TEIL DREI
HEILIGER BODEN
NEUNZEHN
Am nächsten Morgen machte Bosch gerade Kaffee für Rachel und sich, als das Telefon klingelte. Es war sein Chef, Abel Pratt.
»Harry, Sie brauchen heute nicht reinzukommen. Hab ich gerade erfahren.«
Das kam nicht wirklich überraschend für Bosch.
»Von wem?«
»Aus dem sechsten Stock. Die OIS ist noch nicht ganz fertig, und weil die Sache in den Medien für einiges Aufsehen sorgt, sollen Sie erst mal eine Auszeit nehmen, bevor die absehen können, wie es weitergeht.«
Bosch erwiderte nichts. Im sechsten Stock war die Polizeiführung untergebracht, ein Kollektiv von Commanders, das jedes Mal in einen Zustand totaler Lähmung verfiel, wenn ein Fall im Fernsehen oder in der Politik für Furore sorgte – was diesem sogar in beiden Bereichen gelungen war. Bosch war nicht überrascht über den Anruf, nur enttäuscht. Je mehr sich die Dinge änderten, desto mehr blieb alles beim Alten.
»Haben Sie gestern Abend die Nachrichten gesehen?«, fragte Pratt.
»Nein, ich schaue nie Nachrichten.«
»Dann sollten Sie das vielleicht mal tun. Irvin Irving macht sich wegen dieses Schlamassels plötzlich wieder furchtbar wichtig, und ganz speziell hat er sich dabei auf Sie eingeschossen. Hat gestern Abend in der South Side eine Rede gehalten, darüber, dass Ihre Wiedereinstellung ein schönes Beispiel für die Unfähigkeit des Polizeichefs und die Korrumpierbarkeit der Polizei wäre. Ich weiß nicht, was Sie dem Kerl getan haben, aber er muss Sie richtig ins Herz geschlossen haben, Harry. ›Korrumpierbarkeit‹, ziemlich schweres Geschütz, muss ich sagen.«
»Demnächst wird er mich noch für seine Hämorrhoiden verantwortlich machen. Suspendiert mich der sechste Stock seinetwegen oder wegen der OIS?«
»Glauben Sie ernsthaft, die würden mich in so was einweihen? Ich habe lediglich den Anruf gekriegt, dass ich den Anruf tätigen soll, den ich jetzt gerade mache.«
»Verstehe.«
»Betrachten Sie es doch einfach mal so: Nachdem Irving so heftig gegen Sie schießt, wird Sie der Chief auf keinen Fall fallen lassen. Das sähe ja sonst so aus, als hätte Irving mit seinen Anschuldigungen recht. Daher nehme ich mal an, dass sie einfach nach Vorschrift vorgehen und sich hundertprozentig absichern wollen, bis die Sache geklärt ist. Machen Sie sich also ein paar schöne Tage, und melden Sie sich ab und zu.«
»Okay, und was haben Sie über Kiz gehört?«
»Die brauchen sie wahrscheinlich nicht eigens zu beurlauben. Sie kann vorläufig ohnehin nichts anstellen.«
»Das habe ich nicht gemeint.«
»Ich weiß, was Sie meinen.«
»Und?«
Es war, als versuchte man, das Etikett von einer Bierflasche abzulösen. Es ging nie in einem Stück ab.
»Womöglich kriegt Kiz Ärger. Sie stand zusammen mit Olivas oben an der Leiter, als Waits die Waffe an sich brachte. Warum hat sie den Kerl nicht erledigt, obwohl sie Gelegenheit dazu hatte? Sieht ganz so aus, als hätte sie eine Blockade gehabt, Harry, und das heißt, die Sache könnte ziemlich unerfreulich für sie werden.«
Bosch nickte. Pratts politische Einschätzung der Situation erschien ihm absolut zutreffend. Und sie drückte seine Stimmung noch mehr. Im Moment musste Rider darum kämpfen, am Leben zu bleiben. Später würde sie darum kämpfen müssen, ihren Job zu behalten. Ihm war jetzt schon klar: Egal, in welche Richtung die Dinge sich entwickelten, er würde bis zum Schluss an ihrer Seite stehen.
»Okay«, sagte er. »Irgendwas Neues über Waits?«
»Nein, nichts. Spurlos verschwunden. Wahrscheinlich ist er längst irgendwo in Mexiko abgetaucht. Wenn der Kerl nicht auf den Kopf gefallen ist, wird er erst mal eine Weile von der Bildfläche verschwinden.«
Was das anging, war sich Bosch nicht so sicher, aber er behielt seine Zweifel für sich. Sein Instinkt sagte ihm, dass Waits zwar untergetaucht war, das schon, aber dass er sich nicht besonders weit abgesetzt hatte. Er musste an die U-Bahn-Station denken, in der Waits allem Anschein nach verschwunden war, und an die vielen Haltestellen zwischen Hollywood und Downtown. Er dachte an die Fabel von Reynard dem Fuchs und seiner versteckten Burg.
»Ich muss jetzt Schluss machen, Harry«, sagte Pratt. »Sonst so weit alles klar?«
»Ja, sicher, alles klar. Danke für die Informationen, Chef.«
»Versteht sich von selbst. Offiziell sollten Sie sich jeden Tag bei mir melden, bis wir mitgeteilt bekommen, dass Sie wieder im Dienst sind.«
»Mache ich.«
Bosch hängte auf. Ein paar Minuten später, als Rachel in die Küche kam, goss er Kaffee in einen Warmhaltebecher, der zu dem Lexus gehörte, den sie nach ihrer Versetzung nach L. A. geleast hatte. Sie hatte den Becher am Abend zuvor mitgebracht.
Sie war angezogen und bereit, zum Dienst zu fahren.
»Ich habe nichts zum Frühstück hier«, sagte Bosch. »Wenn du noch so viel Zeit hast, könnten wir ins Du-par’s runterfahren?«
»Nein, das macht nichts. Ich muss los.«
Sie riss ein rosa Tütchen mit Süßstoff auf und leerte den Inhalt in ihren Kaffee. Dann nahm sie einen Karton Milch aus dem Kühlschrank, den sie ebenfalls am Abend zuvor mitgebracht hatte. Sie gab etwas davon in ihren Kaffee und drückte den Deckel auf den Becher.
»Was war das gerade für ein Anruf?«, fragte sie.
»Mein Chef. Ich bin vorläufig beurlaubt.«
»Du Armer …«
Sie kam zu ihm und umarmte ihn.
»An sich eine reine Routinemaßnahme. Wegen der Medien und der politischen Auswirkungen des Falls können sie eigentlich gar nicht anders, bis die OIS ein Fehlverhalten meinerseits endgültig ausgeschlossen hat.«
»Und wie geht es dir damit?«
»Ganz okay.«
»Was wirst du jetzt tun?«
»Keine Ahnung. Das heißt ja nicht, dass ich die ganze Zeit zu Hause bleiben muss. Deshalb werde ich erst mal ins Krankenhaus fahren und sehen, ob sie mich für eine Weile zu meiner Partnerin lassen. Und danach wird sich schon was ergeben, schätze ich.«
»Sollen wir zusammen zu Mittag essen?«
»Gern. Gute Idee.«
Sie hatten schnell eine wohltuende Selbstverständlichkeit im Umgang miteinander gefunden, die Bosch gefiel. Es war fast, als müssten sie gar nicht reden.
»Mach dir um mich keine Gedanken«, sagte er. »Fahr du ruhig zum Dienst, und ich werde dann gegen Mittag bei dir vorbeikommen. Ich rufe vorher kurz an.«
»Gut, dann bis später.«
Sie küsste ihn auf die Wange, bevor sie durch die Küchentür zum Carport ging. Er hatte ihr gesagt, sie solle an den Tagen, an denen sie zu ihm kam, das Auto in den Carport stellen.
Bosch trank auf der Terrasse eine Tasse Kaffee und blickte über den Cahuenga Pass hinweg auf die Stadt hinab. Der Himmel war von dem Regen zwei Tage zuvor immer noch klar. Es würde ein weiterer wunderschöner Tag im Paradies. Er beschloss, allein zum Du-par’s zu fahren und dort zu frühstücken und anschließend Kiz im Krankenhaus zu besuchen. Unterwegs konnte er sich ein paar Zeitungen besorgen, sehen, was sie über die Ereignisse vom Vortag schrieben, und sie dann Kiz mitbringen, ihr vielleicht daraus vorlesen, wenn sie das wollte.
Er ging ins Haus zurück und beschloss, in Anzug und Krawatte zu bleiben, weil er bereits fertig angezogen gewesen war, als er Pratts Anruf erhalten hatte. Beurlaubung hin oder her, er würde auftreten und aussehen wie ein Detective. Er ging in den begehbaren Kleiderschrank im Schlafzimmer und nahm vom obersten Bord die Schachtel mit der Akte, die er sich vier Jahre zuvor bei seinem Ausscheiden aus dem Polizeidienst kopiert hatte. Er suchte die Kopie von Marie Gestos Mordbuch heraus. Da die Ermittlungen zurzeit Jackson und Marcia übertragen waren, hatten sie das Original. Er beschloss, die Kopie mitzunehmen, falls er etwas zu lesen brauchte, während er Rider besuchte, oder wenn Jackson oder Marcia mit irgendwelchen Fragen anriefen.
Er fuhr den Hügel hinunter und nahm dann den Ventura Boulevard in Richtung Westen zum Du-par’s in Studio City. Er kaufte sich eine Los Angeles Times und eine Daily News von den Gestellen vor dem Restaurant, dann ging er nach drinnen und bestellte an der Theke einen French Toast und Kaffee.
Beide Zeitungen berichteten auf der ersten Seite von den Ereignissen im Beachwood Canyon, und beide brachten Fotos von Raynard Waits, die nach seiner Festnahme gemacht worden waren. In den dazugehörigen Artikeln ging es um die Fahndung nach dem verrückten Mörder und die Bildung einer LAPD-Sondereinheit. Außerdem war eine gebührenfreie Nummer angegeben, unter der Hinweise aus der Bevölkerung zum Fall Waits entgegengenommen wurden. Diesen Aspekt erachteten die Redakteure der zwei Zeitungen anscheinend für wichtiger und verkaufsfördernder als die Ermordung zweier Polizisten und die schwere Verwundung eines dritten.
Die Artikel enthielten vorwiegend Informationen, die bei den zahlreichen Pressekonferenzen am Tag zuvor bekannt gegeben worden waren, aber sehr wenig Einzelheiten über das, was oben im Beachwood Canyon tatsächlich passiert war. Unter anderem hieß es auch, die Ermittlungen seien noch in vollem Gange und die verantwortlichen Stellen rückten nur sehr widerwillig Informationen heraus. Die Lebensläufe von Deputy Doolan und den in die Schießerei verwickelten Polizisten waren bestenfalls rudimentär. Beide von Waits erschossene Männer waren Familienväter gewesen. Der verwundete weibliche Detective, Kizmin Rider, hatte sich vor Kurzem von einer »Lebenspartnerin« getrennt – ein kaum verhohlener Hinweis darauf, dass sie lesbisch war. Bosch kannte die Namen der für die Artikel verantwortlich zeichnenden Reporter nicht und nahm an, dass sie neu in der Redaktion waren und über keinerlei Quellen mit Insiderwissen verfügten.
Auf der zweiten Seite beider Zeitungen fand er Artikel, die sich mit der Frage der politischen Verantwortung für die tödlichen Schüsse und die Flucht des Serienmörders befassten. Beide Blätter zitierten eine Vielzahl lokaler politischer Größen, die sich größtenteils dahingehend äußerten, es sei noch zu früh, um schon sagen zu können, ob sich der Beachwood-Zwischenfall positiv oder negativ auf Rick O’Sheas Kandidatur für das Amt des Bezirksstaatsanwalts auswirken würde. Obwohl es sein Fall war, bei dem so viel schiefgegangen war, konnte man die Hinweise auf seinen selbstlosen Einsatz bei der Rettung der schwer verletzten Polizistin, während sich der bewaffnete Mörder in unmittelbarer Nähe auf freiem Fuß befand, als positives Gegengewicht ansehen.
Dazu der Kommentar eines Experten: »Mit der Politik verhält es sich in dieser Stadt wie mit der Filmindustrie: Niemand kann im Vorhinein etwas sagen. Es könnte das Beste sein, was O’Shea passieren konnte. Es könnte das Schlimmste sein.«
Natürlich wurde O’Sheas Gegenkandidat Gabriel Williams in beiden Zeitungen ausgiebig zitiert. Er bezeichnete den Zwischenfall als unverzeihlich und suchte die Schuld ausschließlich bei O’Shea. Bosch dachte an die verschwundene Videokassette und fragte sich, wie viel sie dem Williams-Lager wert wäre. Vielleicht, dachte er, hatte das Corvin, der Kameramann, bereits herausgefunden.
In beiden Blättern kam Irvin Irving ausgiebig zu Wort, und er nutzte diese Gelegenheit, um kräftig auszuteilen, insbesondere gegen Bosch, den er als den Inbegriff all dessen hinstellte, was bei der Polizei im Argen lag und was er, Irving, als Stadtrat ändern würde. Er erklärte, Bosch hätte im Jahr zuvor nicht wieder in den Polizeidienst übernommen werden dürfen und er, Irving, damals noch Deputy Chief, habe sich mit allem Nachdruck dagegen ausgesprochen. Beide Zeitungen schrieben, die OIS-Einheit des LAPD ermittle gegen Bosch, der für einen Kommentar nicht erreichbar sei. Keine befand es jedoch für nötig, in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass die OIS grundsätzlich bei jeder Schießerei ermittelte, in die ein Polizeiangehöriger verwickelt war. Dadurch wurde der Eindruck erweckt, dass das, was der Öffentlichkeit hier mitgeteilt wurde, ungewöhnlich und daher per se suspekt war.
Bosch stellte fest, dass der Begleitartikel in der Times von Keisha Russell stammte, die mehrere Jahre Polizeireporterin gewesen war, bevor ihr Burnout solche Ausmaße annahm, dass sie sich für ein neues Ressort bewarb. Darauf landete sie in der Politikredaktion, die unter anderem für ihre hohe Burnout-Rate bekannt war. Sie hatte am Abend zuvor bei Bosch angerufen und ihm eine Nachricht hinterlassen, aber ihm war nicht danach gewesen, mit einem Journalisten zu sprechen, auch nicht mit einem, dem er traute.
Er hatte ihre Nummern immer noch in seinem Handy gespeichert. Als sie noch Polizeireporterin war, hatte er ihr bei mehreren Fällen als Quelle gedient, und als Gegenleistung hatte auch sie ihm mehrere Male geholfen. Er legte die Zeitungen beiseite und machte sich über seinen French Toast her. Auf seinem Frühstück waren sowohl Puderzucker als auch Ahornsirup, und er wusste, das Zucker-High würde ihm helfen, den Tag anzupacken.
Als er sein Frühstück etwa zur Hälfte gegessen hatte, holte er sein Handy heraus und rief die Reporterin an. Sie ging sofort dran.
»Keisha«, sagte er. »Hier Harry Bosch.«
»Harry Bosch«, sagte sie. »Lange nichts mehr voneinander gehört.«
»Na ja, wo Sie jetzt im Ressort Politik eine ganz große Nummer sind …«
»Ah, aber hier haben wir es doch mit einem ziemlich heftigen Crash zwischen Politik und Polizei zu tun, oder nicht? Wieso haben Sie gestern nicht zurückgerufen?«
»Weil Sie genau wissen, dass ich mich nicht zu einem laufenden Ermittlungsverfahren äußern darf, insbesondere wenn ich selbst Gegenstand dieser Ermittlungen bin. Außerdem haben Sie angerufen, nachdem mein Akku leer war. Ich habe Ihre Nachricht erst erhalten, als ich nach Hause kam, und das war wahrscheinlich nach Ihrer Abgabefrist.«
»Wie geht es Ihrer Partnerin?« Nach dem einleitenden Gefrotzel schlug sie jetzt einen ernsteren Ton an.
