurz, bevor er antwortete.
»Das kann ich mir nicht vorstellen. Alles, was zwischen den beiden gesprochen wurde, unterliegt der anwaltlichen Schweigepflicht. Außerdem, wer würde ihn zu belangen versuchen, wenn er sich dabei nur auf das Wort eines toten Irren wie Waits stützen kann?«
Pratt scharrte mit dem Fuß. Er hatte nichts mehr zu sagen oder zu fragen.
»Hören Sie, Chef, tut mir wirklich leid«, sagte Bosch. »Dass ich Sie angeschwindelt habe wegen der Beurlaubung und allem.«
Pratt winkte ab.
»Schon okay, Bosch. Sie haben Glück gehabt. Sie haben was Gutes getan und diesen Wahnsinnigen aus dem Verkehr gezogen. Was soll ich da schon groß sagen?«
Zum Zeichen seines Danks nickte Bosch.
»Außerdem bin ich sowieso schon auf dem Absprung«, fuhr Pratt fort. »Noch drei Wochen, dann darf sich jemand anders mit Ihnen rumärgern. Dann kann sich mein Nachfolger den Kopf darüber zerbrechen, was er mit Ihnen machen soll.«
Unabhängig davon, ob Kiz Rider wieder zurückkam oder nicht, wollte Bosch die Einheit nicht verlassen. Er hatte gehört, dass David Lambkin, der von der RHD als neuer Leiter kommen sollte, jemand war, unter dem es sich gut arbeiten ließ. Bosch hoffte, der Einheit Offen-Ungelöst weiterhin anzugehören, wenn die ganze Sache über die Bühne war.
»Oh, oh, oh!«, murmelte Pratt.
Bosch folgte seinem Blick zu einem Auto, das gerade an der Absperrung geparkt hatte, nicht weit von der Stelle, wo die Übertragungswagen standen und die Fernsehreporter sich für ihre Live-Schaltungen bereitmachten. Auf der Beifahrerseite stieg Rick O’Shea aus. Bosch stieg sofort die Galle hoch. Er wollte schon auf den Staatsanwalt zugehen, aber Pratt packte ihn am Arm.
»Immer mit der Ruhe, Harry.«
»Was will der Kerl hier?«
»Es ist sein Fall, Mann. Er kann kommen, wann es ihm passt. Und Sie sollten sich lieber zusammenreißen. Wenn Sie sich von ihm in die Karten schauen lassen, kriegen Sie ihn möglicherweise nie.«
»Toll, damit er sich inzwischen schon mal vor den Kameras aufplustern kann und das Ganze wieder einmal als Werbung in eigener Sache ausschlachtet? Nicht mit mir. Ich sollte jetzt da rübergehen und ihm vor laufender Kamera die Fresse polieren.«
»Nur zu, Harry, das wäre wirklich schlau. Richtig raffiniert. Und vor allem brächte es Sie enorm weiter.«
Bosch befreite sich aus Pratts Griff, ging aber nur zu einem der Polizeiautos und lehnte sich dagegen. Er verschränkte die Arme über der Brust und senkte den Kopf, bis er sich wieder etwas beruhigt hatte. Er wusste, Pratt hatte recht.
»Halten Sie ihn mir aber bitte vom Leib.«
»Das dürfte nicht ganz einfach werden. Er kommt nämlich direkt auf Sie zu.«
Bosch blickte in dem Moment auf, in dem ihn O’Shea und sein Gefolge erreichten.
»Detective Bosch, alles in Ordnung?«
»Ging mir nie besser.«
Bosch behielt die Arme weiter verschränkt. Er wollte nicht, dass eine seiner Hände frei käme und unwillkürlich zu einem Schlag gegen O’Shea ausholte.
»Danke für alles, was Sie heute hier getan haben. Danke, dass Sie die junge Frau gerettet haben.«
Bosch nickte nur und starrte zu Boden.
O’Shea wandte sich seinen Begleitern und Pratt zu, der für den Fall, dass er Bosch dem Staatsanwalt vom Leib halten müsste, in der Nähe geblieben war.
»Könnte ich kurz mit Detective Bosch allein sprechen?«
O’Sheas Gefolgschaft entfernte sich. Pratt zögerte, bis Bosch ihm zum Zeichen, dass er sich wieder im Griff hatte, zunickte. Bosch und O’Shea waren sich selbst überlassen.
»Detective, ich bin bereits in Kenntnis darüber gesetzt worden, was Ihnen Waits – oder sollte ich sagen, Foxworth – in seiner Höhle da drinnen enthüllt hat.«
»Gut.«
»Ich hoffe, Sie ziehen nicht ernsthaft in Erwägung, den Ungeheuerlichkeiten Glauben zu schenken, die dieser Serienmörder Männern unterstellt, die gegen ihn ermittelt haben, insbesondere einem, der nicht mehr unter uns ist und sich gegen diese Anschuldigungen verteidigen kann.«
Bosch löste sich vom Kotflügel des Streifenwagens und ließ die Arme seitlich herabsinken. Seine Hände waren zu Fäusten geballt.
»Meinen Sie damit Ihren Freund Olivas?«
»Ja, Olivas. Und ich kann allein an Ihrer Haltung erkennen, dass Sie für bare Münze nehmen, was Foxworth Ihnen angeblich gesagt hat.«
»Angeblich? Bin jetzt ich derjenige, der sich alles aus den Fingern saugt?«
»Irgendjemand tut das hier jedenfalls.«
Bosch beugte sich ein paar Zentimeter vor und sagte leise: »Verschwinden Sie, O’Shea. Nicht, dass mir noch die Hand ausrutscht.«
Der Staatsanwalt trat einen Schritt zurück, als hätte er bereits einen Schlag erhalten.
»Sie liegen völlig falsch, Bosch. Er lügt.«
»Er hat mir nur bestätigt, was ich bereits wusste, als ich in diesen Tunnel rein bin. Olivas war korrupt. Er hat den Vermerk, der Raynard Waits fälschlicherweise mit Gesto in Verbindung brachte, nachträglich ins Mordbuch eingefügt. Er ist vorher schon da raufgefahren und hat für Waits den Weg markiert, damit er uns zu der Leiche führen konnte. Und das alles hätte er nicht getan, wenn er nicht von jemand den Auftrag dazu erhalten hätte. Dafür war er einfach nicht der Typ. Dafür war er nicht clever genug.«
O’Shea starrte Bosch finster an. Es war eindeutig, was Bosch damit sagen wollte.
»Ich kann Ihnen diesen Unsinn also nicht ausreden, wie?«
Bosch starrte ihn kurz an und sah dann weg.
»Ausreden? Wohl kaum. Und es interessiert mich auch nicht, welche Auswirkungen es auf Ihren Wahlkampf hat, Herr Staatsanwalt. Das sind die unbestrittenen Tatsachen, und ich brauche weder Foxworth noch das, was er gesagt hat, um es zu beweisen.«
»Dann werde ich wohl an eine höhere Autorität als Sie appellieren müssen.«
Bosch machte einen halben Schritt auf ihn zu. Dieses Mal drang er wirklich in seine Sphäre ein.
»Riechen Sie das? Riechen Sie das an mir? Das ist der Verwesungsgestank des Todes. Ich habe ihn am ganzen Körper, O’Shea. Aber wenigstens kann ich ihn abwaschen.«
»Was soll das heißen?«
»Das überlasse ich Ihnen. Wer ist Ihre höhere Autorität? Werden Sie jetzt T. Rex Garland in seinem schnieken Büro anrufen?«
O’Shea holte tief Luft und schüttelte verständnislos den Kopf.
»Ich weiß nicht, was mit Ihnen da drinnen in dem Tunnel passiert ist, Detective, aber ich werde nicht schlau aus dem, was Sie sagen.«
Bosch nickte.
»Das werden Sie noch früh genug. Auf jeden Fall noch vor der Wahl.«
»Helfen Sie mir auf die Sprünge, Bosch. Irgendetwas gibt es hier, was mir bisher entgangen ist.«
»Ich glaube nicht, dass Ihnen irgendwas entgangen ist. Sie wissen ganz genau, was ich meine, O’Shea, und schon bald wird es auch alle Welt wissen. Irgendwie werde ich einen Weg finden, Sie und die Garlands und jeden, der daran beteiligt ist, dranzukriegen. Darauf können Sie sich gefasst machen.«
Jetzt war es O’Shea, der einen Schritt auf Bosch zutrat.
»Wollen Sie etwa behaupten, ich hätte das getan? Ich hätte das alles für Garland eingefädelt?«
Bosch begann zu lachen. O’Shea war bis zum Schluss der vollendete Schauspieler.
»Sie sind echt gut«, sagte er. »Das muss ich Ihnen lassen. Sie haben Talent.«
»T. Rex Garland hat einiges für meinen Wahlkampf gespendet. Ganz offiziell und legal. Wie wollen Sie mir daraus …«
»Warum haben Sie dann nicht gesagt, dass er einiges für Ihre Wahlkampfkasse gespendet hat, als ich seinen Sohn als Verdächtigen für Gesto angeschleppt habe?«
»Weil es die Sache unnötig verkompliziert hätte. Ich habe nie einen der beiden Garlands kennengelernt oder auch nur mit ihnen gesprochen. T. Rex hat meinen Wahlkampf unterstützt. Na und? Der Mann rückt bei jeder Wahl im Bezirk etwas von seinem Geld heraus. Hätte ich das zum damaligen Zeitpunkt zur Sprache gebracht, hätte es sofort Ihren Verdacht erregt. Das wollte ich nicht. Jetzt sehe ich, dass es trotzdem so war.«
»Sparen Sie sich diesen Scheiß. Sie …«
»Sie sind verrückt, Bosch. Da besteht kein Zusammenhang.«
»Dann haben wir uns nichts mehr zu sagen.«
»Doch, das haben wir. Ich habe Ihnen noch etwas zu sagen. Probieren Sie nur, wie weit Sie mit diesem Schwachsinn kommen – am Ende wird sich zeigen, wer von uns beiden auf der Strecke bleibt.«
Damit drehte er sich um und marschierte davon. Er herrschte seine Männer an, dass er ein Telefon mit einer abhörsicheren Leitung bräuchte. Bosch fragte sich, wen er als Erstes anrufen würde, T. Rex Garland oder den Polizeichef.
Bosch fasste rasch einen Entschluss. Er würde Keisha Russell anrufen und sie von der Leine lassen. Er würde ihr sagen, es stünde ihr frei, sich eingehender mit Garlands Wahlkampfspenden an O’Shea zu befassen. Er steckte die Hand in die Hosentasche, doch dann fiel ihm ein, dass sein Handy noch irgendwo in der Garage liegen musste. Er ging los und blieb an dem gelben Absperrungsband stehen, das hinter dem weißen Kastenwagen quer über das inzwischen ganz geöffnete Garagentor gespannt war.
Cal Cafarelli war in der Garage und beaufsichtigte die forensische Untersuchung des Tatorts. Sie hatte eine Atemschutzmaske um den Hals hängen. An ihrem Gesicht konnte Bosch erkennen, dass sie das makabre Tableau am Ende des unterirdischen Gangs gesehen hatte. Und dass sie nie mehr dieselbe sein würde. Er winkte sie zu sich.
»Wie geht’s, Cal?«
»So gut es einem gehen kann, wenn man so was gesehen hat.«
»Ja, ich weiß.«
»Wir werden sicher noch bis spät in den Abend hinein hier sein. Was kann ich für Sie tun, Harry?«
»Haben Sie da drinnen irgendwo ein Handy gefunden? Ich habe meines verloren, als es losging.«
Sie deutete auf den Boden neben dem Vorderreifen des Kastenwagens.
»Ist es das dort?«
Bosch schaute in die angegebene Richtung und sah sein Handy auf dem Betonboden liegen. Das rote Nachrichtenlämpchen blinkte. Er stellte fest, dass jemand auf dem Beton einen Kreidekreis darum gezogen hatte. Das war nicht gut. Bosch wollte nicht, dass sein Handy als Beweismittel inventarisiert wurde. Möglicherweise bekäme er es dann länger nicht zurück.
»Kann ich es wiederhaben? Ich brauche es.«
»Tut mir leid, Harry. Noch nicht. Dieser Bereich wurde noch nicht fotografiert. Wir fangen im Tunnel an und arbeiten uns von dort nach draußen vor. Das wird eine Weile dauern.«
»Wie wäre es dann, wenn Sie es mir geben, damit ich hier telefonieren kann, und Sie kriegen es zurück, wenn Sie die Fotos machen? Es sieht so aus, als wäre eine Nachricht drauf.«
»Harry, ich bitte Sie.«
Er wusste, sein Vorschlag war gleichbedeutend mit einem Verstoß gegen vier Beweissicherungsregeln.
»Na schön, dann geben Sie mir Bescheid, wenn ich es zurückhaben kann. Hoffentlich, bevor der Akku leer ist.«
»Alles klar, Harry.«
Er wandte sich von der Garage ab und sah Rachel Walling auf das gelbe Absperrungsband zugehen, das die Grenze des Tatorts bildete. Dort stand eine FBI-Limousine, und ein Mann in einem Anzug und mit Sonnenbrille wartete auf sie. Anscheinend hatte sie eine Fahrgelegenheit angefordert.
Bosch trabte auf die Absperrung zu und rief ihren Namen. Sie blieb stehen und wartete auf ihn.