»Sie scheint durchzukommen.«
»Und Sie sind ungeschoren davongekommen?«
»In körperlicher Hinsicht, ja.«
»Aber nicht in politischer.«
»Das ist richtig.«
»Also, der Artikel steht bereits in der Zeitung. Jetzt anzurufen, um einen Kommentar abzugeben und sich zu rechtfertigen, bringt wohl nicht mehr viel.«
»Ich rufe nicht an, um irgendeinen Kommentar abzugeben oder mich zu rechtfertigen. Ich sehe meinen Namen nicht gern in der Zeitung.«
»Ach, jetzt verstehe ich. Sie wollen mir inoffiziell etwas stecken und in dieser Sache mein Deep Throat werden.«
»Nicht ganz.«
Er hörte, wie sie frustriert den Atem entweichen ließ.
»Warum rufen Sie dann an, Harry?«
»Erstens freue ich mich immer, Ihre Stimme zu hören, Keisha. Das wissen Sie. Und zweitens haben Sie in der Politikredaktion wahrscheinlich einen heißen Draht zu allen Kandidaten. Sie wissen schon, damit Sie von ihnen umgehend einen Kommentar zu jedem Thema einholen können, das im Laufe eines Tages aktuell wird. Habe ich recht? Genau wie gestern?«
Sie ließ sich Zeit mit ihrer Antwort und versuchte auszuloten, wohin das führen würde.
»Ja, es ist allgemein bekannt, dass wir bestimmte Leute umgehend erreichen können, wenn sich das als nötig erweist. Mit Ausnahme bestimmter störrischer Detectives. Die können manchmal ganz schön nerven.«
Bosch grinste.
»Wahr gesprochen«, sagte er.
»Womit wir beim Grund Ihres Anrufs wären.«
»Richtig. Ich will die Nummer haben, die mich direkt zu Irvin Irving bringt.«
Diesmal war die Pause länger.
»Harry, ich darf Ihnen die Nummer nicht geben. Sie wurde mir anvertraut, und wenn er erfährt, dass ich sie Ihnen …«
»Ach, kommen Sie. Sie wurde Ihnen und jedem anderen Journalisten anvertraut, der über den Wahlkampf berichtet, und das wissen Sie ganz genau. Er würde nie erfahren, wer sie mir gegeben hat, außer ich sage es ihm, und das werde ich nicht tun. Sie wissen, Sie können sich auf mich verlassen.«
»Trotzdem, mir ist einfach nicht wohl dabei, die Nummer ohne seine Erlaubnis weiterzugeben. Wenn Sie möchten, dass ich ihn anrufe und frage, ob ich …«
»Er wird sicher nicht mit mir sprechen wollen, Keisha. Darum geht es doch. Wenn er mit mir sprechen wollte, könnte ich ihm in seiner Wahlkampfzentrale eine Nachricht hinterlassen – die übrigens wo ist?«
»In der Broxton in Westwood. Trotzdem habe ich kein gutes Gefühl dabei, Ihnen die Nummer zu geben.«
Bosch griff rasch nach der Daily News, die so gefaltet war, dass die Seite mit dem Artikel über die politischen Auswirkungen zu sehen war. Er warf einen kurzen Blick auf die Zeile mit dem Namen des Verfassers.
»Na schön, vielleicht haben ja Sarah Weinman oder Duane Swierczynski ein besseres Gefühl dabei, sie mir zu geben. Vielleicht haben sie auch nichts dagegen, wenn ihnen jemand einen Gefallen schuldig ist, der unmittelbar in die Sache verwickelt ist.«
»Also gut, Bosch, meinetwegen, Sie brauchen nicht zu ihnen zu rennen, okay? Das hätte ich Ihnen wirklich nicht zugetraut.«
»Ich will mit Irving reden.«
»Also schön, aber Sie sagen nicht, woher Sie die Nummer haben.«
»Selbstverständlich nicht.«
Sie gab ihm die Nummer durch, und er prägte sie sich ein. Er versprach ihr, sie anzurufen, wenn es in Zusammenhang mit den Vorfällen im Beachwood Canyon etwas Neues gab, das für sie von Interesse war.
»Es braucht übrigens nichts Politisches zu sein«, sagte sie mit Nachdruck. »Einfach alles, was mit dem Fall zu tun hat, ja? Ich kann nach wie vor auch noch eine Polizeimeldung schreiben, wenn ich die Erste bin, die sie kriegt.«
»Alles klar, Keisha. Danke.«
Er klappte das Handy zu und legte Geld für die Rechnung sowie Trinkgeld auf die Theke. Als er das Lokal verließ, klappte er das Handy wieder auf und tippte die Nummer ein, die ihm die Journalistin gerade gegeben hatte. Nach dem sechsten Läuten ging Irving dran, ohne seinen Namen zu nennen.
»Spreche ich mit Irvin Irving?«
»Ja, wer ist da?«
»Ich wollte Ihnen nur danken, dass Sie alles bestätigt haben, was ich immer schon von Ihnen dachte. Sie sind nichts weiter als ein intriganter Opportunist. Das waren Sie, als Sie noch bei der Polizei waren, und sind es immer noch.«
»Sind Sie das, Bosch? Sind Sie Harry Bosch? Von wem haben Sie diese Nummer?«
»Von einem Ihrer eigenen Leute. Wahrscheinlich gefällt jemandem in Ihrem eigenen Lager die Botschaft nicht, die Sie unter die Leute bringen.«
»Das muss nun wirklich nicht Ihre Sorge sein, Bosch. Seien Sie da wirklich vollkommen unbesorgt. Wenn ich im Amt bin, können Sie schon mal anfangen, die Tage zu zählen, die Sie …«
Botschaft übermittelt. Bosch klappte das Handy zu. Es war ein gutes Gefühl, das gesagt zu haben, ohne sich Sorgen darüber machen zu müssen, dass Irving ein Vorgesetzter war, der mit Konsequenzen drohen konnte.
Zufrieden mit seiner Reaktion auf die Zeitungsmeldungen, stieg Bosch in sein Auto und fuhr zum Krankenhaus.
ZWANZIG
Auf dem Flur der Intensivstation kam Bosch eine Frau entgegen, die gerade Kiz Riders Zimmer verlassen hatte. Es war Riders ehemalige Lebenspartnerin. Er hatte sie ein paar Jahre zuvor kurz kennengelernt, als er ihr mit Rider zufällig beim Playboy Jazz Festival in der Hollywood Bowl begegnet war.
Er nickte der Frau zu, als sie an ihm vorbeiging, aber sie blieb nicht stehen, um ein paar Worte mit ihm zu wechseln. Er klopfte einmal an Riders Tür und ging hinein. Seine Partnerin sah wesentlich besser aus als am Tag zuvor, war aber noch nicht annähernd wiederhergestellt. Sie war bei Bewusstsein, als Bosch das Zimmer betrat, und folgte ihm mit dem Blick, als er an ihr Bett kam. In ihrem Mund steckte kein Schlauch mehr, aber ihre rechte Gesichtshälfte hing schlaff nach unten, sodass Bosch sofort dachte, sie könnte während der Nacht einen Schlaganfall erlitten haben.
»Keine Sorge«, sagte sie langsam und mit undeutlicher Stimme. »Sie haben meinen Hals betäubt, und das wirkt sich auch auf die eine Gesichtshälfte aus.«
Er drückte ihre Hand.
»Verstehe. Und wie geht es dir sonst?«
»Nicht so besonders. Es tut weh, Harry. Richtig weh.«
Er nickte.
»Mhm.«
»Am Nachmittag werde ich an der Hand operiert. Das wird auch noch mal schmerzhaft.«
»Aber danach geht es nur noch aufwärts. Dann werden sie dich in der Reha wieder aufpäppeln.«
»Hoffentlich.«
Sie hörte sich niedergeschlagen an, und Bosch wusste nicht, was er sagen sollte. Vierzehn Jahre zuvor, als er etwa in ihrem Alter war, war Bosch ebenfalls im Krankenhaus wieder zu sich gekommen, nachdem er eine Kugel in die linke Schulter bekommen hatte. Er konnte sich noch gut an die höllischen Schmerzen erinnern, die jedes Mal einsetzten, wenn die Wirkung des Morphiums nachzulassen begann.
»Ich habe dir ein paar Zeitungen mitgebracht«, sagte er. »Soll ich sie dir vorlesen?«
»Ja. Steht aber wahrscheinlich nichts Gutes drin.«
»Nein, nichts Gutes.«
Er hielt die Times hoch, damit sie das Verbrecherfoto von Waits sehen konnte. Dann las er ihr die beiden Artikel vor. Als er fertig war, sah er sie an. Sie machte ein bekümmertes Gesicht.
»Alles klar?«
»Du hättest ihm folgen sollen, Harry, statt dich um mich zu kümmern.«
»Red doch keinen Quatsch.«
»Doch, du hättest ihn vielleicht erwischt, dort oben im Wald. Stattdessen hast du mir das Leben gerettet. Und jetzt schau, in was du dich reingeritten hast.«
»Das ist nun mal so, Kiz. Ich hatte dort oben nur einen Gedanken – dich auf schnellstem Weg ins Krankenhaus zu schaffen. Ich habe ein verdammt schlechtes Gewissen wegen der ganzen Sache.«
»Weswegen solltest du ein schlechtes Gewissen haben?«
»Da gibt es einiges. Als ich letztes Jahr in den Polizeidienst zurückgekehrt bin, habe ich dich breitgeschlagen, deine Stelle im Büro des Chief aufzugeben und wieder mit mir zusammenzuarbeiten. Du wärst gestern nicht dabei gewesen, wenn ich …«
»Bitte, lass den Scheiß! Halt einfach die Klappe!«
Er konnte sich nicht erinnern, dass sie jemals zuvor solche Ausdrücke gebraucht hatte. Er tat, wozu sie ihn aufforderte.
»Sei bitte still«, sagte sie noch einmal. »Davon will ich nichts mehr hören. Was hast du mir sonst noch mitgebracht?«
Bosch hielt die Kopie des Gesto-Mordbuchs hoch.
»Oh, nichts. Nur das hier. Um was zu lesen zu haben, falls du geschlafen hättest. Es ist die Kopie der Gesto-Akte, die ich kurz vor meiner ersten Pensionierung gemacht habe.«
»Und was willst du damit?«
»Wie gesagt, ich wollte sie noch mal durchlesen. Ich werde das Gefühl nicht los, dass wir irgendetwas übersehen haben.«
»Wir?«
»Ich. Dass ich etwas übersehen habe. In letzter Zeit habe ich ziemlich oft eine Aufnahme eines Konzerts von Coltrane und Monk in der Carnegie Hall gehört. Das Band lag die ganze Zeit im Carnegie-Archiv rum, fast fünfzig Jahre lang, bis es jemand entdeckte. Die Sache ist die, der Typ, der es entdeckt hat, muss ihre Art zu spielen sehr genau gekannt haben, um zu merken, was für ein Schatz in dieser Schachtel im Archiv war.«
»Und was soll das mit der Akte hier zu tun haben?«
Bosch grinste. Da lag sie mit zwei Schusswunden auf der Intensivstation und putzte ihn runter wie in ihren besten Zeiten.
»Keine Ahnung. Ich werde nur das Gefühl nicht los, dass sich in der Akte irgendetwas verbirgt, und dass ich der Einzige bin, der es finden kann.«
»Na dann viel Glück. Bleib doch einfach hier sitzen, und lies deine Akte. Ich schlaf jetzt erst mal ein Weilchen.«
»Okay, Kiz. Ich bin ganz still.«
Er zog sich von der Wand einen Stuhl ans Bett. Als er sich setzte, begann sie noch einmal zu sprechen.
»Ich komme nicht zurück, Harry.«
Er sah sie an. Das war nicht, was er hören wollte, aber er hatte nicht vor, ihr zu widersprechen. Zumindest im Moment nicht.
»Ganz wie du meinst, Kiz.«
»Sheila, meine Verflossene, hat mich gerade besucht. Sie hat es in den Nachrichten gesehen und ist daraufhin hergekommen. Sie sagt, sie kümmert sich um mich, bis es mir wieder bessergeht. Aber sie will nicht, dass ich zur Polizei zurückkehre.«
Das erklärte, warum sie draußen auf dem Gang nicht mit Bosch hatte sprechen wollen.
»Das war bei uns schon immer ein Streitpunkt, weißt du?«
»Du hast es mir mal erzählt. Aber lass uns jetzt nicht darüber reden.«
»Es geht nicht nur um Sheila. Es betrifft vor allem auch mich selbst. Ich habe bei der Polizei nichts verloren. Das habe ich gestern bewiesen.«
»Red doch keinen Unsinn. Du bist einer der besten Cops, die ich kenne.«
Er sah eine Träne ihre Wange hinunterfließen.
»Ich war plötzlich wie gelähmt, Harry. Ich war nicht in der Lage, irgendetwas zu tun, und habe mich einfach von ihm niederschießen lassen.«
»So darfst du das nicht betrachten, Kiz.«
»Diese Männer mussten meinetwegen sterben. Ich war wie gelähmt, als er Olivas angriff. Ich habe nur zugesehen. Ich hätte ihn niederschießen sollen, aber ich stand bloß da. Ich stand einfach da und ließ mich als Nächste von ihm abknallen. Statt meine Waffe zu heben, hob ich meine Hand.«
»Nein, Kiz. Du hast nur ungünstig gestanden. Möglicherweise hättest du Olivas getroffen, wenn du einen Schuss abgegeben hättest. Und dann war es bereits zu spät.«
Er hoffte, sie verstand seinen Wink, wie sie die Sache den OIS-Leuten gegenüber am besten schildern sollte.
»Nein, dafür muss ich geradestehen. Ich …«
»Kiz, wenn du aufhören willst, kein Problem. Wenn du das wirklich willst, stehe ich voll hinter dir. Aber was diesen anderen Quatsch angeht, stehe ich nicht hinter dir. Hast du verstanden?«
Sie versuchte, das Gesicht von ihm abzuwenden, aber wegen des Verbands um ihren Hals konnte sie den Kopf nicht drehen.
»Okay«, sagte sie.
Mehr Tränen liefen über ihr Gesicht, und Bosch wusste, sie hatte Wunden davongetragen, die wesentlich tiefer waren als die an ihrem Hals und an ihrer Hand.
»Du hättest da oben sein sollen«, fuhr sie nach einer Weile fort.
»Wie meinst du das?«
»Oben an der Leiter. Hättest du dort gestanden und nicht ich, wäre das alles nicht passiert. Du hättest nicht gezögert, Harry. Du hättest ihn einfach über den Haufen geknallt.«
Bosch schüttelte den Kopf.
»Niemand kann vorher sagen, wie er in einer bestimmten Situation reagiert.«
»Ich war wie erstarrt.«
»Jetzt versuch lieber mal, ein bisschen zu schlafen, Kiz. Sieh zu, dass du wieder auf die Beine kommst, und dann kannst du dir immer noch überlegen, was du tun willst. Wenn du nicht zurückkommst, kann ich das verstehen. Aber du kannst immer auf mich zählen, Kiz. Egal, was passiert und welche Richtung du einschlägst.«
Sie wischte mit der linken Hand über ihr Gesicht.
»Danke, Harry.«
Sie schloss die Augen, und er konnte sehen, wie sie sich endlich entspannte. Sie murmelte etwas, was er nicht verstand, und dann war sie eingeschlafen. Bosch betrachtete sie eine Weile und überlegte, wie es wäre, sie nicht mehr als Partner zu haben. Sie hatten gut zusammengearbeitet und waren sich auch menschlich nahegekommen. Das würde ihm fehlen.
Er wollte im Moment nicht an die Zukunft denken. Er schlug das Mordbuch auf und beschloss, lieber in der Vergangenheit zu stöbern. Er begann auf Seite eins, mit der ersten Strafanzeige.
Ein paar Minuten später hatte er sie durch und wollte sich gerade die Zeugenaussagen vornehmen, als das Handy in seiner Tasche zu vibrieren begann. Er verließ das Zimmer, um den Anruf auf dem Flur entgegenzunehmen. Es war Lieutenant Randolph von der Officer-Involved-Shooting-Einheit.
»Tut mir leid, dass wir hier so lange brauchen und Sie fürs Erste auf die Reservebank schicken«, sagte er.
»Schon gut. Ich weiß ja, warum.«
»Ja, der Druck ist enorm.«
»Was kann ich für Sie tun, Lieutenant?«
»Ich wollte fragen, ob Sie vielleicht ins Parker Center kommen und sich das Video ansehen könnten, das wir hier haben.«
»Sie haben die Kassette von O’Sheas Kameramann?«
Einen Moment herrschte Schweigen, bevor Randolph antwortete.
»Wir haben eine Kassette von ihm, ja. Ich bin nicht sicher, ob es die vollständige Aufnahme ist, und deswegen hätte ich gern, dass Sie sie sich mal ansehen. Damit Sie uns vielleicht sagen können, wo etwas fehlt. Könnten Sie kurz vorbeikommen?«
»In fünfundvierzig Minuten bin ich bei Ihnen.«
»Gut. Ich warte so lange. Wie geht’s Ihrer Partnerin?«
Bosch fragte sich, ob Randolph wusste, wo er war.
»Sieht so aus, als käme sie durch. Ich bin gerade im Krankenhaus, aber sie ist noch nicht richtig bei Bewusstsein.«
Er hoffte, Riders Vernehmung durch die OIS so lang wie möglich hinauszögern zu können. In ein paar Tagen, wenn sie keine Schmerzmittel mehr bekam und wieder bei klarem Verstand war, würde sie sich vielleicht noch mal überlegen, ob sie zugeben wollte, dass sie handlungsunfähig gewesen war, als Waits Olivas seine Dienstwaffe entriss.
»Wir warten, bis die Ärzte sie für vernehmungsfähig erklären«, sagte Randolph.
»In ein paar Tagen, würde ich sagen.«
»Wahrscheinlich. Also bis gleich. Und danke, dass Sie herkommen.«
Bosch steckte das Handy ein und kehrte in das Zimmer zurück. Er nahm das Mordbuch von dem Stuhl, auf dem er es hatte liegen lassen, und sah nach seiner Partnerin. Sie schlief. Leise verließ er das Zimmer.
Auf der Fahrt in die Stadt kam er zügig voran und rief unterwegs Rachel an, um ihr mitzuteilen, die Aussichten auf ein gemeinsames Mittagessen stünden gut, weil er bereits in der City wäre. Sie einigten sich darauf, richtig gut essen zu gehen, und Rachel sagte, sie werde für Mittag einen Tisch im Water Grill reservieren. Er sagte, er würde sich dort mit ihr treffen.
Die Büros der OIS lagen im dritten Stock des Parker Center. Randolph hatte ein eigenes Büro mitsamt einem Rack für Fernseher und Videorecorder. Er saß an seinem Schreibtisch, während Osani mit dem Abspielgerät beschäftigt war und die Kassette einlegte. Randolph winkte Bosch zu der einzigen anderen Sitzgelegenheit.
»Wann haben Sie die Kassette bekommen?«, fragte Bosch.
»Heute Morgen. Corvin sagte, ihm wäre erst nach vierundzwanzig Stunden wieder eingefallen, dass er sie in eine Tasche seiner Cargohose gesteckt hätte. Und das natürlich auch erst, nachdem ich durchblicken ließ, es gäbe einen Zeugen, der ihn die Kassette hätte einstecken sehen.«
»Und Sie glauben, sie ist manipuliert worden?«
»Mit Sicherheit lässt sich das erst sagen, nachdem das SID sie untersucht hat, aber doch, es wurde etwas herausgeschnitten. Wir haben die Kamera am Tatort gefunden, und Osani war so schlau, sich die Nummer auf dem Bildzähler zu notieren. Wenn man die Kassette abspielt, stimmt der Zähler nicht. Es fehlen ungefähr zwei Minuten Band. Spielen Sie es doch einfach mal ab, Reggie.«
Osani startete die Kassette. Die Aufnahme begann mit dem Gewimmel von Ermittlern und Technikern auf dem Parkplatz der Sunset Ranch. Corvin war die ganze Zeit dicht bei O’Shea geblieben, und was nun folgte, war ein ununterbrochener Fluss von unbearbeitetem Video-Bildmaterial, das immer den Kandidaten für das Amt des Bezirksstaatsanwalts in der Bildmitte zu haben schien. Daran änderte sich auch nichts, als die Gruppe Waits in den Wald folgte. Als schließlich alle am Rand des Absturzes stehen blieben, kam es zu einer Unterbrechung der Aufnahme, so, als wäre die Kamera ausgeschaltet und dann wieder eingeschaltet worden. Die Diskussion, ob sie Waits die Handschellen abnehmen sollten, war nicht auf Band. Es fehlte das Stück von dem Zeitpunkt an, als Rider sagte, sie könnten die SID-Leiter verwenden, bis zu dem Moment, in dem Cafarelli mit der Leiter zurückkam.
Osani hielt das Video an, um darüber zu sprechen.
»Es ist gut möglich, dass er die Kamera ausgemacht hat, als wir auf die Leiter gewartet haben«, sagte Bosch. »Das dürfte maximal zehn Minuten gedauert haben. Aber wahrscheinlich hat er sie erst nach dem Hin und Her wegen Waits’ Handschellen ausgemacht.«
»Sind Sie da sicher?«
»Nein, das ist nur eine Vermutung. Ich habe nicht auf Corvin geachtet. Ich hatte die ganze Zeit Waits im Auge.«
»Klar.«
»Tut mir leid.«
»Das braucht Ihnen nicht leid zu tun. Es ist mir lieber, wenn Sie mir nur das erzählen, was Sie wirklich beobachtet haben.«
»Hat einer der anderen Zeugen meine Aussage bestätigt? Hat sonst noch jemand die Diskussion über die Handschellen mitbekommen?«
»Cafarelli, die SID-Technikerin, hat es gehört. Corvin sagt, er hätte nichts dergleichen mitbekommen, und O’Shea behauptet, eine solche Diskussion hätte nie stattgefunden. Damit haben wir zwei vom LAPD, die Ja sagen, und zwei von der Staatsanwaltschaft, die Nein sagen. Und kein Video, um eine der beiden Aussagen zu bestätigen.«
»Und was ist mit Maury Swann?«
»Er könnte den Ausschlag geben, aber er redet nicht mit uns. Sagt, es wäre im Interesse seines Mandanten, den Mund zu halten.«
Das überraschte Bosch nicht im Geringsten. Swann war schließlich Strafverteidiger.
»Gibt es noch einen anderen Schnitt, den Sie mir zeigen wollen?«
»Schon möglich. Machen Sie weiter, Reggie.«
Osani startete das Video wieder, und jetzt verfolgten sie den Abstieg über die Leiter und den Weg zu der Lichtung, wo Cafarelli mithilfe der Sonde systematisch die Lage der Leiche bestimmte. Die Aufnahme war an keinem Punkt unterbrochen. Corvin hatte die Kamera einfach angemacht und alles aufgenommen. Vermutlich hatte er vorgehabt, das Material erst später zu schneiden, wenn es bei einer Gerichtsverhandlung gebraucht würde. Oder vielleicht auch für eine Wahlkampfdokumentation.
Das Band lief weiter und hielt die Rückkehr der Gruppe zur Leiter fest. Rider und Olivas stiegen nach oben, und Bosch nahm Waits die Handschellen ab. Waits begann, die Leiter hinaufzuklettern, und dann hörte die Aufnahme genau in dem Moment auf, als er die obersten Sprossen erreichte und Olivas sich zu ihm vorbeugte, um ihn zu packen.
»Das ist alles?«, fragte Bosch.
»Das ist alles«, sagte Randolph.
»Ich erinnere mich, dass Corvin nach den Schüssen, als ich ihm sagte, er solle die Kamera weglegen und nach oben kommen, um mir mit Rider zu helfen, die Kamera noch auf der Schulter hatte. Er filmte noch.«
»Tja, wir haben ihn gefragt, warum er ausgerechnet hier zu filmen aufgehört hat, und er behauptet, er hätte Angst gehabt, die Kassette könnte zu Ende gehen. Er wollte sich das Band für den Moment aufsparen, in dem die Leiche ausgegraben wurde. Deshalb machte er die Kamera aus, als Waits die Leiter hinaufstieg.«
»Erscheint Ihnen das einleuchtend?«
»Ich weiß nicht. Ihnen?«
»Nein. Das ist eine faule Ausrede. Er hat alles aufgenommen.«
»Das ist zumindest Ihre Ansicht.«
»Mag sein«, sagte Bosch. »Aber die Frage ist doch, warum hört die Aufnahme ausgerechnet an dieser Stelle auf? Was war darauf zu sehen?«
»Das würde ich gern von Ihnen hören. Sie waren dabei.«
»Ich habe Ihnen alles erzählt, woran ich mich erinnern kann.«
»Dann sollten Sie Ihr Gedächtnis lieber noch etwas auffrischen. Sie stehen nicht sonderlich gut da.«
»Was soll das heißen?«
»Auf dem Video ist keine Diskussion aufgezeichnet, ob dem Mann die Handschellen abgenommen werden sollten oder nicht. Allerdings ist zu sehen, wie Olivas sie ihm abnimmt, bevor er nach unten klettert, und Sie, als er wieder nach oben steigt.«
Bosch merkte, dass Randolph recht hatte und dass auf dem Video der Eindruck entstand, als hätte er Waits die Handschellen einfach abgenommen, ohne mit den anderen darüber zu sprechen.
»O’Shea will das Ganze mir anhängen.«
»Ich weiß nicht, ob hier jemand jemandem was anzuhängen versucht. Aber ich hätte noch eine Frage an Sie. Als dort oben die Kacke am Dampfen war und Waits sich die Pistole schnappte und zu schießen begann – können Sie sich da noch erinnern, O’Shea gesehen zu haben?«
Bosch schüttelte den Kopf.
»Ich ging zu Boden, mit Olivas auf mir drauf. Ich machte mir Gedanken, wo Waits sein könnte, nicht O’Shea. Ich weiß nicht, wo O’Shea war. Ich kann nur sagen, dass er außerhalb meines Blickfelds war. Irgendwo hinter mir.«
»Vielleicht ist es das, was Corvin aufgenommen hat. Wie O’Shea wie ein Feigling wegrennt.«
Das Wort Feigling rief eine Erinnerung in Bosch wach.
Jetzt fiel es ihm wieder ein. Waits hatte von oben jemanden, wahrscheinlich O’Shea, als Feigling verhöhnt. Außerdem fiel Bosch wieder ein, dass er hinter sich jemanden laufen gehört hatte. O’Shea war weggerannt.
Bosch ließ sich das kurz durch den Kopf gehen. Zunächst einmal hatte O’Shea keine Waffe gehabt, um sich gegen den Mann zu verteidigen, den er lebenslang hinter Gitter bringen wollte. Vor der Pistole wegzulaufen war also keineswegs ungewöhnlich oder unvernünftig. Es wäre ein Akt der Selbsterhaltung gewesen, nicht der Feigheit. Aber nachdem O’Shea für das Amt des obersten Strafverfolgers des County kandidierte, sah Weglaufen unter keinen Umständen sonderlich gut aus – vor allem dann nicht, wenn es auf einem Video in den Abendnachrichten zu sehen war.
»Jetzt erinnere ich mich wieder«, sagte Bosch. »Waits beschimpfte jemand als Feigling, weil er wegrannte. Das muss O’Shea gewesen sein.«
»Rätsel gelöst«, sagte Randolph.
Bosch wandte sich wieder dem Bildschirm zu.
»Können Sie das zurückspulen, damit wir uns den letzten Teil noch mal ansehen können?«, fragte er. »Unmittelbar bevor die Aufnahme endet?«
Osani spulte die Kassette zurück, und sie betrachteten das Video schweigend von dem Moment an, als Waits die Handschellen zum zweiten Mal abgenommen wurden.
»Können Sie die Kassette unmittelbar vor dem Schnitt anhalten?«, fragte Bosch.
Osani hielt das Bild auf dem Monitor an. Es zeigte Waits auf den oberen Sprossen der Leiter und Olivas, wie er ihm die Hand entgegenstreckte, um ihn zu packen. Olivas war weit vornübergebeugt, weshalb sein Blouson offen stand. Bosch konnte sehen, dass seine Pistole in einem Halfter an seiner linken Hüfte steckte, aus dem er sie quer über den Körper ziehen konnte.
Bosch erhob sich und ging zum Monitor. Er zog einen Stift aus der Tasche und tippte auf den Bildschirm.
»Sehen Sie das? Sieht so aus, als wäre der Verschluss seines Halfters geöffnet.«
Randolph und Osani schauten aufmerksam auf den Bildschirm. Der Sicherheitsverschluss war ihnen bisher offensichtlich nicht aufgefallen.
»Könnte doch sein, dass er seine Waffe schussbereit haben wollte, falls der Häftling auf dumme Gedanken kommt«, sagte Osani. »Das verstößt jedenfalls nicht gegen die Vorschriften.«
Weder Bosch noch Randolph sagten etwas. Unabhängig davon, ob es in Einklang mit den Vorschriften stand, war es eine Unstimmigkeit, die sich nicht erklären ließ, weil Olivas tot war.
»Sie können es jetzt ausmachen, Reg«, sagte Randolph schließlich zu Osani.
»Nein – könnten Sie es noch mal abspielen?«, sagte Bosch. »Nur die Stelle auf der Leiter.«
Randolph nickte Osani zu, worauf dieser die Kassette zurückspulte und erneut startete. Bosch versuchte, mithilfe der Bilder auf dem Monitor seine eigenen Erinnerungen an das zu stimulieren, was passiert war, nachdem Waits das obere Ende der Leiter erreicht hatte. Er erinnerte sich, nach oben geschaut und gesehen zu haben, wie Olivas herumgewirbelt wurde, sodass er denen, die unten standen, den Rücken zukehrte und die Schusslinie auf Waits verstellte. Jetzt fiel ihm auch wieder ein, dass er sich gefragt hatte, wo Kiz war und warum sie nicht einschritt.
Dann fielen Schüsse, und Olivas stürzte rückwärts die Leiter hinunter auf ihn zu. Bosch riss die Hände hoch, um den Aufprall zu dämpfen. Als er dann unter Olivas auf dem Boden lag, hörte er weitere Schüsse und schließlich die Beschimpfungen.
Die Beschimpfungen. Die er wegen des Adrenalinstoßes und der Panik vergessen hatte. Waits war an den Rand des Steilhangs gekommen und hatte von oben auf sie gefeuert. Und er hatte etwas gerufen. Er hatte O’Shea, weil er weglief, einen Feigling beschimpft. Aber er hatte nicht nur das gerufen.
»Lauf nur, du Feigling! Was wird jetzt aus deinem miesen Kuhhandel?«
In dem Durcheinander und der Hektik der Flucht und während der verzweifelten Bemühungen, Kiz Rider zu retten, hatte Bosch diese Verhöhnung ganz vergessen.