»Harry«, sagte sie. »Alles in Ordnung?«
»Inzwischen ja. Und bei dir, Rachel?«
»Alles klar. Wie siehst du denn aus?«
Sie deutete auf seine nassen Kleider.
»Ich musste mich abspritzen. Es war richtig schlimm. Ich muss erst mal mindestens zwei Stunden duschen. Fährst du schon?«
»Ja. Vorerst brauchen sie mich nicht mehr.«
Bosch deutete mit dem Kopf auf den Mann mit der Sonnenbrille, der drei Meter hinter ihr stand.
»Kriegst du Ärger?«, fragte er leise.
»Kann ich im Moment noch nicht sagen. Aber wahrscheinlich nicht. Du hast den Killer erwischt und das Mädchen gerettet. Was soll daran schlecht sein?«
»Wir haben den Killer erwischt und das Mädchen gerettet«, korrigierte Bosch sie. »Aber es gibt in jeder Behörde und öffentlichen Einrichtung Leute, die eine Möglichkeit finden, etwas Gutes ins Gegenteil zu verkehren.«
Sie sah ihm in die Augen und nickte.
»Ich weiß.«
Ihr Blick ließ ihn stutzen, und er merkte, dass sich etwas in ihrer Beziehung verändert hatte.
»Bist du sauer auf mich, Rachel?«
»Sauer? Nein.«
»Was dann?«
»Nichts dann. Ich muss jetzt los.«
»Rufst du an?«
»Wenn ich kann. Wiedersehen, Harry.«
Sie machte zwei Schritte auf das wartende Auto zu, blieb aber noch einmal stehen und drehte sich wieder zu ihm um.
»Das war doch O’Shea, mit dem du eben gesprochen hast, oder?«
»Ja.«
»Sei vorsichtig, Harry. Wenn du dich weiter so von deinen Emotionen leiten lässt, wie du das heute getan hast, könnte dich O’Shea in eine Welt voller Schmerz befördern.«
Bosch lächelte.
»Weißt du, was manche Leute über den Schmerz sagen?«
»Nein – was?«
»Sie sagen, Schmerz ist Schwäche, die den Körper verlässt.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Dann reden diese Leute einen Haufen Schwachsinn. Versuche jedenfalls nicht, die Probe aufs Exempel zu machen, wenn du nicht unbedingt musst. Wiedersehen, Harry.«
»Bis dann, Rachel.«
Er sah zu, wie der Mann mit der Sonnenbrille das Band hochhielt, damit sie sich darunter hindurchducken konnte. Sie stieg auf der Beifahrerseite ein, und die Sonnenbrille setzte sich ans Steuer und fuhr los. Bosch wusste, etwas hatte sie einander entfremdet. Sein Verhalten in der Garage und die Tatsache, dass er in diesen Tunnel hineingegangen war, ließen ihn plötzlich in einem anderen Licht erscheinen. Er akzeptierte es und rechnete damit, sie möglicherweise nie wiederzusehen. Er fand, das war ein weiterer Punkt, den er Rick O’Shea anlasten müsste.
Er drehte sich zum Tatort um, wo Randolph und Osani standen und auf ihn warteten. Randolph steckte gerade sein Handy ein.
»Sie beide schon wieder«, sagte Bosch.
»Wird langsam zu einem Dauer-Déjà-vu, hm?«, sagte Randolph.
»Irgendwas in der Art.«
»Detective, wir müssen Sie ins Parker Center bringen und dort eine formelle Vernehmung durchführen.«
Bosch nickte. Er wusste, was jetzt käme. Diesmal ging es nicht darum, dass er in den Wald geballert hatte. Er hatte jemanden getötet. Sie würden ihn auf jedes noch so kleine Detail festnageln.
»Dann mal los«, sagte er.
EINUNDDREISSIG
Bosch saß in einem Vernehmungszimmer der Officer-Involved-Shooting-Einheit im Parker Center. Randolph hatte ihn im Umkleideraum im Keller duschen lassen, und er trug jetzt eine Jeans und ein schwarzes West-Coast-Choppers-Sweatshirt, Sachen, die er für all jene Gelegenheiten in seinem Spind aufbewahrte, wenn er downtown war und unvorhergesehen etwas weniger Auffälliges brauchte als einen Anzug. Seinen versauten Anzug hatte er beim Verlassen des Umkleideraums in den Abfall geworfen. Jetzt besaß er nur noch zwei.
Das Tonbandgerät auf dem Tisch lief, und Osani las ihm von zwei verschiedenen Blättern seine verfassungsmäßigen Rechte sowie seine Rechte als Angehöriger des LAPD vor. Diese doppelte Absicherung diente dem Zweck, sowohl den einzelnen Polizisten als auch die Polizeibehörde gegen unrechtmäßige Angriffe von staatlicher Seite abzusichern, aber Bosch wusste, wenn es hart auf hart ging, würde ihm keiner dieser beiden Wische wirklich Schutz bieten. Er war ganz auf sich allein gestellt. Er sagte, er sei sich seiner Rechte bewusst, und erklärte sich mit der Vernehmung einverstanden.
Von diesem Punkt an übernahm Randolph. Auf sein Ersuchen hin schilderte Bosch noch einmal, wie er Robert Foxworth, alias Raynard Waits, erschossen hatte – angefangen bei der Entdeckung der Unterlagen zum Fall Fitzpatrick bis hin zu den zwei Kugeln, die er Foxworth in die Brust gejagt hatte. Zunächst unterbrach Randolph ihn kaum. Doch sobald Bosch geendet hatte, stellte er ihm zahlreiche detaillierte Fragen über sein Vorgehen in der Garage und später im unterirdischen Gang. Mehr als einmal wollte er von Bosch wissen, warum er nicht auf die warnenden Worte von FBI-Agentin Rachel Walling gehört habe.
Die Frage verriet Bosch nicht nur, dass Rachel bereits von der OIS vernommen worden war, sondern auch, dass sie nicht viel gesagt hatte, das zu seinen Gunsten sprach. Das enttäuschte Bosch, trotzdem versuchte er, sich während der Vernehmung nicht von seinen Gedanken und Gefühlen hinsichtlich Rachels ablenken zu lassen. Wie ein Mantra wiederholte er Randolph immer wieder den einen Satz, von dem er glaubte, dass er letztlich seine Rettung bedeutete – und zwar ganz unabhängig davon, was Randolph oder Rachel oder sonst jemand von seinen Methoden und Maßnahmen halten mochten.
»Es war eine Situation, in der es um Leben oder Tod ging. Die Frau befand sich in akuter Lebensgefahr, und es war auf uns geschossen worden. Mein Gefühl sagte mir, dass ich nicht auf Verstärkung oder sonst jemanden warten durfte. Ich tat, was ich tun musste. Ich ging mit größtmöglicher Vorsicht vor und machte erst dann von der Waffe Gebrauch, als ich keine andere Möglichkeit mehr sah.«
Randolph ging zum nächsten Punkt über und stellte zahlreiche Fragen, die sich hauptsächlich auf die Schüsse auf Robert Foxworth bezogen. Er wollte wissen, was Foxworths Behauptung, Bosch sei im Fall Gesto einem Komplott aufgesessen, in ihm bewirkt hätte. Er fragte Bosch, was ihm angesichts der Überreste von Foxworth’ Opfern in der Kammer am Ende des Tunnels durch den Kopf ging. Und was er empfand, als er abdrückte und den Schänder und Mörder dieser Opfer tötete.
Bosch beantwortete geduldig jede Frage, aber irgendwann hatte er die Nase voll. Etwas an der Vernehmung kam ihm eigenartig vor. Fast war es, als hielte sich Randolph dabei an ein Skript.
»Was geht hier eigentlich vor?«, fragte Bosch. »Ich sitze hier und erzähle Ihnen alles. Aber Sie verheimlichen mir irgendetwas.«
Randolph sah kurz zu Osani und dann wieder zu Bosch. Er beugte sich vor und stützte die Unterarme auf den Tisch. Er hatte die Angewohnheit, an einem Goldring an seiner linken Hand zu drehen. Das war Bosch schon beim letzten Mal aufgefallen. Er wusste, es war ein USC-Ring. Na, und wennschon. In der herrschenden Klasse des LAPD gab es viele, die an der University of Southern California ein Abendstudium gemacht hatten.
Randolph blickte erneut zu Osani und streckte die Hand aus, um das Aufnahmegerät auszuschalten, legte aber zunächst nur die Finger auf die Tasten.
»Detective Osani, würden Sie uns vielleicht ein paar Flaschen Wasser holen? Vom vielen Reden bekommt man einen ganz trockenen Mund. Detective Bosch geht es wahrscheinlich ähnlich. Wir warten, bis Sie wieder zurück sind.«
Osani stand auf, und Randolph schaltete das Tonbandgerät aus. Er sprach erst weiter, als sich die Tür hinter Osani geschlossen hatte.
»Die Sache ist die, Detective Bosch. Für das, was in diesem Tunnel passiert ist, haben wir nur Ihr Wort. Die Frau war bewusstlos. Es waren also nur Sie und Foxworth, und er ist nicht mehr lebend herausgekommen.«
»Ganz genau. Wollen Sie damit sagen, mein Wort gilt nichts?«
»Ich will damit sagen, Ihre Darstellung der Ereignisse könnte vollkommen zutreffend sein. Aber die Forensiker könnten mit einer Auslegung ankommen, die von Ihrer Aussage abweicht. Verstehen Sie? Das kann schnell ein fürchterliches Durcheinander geben. Spuren lassen oft unterschiedliche Auslegungen zu. Damit meine ich auch Auslegungen seitens der Öffentlichkeit und der Politik.«
Bosch schüttelte den Kopf. Er verstand nicht, was hier gespielt wurde.
»Na und?«, sagte er. »Was die Öffentlichkeit oder die Politiker denken, interessiert mich nicht. Waits hat die Situation da drinnen selbst herbeigeführt. Es war eindeutig Notwehr. Mir blieb keine andere Wahl.«
»Aber es gibt keinen Zeugen für Ihre Darstellung der Ereignisse.«
»Was ist mit Agent Walling?«
»Sie war nicht im Tunnel. Sie wollte Sie davon abbringen, dort hineinzugehen.«
»Sie wissen ganz genau, dass drüben im USC-Krankenhaus eine Frau liegt, die wahrscheinlich nicht mehr am Leben wäre, wenn ich da nicht rein wäre. Was ist hier eigentlich los, Lieutenant?«
Randolph begann, wieder mit seinem Ring zu spielen. Er wirkte wie jemand, dem zuwider war, wozu ihn seine Pflicht zwang.
»Ich glaube, das war für heute genug. Sie haben einiges mitgemacht. Wir werden jetzt Folgendes tun – wir werden die ganze Sache ein paar Tage ruhen lassen und auf die forensischen Befunde warten. Sie bleiben weiter beurlaubt. Sobald wir alles beisammen haben, bestelle ich Sie wieder ein, damit Sie Ihre Aussage noch mal durchlesen und unterschreiben können.«
»Ich habe Sie gefragt, was hier eigentlich los ist, Lieutenant?«
»Und ich habe ihnen gesagt, was los ist.«
»Sie haben mir nicht genug gesagt.«
Randolph nahm die Hand von seinem Ring. Es sollte die Bedeutung dessen unterstreichen, was er als Nächstes sagte.
»Sie haben die Geisel gerettet und den Fall gelöst. Das ist begrüßenswert. Sie sind dabei jedoch äußerst unbedacht vorgegangen und hatten viel Glück. Wenn wir Ihrer Darstellung Glauben schenken, haben Sie einen Mann erschossen, der sowohl Ihr Leben als auch das anderer bedrohte. Fakten und forensische Erkenntnisse könnten jedoch ebenso gut eine ganz andere Deutung nahelegen, möglicherweise eine, die darauf hindeutet, dass sich der Mann, den Sie erschossen haben, ergeben wollte. Und genau aus diesem Grund wollen wir in dieser Angelegenheit nichts überstürzen. In ein paar Tagen werden wir alles aufgeklärt haben. Und dann werden wir Ihnen Bescheid geben.«
Bosch sah ihn forschend an. Er wusste, dass er ihm mit seinen Worten eine nur notdürftig versteckte Mitteilung machen wollte.
»Es ist wegen Olivas, richtig? Das Begräbnis findet morgen statt, der Polizeichef wird kommen, und Sie wollen, dass Olivas ein Held bleibt, der in Ausübung seiner Pflicht getötet wurde.«
Randolph fing wieder an, an seinem Ring zu drehen.
»Nein, Detective Bosch, da täuschen Sie sich. Falls Olivas Dreck am Stecken hatte, wird sich niemand ein Bein ausreißen, um seinen guten Ruf zu retten.«
Bosch nickte. Jetzt hatte er es.
»Dann ist es wegen O’Shea. Er hat an höherer Stelle Beschwerde eingelegt. Das hat er mir bereits angekündigt. Und diese höhere Stelle ist jetzt an Sie herangetreten.«
Randolph lehnte sich zurück, und es schien, als suchte er an der Decke nach einer passenden Antwort.
»Es gibt sowohl bei der Polizei als auch in der Bevölkerung nicht wenige, die finden, dass Rick O’Shea einen guten Bezirksstaatsanwalt abgäbe«, sagte er. »Und diese Leute glauben auch, dass es für das LAPD gut wäre, ihn zum Freund zu haben.«
Bosch schloss die Augen und schüttelte langsam den Kopf. Er konnte nicht fassen, was er da hörte.