Was hatte das zu bedeuten? Was meinte Waits, wenn er die Abmachung einen »Kuhhandel« nannte?
»Was ist?«, fragte Randolph.
Bosch tauchte aus seinen Gedanken auf und sah ihn an.
»Nichts. Ich habe nur versucht, mich auf das zu konzentrieren, was in den Momenten passiert ist, die nicht auf dem Video sind.«
»Es sah so aus, als hätten Sie sich an etwas erinnert.«
»Ich musste nur daran denken, dass es mich um ein Haar ebenso erwischt hätte wie Olivas und Doolan. Olivas ist auf mich gefallen. Er wurde mein Schutzschild.«
Randolph nickte.
Plötzlich wollte Bosch nur noch weg. Er wollte sich mit seiner Entdeckung – »Was wird jetzt aus deinem miesen Kuhhandel?« – eingehend und in Ruhe beschäftigen. Er wollte sie zu Pulver zermahlen und unter dem Mikroskop analysieren.
»Lieutenant, haben Sie sonst noch was für mich?«
»Vorerst nicht.«
»Dann werde ich mich mal wieder auf den Weg machen. Rufen Sie einfach an, wenn Sie mich brauchen.«
»Und Sie rufen mich an, wenn Ihnen wieder einfällt, woran Sie sich nicht erinnern können.«
Er bedachte Bosch mit einem wissenden Blick. Bosch schaute weg.
»Klar.«
Bosch verließ das OIS-Büro und ging zu den Aufzügen. Er hätte nach unten fahren und das Gebäude verlassen sollen. Aber stattdessen drückte er auf den Knopf mit dem Pfeil, der nach oben zeigte.
EINUNDZWANZIG
Dass ihm wieder eingefallen war, was Waits gerufen hatte, ließ alles in einem anderen Licht erscheinen. Es konnte nur heißen, dass dort oben im Beachwood Canyon irgendetwas nicht mit rechten Dingen zugegangen war, etwas, worauf er sich keinen Reim machen konnte. Deshalb wollte er sich erst einmal zurückziehen, um in Ruhe über alles nachzudenken, bevor er irgendwelche konkreten Schritte unternahm. Aber der Termin mit den OIS-Ermittlern hatte ihm einen Anlass verschafft, ins Parker Center zu kommen, und er wollte die Gelegenheit nutzen, bevor er nach Hause fuhr.
Er betrat Zimmer 503, den Bereitschaftsraum von Offen-Ungelöst, und ging zu der Nische, in der sein Schreibtisch stand. Der Bereitschaftsraum war fast leer. Ein kurzer Blick auf den Arbeitsplatz, den sich Marcia und Jackson teilten, verriet ihm, dass die beiden unterwegs waren. Weil er, um zu seinem Schreibtisch zu kommen, ohnehin an der offenen Tür von Abel Pratts Büro vorbeimusste, beschloss er, gleich in die Offensive zu gehen, und steckte den Kopf durch die Tür. Sein Vorgesetzter saß an seinem Schreibtisch und aß Rosinen aus einer kleinen roten Box, die aussah, als sei sie für ein Kind gedacht. Er schien überrascht, Bosch zu sehen.
»Harry, was machen Sie denn hier?«
»Die OIS hat mich einbestellt. Ich sollte mir das Video ansehen, das O’Sheas Mann auf der Exkursion nach Beachwood aufgenommen hat.«
»Sind da die Schüsse drauf?«
»Nicht wirklich. Er behauptet, die Kamera war aus.«
Pratts Augenbrauen hoben sich fragend.
»Und Randolph glaubt ihm nicht?«
»Schwer zu sagen. Der Kameramann hat die Kassette erst heute Morgen rausgerückt, und wie es aussieht, wurde sie manipuliert. Das will Randolph jetzt vom SID prüfen lassen. Aber nachdem ich schon mal hier bin, dachte ich, ich bringe schon mal ein paar Akten und Kram ins Archiv zurück – ein bisschen Platz schaffen. Kiz hat sich auch einige Akten ausgeliehen, und sie wird wohl so schnell nicht wieder zurückkommen.«
»Das ist wahrscheinlich keine schlechte Idee.«
Bosch nickte.
»Übrigens«, sagte Pratt, den Mund voller Rosinen. »Ich habe gerade von Tim und Rick gehört. Sie sind jetzt fertig drüben in der Mission. Die Autopsie war heute Vormittag, und sie haben sie identifiziert. Es ist tatsächlich Marie Gesto. Sie konnten es anhand des Gebisses bestätigen.«
Bosch nickte erneut. Die Neuigkeit hatte etwas seltsam Endgültiges. Die Suche nach Marie Gesto war beendet.
»Das war’s dann wohl.«
»Die beiden meinten, dass Sie ihre Angehörigen verständigen wollten. Sie hätten es ihnen angeboten.«
»Ja. Aber ich warte wahrscheinlich bis heute Abend, wenn Dan Gesto von der Arbeit kommt. Besser, es sind beide Eltern da.«
»Das bleibt Ihnen überlassen, Harry. Wir hier werden jedenfalls solange noch den Deckel drauf halten. Ich rufe auch in der Gerichtsmedizin an, dass sie bis morgen nichts Offizielles rauslassen.«
»Danke. Haben Tim oder Rick was über die Todesursache gesagt?«
»Sieht nach Strangulation aus. Das Zungenbein war gebrochen.«
Für den Fall, dass Bosch nicht wusste, wo sich das empfindliche Zungenbein befand, berührte Pratt kurz die Vorderseite seines Halses. Bosch hatte zwar an die hundert Strangulationsfälle bearbeitet, verkniff sich aber einen Kommentar.
»Wirklich traurige Geschichte das, Harry. Ich weiß, wie sehr Sie sich den Fall zu Herzen genommen haben. Als Sie anfingen, alle paar Monate die Akte wieder vorzukramen, wurde mir klar, wie viel Ihnen daran lag.«
Bosch nickte stumm. Als er zu seinem Schreibtisch ging, musste er daran denken, dass die Leiche jetzt identifiziert war, obwohl er vor dreizehn Jahren überzeugt gewesen war, Marie Gesto würde nie gefunden werden. Die Dinge nahmen oft eine seltsame Wendung. Er machte sich daran, alle Akten, die zum Waits-Ermittlungsverfahren gehörten, zusammenzupacken. Das Gesto-Mordbuch hatten zwar Marcia und Jackson, aber das machte nichts, weil er im Auto seine eigene Kopie hatte.
Er ging zum Schreibtisch seiner Partnerin auf der anderen Seite, um die Akten über Daniel Fitzpatrick einzusammeln, den Pfandleiher aus Hollywood, den Waits aller Wahrscheinlichkeit zufolge bei den Unruhen von 1992 ermordet hatte. Er sah zwei Plastikcontainer auf dem Boden stehen. Als er einen von ihnen öffnete, stellte er fest, dass er die Unterlagen enthielt, die aus dem ausgebrannten Leihhaus geborgen worden waren. Bosch erinnerte sich, dass Rider sie erwähnt hatte. Der modrige Geruch der beim Löschen des Brands nass gewordenen Dokumente stieg ihm in die Nase, und er machte den Deckel rasch wieder zu. Er beschloss, auch diese Unterlagen mitzunehmen, aber um alles zu seinem Auto hinunterzuschaffen, müsste er zweimal an Pratts offener Tür vorbei, und das wiederum böte seinem Chef zwei Anlässe, neugierig zu werden, was Bosch eigentlich vorhatte.
Bosch überlegte schon, ob er die Behälter ganz zurücklassen sollte, doch dann kam ihm das Glück zu Hilfe. Pratt kam aus seinem Büro und schaute zu ihm herüber.
»Würde mich mal interessieren, wer den Unsinn in die Welt gesetzt hat, Rosinen wären eine geeignete Zwischenmahlzeit. Ich bin immer noch hungrig. Soll ich Ihnen von unten was mitbringen, Harry? Einen Doughnut oder sonst was?«
»Nein, danke. Ich bringe nur noch den ganzen Kram hier rüber, und dann bin ich auch schon weg.«
Bosch sah, dass Pratt einen der Reiseführer in der Hand hielt, die sonst auf seinem Schreibtisch lagen. Auf dem Cover stand West Indies.
»Sie sind am Recherchieren?«, fragte er.
»Ja, kann nie schaden. Haben Sie mal was von einer Insel gehört, die Nevis heißt?«
»Nein.«
Bosch hatte nur von den wenigsten Inseln gehört, nach denen sich Pratt im Zuge seiner Reiserecherchen erkundigte.
»Hier steht, dort kriegt man für weniger als vierhunderttausend Dollar eine alte Zuckerrohrmühle mit drei Hektar Grund. Also echt, so viel kriege ich schon locker raus, wenn ich allein nur mein Haus verkaufe.«
Das stimmte wahrscheinlich. Bosch war zwar nie in Pratts Haus oben in Sun Valley gewesen, aber er wusste, das Grundstück war groß genug, um ein paar Pferde darauf zu halten. Nachdem Pratt schon fast zwanzig Jahre dort wohnte, war das Anwesen inzwischen sicher ein Vermögen wert. Die Sache hatte nur einen Haken. Ein paar Wochen zuvor hatte Rider von ihrem Schreibtisch aus mitbekommen, wie Pratt sich in seinem Büro am Telefon über Fragen des Sorgerechts und des ehelichen Gemeinschaftsbesitzes erkundigte. Sie erzählte Bosch von dem Telefonat, und beide gelangten zu dem Schluss, dass Pratt mit einem Scheidungsanwalt gesprochen hatte.
»Möchten Sie denn Zucker herstellen?«, fragte Bosch.
»Natürlich nicht. Dafür war das Ganze früher mal bestimmt. Jetzt kauft man solche Gebäude, um sie zu renovieren und in eine Frühstückspension oder so was umzubauen.«
Bosch nickte nur. Pratt befand sich auf dem Weg in eine Welt, über die er nichts wusste und die ihn nicht interessierte.
»Wie auch immer«, sagte Pratt, der spürte, dass er kein wirklich interessiertes Publikum hatte, »man sieht sich. Ach, und übrigens – schön, dass Sie sich für die OIS in Schale geworfen haben. Die meisten beurlaubten Cops wären in Jeans und T-Shirt angeschlurft gekommen, wo sie mehr wie ein Verdächtiger ausgesehen hätten.«
»Man tut, was man kann.«
Pratt verließ das Büro, und Bosch wartete genau dreißig Sekunden. So lang würde sein Chef etwa brauchen, um zum Aufzug zu gehen. Dann packte Bosch einen Stoß Akten auf einen der Beweismittelbehälter und trug alles nach draußen. Er schaffte es, alles nach unten und zu seinem Auto zu bringen und wieder nach oben zu fahren, bevor Pratt aus der Cafeteria zurückkam. Er holte auch den zweiten Behälter und ging damit zum Lift. Niemand fragte, was er da tat oder wohin er mit den Unterlagen unterwegs war.
Nachdem er vom Parkplatz gefahren war, sah Bosch auf die Uhr und stellte fest, dass er bis zu seinem Mittagessen mit Rachel noch fast eine Stunde hatte. Die Zeit würde nicht reichen, um die Unterlagen nach Hause zu bringen – außerdem wäre es ohnehin Zeit- und Benzinverschwendung. Kurz überlegte er, ob er das Mittagessen absagen sollte, damit er gleich nach Hause fahren und mit dem Aktenstudium beginnen könnte, aber er kam rasch wieder davon ab, denn er wusste, es konnte auf keinen Fall schaden, mit Rachel über die Sache zu reden. Vielleicht hatte sie auch ein paar Ideen, was Waits mit dem, was er O’Shea nach der Schießerei hinterhergerufen hatte, gemeint haben könnte.
Er konnte auch jetzt schon zu dem Restaurant fahren und mit der Durchsicht der Akten beginnen, während er auf Rachel wartete. Allerdings war ihm klar, dass er sich Ärger einhandeln konnte, wenn ein Gast oder Kellner zufällig einen Blick auf eins der Fotos in den Mordbüchern erhaschte.
Die Zentrale der Stadtbibliothek befand sich im selben Häuserblock wie das Restaurant, und er beschloss, dorthin zu gehen. Dort konnte er in einem der Einzelabteile ungestört die Akten studieren und sich dann pünktlich im Restaurant mit Rachel treffen.
Nachdem er in der Tiefgarage der Bibliothek geparkt hatte, ging er mit den Mordbüchern der Fälle Gesto und Fitzpatrick zum Lift. Er fand in einem Lesesaal der weitläufigen Bibliothek ein freies Einzelabteil und begann mit der Durchsicht der mitgebrachten Dokumente. Da er mit der Gesto-Akte bereits in Riders Krankenzimmer begonnen hatte, beschloss er, dort weiterzumachen und sie zunächst ganz durchzuarbeiten.
Weil er die Dokumente und Protokolle in der Reihenfolge durchging, in der sie abgeheftet worden waren, kam er erst ganz zum Schluss zur Ermittlungschronologie, die üblicherweise am Ende eines Mordbuchs abgeheftet wurde. Bei der Durchsicht der 51er-Formulare stach ihm nichts ins Auge, was die einzelnen Ermittlungsschritte, die vernommenen Personen oder die eingegangenen Anrufe bedeutsamer erscheinen ließ als zu dem Zeitpunkt, da diese Dinge in die Chronologie eingetragen worden waren.
Plötzlich ließ ihn etwas stutzen, das er in der Chronologie vermisste. Hastig blätterte er zum 51er für den 29. September 1993 zurück und suchte nach dem Vermerk über den Anruf, den Jerry Edgar von Robert Saxon erhalten hatte.
Er war nicht da.
Bosch beugte sich vor, um sich das Dokument genauer anzusehen. Wie war das möglich? Im Original des Mordbuchs hatte der Vermerk gestanden: Raynard Waits’ falscher Name, Robert Saxon. Das Datum des Eintrags war der 29. September 1993, und als Zeitpunkt des Anrufs war 18.40 Uhr angegeben. Olivas hatte den Vermerk bei der Durchsicht der Akte entdeckt, und Bosch hatte ihn bei dem Treffen in O’Sheas Büro mit eigenen Augen gesehen. Und er hatte ihn sich sehr genau angesehen, denn es handelte sich dabei um die Bestätigung eines Versehens, das es Waits ermöglicht hatte, dreizehn Jahre länger auf freiem Fuß zu bleiben und weiterzumorden.
Aber in Boschs Kopie des Mordbuchs fehlte dieser Eintrag.
Was, zum Teufel, hatte das jetzt wieder zu bedeuten?
Zuerst konnte sich Bosch keinen Reim darauf machen. Er hatte die Kopie der Chronologie vier Jahre zuvor angefertigt, nachdem er den Entschluss gefasst hatte, den Dienst zu quittieren. Damals hatte er sich insgeheim die Mordbücher einer Handvoll offener Fälle kopiert, die ihm keine Ruhe gelassen hatten. Seine Pensionsfälle. Er hatte vorgehabt, sie sich nach Lust und Laune und auf eigene Faust noch einmal vorzunehmen und sie zu lösen, bevor er seine Mission als erfüllt betrachten konnte und sich in Mexiko mit einer Angelrute in der einen Hand und einem Corona in der anderen einen schönen Lenz machen würde.
Aber dann war es doch anders gekommen. Bosch war klar geworden, dass sich seine Mission immer noch am besten mit einer Dienstmarke erfüllen ließ, und kehrte in den Polizeidienst zurück. Nachdem er mit Rider in die Abteilung Offen-Ungelöst versetzt worden war, war eines der ersten Mordbücher, die er sich aus dem Archiv geholt hatte, der Gesto-Fall gewesen. Das Mordbuch, mit dem er damals gearbeitet hatte, war das Original, also diejenige Ermittlungsakte, die jedes Mal, wenn er oder sonst jemand sich damit befasste, auf den neuesten Stand gebracht wurde. Was er dagegen jetzt vor sich liegen hatte, war eine Kopie, die in seinem Kleiderschrank gelegen hatte und vier Jahre lang nicht mehr aktualisiert worden war. Trotzdem – wie konnte das eine Mordbuch einen Vermerk von 1993 enthalten und das andere nicht?
Logisch betrachtet gab es darauf nur eine einzige Antwort.
Die Original-Ermittlungsunterlagen waren gefälscht worden. Der Vermerk mit dem Namen Robert Saxon war erst nach dem Zeitpunkt, zu dem Bosch das Mordbuch kopiert hatte, eingefügt worden. Demzufolge betrug das Zeitfenster, in dessen Verlauf der gefälschte Eintrag hätte hinzugefügt werden können, etwas mehr als vier Jahre. Aber der Instinkt sagte Bosch, dass es wohl eher vor wenigen Tagen geschehen war als schon vor Jahren.
Nur wenige Tage zuvor hatte Freddy Olivas ihn angerufen und nach dem Mordbuch gefragt. Bosch hatte es ihm ausgehändigt, und Olivas war derjenige gewesen, der den Robert-Saxon-Eintrag entdeckt hatte. Olivas hatte alles an den Tag gebracht.
Bosch blätterte die Chronologie durch. Fast alle Seiten mit Eintragungen zu den ursprünglichen Ermittlungen waren bis unten hin voll mit Vermerken, die mit Zeitangaben versehen waren. Nur auf der Seite für den 29. September war unten noch etwas Platz. Es wäre Olivas also möglich gewesen, diese Seite herauszunehmen, den Saxon-Eintrag darauf zu tippen, das Blatt wieder einzuheften und dann so zu tun, als wäre er bei der Durchsicht der Akte auf diese vermeintliche Verbindung zwischen Waits und Gesto gestoßen. 1993 hatten Bosch und Edgar im Bereitschaftsraum der Hollywood Division die 51er noch mit Schreibmaschine geschrieben. Inzwischen geschah das alles per Computer, aber in den meisten Polizeistationen gab es für Cops der alten Schule, die sich – wie Bosch – nicht mit dem Computer anfreunden konnten, immer noch einige Schreibmaschinen.
In Bosch machte sich eine Mischung aus tiefer Erleichterung und Wut breit. Die Last des schlechten Gewissens über das Versehen, das ihm und Edgar angeblich unterlaufen war, fiel schlagartig von ihm ab. Edgar und ihn traf keine Schuld, und er musste seinem ehemaligen Partner so schnell wie möglich Bescheid sagen. Wegen seiner wachsenden Wut darüber, von Olivas angeschwärzt worden zu sein, konnte Bosch seine Erleichterung allerdings kaum genießen. Er stand auf und verließ das Abteil. Er trat aus dem Lesesaal in die Rotunde der Bibliothek, um die sich hoch oben an der kreisförmigen Wand ein Mosaik zog, das die Gründungsgeschichte von Los Angeles darstellte.
Am liebsten hätte Bosch losgebrüllt und so den Dämon ausgetrieben, aber er blieb still. Ein Wachmann durchquerte rasch das hallende Gewölbe. Vielleicht war er unterwegs, um irgendwo zwischen den Regalen einen Bücherdieb oder einen Exhibitionisten zu schnappen. Bosch sah ihm hinterher und kehrte dann an seine eigene Arbeit zurück.
Als er wieder in dem kleinen Abteil saß, ging er noch einmal in Ruhe alles durch, was geschehen war. Olivas hatte sich am Mordbuch zu schaffen gemacht und nachträglich einen zwei Zeilen langen Vermerk in die Chronologie eingetragen, der Bosch glauben lassen sollte, dass ihm ganz zu Beginn der Ermittlungen ein schwerwiegender Fehler unterlaufen war. Der Vermerk besagte, dass ein Robert Saxon bei der Polizei angerufen hatte, um zu melden, dass er Marie Gesto am Nachmittag ihres Verschwindens im Mayfair Supermarkt gesehen hatte.
Das war alles. Olivas war es nicht um den Inhalt des Anrufs gegangen. Es war die Person des Anrufers. Aus irgendeinem Grund hatte Olivas Raynard Waits in das Mordbuch einschmuggeln wollen. Warum? Damit Bosch sich aus schlechtem Gewissen im laufenden Ermittlungsverfahren im Hintergrund hielt und Olivas das Sagen hatte?
Von dieser Erklärungsmöglichkeit kam Bosch rasch wieder ab. Olivas hatte ohnehin schon die Oberhand gehabt. Er war im Fall Waits der zuständige Ermittler, und daran hätten Boschs Ansprüche auf den Fall Gesto nichts geändert. Bosch durfte zwar mitfahren, aber er saß nicht am Steuer. Dort saß Olivas, und deswegen wäre es nicht nötig gewesen, den Namen Robert Saxon ins Spiel zu bringen.
Dafür musste es einen anderen Grund geben.
Bosch dachte eine Weile nach, gelangte aber zu keiner anderen Erklärung, als dass Olivas aus irgendeinem Grund eine Verbindung zwischen Waits und Gesto hatte herstellen wollen. Indem er den falschen Namen des Mörders nachträglich ins Mordbuch einfügte, ging er dreizehn Jahre zurück und brachte die beiden unübersehbar in Zusammenhang.
Allerdings hatte Waits die Ermordung Gestos sowieso gestehen wollen. Einen stärkeren Zusammenhang als ein freiwillig abgelegtes Geständnis konnte es gar nicht geben. Er hatte sich sogar bereiterklärt, die Polizei zu ihrer Leiche zu führen. Im Vergleich dazu hatte der Vermerk in der Chronologie nur sekundäre Bedeutung. Warum also hatte ihn Olivas nachträglich hinzugefügt?
Bosch fand keine schlüssige Erklärung, weshalb Olivas sich einem solchen Risiko aussetzen sollte. Aus scheinbar nebensächlichen Gründen hatte er das Originalprotokoll der Mordermittlungen gefälscht. Er hatte in Kauf genommen, dass Bosch den Schwindel aufdecken und ihn deswegen zur Rede stellen würde. Und er hatte riskiert, dass der Schwindel eines Tages von einem cleveren Anwalt wie Maury Swann vor Gericht aufgedeckt würde. Und das alles, obwohl er wusste, dass sich Waits durch sein Geständnis ohnehin unauflöslich mit dem Fall in Verbindung brächte.
Inzwischen war Olivas jedoch tot und konnte keine Auskunft mehr darüber erteilen. Es gab niemanden, der die Frage nach dem Warum beantworten konnte.
Außer vielleicht Raynard Waits.
»Was wird jetzt aus deinem miesen Kuhhandel?«
Und Rick O’Shea.
Bosch ließ sich alles noch einmal durch den Kopf gehen, und plötzlich kam es ihm. Schlagartig wurde ihm klar, warum Olivas dieses Risiko eingegangen war und den Geist von Raynard Waits in das Mordbuch von Marie Gesto geschmuggelt hatte. Er sah es mit einer Deutlichkeit, die keine Zweifel mehr zuließ.
Raynard Waits hatte Marie Gesto nicht umgebracht.
Bosch sprang auf und raffte die Unterlagen zusammen. Sie mit beiden Händen umklammernd, eilte er durch die Rotunde zum Ausgang. Der Hall seiner Schritte folgte ihm durch den großen Raum wie eine Menschenmenge, die ihm dicht auf den Fersen war. Er blickte hinter sich, aber da war niemand.
ZWEIUNDZWANZIG
In der Bibliothek hatte Bosch jedes Zeitgefühl verloren. Er verspätete sich. Rachel saß bereits an ihrem Tisch und wartete auf ihn. In den Händen hielt sie eine große Speisekarte, die den Ärger in ihrem Gesicht verbarg, als Bosch von einem Kellner an ihren Tisch geführt wurde.
»Entschuldige bitte«, sagte Bosch, als er sich setzte.
»Macht doch nichts«, erwiderte sie. »Aber ich habe schon bestellt. Ich wusste ja nicht, ob du noch auftauchst oder nicht.«
Sie reichte ihm die Speisekarte. Er gab sie sofort an den Kellner weiter.
»Ich nehme das Gleiche wie sie«, sagte er. »Und zu trinken nur Wasser.«
Der Kellner entfernte sich eilig, und Bosch trank von dem Glas, das bereits für ihn eingeschenkt worden war. Rachel lächelte ihn an, aber nicht auf eine nette Art.
»Das Essen wird dir bestimmt nicht schmecken. Du solltest ihn lieber zurückrufen.«
»Warum? Ich mag Fisch.«
»Aber ich habe Sashimi bestellt. Du hast neulich gesagt, du magst deinen Fisch gekocht.«
Dieser Hinweis ließ ihn kurz stutzen, aber dann entschied er, er hätte es wegen seiner Verspätung nicht anders verdient.
»Wandert sowieso alles an den gleichen Ort«, sagte er und erklärte das Thema damit für erledigt. »Aber warum nennt sich das Lokal eigentlich Water Grill, wenn sie das Essen gar nicht grillen?«
»Gute Frage.«
»Egal. Ich muss mit dir reden. Du musst mir helfen, Rachel.«
»Bei was? Was ist passiert?«
»Ich glaube, Raynard Waits ist nicht Marie Gestos Mörder.«
»Wie bitte? Er hat euch doch zu ihrer Leiche geführt. War das gar nicht Marie Gesto?«
»Doch. Die Identität wurde heute bei der Autopsie bestätigt. In dem Grab lag eindeutig Marie Gesto.«
»Und Waits hat es euch gezeigt, richtig?«
»Richtig.«
»Und er hat gestanden, sie umgebracht zu haben?«
»Richtig.«
»Hat die Autopsie ergeben, dass die Todesursache in irgendeiner Weise von seinem Geständnis abweicht?«
»Soweit ich weiß, nicht.«
»Dann verstehe ich nicht, auf was du hinauswillst, Harry. Wie sollte er in Anbetracht all dessen nicht der Mörder sein?«
»Weil hinter den Kulissen etwas läuft, wovon wir keine Ahnung haben – wovon ich keine Ahnung habe. Olivas und O’Shea hatten irgendeine krumme Tour mit ihm vor. Worum es dabei ging, ist mir allerdings noch nicht klar. Jedenfalls ist die Sache dann oben im Beachwood Canyon geplatzt.«
Rachel hob die Hände, als wollte sie sagen: Jetzt bitte noch mal ganz von vorn.
»Also gut, alles schön der Reihe nach. Und bitte keine Theorien und keine Mutmaßungen. Nur die Fakten.«
Er erzählte ihr alles – von Olivas’ nachträglich eingefügtem Vermerk im Mordbuch bis zu einer detaillierten Schilderung der Ereignisse, nachdem Waits im Beachwood Canyon die Leiter hinaufzusteigen begonnen hatte. Er berichtete ihr, was Waits O’Shea hinterhergerufen hatte und was aus dem Video herausgeschnitten worden war.
Dafür brauchte er fünfzehn Minuten, in denen ihnen das Essen serviert wurde. Klar, dass es schnell kam, dachte Bosch. Es musste ja nicht gekocht werden! Er war froh, dass er derjenige war, der die ganze Zeit redete. Das diente ihm als Vorwand, den rohen Fisch, der vor ihm stand, nicht anrühren zu müssen.
Als er ans Ende seiner Geschichte kam, konnte er sehen, dass Rachel bereits dabei war, alles zu verarbeiten und gründlich zu analysieren.
»Aus welchem Grund könnte er Waits nachträglich in das Mordbuch eingetragen haben?«, sagte sie schließlich. »Es bringt ihn mit dem Fall in Verbindung, das schon, aber infolge seines Geständnisses besteht diese Verbindung ohnehin, außerdem hat er euch zu ihrer Leiche geführt. Warum also dieser gefälschte Eintrag?«
Bosch beugte sich über den Tisch, als er antwortete.
»Zwei Dinge. Zum einen: Olivas fürchtete, das Geständnis könnte vielleicht bei dem einen oder anderen auf Zweifel stoßen. Er konnte ja nicht wissen, ob ich nicht ein paar strittige Punkte darin finden würde. Dagegen wollte er sich absichern. Also hat er Waits in die Akte geschmuggelt. Dadurch konnte er mich so polen, dass ich dem Geständnis Glauben schenkte.«
»Okay, und der zweite Punkt.«
»Hier wird die Sache ein bisschen haarig«, sagte Bosch. »Waits in das Mordbuch zu setzen war eine Möglichkeit, mich entsprechend zu polen – aber es stand auch die Absicht dahinter, mich von meiner ursprünglichen Beute fortzulocken.«
Rachel sah ihn an, aber sie verstand nicht, was er meinte.
»Kannst du mir das genauer erklären?«
»Damit erreichen wir allerdings einen Punkt, an dem wir nicht mehr über bloße Fakten reden, sondern über das, was sie bedeuten könnten. Theorien, Mutmaßungen, Spekulationen oder wie immer du es nennen willst. Olivas fügte diese Zeile nachträglich in die Chronologie ein und hielt sie mir dann unter die Nase. Ihm war klar, dass ich, wenn ich den Vermerk sähe und für bare Münze nähme, unweigerlich zu der Überzeugung gelangen würde, mein Partner und ich hätten einen Mordsbock geschossen, der in der Folge mehrere Menschen das Leben kostete. Alle diese Frauen, die Waits danach ermordet hat, hätten wie eine schwere Last auf mir gelegen.«
»Okay.«
»Und es hätte Hassgefühle auf Waits in mir geschürt. Ich wollte den Kerl, der Marie Gesto umgebracht hat, dreizehn Jahre lang unbedingt fassen. Wenn es Olivas gelungen wäre, auch noch die ganzen anderen Frauen ins Spiel zu bringen und ihren Tod mir anzulasten, hätte das die Atmosphäre zusätzlich aufgeheizt, wenn ich dem Mann schließlich gegenüberstünde. Und das hätte mich abgelenkt.«
»Wovon?«
»Von der Tatsache, dass Waits Marie Gesto gar nicht umgebracht hat. Er hat es zwar gestanden, aber er hat es nicht getan. Er hat mit Olivas und möglicherweise auch O’Shea irgendeine Abmachung getroffen und sich bereiterklärt, auch diesen Mord auf seine Kappe zu nehmen, weil er wegen all der anderen ohnehin dran war. Ich war so sehr von meinem Hass geblendet, dass ich darüber den entscheidenden Punkt aus den Augen verlor. Ich habe nicht mehr auf die Details geachtet, Rachel. Ich wollte nur noch eines – über den Tisch springen und dem Kerl die Gurgel umdrehen.«
»Du vergisst dabei aber etwas.«
»Was?«
Jetzt beugte sie sich über den Tisch und sprach betont leise, um die anderen Gäste nicht zu stören.
»Er hat euch zu der Leiche geführt. Woher soll er gewusst haben, wo sie im Wald vergraben war, wenn er sie nicht umgebracht hat?«
Bosch nickte. Das war ein berechtigter Einwand, aber einer, mit dem er sich bereits befasst hatte.
»So unmöglich wäre das keineswegs. Er könnte die entsprechenden Hinweise zum Beispiel in seiner Zelle von Olivas erhalten haben. Sie könnten auf den altbewährten Trick von Hänsel und Gretel zurückgegriffen haben – eine durch einzelne Markierungen gekennzeichnete Spur, die nur für ihn zu erkennen war. Ich werde heute Nachmittag noch mal nach Beachwood Canyon rauffahren. Und ich bin mir ziemlich sicher, wenn ich die Strecke noch mal abgehe, werde ich die Markierungen finden.«
Bosch langte über den Tisch, nahm ihren leeren Teller und tauschte ihn gegen seinen eigenen, unangetasteten. Sie protestierte nicht.