Randolph fuhr fort: »Sein Konkurrent, Gabriel Williams, hat sich mit Wählergruppen zusammengetan, die eindeutig gegen die Polizei eingestellt sind. Es wäre also nicht sonderlich erfreulich für das LAPD, wenn er gewählt würde.«
Bosch öffnete die Augen wieder und starrte Randolph finster an.
»Sie lassen sich tatsächlich auf so etwas ein?«, sagte er. »Sie lassen diesen Kerl ungeschoren davonkommen, weil Sie denken, er könnte der Polizei wohlgesonnen sein?«
Randolph schüttelte traurig den Kopf.
»Ich weiß nicht, was Sie haben, Detective. Ich mache hier lediglich eine simple politische Feststellung. Aber eines weiß ich sicher. Es gibt keinerlei Beweise für dieses Komplott, von dem Sie da reden. Wenn Sie glauben, dass Robert Foxworth’s Anwalt das Gespräch, das Sie uns hier geschildert haben, nicht einfach rundweg leugnet, müssen Sie verdammt naiv sein. Seien Sie also nicht naiv. Seien Sie vernünftig. Behalten Sie es für sich.«
Bosch brauchte einen Moment, um seine Fassung wiederzuerlangen.
»Wer hat das angeordnet?«
»Wie bitte?«
»Wie weit oben hat O’Shea interveniert? Er ist ja wohl kaum selbst an Sie herangetreten. Das muss jemand weiter oben für ihn gemacht haben. Wer hat Ihnen nahegelegt, mich abzuservieren?«
Randolph breitete die Hände aus und schüttelte den Kopf.
»Detective, ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.«
»Aber sicher. Natürlich nicht.«
Bosch stand auf.
»Dann würde ich sagen, Sie protokollieren alles so, wie es Ihnen von oben diktiert wurde, und ich unterschreibe es dann oder auch nicht. Ganz einfach.«
Randolph nickte, sagte aber nichts. Bosch beugte sich vor und legte beide Hände auf den Tisch, um ganz nah an Randolphs Gesicht zu kommen.
»Gehen Sie zu Deputy Doolans Begräbnis, Lieutenant? Es ist gleich nach dem von Olivas. Wissen Sie noch, wer das war? Der Beamte, dem Waits dort oben ins Gesicht geschossen hat? Ich dachte, Sie gehen vielleicht zu seinem Begräbnis, um seinen Angehörigen zu erklären, dass der Mann, dem er das alles zu verdanken hat, der Polizei wohlgesonnen sein wird und sich deshalb nicht für die Konsequenzen seiner Machenschaften zu rechtfertigen braucht.«
Randolph starrte geradeaus über den Tisch auf die Wand. Er sagte nichts. Bosch richtete sich auf, öffnete die Tür und erschreckte Osani, der direkt dahinter gestanden hatte. Er hielt keine Wasserflaschen in den Händen. Bosch schob sich an ihm vorbei und verließ das OIS-Büro.
Am Aufzug drückte Bosch auf den Knopf nach oben. Er ging ein paarmal auf und ab und überlegte, ob er mit seiner Beschwerde in den sechsten Stock hinauffahren sollte. Er stellte sich vor, wie er in das Büro des Polizeichefs stürmte und ihn fragte, ob er sich bewusst sei, was hier in seinem Namen und unter seinem Kommando ablief.
Doch als die Lifttür aufging, nahm er davon Abstand und drückte auf den Knopf für den fünften Stock. Er wusste, es war unmöglich, die verschlungenen Wege von Bürokratie und Politik innerhalb der Polizei zur Gänze zu durchdringen. Wenn er nicht aufpasste, lief das Ganze möglicherweise noch darauf hinaus, dass er sich bei der Person über diese Sauerei beschwerte, die sie angeordnet hatte.
Die Abteilung Offen-Ungelöst war verlassen, als er dort eintraf. Es war kurz nach vier, und die meisten Detectives arbeiteten von sieben bis vier Uhr, damit sie noch vor dem Einsetzen des abendlichen Berufsverkehrs den Heimweg antreten konnten. Wenn nichts Dringendes vorlag, machten sie Punkt vier Uhr Feierabend. Selbst eine fünfzehnminütige Verspätung konnte sie auf den Freeways eine ganze Stunde kosten. Der Einzige, der noch da war, war Abel Pratt, und der Grund dafür war, dass er als Leiter der Einheit von acht bis fünf Dienst tun musste. Hausregeln. Bosch winkte, als er auf dem Weg zu seinem Schreibtisch an der offenen Tür von Pratts Büro vorbeikam.
Erschöpft von den Ereignissen des Tages und den Ungeheuerlichkeiten der innerpolizeilichen Machenschaften, ließ Bosch sich auf seinen Stuhl niedersinken. Er schaute auf seinen Schreibtisch und sah, dass er mit rosafarbenen Zetteln mit telefonischen Nachrichten übersät war. Er begann, sie durchzusehen. Die meisten waren von Kollegen aus allen möglichen Abteilungen und Stationen. Es waren lauter Bitten um Rückruf. Bosch wusste, sie wollten ihm gratulieren. Jedes Mal, wenn ein Polizist jemanden endgültig aus dem Verkehr zog, stand bei dem Betreffenden das Telefon nicht mehr still.
Es waren auch einige Nachrichten von Journalisten dabei, unter anderem von Keisha Russell. Bosch wusste, er schuldete ihr einen Anruf, wollte damit aber warten, bis er zu Hause war. Auch eine Nachricht von Irene Gesto war darunter, und Bosch vermutete, dass sie und ihr Mann wissen wollten, ob es irgendetwas Neues über die Ermittlungen gab. Er hatte sie am Abend zuvor angerufen, um ihnen mitzuteilen, dass ihre Tochter gefunden und die Identität bestätigt worden war. Diesen Zettel steckte er in seine Hosentasche. Beurlaubung hin oder her, er würde sie zurückrufen. Nach Abschluss der Autopsie würde die Leiche freigegeben, sodass sie nach dreizehn Jahren endlich ihre Tochter nach Hause holen konnten. Er konnte ihnen zwar nicht verkünden, dass der Mörder ihrer Tochter seiner gerechten Strafe zugeführt worden war, aber wenigstens hatte er ihnen helfen können, sie heimzubringen.
Eine Nachricht war von Jerry Edgar, und Bosch fiel ein, dass ihn sein ehemaliger Partner unmittelbar vor Beginn der Schießerei in Echo Park auf seinem Handy zu erreichen versucht hatte. Der Kollege, der den Anruf entgegengenommen hatte, hatte Ist angeblich wichtig auf den Zettel geschrieben und zweimal unterstrichen. Bosch sah nach dem auf dem Zettel vermerkten Zeitpunkt des Anrufs und stellte fest, dass er ebenfalls kurz vor den Schüssen in der Figueroa Lane eingegangen war. Demnach hatte Edgar nicht angerufen, um ihm zu gratulieren, dass er Waits aus dem Verkehr gezogen hatte. Vermutlich hatte Edgar gehört, dass Bosch seinen Cousin kennengelernt hatte, und wollte einfach ein bisschen darüber quatschen. Im Moment war Bosch aber nicht danach.
Die anderen Nachrichten interessierten Bosch nicht, weshalb er sie alle einsammelte und in eine Schreibtischschublade legte. Nachdem es sonst nichts mehr zu tun gab, ordnete er die Papiere und Akten auf seinem Schreibtisch. Er erwog, bei der Spurensicherung anzurufen, ob er sein Handy und sein Auto vom Tatort in Echo Park zurückhaben könnte.
»Sie haben gerade angerufen.«
Bosch blickte auf. Pratt stand in der Tür seines Büros. Er war in Hemdsärmeln, die Krawatte hing lose von seinem Hals.
»Wer hat angerufen?«
»Die OIS. Sie sind immer noch beurlaubt, Harry. Ich muss Sie nach Hause schicken.«
Bosch blickte wieder auf seinen Schreibtisch.
»Weiß ich. Bin schon am Gehen.«
Pratt sah Bosch kurz schweigend an und versuchte, seinen Tonfall zu deuten.
»Alles okay, Harry?«, fragte er schließlich versuchsweise.
»Nein, gar nichts ist okay. Das Ganze ist ein abgekartetes Spiel, und irgendjemand hält die Hand drüber. Und das ist nicht okay. Nicht annähernd.«
»Was sagen Sie da? Wollen die etwa Olivas und O’Shea decken?«
Bosch schaute zu ihm auf.
»Ich glaube nicht, dass ich mit Ihnen darüber sprechen sollte, Chef. Dadurch könnten Sie ebenfalls in die Schusslinie geraten, und ich glaube nicht, dass Sie das wollen.«
»So ernst ist es denen also, hm?«
Bosch zögerte, aber dann antwortete er doch.
»Ja, es ist ihnen ernst. Sie werden auch nicht davor zurückschrecken, mich zu verheizen, wenn ich nicht mitspiele.«
An diesem Punkt machte er Schluss. Er wollte dieses Gespräch nicht mit seinem Vorgesetzten führen. In Pratts Position hatte man die Leiter hinauf und hinunter Verpflichtungen. Da spielte es auch keine Rolle, dass er nur noch ein paar Wochen bis zu seiner Pensionierung hatte. Pratt musste das Spiel so lange mitspielen, bis der Schlusspfiff kam.
»Die haben mein Handy noch, es ist Bestandteil des Tatorts«, sagte er und griff nach dem Telefon. »Ich bin nur reingekommen, um kurz zu telefonieren, dann bin ich auch schon wieder weg.«
»Ich frage mich sowieso schon die ganze Zeit, was mit Ihrem Telefon ist«, sagte Pratt. »Ständig versuchen irgendwelche Kollegen anzurufen, und alle sagen, Sie gehen nicht ans Telefon.«
»Die Spurensicherung hat mir nicht erlaubt, das Handy vom Tatort zu entfernen. Das Handy nicht und das Auto auch nicht. Was wollten sie?«
»Ich glaube, sie wollten Sie auf einen Drink im Nat’s einladen. Könnte sein, dass sie sich trotzdem dort treffen.«
Das Nat’s war eine Bar am Hollywood Boulevard. Es war keine ausgesprochene Polizistenkneipe, aber trotzdem konnte man dort nach Dienstschluss immer einige Cops antreffen. Jedenfalls so viele, dass sich die Geschäftsleitung veranlasst gesehen hatte, die widerborstige Version von »I Fought the Law« von The Clash mittlerweile schon zwanzig Jahre in der Musikbox zu lassen. Bosch wusste, dass die Punkhymne in voller Lautstärke abgespielt würde, sobald er das Nat’s betrat – zu Ehren des vor Kurzem eliminierten Robert Foxworth alias Raynard Waits. I fought the law, but the law won … Fast konnte Bosch sie den Refrain singen hören.
»Fahren Sie auch hin?«, fragte er Pratt.
»Später vielleicht. Ich muss vorher noch was erledigen.«
Bosch nickte.
»Mir ist im Moment noch nicht danach«, sagte er. »Ich glaube nicht, dass ich hinkomme.«
»Ganz wie Sie wollen. Die Jungs werden es bestimmt verstehen.«
Pratt blieb in der Tür stehen, weshalb Bosch nach dem Telefon griff. Er wählte Jerry Edgars Nummer, um seine Lüge, dass er kurz telefonieren müsste, zu kaschieren. Doch Pratt blieb, den Arm gegen den Türstock gelehnt, in der offenen Tür stehen und sah sich im leeren Bereitschaftsraum um. Er hatte es wirklich darauf angelegt, Bosch zu verscheuchen. Möglicherweise hatte er von jemandem, der weiter oben auf der Leiter war als Lieutenant Randolph, entsprechende Anweisungen erhalten.
Edgar meldete sich.
»Hier Bosch. Du hast angerufen?«
»Allerdings, Mann, ich habe angerufen.«
»Ich war ziemlich beschäftigt.«
»Ich weiß. Hab bereits davon gehört. Das hast du heute wirklich gut gemacht, Partner. Bei dir alles okay?«
»Ja, ja, klar. Weswegen hast du angerufen?«
»Da war etwas, von dem ich dachte, es interessiert dich vielleicht. Ob es jetzt allerdings noch so wichtig ist, weiß ich nicht.«
»Und was war das?«, fragte Bosch ungeduldig.
»Mein Cousin Jason hat mich aus den Stadtwerken angerufen. Er hat mir erzählt, dass ihr euch heute kennengelernt habt.«
»Ja, netter Typ. Hat uns sehr geholfen.«
»Ich habe aber nicht angerufen, um mich zu erkundigen, ob er nett zu dir war. Sondern weil da etwas war, das dich vielleicht interessieren könnte. Er wollte dich erreichen, aber du hast ihm keine Visitenkarte oder Telefonnummer oder sonst was hinterlassen. Er meinte, ungefähr fünf Minuten nachdem du mit der FBI-Agentin gegangen bist, kam ein anderer Polizist ins DWP und wollte ihn sprechen. Er hat sich am Empfang nach dem Mann erkundigt, der gerade den Polizisten geholfen hatte.«
Bosch beugte sich vor. Mit einem Mal interessierte ihn, was Edgar zu erzählen hatte.