»Du glaubst also, eure Exkursion in den Beachwood Canyon diente lediglich dem Zweck, dich zu täuschen«, sagte sie. »Du meinst, Waits bekam die wichtigsten Informationen über den Mord an Marie Gesto zugespielt, um sie dann in sein Geständnis einzubauen und dich wie Rotkäppchen zu der Stelle im Wald zu locken, wo sie vergraben war.«
Er nickte.
»Genau das glaube ich. Ich weiß, wenn man es so komprimiert darstellt, hört es sich ein bisschen weit hergeholt an, aber …«
»Mehr als nur ein bisschen.«
»Was?«
»Mehr als nur ein bisschen weit hergeholt. Zuallererst, woher kannte Olivas die Einzelheiten, die er an Waits weitergab? Woher wusste er, wo sie vergraben war, um Waits den Weg zu der Stelle markieren zu können? Oder willst du etwa behaupten, Olivas hat Marie Gesto umgebracht?«
Bosch schüttelte energisch den Kopf. Er fand, sie übertrieb ihre Rolle als advocatus diaboli, und wurde allmählich ärgerlich.
»Nein, damit will ich nicht sagen, dass Olivas der Mörder war. Ich sage nur, dass der Mörder Kontakt mit ihm aufgenommen hat. Mit ihm und O’Shea. Der wahre Mörder hat sich mit ihnen in Verbindung gesetzt und ihnen einen Deal vorgeschlagen.«
»Harry, das hört sich einfach absolut …«
Sie führte den Satz nicht zu Ende. Sie schob die Sashimi mit den Stäbchen auf ihrem Teller herum, aß aber kaum davon. Der Kellner ergriff die Gelegenheit, um an ihren Tisch zu kommen.
»Haben Ihnen die Sashimi nicht geschmeckt?«, fragte er mit zitternder Stimme.
»Nein, ich …«
Sie verstummte, als sie merkte, dass sie fast noch die ganze Portion auf dem Teller vor sich hatte.
»Ich habe nur zu spät gemerkt, dass ich eigentlich gar keinen Hunger habe.«
»Wenn sie wüsste, was sie sich da entgehen lässt«, sagte Bosch lächelnd. »Ich fand sie ganz hervorragend.«
Der Kellner trug die Teller ab und sagte, er brächte ihnen gleich die Dessertkarte.
»›Ich fand sie ganz hervorragend‹«, äffte Rachel Bosch nach. »Mistkerl.«
»Entschuldige.«
Als der Kellner die Dessertkarten brachte, winkten beide ab und bestellten nur Kaffee. Danach schwieg Rachel, und Bosch beschloss, einfach abzuwarten.
»Warum jetzt?«, fragte sie schließlich.
Bosch schüttelte den Kopf.
»Das weiß ich nicht genau.«
»Wann hast du dir das letzte Mal die Akte kommen lassen und dich aktiv mit dem Fall beschäftigt?«
»Vor zirka fünf Monaten. Das Video, das ich dir neulich gezeigt habe – das war das letzte Mal, dass ich mich mit der Sache befasst habe. Ich war gerade dabei, wieder mal einen Anlauf zu machen.«
»Was hast du unternommen, außer Garland wieder einzubestellen?«
»Alles. Ich habe mit allen gesprochen und sie aufgesucht. Garland habe ich erst am Ende einbestellt.«
»Glaubst du, es war Garland, der an Olivas herangetreten ist?«
»Damit sich Olivas und möglicherweise auch O’Shea auf so einen Deal eingelassen hätten, hätte es jemand mit einer Menge Geld und Einfluss sein müssen. Die Garlands haben beides.«
Der Kellner brachte den Kaffee und die Rechnung. Bosch legte eine Kreditkarte auf Letztere, aber der Kellner war schon wieder gegangen.
»Sollen wir uns die Rechnung denn nicht wenigstens teilen?«, schlug Rachel vor. »Du hast ja nicht mal was gegessen.«
»Nein, schon gut. Was du dazu zu sagen hast, macht die Sache mehr als wett.«
»Das sagst du bestimmt zu allen Frauen.«
»Nur zu denen vom FBI.«
Sie schüttelte den Kopf. Er sah erneut Zweifel in ihren Augen.
»Was ist?«
»Ich weiß nicht, es ist nur …«
»Nur was?«
»Was, wenn du es von Waits’ Standpunkt aus betrachtest?«
»Ja?«
»Dann hört es sich einfach ziemlich an den Haaren herbeigezogen an, Harry. Wie eine dieser abstrusen Verschwörungstheorien. Man nimmt die vorliegenden Fakten und fügt sie so zusammen, bis sie zu einer weit hergeholten Theorie passen. Marilyn hat nicht Selbstmord begangen, sondern die Kennedys haben sie von der Mafia aus dem Weg räumen lassen. So in dem Stil.«
»Aber was ist jetzt mit Waits’ Standpunkt?«
»Ich meine, warum sollte er das tun? Warum sollte er einen Mord gestehen, den er nicht begangen hat?«
Bosch machte eine Bewegung mit den Händen, als schöbe er etwas von sich.
»Das ist nun wirklich einfach zu beantworten, Rachel. Er hat es getan, weil er nichts zu verlieren hat. Als Müllsack-Mörder ist er ohnehin geliefert. Wenn er vor Gericht gestellt wird, kriegt er zweifellos die Giftspritze – wie Olivas ihm gestern dort oben noch mal vor Augen geführt hat. Die einzige Chance, sein Leben zu retten, bestand darin, seine Taten zu gestehen. Und wenn Ermittler und Ankläger von ihm verlangen, dass er noch einen Mord drauflegt, was hätte Waits da schon groß sagen sollen? Sie hatten ihn vollkommen in der Hand, und wenn sie zu ihm gesagt hätten: ›Nimm noch einen auf deine Kappe!‹, hätte er brav mit dem Kopf genickt und gesagt: ›Wen?‹«
Sie nickte.
»Und da ist noch etwas«, fügte Bosch hinzu. »Er wusste, wir würden eine Exkursion mit ihm machen, und ich bin sicher, er hat sich sofort Hoffnungen gemacht. Er wusste, dass sich ihm bei dieser Gelegenheit vielleicht eine Möglichkeit zur Flucht bieten würde. Und als sie ihm sagten, er müsste uns durch den Wald fuhren, wurde diese Chance in seinen Augen noch etwas größer, und entsprechend wuchs auch seine Kooperationsbereitschaft. Möglicherweise war sogar diese Exkursion sein einziger Beweggrund.«
Sie nickte wieder. Er konnte nicht erkennen, ob er sie in irgendeinem Punkt überzeugt hatte. Eine Weile saßen sie nur schweigend da. Dann kam der Kellner und nahm die Kreditkarte. Das Mittagessen war beendet.
»Und was wirst du jetzt tun?«, fragte sie.
»Wie gesagt, zunächst fahre ich noch mal nach Beachwood Canyon rauf. Und danach werde ich mir den Mann vorknöpfen, der mir alles erklären kann.«
»O’Shea? Er wird nie mit dir reden.«
»Ich weiß. Mit ihm will ich auch gar nicht reden. Noch nicht zumindest.«
»Du willst Waits suchen?«
Er konnte die Skepsis in ihrer Stimme hören.
»Ganz genau.«
»Der ist doch längst über alle Berge, Harry. Er hat zwei Polizisten erschossen. In L. A. beträgt seine Lebenserwartung gleich null. Denkst du, er bleibt in diesem County, wo jeder mit einer Knarre, einer Dienstmarke und der Lizenz zum Töten nach ihm Ausschau hält?«
Bosch nickte langsam.
»Er ist noch hier«, sagte er voller Überzeugung. »Alles, was du sagst, ist richtig, nur dass du dabei eines vergisst. Seit ihm die Flucht gelungen ist, ist Waits am Drücker. Und wenn er nicht auf den Kopf gefallen ist – was er offensichtlich nicht ist –, macht er sich das zunutze. Er wird hierbleiben und aus O’Shea herausholen, so viel nur irgend geht.«
»Du meinst, er wird ihn erpressen?«
»Vielleicht. Waits befindet sich im Besitz der Wahrheit. Er weiß, was gespielt wurde. Damit stellt er eine Gefahr für O’Shea und seine politischen Ambitionen dar. Und wenn er zu O’Shea Kontakt aufnehmen kann, ist er jetzt derjenige, der den Herrn Kandidaten nach seiner Pfeife tanzen lassen kann.«
Sie nickte.
»Mit der Frage, wer wen in der Hand hat, hast du einen interessanten Punkt angeschnitten«, sagte sie. »Was wäre gewesen, wenn deine gigantische Verschwörung wie geplant über die Bühne gegangen wäre? Du weißt schon, Waits nimmt Gesto und alle anderen auf seine Kappe und kommt lebenslänglich ohne die Möglichkeit einer vorzeitigen Entlassung nach Pelican Bay oder San Quentin. Dann sitzt er dort in seiner Zelle und weiß über alles Bescheid – und kann mit diesem Wissen entsprechenden Druck auf die Verschwörer ausüben. Er ist weiterhin eine Gefahr für O’Shea und seine politischen Ambitionen. Weshalb sollte sich der angehende Bezirksstaatsanwalt von Los Angeles County in eine solch riskante Position begeben?«
Der Kellner kam mit der Kreditkarte und der endgültigen Rechnung zurück. Bosch fügte ein Trinkgeld hinzu und unterschrieb. Das war wohl das teuerste Mittagessen seines Lebens, das er nicht gegessen hatte.
Nachdem er seinen Namen auf das Papier gekritzelt hatte, schaute er zu Rachel auf.
»Gute Frage, Rachel. Die genaue Antwort darauf weiß ich noch nicht, aber ich nehme mal an, O’Shea oder Olivas oder sonst jemand hatte auch für diese letzte Phase schon einen Plan. Und vielleicht ist das der Grund, weshalb Waits beschloss abzuhauen.«
Sie runzelte die Stirn.
»Du lässt dich also nicht davon abbringen, oder?«
»Im Moment nicht.«
»Na dann, viel Glück. Ich glaube, du wirst es brauchen.«
»Danke, Rachel.«
Er stand auf und sie ebenfalls.
»Hast du dein Auto vom Valetservice wegbringen lassen?«, fragte sie.
»Nein, ich stehe drüben in der Garage der Bibliothek.«
Das hieß, sie würden das Restaurant durch verschiedene Ausgänge verlassen.
»Kommst du heute Abend vorbei?«, fragte er.
»Wenn es in der Arbeit nicht zu spät wird. Angeblich kriegen wir aus der Zentrale in Washington einen Fall. Soll ich dich einfach anrufen?«
Er sagte, das wäre schön, und begleitete sie zu der Tür, die in die Garage führte, wo die Leute vom Parkservice warteten. Dort umarmte er sie und verabschiedete sich von ihr.
DREIUNDZWANZIG
Bosch fuhr die Hill Street hinauf und bog dann links in die Caesar Chavez, die wenig später zum Sunset Boulevard wurde, auf dem er durch Echo Park fuhr. Er rechnete nicht damit, Raynard Waits zu entdecken, wie er an einer Ampel über die Straße ging oder aus einer Medicina-Ambulanz oder einem der Migra-Büros entlang der Straße kam. Dennoch verließ sich Bosch in diesem Fall auf seinen Riecher, und der sagte ihm, dass Echo Park als Zufluchtsort ein heißer Tipp war. Je länger er hier herumfuhr, umso vertrauter wäre ihm die Gegend, und umso besser wäre er bei seiner Suche. Riecher hin oder her, in einem Punkt war er sich ganz sicher. Bei seiner Festnahme war Waits auf dem Weg zu einem bestimmten Ziel in Echo Park gewesen. Und danach würde sich Bosch jetzt auf die Suche machen.
Er hielt nicht weit von der Quintero Street im Parkverbot und ging zum Pescado-Mojado-Grill. Dort bestellte er Camerones a la diabla und zeigte dem Mann, der seine Bestellung aufnahm, und den Kunden in der Schlange das Foto, das von Waits nach seiner Festnahme gemacht worden war. Alle reagierten mit dem üblichen Kopfschütteln, und die auf Spanisch geführten Unterhaltungen kamen zum Erliegen. Bosch ging mit seinem Teller Krabben zu einem Tisch und aß sie rasch auf.
Dann fuhr er von Echo Park nach Hause, um statt seines Anzugs eine Jeans und einen Pullover anzuziehen, und machte sich anschließend auf den Weg nach Beachwood Canyon und zur Sunset Ranch hinauf. Der Parkplatz war leer, und Bosch fragte sich, ob wegen des Polizeiaufgebots und des Medienrummels am Tag zuvor niemand zum Reiten gekommen war. Er stieg aus, holte ein zehn Meter langes Seil aus dem Kofferraum und ging auf demselben Pfad, auf dem er am Tag zuvor Waits gefolgt war, in den Wald.
Er war kaum unter den Bäumen verschwunden, als das Handy in der Tasche seiner Jeans zu vibrieren begann. Er blieb stehen, holte es heraus und sah auf dem Display, dass der Anruf von Jerry Edgar kam. Bosch hatte ihm, während er nach Hause gefahren war, eine Nachricht hinterlassen.
»Wie geht’s Kiz?«
»Besser. Du solltest sie mal besuchen, Mann. Das wäre doch endlich eine Gelegenheit, das Kriegsbeil zwischen euch zu begraben. Du hast sie gestern nicht mal angerufen.«
»Keine Angst, das mache ich schon noch. Ich hatte eigentlich vor, heute früher Schluss zu machen und bei ihr vorbeizuschauen. Kommst du auch hin?«
»Vielleicht. Melde dich, wenn du losfährst, dann versuche ich, auch hinzukommen. Aber deshalb hab ich nicht angerufen. Da ist Verschiedenes, was ich dir sagen wollte. Zuerst, sie haben heute bei der Autopsie die Identität bestätigt. Es war Marie Gesto.«
Edgar schwieg einen Moment, bevor er antwortete.
»Hast du schon mit ihren Eltern gesprochen?«
»Nein, noch nicht. Ihr Vater arbeitet als Landmaschinenverkäufer. Ich wollte heute Abend anrufen, wenn er zu Hause ist.«
»Würde ich auch so machen. Und was gibt es sonst noch, Harry? Ich habe gerade einen Kerl in einem der Vernehmungszimmer sitzen, und ich gehe gleich zu ihm rein und nehme ihn wegen eines Sexualmords in die Mangel.«
»Tut mir leid, wenn ich störe. Aber schließlich hast du mich gerade angerufen.«
»Habe ich auch, Mann. Aber nur deshalb, weil ich dachte, es ist was Wichtiges.«
»Es ist wichtig. Jedenfalls kann ich mir vorstellen, dass es dich interessiert. Dieser Vermerk, den sie in den 51ern gefunden haben, ist wahrscheinlich gefälscht. Ich glaube, wenn die Sache endgültig geklärt ist, wird sich zeigen, dass uns keine Schuld trifft.«
Diesmal kam die Reaktion seines ehemaligen Partners ohne Zögern.
»Was sagst du da? Waits hat uns damals gar nicht angerufen?«
»Nein, hat er nicht.«
»Wie kommt dann dieser Vermerk in die Chrono?«
»Jemand hat ihn nachträglich eingefügt. Erst vor Kurzem. Um mir eins auszuwischen.«
»Nicht zu fassen!« Bosch konnte den Ärger und die Erleichterung in Edgars Stimme hören. »Ich habe nicht mehr geschlafen, seit du angerufen und mir diese Scheiße erzählt hast, Harry. Dieser Kerl hat nicht nur dir eins ausgewischt.«
»Ich weiß. Deshalb habe ich ja auch angerufen. Was genau dahintersteckt, kann ich noch nicht sagen, aber bisher deutet alles darauf hin. Wenn ich Genaueres weiß, sage ich dir Bescheid. Aber jetzt kümmre dich um dein Verhör, und heiz diesem Kerl ordentlich ein.«
»Harry, ich sag dir, was Besseres hättest du mir nicht erzählen können. Ich gehe jetzt zu diesem Sack rein und breche ihm sämtliche Knochen.«
»Na wunderbar. Und ruf mich an, wenn du Kiz besuchst.«
»Alles klar, Mann.«
Bosch wusste, das war nur ein Lippenbekenntnis von Edgar. Er würde Kiz nicht besuchen, nicht, wenn er, wie er gesagt hatte, gerade in der entscheidenden Phase eines Falls steckte. Nachdem Bosch das Handy wieder in die Tasche geschoben hatte, machte er sich daran, seine Umgebung zu studieren. Er spähte nach oben und unten, vom Boden zum Blätterdach über ihm, entdeckte aber keinerlei augenfällige Markierungen. Er nahm an, dass keine Hänsel-und-Gretel-Wegzeichnung nötig gewesen war, solange Waits dem deutlich erkennbaren Pfad gefolgt war. Wenn irgendwo Markierungen angebracht worden waren, mussten sie am Fuß des Steilhangs beginnen. Er marschierte los.
Als er den Absturz erreichte, befestigte er das Seil am Stamm der Weißeiche und hangelte sich daran nach unten. Dort angekommen, ließ er das Seil hängen und sah sich aufmerksam um. Auf den ersten Blick fiel ihm nichts auf, was den Weg zu der Stelle markierte, wo Marie Gesto gefunden worden war. Er näherte sich langsam ihrem Grab und hielt dabei Ausschau nach Einritzungen in Baumstämmen, von Zweigen hängenden Haarbändern oder sonstigen Orientierungshilfen, die Waits den Weg zum Grab hätten weisen können.
Bosch erreichte die kleine Lichtung, ohne eine versteckte Wegmarkierung entdeckt zu haben. Er war enttäuscht. Es widersprach der Theorie, die er Rachel Walling vorgetragen hatte. Aber er war sicher, dass er grundsätzlich auf dem richtigen Weg war, und wollte sich deshalb noch nicht damit abfinden. Vielleicht waren die Markierungen von den zahlreichen Ermittlern und Technikern, die am Tag zuvor über den Wald hereingebrochen waren, niedergetrampelt und unkenntlich gemacht worden.
Nicht bereit, schon aufzugeben, kehrte Bosch zum Fuß des Erdrutsches zurück und blickte von dort in Richtung Grab. Er versuchte, sich in Waits’ Lage zu versetzen. Er war noch nie an diesem Ort gewesen, musste aber ohne Zögern entscheiden, welche Richtung er einzuschlagen hatte, während alle anderen ihn aufmerksam beobachteten.
Wie hat er es gemacht?
Bosch stand reglos da und blickte in Richtung Grab nachdenklich in den Wald hinein. Fünf Minuten lang rührte er sich nicht von der Stelle. Dann hatte er die Lösung.
Auf halbem Weg zum Grab stand ein hoher, sich auf Bodenhöhe gabelnder Eukalyptusbaum, dessen zwei ausgewachsene, mindestens fünfzehn Meter hohe Stämme deutlich über die umstehenden Bäume hinausragten. Etwa drei Meter über dem Boden hatte sich ein abgefallener Zweig waagrecht zwischen den zwei Stämmen verkeilt. Der geteilte Stamm und der Zweig bildeten ein deutlich zu erkennendes auf dem Kopf stehendes A, das von jemandem, der gezielt danach Ausschau hielt, rasch zu finden war.
Bosch war sich sicher, die erste Markierung entdeckt zu haben, mit deren Hilfe sich Waits orientiert hatte. Er ging auf den Eukalyptusbaum zu. Als er ihn erreicht hatte, blickte er erneut aufmerksam in Richtung Grab und bemerkte schon nach Kurzem eine weitere Anomalie, die in dieser Umgebung augenfällig und einzigartig war. Er ging darauf zu.
Es war eine junge Kalifornische Eiche. Sie war Bosch schon aus der Ferne aufgefallen, weil einer ihrer unteren Äste fehlte, sodass die natürliche Symmetrie ihrer Krone gestört war. Bosch ging zu dem Baum und schaute zum Ansatz des zehn Zentimeter dicken abgebrochenen Asts hinauf, der in zweieinhalb Meter Höhe vom Stamm abstand. Um die Bruchstelle genauer untersuchen zu können, zog sich Bosch an einem Ast nach oben und stellte fest, dass der Ast nicht von selbst abgebrochen war. An der oberen Hälfte des Astansatzes war ganz deutlich eine glatte Schnittfläche zu erkennen. Irgendjemand hatte den Ast von oben angesägt und dann von unten daran gezogen, bis er abgebrochen war. Bosch war zwar kein Baumdoktor, aber seiner Meinung nach sahen Schnitt und Bruch frisch aus. Das freigelegte innere Holz war hell und wies keine Spuren von Nachwachsen oder natürlicher Heilung auf.
Bosch sprang zu Boden und sah sich im Unterholz um. Der abgebrochene Ast war nirgendwo zu sehen. Er war weggezogen worden, damit niemand auf ihn aufmerksam würde und Verdacht schöpfte. Für Bosch ein weiterer Beweis, dass für Waits eine Hänsel-und-Gretel-Spur ausgelegt worden war.
Er blickte in die Richtung, in der sich die Lichtung befand. Er war keine zwanzig Meter mehr vom Grab entfernt und entdeckte rasch, was er für die letzte Markierung hielt. Hoch oben in der Eiche, in deren Schatten das Grab lag, befand sich das Nest eines großen Vogels, einer Eule oder eines Bussards.
Er ging zu der Lichtung und schaute nach oben. Das Haarband, das laut Waits’ Aussagen die Stelle markiert hatte, war von der Spurensicherung entfernt worden. Das weiter oben befindliche Nest war von hier aus nicht zu sehen. Olivas hatte alles sehr geschickt geplant. Er hatte drei Markierungen verwendet, die nur aus einiger Entfernung zu erkennen waren und Waits’ Begleitern nicht auffallen würden, während sie ihm selbst zuverlässig den Weg zum Grab wiesen.
Als Bosch auf das offene Grab hinabblickte, erinnerte er sich, dass ihm am Tag zuvor an dieser Stelle die aufgewühlte Erde aufgefallen war. Er hatte angenommen, es seien Nahrung suchende Tiere gewesen. Inzwischen glaubte er jedoch, dass jemand die Erde aufgegraben hatte, um sich zu vergewissern, dass es tatsächlich die richtige Stelle war. Olivas war vor allen anderen schon einmal hier oben gewesen. Er hatte den Weg markiert und sich vergewissert, wo das Grab lag. Entweder hatte er die Stelle beschrieben bekommen, oder er war vom wahren Mörder zu ihr geführt worden.
Während Bosch auf das Grab hinabstarrte und den Hergang rekonstruierte, hörte er plötzlich Stimmen näher kommen. Mindestens zwei Männer, die sich miteinander unterhielten. Bosch konnte sie durchs Unterholz gehen hören. Ihre Schritte auf dem laubbedeckten schlammigen Boden waren laut. Sie kamen aus der gleichen Richtung, aus der auch er gekommen war.
Rasch überquerte Bosch die kleine Lichtung und suchte hinter dem mächtigen Stamm einer Eiche Deckung. Es dauerte nicht lang, und die Männer hatten die Lichtung erreicht.
»Genau hier«, sagte die erste Stimme. »Dreizehn Jahre lang hat sie hier gelegen.«
»Irgendwie unheimlich.«
Um nicht entdeckt zu werden, riskierte Bosch nicht, hinter dem Baum hervorzuspähen. Egal, wer die Männer waren – Fernsehleute, Polizisten oder auch nur Schaulustige –, er wollte hier nicht gesehen werden.
Die zwei Männer blieben auf der Lichtung und unterhielten sich eine Weile über Belanglosigkeiten. Zum Glück näherte sich keiner der Eiche, hinter der Bosch stand. Schließlich hörte Bosch den ersten Mann sagen: »Dann bringen wir es mal hinter uns und verschwinden wieder.«
Die Männer entfernten sich in der Richtung, aus der sie gekommen waren. Bosch spähte hinter dem Baumstamm hervor und sah gerade noch, wie sie im Unterholz verschwanden. Er erkannte Osani und nahm an, dass sein Begleiter ebenfalls der OIS-Einheit angehörte. Sobald sie sich weit genug entfernt hatten, kam Bosch hinter dem Baum hervor und überquerte die Lichtung. Er ging hinter einem alten Eukalyptusbaum in Deckung und beobachtete, wie die zwei Männer zum Erdrutsch zurückliefen.
Osani und sein Partner bahnten sich ihren Weg durch das Unterholz so geräuschvoll, dass es für Bosch ein Leichtes war, ihnen zu folgen. Dank des Lärms, den sie machten, erreichte er unbemerkt den Eukalyptusbaum, der Waits als erster Wegweiser gedient hatte, und beobachtete, wie sich die zwei Männer daran machten, die Entfernung vom unteren zum oberen Rand des Steilabfalls zu messen. An der Stelle stand jetzt eine Leiter, die ganz ähnlich angebracht war wie die am Tag zuvor. Bosch wurde klar, dass die Männer den offiziellen Tatortbericht nachbesserten. Sie nahmen Entfernungsmessungen vor, die entweder vergessen oder für überflüssig erachtet worden waren. Angesichts der politischen Konsequenzen war inzwischen alles wichtig.
Osani kletterte die Leiter hinauf, während sein Partner unten blieb. Dann nahm er ein Maßband von seinem Gürtel, zog ein Stück heraus und reichte das Ende seinem Partner nach unten. Sie vermaßen alles. Osani las die Maße ab, sein Partner trug sie in ein Notizbuch ein. Für Bosch sah es so aus, als maßen sie die Entfernungen von der Stelle, wo er am Tag zuvor am Fuß des Steilabfalls gestanden hatte, zu den Stellen, wo Waits, Olivas und Rider sich befunden hatten. Bosch konnte sich nicht vorstellen, welche Bedeutung diese Messungen für die Ermittlungen haben könnten.
Boschs Handy begann zu vibrieren. Er holte es hastig aus seiner Tasche und machte es aus. Als das Display dunkel wurde, erkannte er noch, dass die Nummer des Anrufers mit 485 begann. Es war jemand aus dem Parker Center.
Wenige Sekunden später hörte Bosch dort, wo Osani und der andere Mann standen, ein Handy klingeln. Bosch spähte hinter dem Baumstamm hervor und sah Osani sein Handy vom Gürtel nehmen. Er hörte dem Anrufer eine Weile zu, dann drehte er sich einmal um seine Achse und spähte dabei aufmerksam in den Wald. Bosch zog sich wieder hinter den Baumstamm zurück.
»Nein, Lieutenant«, sagte Osani. »Wir sehen ihn nicht. Auf dem Parkplatz steht zwar sein Auto, aber ihn haben wir nicht gesehen. Bisher haben wir hier oben noch niemand gesehen.«
Osani hörte wieder eine Weile zu und sagte mehrere Male Ja, bevor er das Handy zuklappte und an seinen Gürtel steckte. Er machte sich erneut mit dem Maßband an die Arbeit, und eine Minute später hatten die zwei OIS-Männer, was sie brauchten.
Osanis Partner kletterte die Leiter hinauf, und beide Männer zogen sie nach oben. Das war der Moment, in dem Osani das Seil bemerkte, das um den Stamm der Weißeiche am Rand des Erdrutsches geschlungen war. Er legte die Leiter auf den Boden und ging zu dem Baum. Er löste das Seil vom Stamm und spähte in den Wald, während er es aufwickelte. Bosch ging hinter einem der zwei Stämme des Eukalyptusbaums in Deckung.
Osani und sein Partner hoben die Leiter vom Boden hoch und stapften damit in Richtung Parkplatz davon. Bosch ging zum Fuß des Erdrutsches und wartete, bis er sie nicht mehr hören konnte, dann kletterte er, sich an Baumwurzeln festhaltend, nach oben.
Als er den Parkplatz erreichte, war keine Spur mehr von Osani und seinem Partner zu sehen. Bosch machte sein Handy wieder an und wartete, bis die Netzsuche abgeschlossen war. Er wollte sehen, ob der Anrufer aus dem Parker Center eine Nachricht hinterlassen hatte. Bevor er dazu kam, sie abzuhören, begann das Handy in seiner Hand zu vibrieren. Die Nummer des eingehenden Anrufs gehörte zu einem der Anschlüsse von Offen-Ungelöst. Er ging dran.
»Hier Bosch.«
»Harry, wo sind Sie?«
Es war Abel Pratt. Er klang aufgeregt.
»Nirgendwo. Warum?«
»Wo sind Sie?«
Irgendetwas sagte Bosch, dass Pratt genau wusste, wo er war.
»Ich bin im Beachwood Canyon. Wieso, was ist?«
Pratt antwortete erst nach kurzem Schweigen. Seine Aufregung war Ärger gewichen.
»Ich habe gerade einen Anruf von Lieutenant Randolph von der OIS gekriegt habe. Er sagt, auf dem Parkplatz dort oben steht ein auf Sie zugelassener Mustang. Und ich sage ihm, das ist aber komisch, weil Harry Bosch nämlich gerade beurlaubt ist und sich so weit wie nur irgend möglich von den Ermittlungen in Beachwood Canyon fernhalten soll.«
Bosch schaltete blitzschnell.
»Wer sagt denn, dass ich hier ermittle? Ich suche etwas. Ich habe gestern meine Challenge-Münze hier draußen verloren. Und die suche ich.«
»Ihre was?«
»Meinen RHD-Chip. Er muss mir aus der Tasche gefallen sein, als ich den Steilhang runtergerutscht bin. Jedenfalls war er nicht mehr in meiner Tasche, als ich gestern Abend nach Hause kam.«
Während er das sagte, fasste Bosch in seine Hosentasche und zog die Münze heraus, die er verloren zu haben behauptete. Es war eine schwere Metallmünze von der Größe eines Spielbankenchips. Auf eine Seite war eine goldene Detective-Dienstmarke geprägt, die andere zeigte die Umrisse eines Detektivs – Anzug, Hut, Pistole und übertrieben kantiges Kinn – vor dem Hintergrund der amerikanischen Flagge. Diese Münzen wurde als Challenge Coins oder Chips bezeichnet und waren in Anlehnung an eine gängige Praxis bei militärischen Spezialeinheiten auch bei der Polizei übernommen worden. Bei der Aufnahme in eine Einheit wird dem Soldaten eine Challenge-Münze ausgehändigt, die er von da an immer bei sich zu tragen hat. Andere Angehörige der Einheit sind berechtigt, sich die Münze jederzeit und egal wo zeigen zu lassen. Am häufigsten ist dies in einer Bar oder Kantine der Fall. Hat der betreffende Soldat seine Challenge Coin nicht bei sich, zahlt er die Rechnung. Dieser Brauch war schon seit mehreren Jahren auch in der Robbery-Homicide Division übernommen worden. Bosch hatte seine Münze beim Wiedereintritt in den Polizeidienst erhalten.