»Jason meinte, der Typ hätte ihm seine Dienstmarke gezeigt und erklärt, er würde deine Ermittlungen beaufsichtigen, und dann hat er Jason gefragt, was ihr beide, du und die Agentin, gewollt hättet. Mein Cousin fuhr mit ihm in das Stockwerk hoch, in dem ihr wart, und führte ihn zu dem Fenster. Und dann standen sie dort oben und schauten gerade in dem Moment zu dem Haus in Echo Park hinunter, als du mit der Agentin dort angerückt bist. Sie haben zugesehen, wie du in die Garage bist.«
»Und weiter?«
»Dann rannte dieser Typ zum Lift und fuhr nach unten.«
»Hat dein Cousin zufällig mitgekriegt, wie er hieß?«
»Ja, er hat sich als Detective Smith vorgestellt. Als er seinen Ausweis zeigte, hielt er allerdings den Finger auf die Stelle, wo sein Name stand.«
Ein alter Trick, auf den Detectives meistens dann zurückgriffen, wenn sie ihre Kompetenzen überschritten und nicht wollten, dass ihr richtiger Name in Umlauf geriet. Auch Bosch hatte ihn gelegentlich angewendet.
»Und wie sieht’s mit einer Personenbeschreibung aus?«, fragte er.
»Klar, hat er mir alles durchgegeben. Weißer, ungefähr eins achtzig groß, gut siebzig Kilo. Kurz geschnittenes silbergraues Haar. Warte mal, Mitte fünfzig, und er trug einen blauen Anzug, weißes Hemd, gestreifte Krawatte. Hatte eine amerikanische Flagge am Revers.«
Diese Beschreibung passte zu etwa fünfzigtausend Männern in Downtown Los Angeles. Und auf einen von ihnen schaute Bosch gerade. Abel Pratt stand immer noch in der Tür seines Büros. Er sah Bosch mit fragend hochgezogenen Augenbrauen an. Er hatte seine Anzugjacke nicht an, aber Bosch konnte sie an der Tür hinter ihm an einem Haken hängen sehen. An ihrem Revers steckte eine amerikanische Flagge.
Bosch richtete den Blick wieder auf seinen Schreibtisch.
»Bis wann hat dein Cousin Dienst?«, fragte er ruhig.
»Normalerweise macht er um fünf Schluss. Aber im Moment sind ein Haufen Leute dort oben, die sehen wollen, was in Echo Park so abgeht.«
»Okay, danke für den Tipp. Ich melde mich später noch mal bei dir.«
Bosch legte auf, bevor Edgar noch etwas sagen konnte. Er blickte auf, und Pratt sah ihn immer noch an.
»Was war das gerade?«, fragte er.
»Ach, noch was zum Matarese-Fall. Sie wissen schon, den wir diese Woche eingereicht haben. Wie es aussieht, haben wir jetzt vielleicht doch einen Zeugen. Das kann beim Prozess auf keinen Fall schaden.«
Bosch sagte es so beiläufig, wie er konnte. Er stand auf und sah seinen Vorgesetzten an.
»Aber keine Sorge. Das hat auch Zeit, bis ich wieder regulär im Dienst bin.«
»Gut. Das höre ich gern.«
ZWEIUNDDREISSIG
Bosch ging auf Pratt zu. Er kam ihm zu nahe, drang in seine persönliche Sphäre ein, was Pratt veranlasste, in sein Büro zurückzuweichen und sich an seinen Schreibtisch zurückzuziehen. Genau das hatte Bosch beabsichtigt. Er sagte Wiedersehen und wünschte ihm ein schönes Wochenende. Dann lief er zur Tür des Bereitschaftsraums.
Der Einheit Offen-Ungelöst mit ihren acht Detectives und einem Supervisor standen drei Autos zur Verfügung, die nach dem Motto »Wer zuerst kommt, mahlt zuerst« benutzt wurden. Die Schlüssel hingen an ein paar Haken neben dem Eingang des Bereitschaftsraums. Das Ganze funktionierte folgendermaßen: Wenn sich ein Detective ein Auto auslieh, schrieb er, oder sie, einfach den Namen und den voraussichtlichen Rückgabezeitpunkt auf eine weiße Tafel unter den Schlüsseln. Als Bosch die Tür erreichte, machte er sie extra weit auf, um die Sicht von Pratts Büro auf das Schlüsselbrett zu versperren. An den Haken hingen zwei Sätze Schlüssel. Einen nahm Bosch an sich und ging nach draußen.
Ein paar Minuten später fuhr er aus dem Parkhaus hinter dem Parker Center und machte sich auf den Weg zum Hochhaus der Stadtwerke. Der wilde Ansturm all derer, die Downtown bis Sonnenuntergang verlassen wollten, setzte gerade erst ein, und Bosch schaffte die sieben Blocks bis dorthin noch relativ schnell. Er hielt im Parkverbot vor dem Brunnen am Eingang des Gebäudes und sprang aus dem Auto. Er sah auf die Uhr, als er auf den Eingang zueilte. Es war zwanzig vor fünf.
Ein uniformierter Wachmann kam winkend nach draußen.
»Sie können hier nicht par…«
»Ich weiß.«
Bosch zückte seine Dienstmarke und deutete auf das Sprechfunkgerät am Gürtel des Mannes.
»Können Sie auf dem Ding da Jason Edgar erreichen?«
»Edgar? Klar. Was soll …«
»Funken Sie ihn an, und sagen Sie ihm, Detective Bosch wartet vor dem Eingang. Ich muss ihn so schnell wie möglich sprechen. Beeilen Sie sich, bitte.«
Bosch drehte sich um und ging zu seinem Auto zurück. Er stieg ein und wartete fünf Minuten. Endlich kam Jason Edgar durch die Glastür nach draußen. Er ging auf das Auto zu und öffnete die Beifahrertür, allerdings nur, um nach drinnen zu schauen, nicht, um einzusteigen.
»Was gibt’s, Harry?«
»Ich habe Ihre Nachricht erhalten. Steigen Sie ein.«
Widerstrebend stieg Edgar ein. Noch während er die Tür zuzog, fuhr Bosch los.
»Augenblick. Wo fahren wir hin? Ich kann nicht einfach meinen Arbeitsplatz verlassen.«
»Dauert nur ein paar Minuten.«
»Wohin fahren wir?«
»Zum Parker Center. Wir müssen nicht mal aus dem Auto steigen.«
»Ich muss aber Bescheid geben.«
Edgar nahm ein kleines Sprechfunkgerät von seinem Gürtel. Er funkte die DWP-Sicherheitszentrale an und sagte, er müsste das Gebäude in einer polizeilichen Angelegenheit eine halbe Stunde verlassen. Er erhielt die Genehmigung und steckte das Funkgerät an seinen Gürtel zurück.
»Sie hätten mich erst fragen sollen«, sagte er zu Bosch. »Mein Cousin hat mir schon erzählt, dass Sie die Angewohnheit haben, erst zu handeln und später Fragen zu stellen.«
»Das hat er tatsächlich gesagt?«
»Ja, hat er. Was machen wir im Parker Center?«
»Den Polizisten identifizieren, mit dem Sie heute gesprochen haben, nachdem ich weggegangen bin.«
Der Verkehr hatte deutlich zugenommen. Eine Menge Bürohengste versuchten, sich auf dem Nachhauseweg einen kleinen Vorsprung zu ergattern. Freitagnachmittags war es besonders schlimm. Bis zehn vor fünf hatte es Bosch zum Parker Center geschafft. In der Hoffnung, sie kämen nicht zu spät, fuhr er ins Parkhaus. Er fand gleich in der ersten Reihe einen freien Platz. Das Parkhaus war an den Seiten offen, weshalb man die San Pedro Street sehen konnte, die zwischen Parker Center und Parkhaus verlief.
»Haben Sie ein Handy?«, fragte Bosch.
»Ja.«
Bosch gab Jason Edgar die Nummer des Parker Center und wies ihn an, sich mit der Einheit Offen-Ungelöst verbinden zu lassen. Anrufe, die von der Zentrale durchgestellt wurden, gingen nicht mit Anruferidentifizierung ein. Edgars Name und Nummer würden auf den OU-Anschlüssen also nicht erscheinen.
»Ich möchte nur sehen, ob jemand drangeht«, sagte Bosch. »Wenn sich jemand meldet, fragen Sie einfach nach Rick Jackson. Wenn er nicht da ist, hinterlassen Sie keine Nachricht. Sagen Sie bloß, Sie versuchen, ihn auf seinem Handy zu erreichen, und dann legen Sie auf.«
Edgars Anruf wurde entgegengenommen, und er tat, was Bosch ihm gesagt hatte. Als er fertig war, sah er Bosch an.
»Ein gewisser Pratt ist drangegangen.«
»Gut. Dann ist er noch da.«
»Und was hat das zu bedeuten?«
»Ich wollte mich vergewissern, dass er noch oben ist. Er wird um fünf gehen, und wenn er das tut, wird er die Straße dort überqueren. Ich möchte wissen, ob er der Kerl ist, der Ihnen gesagt hat, dass er meine Ermittlungen beaufsichtigt.«
»Ist er von der Dienstaufsicht?«
»Nein. Er ist mein Chef.«
Um nicht gesehen zu werden, klappte Bosch die Sonnenblende nach unten. Sie standen etwa dreißig Meter von dem Zebrastreifen entfernt, über den Pratt ins Parkhaus kommen würde. In welche Richtung Pratt allerdings ging, sobald er im Parkhaus war, wusste er nicht. Als Leiter einer Einheit kam er in den Genuss des Privilegs, sein Privatauto im Polizeiparkhaus abstellen zu dürfen, und die meisten der zugeteilten Parkplätze waren in der ersten Etage, zu der zwei Treppen und eine Auffahrt führten. Wenn Pratt die Auffahrt nahm, käme er direkt an dem Auto vorbei, in dem Bosch und Edgar saßen.
Edgar stellte ihm Fragen über die Schießerei in Echo Park, und Bosch beantwortete sie mit knappen Sätzen. Eigentlich wollte er nicht darüber sprechen, aber er hatte den Mann gerade von seinem Posten entführt und musste sich irgendwie erkenntlich zeigen. Das gebot der Anstand. Um 17.01 Uhr sah er Pratt endlich durch den Hinterausgang des Parker Center kommen und die Rampe neben den Türen hinuntergehen, wo die Häftlinge eingeliefert wurden. Er steuerte auf die San Pedro zu und überquerte mit einer Gruppe von vier anderen Abteilungschefs, die ebenfalls nach Hause wollten, die Straße.
»So«, sagte Bosch und unterbrach Edgar mitten in einer Frage. »Sehen Sie die Männer, die dort die Straße überqueren? Welcher von ihnen war heute bei Ihnen?«
Edgar beobachtete die Polizisten beim Überqueren der Straße. Er hatte einen ungehinderten Blick auf Pratt, der am Ende der Fünfergruppe neben einem anderen Mann lief.
»Da, der letzte«, sagte Edgar ohne Zögern. »Der gerade die Sonnenbrille aufsetzt.«
Bosch sah hin. Pratt hatte gerade seine Ray-Ban aufgesetzt. Bosch spürte tief in seiner Brust einen heftigen Druck, wie eine besonders schlimme Form von Sodbrennen. Er beobachtete, wie Pratt sich von ihrem Auto abwandte, sobald er die Straße überquert hatte, und auf das weiter entfernte der beiden Treppenhäuser zuging.
»Und jetzt? Wollen Sie ihm folgen?«
Bosch erinnerte sich, dass Pratt gesagt hatte, er habe nach Dienstschluss noch etwas zu erledigen.
»Würde ich gern, kann ich aber nicht. Ich muss Sie zum DWP zurückbringen.«
»Machen Sie sich deswegen mal keine Gedanken, Mann. Ich kann auch gehen. Bei dem Verkehr bin ich zu Fuß wahrscheinlich sowieso schneller.«
Edgar öffnete die Tür, um auszusteigen. Er schaute zu Bosch zurück.
»Ich weiß zwar nicht, was hier abgeht, Harry, aber auf jeden Fall viel Glück. Hoffentlich kriegen Sie den Kerl, den Sie suchen.«
»Danke, Jason. Wäre schön, sich mal wiederzusehen.«
Sobald Edgar ausgestiegen war, stieß Bosch zurück und fuhr aus dem Parkhaus. Er nahm die San Pedro rüber zur Temple Street, denn er vermutete, dass Pratt auf diesem Weg zum Freeway fahren würde. Unabhängig davon, ob er auf dem Weg nach Hause war oder nicht, würde er aller Wahrscheinlichkeit nach versuchen, zum Freeway zu gelangen.
Bosch überquerte die Temple und hielt in einer roten Zone am Straßenrand. Von hier hatte er die Ausfahrt des Polizeiparkhauses gut im Blick.
Nach zwei Minuten kam ein silberfarbenen Geländewagen aus dem Parkhaus und fuhr zur Temple. Es war ein Jeep Commander in kastigem Retro-Design. Bosch erkannte Pratt am Steuer. Er verglich Ausmaße und Farbe des Jeeps sofort mit denen des geheimnisvollen Geländewagens, der ihm am Abend zuvor nicht weit von seinem Haus aufgefallen war.
Bosch beugte sich über den Beifahrersitz, als sich der Jeep der Temple näherte. Er hörte ihn abbiegen, und wenige Sekunden später richtete er sich wieder hinter dem Steuer auf. Pratt erreichte die Ampel an der Ecke Temple und Los Angeles Street und bog rechts ab. Bosch wartete, bis er um die Ecke verschwunden war, dann startete er den Wagen.
Pratt fuhr in nördlicher Richtung auf den verstopften Freeway 101 und drängte sich in den dichten Verkehrsstrom. Bosch zwängte sich sechs Fahrzeuge hinter dem Jeep in die Schlange. Er hatte insofern Glück, als auf der Antenne von Pratts Jeep eine weiße Kugel mit einem Gesicht steckte. Ein Werbegeschenk einer Fastfood-Kette. Es ermöglichte Bosch, dem Jeep zu folgen, ohne ihm zu nahe zu kommen. Sein Crown Vic war zwar nicht als Einsatzfahrzeug gekennzeichnet, roch aber trotzdem nach Polizei.
Langsam, aber zielstrebig kämpfte sich Pratt in Richtung Norden voran. Bosch folgte ihm in gebührendem Abstand. Als sie auf dem Freeway durch Echo Park kamen, schaute er den Hügel hinauf und sah, dass die Spurensicherungs- und Mediensoiree in der Figueroa Lane immer noch in vollem Gang war. Über dem Haus kreisten zwei Fernsehhubschrauber. Er fragte sich, ob sein Auto abgeschleppt würde, oder ob er es später einfach dort abholen könnte.
Beim Fahren versuchte Bosch zusammenzufügen, was er gegen Pratt vorliegen hatte. Dass Pratt ihm gefolgt war, stand außer Frage. Sein Jeep glich aufs Haar dem, den er am Abend zuvor nicht weit von seinem Haus gesehen hatte, und Jason Edgar hatte Pratt als den Mann identifiziert, der ihnen in das Gebäude der Stadtwerke gefolgt war. Kaum anzunehmen, dass er Bosch nur verfolgt hatte, um sich zu vergewissern, dass er nicht gegen die Auflagen verstieß. Dafür musste es einen anderen Grund geben, und Bosch fiel nur einer ein.
Der Fall.
Sobald er einmal zu diesem Schluss gelangt war, fügte sich rasch eins zum anderen, und das schürte das Feuer noch, das bereits in Boschs Brust brannte. Es war nur ein paar Tage her, dass Pratt die Geschichte über Maury Swann erzählt hatte, die verriet, dass die beiden sich kannten. Und obwohl die Anekdote den Anwalt in ein schlechtes Licht rückte, konnte es auch der Versuch sein, sich scheinbar von jemandem zu distanzieren, dem er in Wirklichkeit nahestand, oder mit dem er sogar unter einer Decke steckte.
Ebenso wenig zweifelte Bosch daran, dass Pratt genau wusste, dass er, Bosch, im Gesto-Fall Anthony Garland im Visier gehabt hatte. Schließlich hatte er Pratt bei der Wiederaufnahme des Falls routinemäßig über all seine Schritte in Kenntnis gesetzt. So war Pratt unter anderem auch darüber informiert worden, dass Garlands Anwälte eine Verfügung erwirkt hatten, die es Bosch untersagte, in ihrer Abwesenheit mit Garland zu sprechen.
Und was vielleicht das Wichtigste war – Pratt hatte Zugang zum Gesto-Mordbuch gehabt. Es hatte die meiste Zeit auf Boschs Schreibtisch gelegen. Pratt hätte jederzeit die gefälschte Verbindung zu Robert Saxon, alias Raynard Waits, einfügen können, lange bevor das Buch Olivas ausgehändigt wurde. Er hätte den Eintrag ohne Weiteres fälschen können, damit Olivas ihn entdeckte.
Bosch wurde klar, dass der Plan, Raynard Waits den Mord an Marie Gesto gestehen zu lassen und die Ermittler zu ihrer Leiche führen, durchaus von Abel Pratt ausgeheckt und in die Tat umgesetzt worden sein könnte. Er war ideal positioniert, um als Mittelsmann zu agieren und sowohl Bosch als auch die anderen Beteiligten auf Schritt und Tritt beobachten zu können.
Und ihm wurde bewusst, dass Pratt, wenn Swann an dem Komplott beteiligt war, weder Olivas noch O’Sheas Hilfe benötigt hätte. Je mehr Personen in ein Komplott verwickelt waren, umso höher die Wahrscheinlichkeit, dass es aufflog oder scheiterte. Swann hätte Waits gegenüber lediglich den Anschein erwecken müssen, als wären Ankläger und Ermittler die Drahtzieher im Hintergrund, und schon hätte er eine falsche Fährte gelegt, der jemand wie Bosch unvermeidlich folgen würde.
Bosch spürte das Brennen heftiger Schuldgefühle in seinem Nacken. Vielleicht hatte er sich in allem, was er bis vor einer halben Stunde gedacht hatte, getäuscht. Gründlich getäuscht. Olivas war vielleicht gar nicht korrupt gewesen. Möglicherweise war er genauso raffiniert benutzt worden wie Bosch, und O’Shea hatte sich lediglich politischer Taktiererei schuldig gemacht, sprich, er hatte unrechtmäßig Verdienste für sich in Anspruch genommen, die ihm nicht zustanden, und gleichzeitig die Verantwortung für seine Fehler auf andere abgewälzt. O’Shea hatte womöglich nur deshalb versucht, nichts von Boschs Anschuldigungen nach draußen dringen zu lassen, weil sie sich politisch nachteilig ausgewirkt hätten – und nicht, weil sie der Wahrheit entsprachen.
Bosch überprüfte diese neue Theorie noch einmal auf Herz und Nieren, und sie hielt der Inspektion stand. Er fand keine Luft in den Bremsleitungen, keinen Sand im Treibstofftank. Es war, bildlich gesprochen, ein voll funktionstüchtiges Fahrzeug. Das Einzige, was fehlte, war ein Motiv. Warum sollte jemand, der fünfundzwanzig Jahre bei der Polizei gewesen war und mit fünfzig seiner Pensionierung entgegensah, alles wegen eines solchen Komplotts aufs Spiel setzen? Wie konnte jemand, der fünfundzwanzig Jahre lang Verbrecher gejagt hatte, einen Mörder laufen lassen?
Bosch hatte schon an die tausend Morde bearbeitet und wusste, dass das Motiv häufig das am schwersten zu fassende Element eines Verbrechens war. Selbstverständlich war Geldgier ein häufiger Beweggrund, und oft auch der Zerfall einer Ehe. Aber diese unerfreulichen Dinge spielten im Leben zahlloser Menschen eine Rolle. Sie ließen sich nicht so ohne Weiteres als Erklärung dafür heranziehen, warum Abel Pratt diese Grenze überschritten hatte.
Bosch hieb mit der Handfläche aufs Lenkrad. Einmal abgesehen von der Frage des Motivs, war er wütend auf sich selbst. Er hatte sich mächtig blamiert. Pratt hatte ihn nach allen Regeln der Kunst vorgeführt, und das traf ihn tief. Pratt war sein Vorgesetzter. Sie hatten zusammen gegessen, gemeinsam Fälle bearbeitet, Witze gerissen und über ihre Kinder gesprochen. Pratt stand kurz vor seiner Pensionierung, die er sich nach Auffassung aller Kollegen bei der Polizei redlich verdient hatte. Für ihn war der Zeitpunkt gekommen, seine Pension einzustreichen und sich in der Karibik einen Security-Job zu suchen, bei dem er viel verdiente und wenig tun musste. Davon träumten alle, und niemand hätte es ihm geneidet. Es war der Inbegriff des Ruhestandsparadieses für jeden Polizisten.
Doch jetzt durchschaute Bosch das alles.
»Alles nur Theater«, sagte er im Auto laut.
DREIUNDDREISSIG
Dreißig Minuten später fuhr Pratt am Cahuenga Pass vom Freeway. Er nahm den Barham Boulevard in nordöstlicher Richtung nach Burbank. Der Verkehr war immer noch dicht, und Bosch hatte keine Probleme, Pratt in einigem Abstand unbemerkt zu folgen. Pratt fuhr am Hintereingang von Universal und am Vordereingang von Warner Brothers vorbei. Dann bog er ein paarmal rasch ab und hielt in der Catalina Street, nicht weit von der Verdugo Road, vor einer Reihe von Stadthäusern. Bosch fuhr rasch an ihnen vorbei, bog bei der ersten Gelegenheit rechts ab und dann noch einmal und noch einmal. Bevor er ein letztes Mal rechts abbog und wieder in die Straße mit den Stadthäusern kam, schaltete er die Scheinwerfer aus. Er hielt einen halben Block hinter Pratts Geländewagen am Straßenrand und rutschte auf seinem Sitz nach unten.
Er entdeckte Pratt sofort. Sein Vorgesetzter stand am Straßenrand und spähte in beide Richtungen, bevor er die Straße überquerte. Aber er nahm sich viel Zeit dafür. Obwohl die Straße frei war, blickte Pratt weiter nach links und rechts. Entweder er suchte jemanden, oder er wollte sich vergewissern, dass ihm niemand gefolgt war. Bosch wusste, es gab nichts Schwereres, als einen Cop zu observieren, der nach einem Schatten Ausschau hielt. Er sank noch tiefer in seinen Sitz.
Endlich ging Pratt, immer noch ständig nach links und rechts blickend, über die Straße, und als er die andere Seite erreichte, drehte er sich um 180 Grad und trat rückwärts auf den Gehsteig. Er machte ein paar Schritte und sah sich in beiden Richtungen um. Als sein Blick auf Boschs Auto fiel, verharrte er einen Moment.
Bosch rührte sich nicht. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Pratt ihn gesehen hatte – dafür saß er zu tief –, aber er konnte in dem Crown Vic entweder ein ziviles Polizeifahrzeug erkannt haben oder sogar eins der Autos der Einheit Offen-Ungelöst. Wenn er jetzt die Straße herunterkam, um das zu überprüfen, würde er Bosch erwischen, ohne dass dieser eine einleuchtende Erklärung parat hätte. Oder eine Schusswaffe. Seine Ersatzwaffe war für eine ballistische Untersuchung in Zusammenhang mit den Schüssen auf Robert Foxworth routinemäßig eingezogen worden.
Pratt begann, auf Boschs Auto zuzugehen. Bosch legte die Hand an den Türgriff. Notfalls würde er aus dem Auto springen und in Richtung Verdugo Road rennen, wo es Verkehr und Passanten gab.
Doch plötzlich blieb Pratt stehen. Irgendetwas in seinem Rücken hatte seine Aufmerksamkeit abgelenkt. Er drehte sich um und blickte zur Eingangstreppe des Stadthauses, vor dem er gerade gestanden hatte. Bosch folgte seinem Blick und bemerkte, dass die Eingangstür ein Stück offen stand und eine Frau nach draußen schaute und Pratt lächelnd etwas zurief. Sie verbarg sich hinter der Tür, aber eine ihrer nackten Schultern war trotzdem zu sehen. Ihr Gesichtsausdruck änderte sich, als Pratt etwas erwiderte und ihr zuwinkte, sie solle wieder nach drinnen gehen. Sie machte einen Schmollmund und streckte ihm die Zunge heraus. Dann zog sie sich von der Tür zurück, ließ sie aber fünfzehn Zentimeter weit offen stehen.
Bosch wünschte, er hätte seine Kamera dabei, aber sie lag in seinem Wagen in Echo Park. Allerdings erkannte er auch ohne fotografischen Beweis die Frau in der Tür wieder und wusste, dass sie nicht Pratts Frau war – Bosch hatte Pratts Frau auf einer Party im Bereitschaftsraum kennengelernt, bei der Pratt sein Ausscheiden aus dem Polizeidienst bekannt gegeben hatte.
Pratt schaute erneut zu Boschs Auto, drehte sich aber nach kurzem Zögern wieder zu dem Stadthaus um. Er stieg die Eingangstreppe hinauf, ging durch die offene Tür und schloss sie hinter sich. Bosch wartete, und kurz darauf sah er Pratt einen Vorhang zurückziehen und auf die Straße hinausspähen. Er ließ den Blick eine Weile auf dem Crown Vic ruhen, und Bosch blieb weiter tief unten. Der Wagen hatte ohne Zweifel Pratts Verdacht erregt, aber Bosch vermutete, dass die Lockungen von verbotenem Sex stärker waren als sein Bedürfnis, sich das Auto näher anzusehen.
Plötzlich wurde Pratt von hinten gepackt, und es kam zu einem kleinen Gerangel. Er wandte sich vom Fenster ab, und der Vorhang fiel zurück.
Bosch setzte sich umgehend auf, startete den Wagen und wendete. Er bog nach rechts in die Verdugo und fuhr in Richtung Hollywood Way. Der Crown Vic war eindeutig enttarnt. Pratt würde gezielt nach ihm Ausschau halten, wenn er wieder aus dem Haus kam. Aber zum Burbank Airport war es nicht weit. Bosch hatte vor, den Crown Vic am Flughafen abzustellen, sich einen Leihwagen zu nehmen und damit zurückzukehren, alles in weniger als einer halben Stunde.
Während der Fahrt versuchte er, die Frau einzuordnen, die er aus dem Stadthaus hatte schauen sehen. Er machte ein paar mentale Lockerungsübungen, die er gelegentlich eingesetzt hatte, als vor Gericht das Hypnotisieren von Zeugen noch zulässig gewesen war. Bald konzentrierte er sich auf Nase und Mund der Frau, diejenigen Körperteile, die das Wiedererkennungszentrum in seinem Gehirn stimuliert hatten. Und wenig später kam er darauf. Sie war eine attraktive junge Zivilangestellte der Polizei, die in einer Abteilung am Ende des Flurs arbeitete, in dem auch Offen-Ungelöst lag. Sie gehörte zur Personalabteilung, die allgemein Heuern & Feuern genannt wurde, weil dort genau das passierte.
Pratt hatte sich eine Polizeiangestellte geangelt und vertrieb sich in einem Liebesnest in Burbank die Zeit, bis sich der abendliche Berufsverkehr gelegt hatte. Nicht übel, wenn man sich solche Gelegenheiten verschaffen konnte und auch noch damit durchkam. Bosch fragte sich, ob Mrs. Pratt von den außerplanmäßigen Aktivitäten ihres Mannes wusste.
In der Annahme, so am wenigsten Zeit zu verlieren, fuhr Bosch am Flughafen in den Valet-Parking-Bereich. Der Mann in der roten Jacke, der den Crown Vic von ihm übernahm, wollte wissen, wann er zurückkäme.
»Keine Ahnung«, sagte Bosch, der sich darüber noch keine Gedanken gemacht hatte.
»Irgendwas muss ich aber auf den Parkschein schreiben«, sagte der Mann.
»Morgen«, sagte Bosch. »Wenn ich Glück habe.«
VIERUNDDREISSIG
Fünfunddreißig Minuten später war Bosch zurück in der Catalina Street. Pratts Jeep stand immer noch am Straßenrand, als er in dem gemieteten Taurus an den Stadthäusern vorbeifuhr. Dieses Mal fand er nördlich von dem Stadthaus eine Lücke und parkte dort. Während er, tief in seinen Sitz gerutscht, das Haus beobachtete, schaltete er das Handy ein, das er zusammen mit dem Auto gemietet hatte. Er wählte Rachel Wallings Handynummer, bekam aber nur ihre Mailbox dran. Er hinterließ keine Nachricht.
Pratt kam erst nach Einbruch der Dunkelheit wieder nach draußen. Er blieb unter einer Straßenlaterne vor der Häuserreihe stehen, und Bosch fiel auf, dass er sich umgezogen hatte. Er trug jetzt eine Bluejeans und ein dunkles Langarmshirt. Der Kleiderwechsel verriet Bosch, dass die Affäre mit der Frau von Heuern & Feuern wahrscheinlich mehr als nur ein kurzes Intermezzo war. Pratt hatte Kleider in ihrer Wohnung.
Wieder schaute Pratt die Straße hinauf und hinunter, wobei sein Hauptaugenmerk der Südseite galt, wo zuvor der Crown Vic seinen Argwohn geweckt hatte. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass das Auto verschwunden war und er nicht beobachtet wurde, stieg Pratt in seinen Jeep Commander und fuhr los. Er wendete und fuhr in Richtung Süden zur Verdugo Road, an der er rechts abbog.
Bosch wusste, sollte Pratt noch immer argwöhnen, beschattet zu werden, würde er an der Verdugo langsamer fahren und im Rückspiegel nach einem Fahrzeug Ausschau halten, das von der Catalina in derselben Richtung abbog wie er. Deshalb wendete Bosch und fuhr nach Norden zur Clark Avenue. Dort bog er links ab und stieg voll aufs Gas. Fünf Straßen weiter, an der California Street, bog er erneut links ab, sodass er am Ende des Blocks wieder auf die Verdugo stieß. Es war ein riskantes Manöver. Möglicherweise war Pratt längst über alle Berge, aber Bosch blieb keine andere Wahl. Der Crown Vic hatte seinen Vorgesetzten alarmiert. Bestimmt war er noch wachsamer als sonst.
Bosch hatte sich nicht getäuscht. Gerade als er die Verdugo Road erreichte, sah er Pratts silberfarbenen Jeep direkt vor sich vorbeifahren. Offensichtlich war er auf der Verdugo extrem langsam gefahren und hatte nach einem Verfolger Ausschau gehalten. Bosch ließ ihm etwas Vorsprung, bevor er nach rechts in die Verdugo bog, um ihm zu folgen.
Nach diesem anfänglichen Manöver unternahm Pratt nichts mehr, um einen potenziellen Schatten abzuschütteln. Er blieb bis North Hollywood auf der Verdugo und bog dann in südlicher Richtung auf den Cahuenga Boulevard. An der Kreuzung hätte er Bosch um ein Haar abgehängt, aber Bosch fuhr bei Rot über die Ampel. Inzwischen war ihm klar, dass Pratt nicht nach Hause unterwegs war – er wusste, dass er in entgegengesetzter Richtung im nördlichen Valley wohnte.
Pratt fuhr nach Hollywood, und Bosch nahm an, dass er vorhatte, im Nat’s zu den übrigen Mitgliedern der Einheit zu stoßen. Aber auf halbem Weg durch den Cahuenga Pass bog er rechts in den Woodrow Wilson Drive ab, und Bosch spürte, wie sich sein Puls einen Tick beschleunigte. Pratt war unterwegs zu Boschs Haus.
Der Woodrow Wilson schlängelte sich in zahlreichen Haarnadelkurven die Hügel von Santa Monica hinauf. Die Straße war wenig befahren, und die einzige Möglichkeit, einem Fahrzeug zu folgen, bestand darin, mit ausgeschalteten Scheinwerfern immer mindestens eine Kurve hinter den Bremslichtern des vorderen Autos zu bleiben.
Bosch kannte die Kurven sehr genau. Er hatte über fünfzehn Jahre im Woodrow Wilson gelebt und hätte die Strecke im Schlaf zurücklegen können – was er bei Gelegenheit auch schon getan hatte. Pratt zu folgen, einem Polizisten, der sich beschattet fühlte, war allerdings eine Sache für sich. Bosch versuchte, immer zwei Kurven Abstand zu halten. Das hieß, er verlor die Lichter von Pratts Jeep hin und wieder aus den Augen, aber nie sehr lang.
Als er zwei Kurven von seinem Haus entfernt war, ließ Bosch den Leihwagen ausrollen und kam vor der letzten Biegung zum Stehen. Er stieg aus, schloss leise die Tür und trabte die Kurve hinauf. Er hielt sich dicht an der Hecke, die Haus und Atelier eines berühmten Malers abschirmte, der in diesem Abschnitt wohnte. Er schlich so weit die Straße entlang, bis er Pratts Geländewagen sehen konnte, der zwei Häuser vor Boschs Haus am Straßenrand gehalten hatte. Inzwischen hatte Pratt die Lichter ausgemacht. Er schien nur im Auto zu sitzen und das Haus zu beobachten.
Bosch schaute zu seinem Haus. In den Fenstern von Küche und Esszimmer brannte Licht. Aus dem Carport ragte das Heck von Rachel Wallings Lexus. Sie war im Haus. Es baute ihn auf, dass sie da war und auf ihn wartete, aber zugleich beunruhigte ihn, was Pratt im Schild führte.
Allem Anschein nach tat er das Gleiche wie am Abend zuvor. Er observierte das Haus und versuchte möglicherweise herauszufinden, ob Bosch sich darin aufhielt.
Als Bosch von hinten ein Auto nahen hörte, drehte er sich um und schlenderte zu seinem Leihwagen, als machte er einen Abendspaziergang. Das Auto fuhr langsam an ihm vorbei, und kurz darauf kehrte Bosch wieder um und lief zur Hecke zurück. Als das Auto Pratts Jeep erreichte, fuhr Pratt nicht auf die Seite, um ihm Platz zu machen, sondern schaltete die Lichter ein und fuhr rasch davon.
Bosch drehte sich um und rannte zu seinem Leihwagen zurück. Er sprang hinein und fuhr los. Gleichzeitig drückte er die Wahlwiederholung des Miethandys, und wenig später klingelte es bei Rachel. Diesmal ging sie dran.
»Ja?«
»Rachel, hier Harry. Bist du in meinem Haus?«
»Ja, ich warte auf …«
»Komm nach draußen. Ich hole dich gleich ab. Schnell.«
»Harry, was …«
»Komm raus und nimm deine Waffe mit. Sofort.«
Er beendete das Gespräch und hielt vor seinem Haus. Um die nächste Kurve konnte er den roten Schein von Bremslichtern verschwinden sehen. Sie gehörten zu dem Auto, das Pratt verscheucht hatte. Pratt hatte bereits mehr Vorsprung.
Bosch schaute zu seiner Haustür und wollte schon auf die Hupe drücken, als Rachel nach draußen kam.
»Schließ die Tür«, schrie Bosch durch das offene Beifahrerfenster.
Rachel zog die Tür zu und rannte zum Wagen.
»Steig ein. Schnell!«
Sie sprang in das Auto, und Bosch fuhr los, bevor sie die Tür geschlossen hatte.
»Was ist los?«
Während er die Kurven zum Mulholland Drive hinaufjagte, schilderte er ihr kurz, was passiert war. Er erklärte ihr, dass sein Vorgesetzter, Abel Pratt, der Drahtzieher des Komplotts war und die Exkursion in den Beachwood Canyon eingefädelt hatte. Und er erzählte ihr, dass Pratt die letzten beiden Abende vor seinem, Boschs, Haus auf der Lauer gelegen hatte.
»Woher weißt du das alles?«
»Ich weiß es einfach. Beweisen werde ich es später. Vorerst ist es einfach so.«
»Was wollte er hier?«
»Keine Ahnung. Wahrscheinlich nachsehen, ob ich zu Hause bin.«
»Das Telefon hat geklingelt.«
»Wann?«
»Unmittelbar bevor du mich auf meinem Handy angerufen hast. Ich bin nicht drangegangen.«
»Das war wahrscheinlich er. Er führt irgendwas im Schilde.«
Sie bogen um die letzte Kurve, und vor ihnen erschien die Kreuzung mit dem Mulholland Drive. Bosch sah die Rücklichter eines großen Wagens nach rechts verschwinden. Ein weiteres Auto fuhr auf die Kreuzung zu. Es war das Auto, das Pratt zum Weiterfahren veranlasst hatte.
»Im ersten Wagen muss Pratt sein. Er ist rechts abgebogen.«
Bosch erreichte die Kreuzung und bog ebenfalls rechts ab. Der Mulholland Drive wand sich wie eine Schlange am Bergkamm entlang durch die Stadt. Aber die Kurven waren nicht so scharf wie die des Woodrow Wilson. Außerdem herrschte hier, auch nachts, mehr Verkehr. Er konnte Pratt folgen, ohne dass er Verdacht schöpfte.
Sie hatten das Auto, das abgebogen war, rasch eingeholt und stellten fest, dass es tatsächlich Pratts Commander war. Danach ließ Bosch sich wieder zurückfallen und folgte Pratt die nächsten zehn Minuten den Kamm entlang. Auf der Nordseite funkelten tief unter ihnen die Lichter des Valley. Es war eine klare Nacht, und sie konnten bis zu den dunklen Umrissen der Berge auf der anderen Seite des Lichtermeeres sehen. Sie blieben auch nach der Kreuzung mit dem Laurel Canyon Boulevard auf dem Mulholland Drive und fuhren weiter nach Westen.
»Ich habe bei dir zu Hause gewartet, um mich zu verabschieden«, sagte Rachel unvermittelt.
Nach kurzem Schweigen antwortete Bosch.
»Ich weiß. Das kann ich verstehen.«
»Ich glaube nicht, dass du das tust.«
»Dir hat nicht gefallen, wie ich heute Waits hinterher bin. Ich bin nicht der Mann, für den du mich gehalten hast. Das höre ich nicht zum ersten Mal, Rachel.«
»Das ist es nicht, Harry. Niemand ist der Mann, für den man ihn hält. Damit kann ich leben. Aber eine Frau muss sich bei einem Mann geborgen fühlen. Und zwar auch dann, wenn er nicht bei ihr ist. Aber wie kann ich mich bei dir geborgen fühlen, nachdem ich miterlebt habe, wie du arbeitest? Und es geht mir nicht darum, dass ich vielleicht eine andere Dienstauffassung habe. Ich rede hier nicht von Cop zu Cop. Was ich sagen will, ist, dass ich mich bei dir nie sicher fühlen könnte. Jeden Abend würde ich mich fragen, ob das der Abend ist, an dem du nicht mehr nach Hause kommst. Das würde ich einfach nicht packen.«
Bosch merkte, dass er zu schnell fuhr. Ihre Worte hatten ihn unwillkürlich fester aufs Gas steigen lassen. Er kam Pratt zu nahe. Er verlangsamte das Tempo wieder und ließ sich hundert Meter zurückfallen.
»Es ist nun mal ein gefährlicher Job«, sagte er. »Ich dachte, du wüsstest das besser als jeder andere.«
»Mag sein. Aber was ich heute in dieser Garage miterlebt habe, war Unbesonnenheit. Ich möchte mir nicht ständig um jemand Sorgen machen müssen, der unbesonnen ist. Es gibt auch so schon genügend, um sich Sorgen zu machen.«
Bosch atmete geräuschvoll aus. Er deutete auf die roten Rücklichter vor ihnen.
»Okay, lass uns später darüber reden. Vorerst konzentrieren wir uns auf das hier.«
Als wäre das sein Stichwort, bog Pratt scharf nach links in den Coldwater Canyon Drive und begann, nach Beverly Hills hinunterzufahren. Bosch wartete, so lange er sich leisten zu können glaubte, und bog dann ebenfalls ab.
»Trotzdem bin ich froh, dich dabeizuhaben«, sagte er.
»Warum?«
»Weil ich, wenn er nach Beverly Hills unterwegs ist, nicht die dortige Polizei verständigen muss, sondern jemand vom FBI dabeihabe.«
»Schön, dass ich mich nützlich machen kann.«
»Hast du deine Waffe dabei?«
»Immer. Du nicht?«
»Meine ist Teil des Tatorts. Keine Ahnung, wann ich sie zurückkriege. Das ist schon die zweite, die sie mir diese Woche wegnehmen. Müsste so was wie ein Rekord sein. Die meisten wegen unbesonnenen Umgangs verlorenen Dienstwaffen.«
Er schielte zu ihr hinüber, um zu sehen, ob er ihr ein Lächeln abgetrotzt hatte. Aber sie verzog keine Miene.
»Er biegt ab«, sagte sie.
Bosch richtete seine Aufmerksamkeit rasch wieder auf die Straße und sah den Jeep links blinken. Pratt bog ab, und Bosch fuhr geradeaus weiter. Rachel beugte sich vor, um aus dem Fenster das Straßenschild erkennen zu können.
»Gloaming Drive«, las sie ab. »Sind wir hier überhaupt noch in der Stadt?«
»Ja. Der Gloaming führt ziemlich weit in die Hügel rein, aber man kommt von dort nicht mehr weiter. Ich war hier schon mal.«
Die nächste Querstraße war die Stuart Lane. Bosch wendete an der Kreuzung und fuhr zum Gloaming Drive zurück.
»Weißt du, wohin er unterwegs sein könnte?«, fragte Rachel.
»Keine Ahnung. Vielleicht zu einer anderen Freundin.«
Der Gloaming Drive war eine weitere kurvenreiche Bergstraße. Aber hier hörten die Ähnlichkeiten mit dem Woodrow Wilson Drive auch schon auf. Die Häuser hier kosteten locker eine siebenstellige Summe, alle hatten tadellos gepflegte Hecken und Rasenflächen, und es gab nirgendwo ein Blatt, das nicht da war, wo es hingehörte. Bosch fuhr langsamer und hielt nach dem silberfarbenen Jeep Commander Ausschau.
»Da«, sagte Rachel.
Sie deutete aus dem Fenster auf einen Jeep, der in der Einfahrt einer Villa im französischen Landhausstil stand. Bosch fuhr daran vorbei und parkte zwei Häuser weiter. Sie stiegen aus und gingen zu Fuß zurück.
»West Coast Choppers?«
Als er am Steuer gesessen hatte, hatte sie nicht auf die Brust seines Shirts sehen können.
»Hat mir mal bei einem Fall als Tarnung gedient.«
»Schick.«
»Meine Tochter hat mich mal darin gesehen. Ich hab ihr erklärt, ich hätte es von meinem Zahnarzt.«
Das Tor zur Einfahrt war offen. Auf dem gusseisernen Briefkasten stand kein Name. Bosch öffnete ihn und schaute hinein. Sie hatten Glück. Es war Post drin, ein kleiner mit einem Gummi zusammengehaltener Packen. Bosch nahm ihn heraus und hielt den obersten Umschlag so, dass er ihn im Schein der nächsten Straßenlampe lesen konnte.
»›Maurice‹ – das ist Maury Swanns Haus«, sagte er.
»Nicht übel«, sagte Rachel. »Vielleicht hätte ich doch lieber Strafverteidigerin werden sollen.«
»Du hättest bestimmt ein gutes Händchen für Kriminelle gehabt.«
»Sehr witzig.«
Ihr Wortwechsel wurde von einer lauten Stimme unterbrochen. Sie drang hinter einer hohen Hecke hervor, die entlang der Einfahrt und der linken Seite des Hauses verlief.
»Rein da, habe ich gesagt!«
Es ertönte ein lautes Platschen, und Bosch und Walling gingen auf das Geräusch zu.
FÜNFUNDDREISSIG
Bosch suchte nach einer Öffnung in der Hecke, aber auf der Straßenseite schien es keine zu geben. Als sie näher kamen, machte er Rachel ein Zeichen, rechts entlangzugehen, während er sich nach links wandte. Er sah, dass sie ihre Waffe gezogen hatte.
Die Hecke war mindestens drei Meter hoch und so dicht, dass kein Licht vom Pool oder vom Haus hindurchdrang. Aber während Bosch dicht daran entlanglief, hörte er lautes Spritzen und zwei Männerstimmen. Eine davon gehörte Abel Pratt. Die Stimmen waren ganz nah.
»Bitte, ich kann nicht schwimmen. Ich kann hier nicht stehen!«
»Wozu haben Sie dann einen Swimmingpool? Strampeln Sie einfach schön weiter.«
»Bitte! Ich werde keinem Menschen … Warum sollte ich jemandem erzählen, was …«
»Sie sind Anwalt, und Anwälte finden immer irgendeinen Dreh.«
»Bitte.«
»Ich warne Sie. Sollte ich auch nur annäherungsweise den Eindruck gewinnen, dass Sie irgendwelche dummen Tricks versuchen, wird es nächstes Mal nicht beim Pool bleiben. Dann können Sie Ihre Schwimmversuche im Pazifik machen. Kapiert?«
Bosch kam zu einer betonierten Einbuchtung, in der die Filterpumpe und die Heizung des Pools standen. Außerdem gab es dort eine kleine Lücke in der Hecke, damit sich der für die Wartung des Pools zuständige Techniker hindurchzwängen konnte. Bosch schlüpfte durch die Öffnung und trat auf die geflieste Fläche hinaus, die den großen ovalen Pool umgab. Er kam fünf Meter hinter Pratt zu stehen, der am Beckenrand auf einen Mann im Wasser hinabsah. Pratt hielt eine lange blaue Stange mit einem Haken am Ende. Sie war eigentlich dafür gedacht, einen Nichtschwimmer an den Beckenrand zu ziehen, aber Pratt hielt sie so, dass der Mann im Pool sie nicht zu fassen bekam. Er versuchte immer wieder verzweifelt, danach zu greifen, aber Pratt zog sie jedes Mal weg.
Es war schwer, in dem Mann im Wasser Maury Swann zu erkennen. Die Beleuchtung war ausgeschaltet, und der Pool lag im Dunkeln. Swann trug keine Brille, und sein Haar war auf seinen Hinterkopf gerutscht. Auf seiner glänzenden Glatze pappte ein Stück Klebstreifen, das sein Toupet gehalten hatte.
Die Filteranlage des Pools war so laut, dass Bosch sich Pratt auf zwei Meter nähern konnte, ohne dass dieser ihn bemerkte. Erst dann sagte er:
»Was ist denn hier los, Chef?«
Pratt senkte die Stange, sodass Swann den Haken zu fassen bekam.
»Gut festhalten, Maury!«, rief Pratt. »Ich ziehe Sie raus.«
Swann klammerte sich am Ende der Stange fest, und Pratt zog ihn an den Beckenrand.
»So ist es gut, Maury«, sagte Pratt. »Nur keine Panik.«
»Die Lebensretternummer können Sie sich ruhig sparen«, sagte Bosch. »Ich habe alles gehört.«
Pratt hielt inne und sah auf Swann im Wasser hinab, der noch einen Meter vom Beckenrand entfernt war.
»Wenn das so ist«, sagte Pratt.
Er ließ die Stange los, und seine rechte Hand fuhr auf Gürtelhöhe blitzschnell an seinen Rücken.
»Halt!«
Das war Walling. Auch sie hatte eine Öffnung in der Hecke gefunden. Sie stand auf der anderen Seite des Pools und richtete ihre Waffe auf Pratt.
Pratt erstarrte mitten in der Bewegung und schien zu überlegen, ob er ziehen sollte oder nicht. Bosch stellte sich hinter ihn und riss ihm die Pistole aus dem Hosenbund.
»Harry!«, rief Rachel. »Ich übernehme ihn. Hilf du dem Anwalt.«
Swann ging unter. Die blaue Stange versank mit ihm. Bosch stürzte an den Beckenrand und packte sie. Er zog Swann an die Oberfläche. Der Anwalt begann zu husten und Wasser zu spucken. Er klammerte sich an der Stange fest, und Bosch zog ihn ans flache Ende. Rachel kam um den Pool herum und forderte Pratt auf, die Hände an den Hinterkopf zu legen.
Maury Swann war nackt. Er hielt eine Hand über seine geschrumpften Genitalien und versuchte mit der anderen das Toupet wieder nach vorn zu ziehen, als er die Treppe am flachen Ende hochstieg. Als das mit dem Toupet nicht klappte, riss er es ganz ab und schleuderte es mit einem lauten Klatschen auf die Fliesen. Er ging zu einem Haufen Kleidungsstücke, die neben einer Bank auf dem Boden lagen, und begann, sich anzuziehen, obwohl er noch klatschnass war.
»Was sollte das eben, Maury?«, fragte Bosch.
»Das geht Sie nichts an.«
Bosch nickte.
»So ist das also. Da kommt jemand an und schmeißt Sie in den Pool, um zuzusehen, wie Sie ersaufen, und es vielleicht so aussehen zu lassen, als wäre es Selbstmord oder ein Unfall gewesen, und Sie meinen, das geht niemanden etwas an.«
»Eine Meinungsverschiedenheit, mehr nicht. Er wollte mich einschüchtern, nicht ertränken.«
»Heißt das, Sie waren einer Meinung, bevor es zu dieser Meinungsverschiedenheit kam?«
»Das beantworte ich nicht.«
»Warum wollte er Sie einschüchtern?«
»Ich bin nicht verpflichtet, irgendeine Ihrer Fragen zu beantworten.«
»Dann sollten wir vielleicht wieder gehen und Sie Ihre Meinungsverschiedenheit zu Ende austragen lassen. Das wäre vielleicht das Beste.«
»Machen Sie, was Sie wollen.«
»Wissen Sie, was ich glaube? Ich glaube, dass nur noch eine Person eine Verbindung zwischen Detective Pratt und den Garlands herstellen kann, seit Ihr Mandant Raynard Waits tot ist. Ich glaube, Ihr Partner dort drüben wollte dieses Bindeglied loswerden, weil ihm der Boden zu heiß unter den Füßen wurde. Wenn wir nicht zufällig vorbeigekommen wären, lägen Sie jetzt auf dem Grund des Pools.«
»Sie können meinetwegen tun und denken, was Sie wollen. Aber ich sage Ihnen, wir hatten lediglich eine Meinungsverschiedenheit. Er kam zufällig vorbei, als ich gerade ein paar Bahnen geschwommen bin, und dann sind wir uns in die Haare geraten.«
»Ich dachte, Sie können gar nicht schwimmen, Maury. Haben Sie das nicht eben gesagt?«
»Ich rede nicht mehr mit Ihnen, Detective. Sie dürfen jetzt mein Grundstück verlassen.«
»Sofort, Maury. Aber erst ziehen Sie sich fertig an und kommen mit ans tiefe Ende.«
Bosch wandte sich von Swann ab, der seine nassen Beine in eine Seidenhose stieß, und ging ans andere Ende des Pools, wo Pratt inzwischen auf einer Betonbank saß und von Rachel Walling Handschellen angelegt bekam.
»Ich sage kein Wort, solange ich nicht mit einem Anwalt gesprochen habe«, knurrte er.
»Dort wäre schon einer«, sagte Bosch. »Er zieht sich gerade an. Vielleicht vertritt er sie ja.«
»Ich sage nichts, Bosch«, wiederholte Pratt.
»Sehr vernünftig«, rief Swann vom anderen Ende des Pools. »Regel Nummer eins: Nie mit der Polizei reden.«
Bosch hätte beinahe laut losgelacht. Er sah zu Rachel.
»Ist das noch zu fassen? Vor zwei Minuten hat er noch versucht, den Kerl zu ersäufen, und jetzt kriegt er von ihm kostenlosen rechtlichen Beistand.«
»Notwendigen rechtlichen Beistand«, sagte Swann.
Swann kam auf Bosch, Walling und Pratt zu. Bosch konnte die Kleider an seinem nassen Körper kleben sehen.
»Ich habe nicht versucht, ihn zu ertränken«, sagte Pratt. »Ich wollte ihm helfen. Mehr sage ich nicht.«
Bosch sah Swann an.
»Machen Sie Ihren Hosenlatz zu, Maury, und setzen Sie sich.«
Er deutete auf die Bank, auf der Pratt saß.
»Nein, ich glaube nicht, dass ich das tun werde«, entgegnete Swann.
Er machte einen Schritt auf das Haus zu, aber Bosch schnitt ihm den Weg ab. Er lotste ihn zur Bank zurück.
»Setzen Sie sich«, sagte er. »Sie sind verhaftet.«
»Weswegen?«, fragte Swann ungehalten.
»Wegen zweifachen Mordes. Sie sind beide verhaftet.«
Swann lachte, als hätte er es mit einem Kind zu tun. Jetzt, wo er seine Kleider wieder anhatte, kehrte etwas von seiner gewohnten Selbstsicherheit zurück.
»Und welche Morde sollen das sein?«
»Detective Fred Olivas und Deputy Derek Doolan.«
Mit einem unerschütterlichen Lächeln auf den Lippen schüttelte Swann den Kopf.
»Ich nehme mal an, Sie wollen hier auf Beihilfe zum Mord hinaus. Denn es gibt hinreichend Beweise dafür, dass wir die Kugeln, die Olivas und Doolan getötet haben, nicht selbst abgefeuert haben.«
»Es ist immer gut, es mit einem Anwalt zu tun zu haben. Es gibt nämlich nichts, was ich mehr hasse, als ständig jemandem die Gesetze erklären zu müssen.«
»Zu dumm, Detective Bosch, dass Sie derjenige sind, dem man die Gesetze erklären muss. Die Beihilfe-Regelung tritt nur dann in Kraft, wenn jemand während der gemeinschaftlichen Ausübung eines Schwerverbrechens getötet wird. Nur dann können auch Mitverschwörer an dem kriminellen Unterfangen wegen Mordes angeklagt werden.«
Bosch nickte.
»Das habe ich verstanden«, sagte er. »Und deshalb kommen Sie jetzt mit.«
»Wären Sie dann vielleicht so freundlich, mir zu sagen, was das maßgebliche Schwerverbrechen ist, an dessen Verübung ich konspirativ beteiligt war.«
Bosch überlegte kurz, bevor er antwortete.
»Wie wär’s mit Anstiftung zu Meineid und Strafvereitelung? Damit könnten wir anfangen und dann weitergehen zu Bestechung eines Staatsdieners, vielleicht auch Anstiftung und Beihilfe zur Flucht aus Polizeigewahrsam.«
»Womit Sie ebenfalls nicht weit kämen«, sagte Swann. »Ich habe lediglich meinen Mandanten vertreten. Weder habe ich eine dieser Straftaten begangen, noch haben Sie irgendwelche Beweise dafür. Wenn Sie mich festnehmen, beweisen Sie damit lediglich Ihre Inkompetenz und Unfähigkeit.«
Er stand auf.
»Einen schönen guten Abend allerseits.«
Bosch machte einen Schritt nach vorn und legte Swann die Hand auf die Schulter. Er drückte ihn auf die Bank zurück.
»Bleiben Sie gefälligst sitzen. Sie sind verhaftet. Mit der Frage, ob hier der Tatbestand eines Schwerverbrechens gegeben ist, sollen sich die Ankläger befassen. Mich interessiert das jedenfalls einen feuchten Dreck. Für mich zählt nur, dass Ihretwegen zwei Polizisten tot sind und meine Partnerin den Dienst quittiert, Maury. Und deshalb können Sie mich mal.«
Bosch sah zu Pratt hinüber, der mit einem Lächeln auf den Lippen dasaß.
»Es ist immer gut, einen Anwalt zu haben, Harry«, sagte er. »Ich finde, Maury hat nicht ganz unrecht. Vielleicht sollten Sie es sich noch mal gut überlegen, bevor Sie irgendetwas Unbedachtes tun.«
Bosch schüttelte den Kopf.
»Sie können sich da nicht mehr rauswinden«, sagte er. »Vollkommen ausgeschlossen.«
Er wartete kurz, aber Pratt sagte nichts.
»Sie sind derjenige, der alles geplant hat«, fuhr Bosch fort. »Diese ganze Geschichte oben im Beachwood Canyon war Ihre Idee. Sie haben die Abmachung mit den Garlands getroffen und sind dann damit zu Maury, und er hat es Waits schmackhaft gemacht. Sie haben das Mordbuch frisiert, nachdem Ihnen Waits einen seiner falschen Namen genannt hat, den Sie nachträglich eintragen konnten. Was eine Anklage wegen Mordes betrifft, mag Maury vielleicht recht haben, aber für eine Anklage wegen Strafvereitelung haben wir mehr als genug. Und wenn ich damit durchkomme, habe ich Sie am Kragen. Dann können Sie Ihre Karibikinsel und Ihre Pension vergessen, Chef. Dann können Sie einpacken.«
Pratt senkte den Blick auf das dunkle Wasser des Pools.
»Ich will die Garlands, und Sie können sie ans Messer liefern«, fuhr Bosch fort.
Ohne den Blick vom Wasser abzuwenden, schüttelte Pratt den Kopf.
»Na schön, ganz wie Sie wollen«, sagte Bosch. »Gehen wir.«
Er bedeutete Pratt und Swann, aufzustehen. Sie kamen der Aufforderung nach. Bosch drehte Swann herum, damit er ihm Handschellen anlegen konnte. Während er das tat, sah er über die Schulter des Anwalts auf Pratt.
»Wen werden Sie denn wegen der Kaution anrufen, nachdem wir Sie eingelocht haben? Ihre Frau oder die Kleine von Heuern und Feuern?«
Pratt setzte sich so abrupt auf die Bank zurück, als hätte er einen Magenschwinger bekommen. Diesen Trumpf hatte sich Bosch bis zum Schluss aufgespart. Er setzte unerbittlich nach.
»Welche von beiden sollte denn mit auf die Insel? Auf Ihre Zuckerrohrplantage? Ich nehme an die kleine – wie heißt sie gleich wieder?«
»Sie heißt Jessie Templeton. Und ich habe bemerkt, dass Sie mir heute Abend zu ihrer Wohnung gefolgt sind.«
»Ja, und ich habe bemerkt, dass Sie es bemerkt haben. Aber eins würde mich noch interessieren – wie viel weiß Jessie Templeton, und wird sie so gut dichthalten wie Sie, wenn ich mit ihr rede, nachdem ich Sie eingebuchtet habe?«
»Sie weiß absolut nichts, Bosch. Halten Sie sie aus allem raus. Halten Sie auch meine Frau und die Kinder raus.«
Bosch schüttelte den Kopf.
»Das geht leider nicht. Und das wissen Sie ganz genau. Wir werden alles auf den Kopf stellen und sehen, was dabei zum Vorschein kommt. Ich werde das Geld finden, das Ihnen die Garlands gezahlt haben, und ich werde die Verbindung herstellen zu Ihnen, zu Maury Swann und zu jedem, der noch daran beteiligt ist. Ich hoffe nur, Sie haben Ihre Freundin nicht dazu benutzt, es zu verstecken. Sollte das nämlich der Fall sein, ist sie auch dran.«
Pratt beugte sich auf der Bank nach vorn. Vermutlich hätte er in diesem Moment seine Hände, wären sie nicht auf seinen Rücken gefesselt gewesen, dazu benutzt, seinen Kopf zu stützen und sein Gesicht vor der Welt zu verbergen. Bosch hatte auf ihn eingedroschen wie ein Holzfäller mit der Axt auf einen Baum. Er hatte bereits zu wanken begonnen. Nur noch ein leichter Schubs, und er würde fallen.
Bosch führte Swann zu Rachel, die ihn am Arm packte. Dann wandte er sich wieder Pratt zu.
»Sie haben den falschen Hund gefüttert«, sagte Bosch.
»Was soll das jetzt heißen?«
»Jeder hat die Wahl, und Sie haben die falsche getroffen. Das Problem ist nur, dass wir nicht die Einzigen sind, die für unsere Fehler zahlen. Wir ziehen andere mit rein.«
Bosch ging an den Beckenrand und schaute ins Wasser hinab. Unter der schimmernden Oberfläche war es undurchdringlich dunkel. Er wartete, aber es dauerte nicht lang, bis der Baum fiel.
»Jessie braucht nicht in die Sache reingezogen zu werden, und meine Frau braucht nichts von ihr zu erfahren«, sagte Pratt.
Es war ein Eröffnungsgebot. Pratt würde reden. Bosch stieß mit der Fußspitze gegen den gefliesten Beckenrand und drehte sich wieder um.
»Ich bin zwar kein Staatsanwalt, aber ich bin sicher, irgendwas lässt sich da bestimmt machen.«
»Pratt, Sie begehen einen schweren Fehler!«, sagte Swann mit Nachdruck.
Bosch beugte sich zu Pratt hinab, tastete seine Taschen ab, bis er die Schlüssel für den Commander fand.
»Rachel, bring Mr. Swann zu Detective Pratts Auto. Damit lässt er sich besser abtransportieren. Wir kommen gleich nach.«
Er warf ihr die Schlüssel zu, und sie begann, Swann auf die Lücke in der Hecke zuzuführen, durch die sie gekommen war. Swann musste geschoben werden. Er schaute im Gehen über seine Schulter zurück.
»Reden Sie nicht mit diesem Mann, haben Sie gehört? Reden Sie mit niemand! Sie quatschen uns noch alle ins Gefängnis!«
Swann rief Pratt auch noch durch die Hecke juristische Ratschläge zu. Bosch wartete, bis sich die Autotür hinter ihm schloss und ihn endlich zum Schweigen brachte. Dann stellte er sich vor Pratt, aus dessen Haaransatz jetzt der Schweiß rann.
»Ich will nicht, dass Jessie oder meine Familie da reingezogen werden«, sagte Pratt. »Außerdem möchte ich einen Deal. Keine Haftstrafe, ich gehe ganz normal in Ruhestand und behalte meine Pension.«
»Für jemand, der am Tod von zwei Menschen beteiligt ist, verlangen Sie nicht gerade wenig.«
Bosch begann, vor Pratt auf und ab zu gehen, und dachte über eine Lösung nach, mit der sie beide leben könnten. Rachel kam durch die Hecke zurück. Bosch sah sie an und wollte sie gerade fragen, warum sie Swann unbeaufsichtigt zurückgelassen hatte.
Doch sie kam ihm zuvor. »Die Kindersicherung. Er kommt nicht aus dem Auto.«
Bosch nickte und wandte sich wieder Pratt zu.
»Wie gesagt, Sie fordern nicht gerade wenig. Was haben Sie dafür zu bieten?«
»Ich kann Ihnen die Garlands ans Messer liefern«, sagte er verzweifelt. »Anthony hat mich vor zwei Wochen nach da oben mitgenommen und mich zu der Leiche des Mädchens geführt. Und Maury Swann kann ich Ihnen auf einem silbernen Tablett servieren. Der Kerl hat ebenso viel Dreck am Stecken wie …«
Er sprach nicht zu Ende.
»Sie?«
Pratt senkte den Blick und nickte langsam.
Um klar über Pratts Angebot nachdenken zu können, versuchte Bosch, das alles beiseitezuschieben. Das Blut von Freddy Olivas und Deputy Doolan klebte an Pratts Händen. Bosch wusste nicht, ob er einem Ankläger den Deal schmackhaft machen könnte. Er wusste nicht einmal, ob er ihn sich selbst schmackhaft machen konnte. Aber im Augenblick war er bereit, es zumindest zu versuchen, wenn er dadurch endlich den Mann zu fassen bekam, der Marie Gesto auf dem Gewissen hatte.
»Versprechen kann ich Ihnen erst mal gar nichts«, sagte er. »Da müssen wir erst mit einem Staatsanwalt reden.«
Bosch kam zur letzten wichtigen Frage.
»Was ist mit O’Shea und Olivas?«
Pratt schüttelte den Kopf.
»Sie hatten nichts damit zu tun.«
»Garland hat mindestens fünfundzwanzigtausend Dollar für O’Sheas Wahlkampf gespendet. Das lässt sich belegen.«
»Das diente nur zu seiner Absicherung. Hätte O’Shea Verdacht geschöpft, hätte ihn T. Rex damit zurückpfeifen können, weil es nach Bestechung aussah.«
Bosch nickte. Brennende Scham stieg in ihm hoch wegen der Dinge, die er O’Shea unterstellt hatte.
»Das ist nicht der einzige Punkt, in dem Sie sich getäuscht haben«, sagte Pratt.
»Wo sonst noch?«
»Sie haben mir vorgehalten, ich wäre damit zu den Garlands gegangen. Bin ich aber nicht. Sie sind zu mir gekommen, Harry.«
Bosch schüttelte den Kopf. Er glaubte Pratt nicht, aus einem simplen Grund. Hätten die Garlands einen Polizisten schmieren wollen, hätten sie sich zuerst an die Wurzel ihres Problems gewandt – an Bosch. Dazu war es jedoch nie gekommen, was Bosch in der Überzeugung bestärkte, dass Pratt diesen sauberen Plan ausgeheckt hatte, um seine Pensionierung, eine mögliche Scheidung, eine Geliebte und die Geheimnisse, die sein Leben sonst noch bergen mochte, unter einen Hut zu bringen. Er war damit zu den Garlands gegangen. Und zu Maury Swann.
»Erzählen Sie das mal dem Ankläger«, sagte Bosch. »Vielleicht beißt er ja darauf an.«
Er sah Rachel an, und sie nickte.
»Rachel, du fährst den Jeep mit Swann. Ich nehme Detective Pratt in meinem Wagen mit. Ich möchte die beiden voneinander getrennt halten.«
»Das kann auf keinen Fall schaden.«
Bosch bedeutete Pratt, aufzustehen.
»Gehen wir.«
Pratt stand auf und sah Bosch direkt in die Augen.
»Sie müssen eines wissen, Harry.«
»Und das wäre?«
»Es war nicht vorgesehen, dass dabei jemand zu Schaden kommt. Es war ein perfekter Plan, aus dem niemand ein Nachteil erwachsen sollte. Es war Waits – er hat dort oben im Wald alles verbockt. Hätte er einfach seine Anweisungen befolgt, wären alle noch am Leben und glücklich und zufrieden. Sogar Sie. Sie hätten den Gesto-Fall gelöst. Ende der Geschichte. So hätte es eigentlich ausgehen sollen.«
Bosch konnte seinen Ärger nur mit Mühe unterdrücken.
»Wirklich ein schönes Märchen«, sagte er. »Bis auf den Teil, in dem die Prinzessin nicht mehr aufwacht und der wahre Mörder ungestraft davonkommt. Wenn Sie sich das oft genug erzählen, werden Sie eines Tages vielleicht sogar selbst daran glauben.«
Bosch packte Pratt grob am Arm und führte ihn zu der Öffnung in der Hecke.