»Lassen Sie doch die blöde Münze, Harry«, sagte Pratt aufgebracht. »Für zehn Dollar kriegen Sie jederzeit eine neue. Halten Sie sich von den Ermittlungen fern. Fahren Sie nach Hause, und bleiben Sie dort, bis Sie wieder von mir hören. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«
»Auf jeden Fall.«
»Außerdem, was soll dieser Scheiß? Wenn Sie Ihre Münze da droben verloren hätten, hätte sie die Spurensicherung längst gefunden. Sie haben das ganze Areal mit einem Metalldetektor nach Patronenhülsen abgesucht.«
Bosch nickte.
»Stimmt, daran habe ich gar nicht gedacht.«
»Ach ja, Harry, daran haben Sie nicht gedacht. Wollen Sie mich verarschen, oder was?«
»Nein, Chef, natürlich nicht. Ich habe wirklich nicht daran gedacht. Mir war langweilig, und da fiel mir nichts Besseres ein, als hierherzufahren und sie zu suchen. Ich habe Randolphs Leute gesehen und hielt es für das Beste, mich lieber nicht blicken zu lassen. Ich konnte ja nicht wissen, dass sie gleich meine Autonummer durchgeben würden.«
»Haben sie aber. Und dann bekam ich den Anruf. Sie wissen ganz genau, Harry, dass ich so was überhaupt nicht mag.«
»Ich werde auf der Stelle nach Hause fahren.«
»Gut. Und bleiben Sie auch dort.«
Pratt wartete nicht auf Boschs Antwort. Er legte auf, und Bosch klappte das Handy zu. Er warf die schwere Münze in die Luft, fing sie, mit der Dienstmarkenseite nach oben, auf und steckte sie ein. Dann ging er zu seinem Auto.
VIERUNDZWANZIG
Etwas an der Aufforderung, nach Hause zu fahren, veranlasste Bosch, es gerade nicht zu tun. Er machte sich auf den Weg zum St. Joe’s, um Kiz Rider zu besuchen. Sie war verlegt worden. Inzwischen lag sie nicht mehr auf der Intensivstation, sondern in einem normalen Krankenzimmer. Es war zwar kein Einzelzimmer, aber das andere Bett war nicht belegt. Das machten sie für Polizisten häufig.
Das Sprechen fiel ihr immer noch schwer, und die Niedergeschlagenheit, die sie am Morgen gezeigt hatte, war nicht verflogen. Bosch blieb nicht lang. Er richtete ihr Jerry Edgars Besserungswünsche aus und ging wieder. Diesmal fuhr er jedoch tatsächlich nach Hause und trug die zwei Behälter und die Akten, die er aus der Abteilung Offen-Ungelöst mitgenommen hatte, ins Haus.
Die Container stellte er im Esszimmer auf den Boden, die Akten breitete er auf dem Tisch aus. Es waren sehr viele, und er wusste, er könnte sich ohne Weiteres mehrere Tage mit dem Material beschäftigen, das er aus dem Parker Center mitgenommen hatte. Er ging zur Stereoanlage und machte sie an. Die CD mit dem Coltrane-Monk-Konzert aus der Carnegie Hall war noch eingelegt. Der CD-Player war auf Zufallswiedergabe gestellt, und als erste Nummer kam »Evidence«. Das fasste Bosch als ein gutes Zeichen auf, als er zum Tisch zurückkehrte.
Um entscheiden zu können, wie er das Material am besten sichten sollte, musste er sich zunächst einen Überblick verschaffen. Besondere Bedeutung hatten die Ermittlungsunterlagen zum aktuellen Fall, in dem Raynard Waits belangt wurde. Sie hatten zwar von Olivas eine Kopie der Akte erhalten, aber weder Bosch noch Rider hatten sich bisher ausführlich damit befasst, weil sie in erster Linie für die Fälle Fitzpatrick und Gesto zuständig gewesen waren. Außerdem hatte Bosch neben dem Fitzpatrick-Mordbuch, das Rider aus dem Archiv geholt hatte, seine heimlich angefertigte Kopie des Gesto-Mordbuchs, das er bereits vollständig durchgearbeitet hatte.
Auf dem Boden schließlich waren die zwei Plastikcontainer mit den Pfandleihscheinen, die noch hatten gerettet werden können, nachdem Fitzpatricks Leihhaus bei den Unruhen von 1992 in Brand gesteckt und dann bei den Löscharbeiten unter Wasser gesetzt worden waren.
Im Esstisch war eine kleine Schublade, die ursprünglich für das Besteck gedacht gewesen war, aber weil Bosch den Tisch häufiger zum Arbeiten als zum Essen benutzte, bewahrte er darin sein Schreibmaterial auf. Um die wichtigsten Aspekte des aktuellen Ermittlungsverfahrens schriftlich festzuhalten, holte er einen Stift und einen Block Papier heraus. Aber zwanzig Minuten und drei abgerissene und zerknüllte Seiten später füllten seine frei formulierten Gedanken nicht einmal eine halbe Seite.
/ Festnahme
Echo Park
/ Flucht (Red Line)
Wer ist Waits? Wo ist die Burg? (Ziel: Echo Park)
Beachwood Canyon – abgekartetes Spiel, falsches Geständnis
Wer profitiert davon? Warum jetzt?
Bosch studierte seine Notizen eine Weile. Er wusste, die letzten zwei Fragen, die er aufgeschrieben hatte, waren eigentlich der Ausgangspunkt. Wer hätte von Waits’ falschem Geständnis profitiert, wenn alles nach Plan verlaufen wäre? Zunächst einmal Waits selbst, weil er der Todesstrafe entgangen wäre. Aber am meisten hätte der wahre Mörder davon profitiert. Der Fall wäre zu den Akten gelegt und die Ermittlungen wären eingestellt worden. Der wahre Mörder wäre seiner gerechten Strafe entgangen.
Bosch sah wieder auf die zwei Fragen. Wer profitiert davon? Warum jetzt? Er dachte ausgiebig darüber nach, dann kehrte er ihre Reihenfolge um und dachte noch einmal darüber nach. Er gelangte zum einzig möglichen Schluss. Seine fortgesetzten Ermittlungen im Fall Marie Gesto hatten es für den Täter notwendig gemacht, jetzt etwas zu unternehmen. Er musste davon ausgehen, dass er jemandem zu penetrant auf die Zehen gestiegen war, und dass der ganze Beachwood-Canyon-Plan eine Folge des Drucks war, den er weiter ausübte.
Daraus ergab sich zwangsläufig die Antwort auf die zweite Frage unten auf dem Blatt. Wer profitiert davon? Bosch schrieb:
Anthony Garland-Hancock Park
Dreizehn Jahre lang hatte Boschs Instinkt ihm gesagt, dass Garland der Täter war. Aber außer seinem Riecher gab es nichts, was Garland konkret mit dem Mord in Verbindung brachte. Bosch wusste noch nicht, ob bei der Ausgrabung der Leiche oder bei der Autopsie neues Beweismaterial aufgetaucht war, aber er bezweifelte, dass nach dreizehn Jahren noch etwas Brauchbares gefunden würde – sei es DNA oder irgendwelche forensische Spuren, mithilfe deren sich eine Verbindung zwischen Leiche und Mörder hätte herstellen lassen.
Garland galt lediglich infolge der »Ersatzopfer«-Theorie als Verdächtiger. Damit war gemeint, dass er wegen seines Hasses auf die Frau, die ihm den Laufpass gegeben hatte, eine Frau umgebracht hatte, die ihn an sie erinnerte. Die Psychologen hätten das als eine weit hergeholte Theorie bezeichnet, aber Bosch stellte sie jetzt ganz bewusst in den Vordergrund. Man muss nur zwei und zwei zusammenzählen, dachte er. Garland war der Sohn von Thomas Rex Garland, dem reichen Ölbaron aus Hancock Park. O’Shea befand sich mitten in einem erbittert geführten Wahlkampf, und Geld war der Treibstoff, der eine Wahlkampfmaschinerie am Laufen hielt. Es war nicht auszuschließen, dass er in aller Stille Kontakt mit T. Rex aufgenommen hatte, worauf eine Abmachung getroffen und ein Plan in die Tat umgesetzt worden war. O’Shea erhält das Geld, das er benötigt, um die Wahl zu gewinnen, Olivas wird zum Chefermittler von O’Sheas Behörde ernannt, Waits nimmt Gesto auf seine Kappe, und Garland jun. ist endgültig aus dem Schneider.
Es hieß, L. A. wäre ein sonniger Ort für zwielichtige Gestalten. Bosch hätte mehr als genügend Geschichten erzählen können, die das bestätigten. Für ihn bestand kein Zweifel, dass jemand wie Olivas sich ohne zu zögern an einem derartigen Komplott beteiligt hätte. Und auch die Vorstellung, ein karrieregeiler Staatsanwalt wie O’Shea könnte für das Amt des obersten Anklägers seine Seele verkaufen, erforderte nicht sonderlich viel Fantasie.
»Lauf nur, du Feigling! Was wird jetzt aus deinem miesen Kuhhandel?«
Bosch klappte sein Handy auf und rief Keisha Russell von der Times an. Nach mehrmaligem Klingeln sah er auf die Uhr und stellte fest, dass es kurz nach fünf war. Vermutlich hatte sie nicht mehr lange bis zur Abgabefrist und nahm keine Anrufe mehr entgegen. Er hinterließ ihr eine Nachricht mit der Bitte um Rückruf.
Nachdem es schon so spät war, entschied Bosch, er hätte sich ein Bier verdient. Er ging in die Küche und holte sich ein Anchor Steam aus dem Kühlschrank. Er war froh, bei seinem letzten Biereinkauf nicht aufs Geld geschaut zu haben. Er nahm die Flasche mit auf die Terrasse hinaus und beobachtete, wie der Feierabendverkehr den Freeway unter ihm verstopfte. Die Autos kamen nur noch im Schritttempo voran, und das pausenlose Konzert von Autohupen jeder Tonart setzte ein. Es war gerade weit genug entfernt, um nicht störend zu sein. Bosch war froh, dass er nicht in dem Kampfgetümmel da unten steckte.
Sein Handy summte, und er holte es aus der Tasche. Es war Keisha Russell.
»Tut mir leid, aber ich bin gerade noch mit dem Schlussredakteur den morgigen Artikel durchgegangen.«
»Hoffentlich haben Sie meinen Namen richtig geschrieben.«
»Sie kommen gar nicht darin vor, Harry – da staunen Sie, was?«
»Das nenne ich mal eine positive Überraschung.«
»Was können Sie für mich tun?«
»Ähm, eigentlich wollte ich Sie fragen, ob Sie was für mich tun können.«
»Habe ich mir’s doch fast gedacht. Und was wäre das?«
»Sie sind doch inzwischen im Ressort Politik, richtig? Heißt das auch, dass Sie Einblick in Wahlkampfspenden haben?«
»Habe ich. Ich bin über sämtliche Spenden an meine Kandidaten im Bild. Warum?«
Bosch ging nach drinnen und drehte die Musik aus.
»Das bleibt jetzt aber bitte unter uns, Keisha. Ich wüsste gern, wer Rick O’Sheas Wahlkampf unterstützt.«
»O’Shea? Warum?«
»Das erzähle ich Ihnen, wenn ich es Ihnen erzählen darf. Ich muss es einfach dringend wissen.«
»Warum tun Sie mir das immer wieder an, Harry?«
Es stimmte. Dieses Ritual hatten sie in der Vergangenheit schon öfter absolviert. Dazu musste allerdings auch gesagt werden, dass Bosch immer Wort gehalten und ihr Informationen weitergegeben hatte, sobald er es konnte. Er hatte ihr nicht ein einziges Mal falsche Versprechungen gemacht. Deshalb waren ihre Proteste nur Geplänkel, eine Vorstufe ihrer Einwilligung in das, was Bosch von ihr wollte. Auch das gehörte zu ihrem Ritual.
»Das wissen Sie ganz genau«, sagte er, wie es seine Rolle verlangte. »Helfen Sie mir einfach, und wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist, springt was für Sie heraus.«
»Eines Tages möchte ich aber auch mal bestimmen, wann der richtige Zeitpunkt gekommen ist. Moment, bleiben Sie dran.«
Es klickte in der Leitung, und sie war fast eine Minute lang weg. Während Bosch wartete, stand er über den auf dem Esszimmertisch ausgebreiteten Dokumenten. Er wusste, dass er gegen O’Shea und Garland auf verlorenem Posten stand. Vorerst konnte er ihnen nichts anhaben. Sie wurden von Geld und vom Gesetz geschützt. Bosch wusste, er würde sich auf Raynard Waits konzentrieren müssen. Seine Aufgabe war es, ihn zu finden und den Fall zu knacken.
»So«, sagte Russell, als sie wieder ans Telefon zurückkam. »Ich habe die aktuellsten Informationen. Was wollen Sie wissen?«
»Wie aktuell?«
»Sie sind letzte Woche reingekommen. Freitag.«
»Wer sind seine wichtigsten Wahlkampfspender?«
»Es ist kein wirklich ganz großer Fisch dabei, wenn Sie das meinen. Die meisten seiner Unterstützer sind Anwaltskollegen. Fast alle von ihnen.«
Bosch dachte an die Anwaltskanzlei in Century City, die für die Familie Garland die Rechtsangelegenheiten regelte und die richterliche Verfügung erwirkt hatte, laut der Bosch Anthony Garland nur noch im Beisein eines Anwalts zu Marie Gesto hatte befragen dürfen. Chef dieser Kanzlei war Cecil Dobbs.
»Ist unter diesen Anwälten auch Cecil Dobbs?«
»Ähm -ja, C. C. Dobbs, Adresse in Century City. Er hat einen Tausender gespendet.«
Bosch dachte an den Anwalt auf dem Video mit Anthony Garlands Vernehmungen.
»Und Dennis Franks?«
»Franks, ja. Eine Menge Mitarbeiter dieser Kanzlei haben gespendet.«
»Wie meinen Sie das?«
»Laut Wahlrecht muss man sowohl Privat- als auch Geschäftsadresse angeben, wenn man einen Kandidaten mit einer Spende unterstützt. Dobbs und Franks haben eine Geschäftsadresse in Century City, und, warten Sie mal, neun, zehn, elf andere Spender haben dieselbe Adresse angegeben. Sie haben auch alle tausend Dollar gespendet. Die Anwälte gehören wahrscheinlich alle derselben Kanzlei an.«
»Von da kommen also dreizehntausend Dollar. Ist das richtig?«
»So viel von dieser Seite, ja.«
Bosch überlegte, ob er sie fragen sollte, ob der Name Garland auf der Spenderliste stand. Er wollte jedoch nicht, dass sie herumzutelefonieren begann oder sich in seine Ermittlungen einmischte.
»Keine großen Firmen?«
»Nichts von Belang. Warum sagen Sie mir nicht einfach, wonach Sie suchen, Harry? Sie können mir vertrauen.«
Er beschloss, es zu riskieren.
»Sie behalten es aber für sich, bis Sie von mir hören. Keine Telefonate, keine Nachforschungen. Sie halten schön still, ja?«
»Ja. Bis ich von Ihnen höre.«
»Garland. Thomas Rex Garland, Anthony Garland, steht einer von den beiden drauf?«
»Nein. Ist Anthony Garland nicht der Junge, den Sie mal wegen Marie Gesto im Visier hatten?«
Fast hätte Bosch laut losgeflucht. Er hatte gehofft, sie würde diese Verbindung nicht herstellen. Zehn Jahre zuvor, als sie gerade als Polizeireporterin angefangen hatte, war ihr sein Antrag auf einen Durchsuchungsbefehl für Anthony Garlands Wohnung in die Hände gefallen. Der Antrag war mangels eines berechtigten Grundes abgelehnt worden, aber er war ins öffentlich zugängliche Archiv gelangt, das Russell, die ehrgeizige junge Journalistin, damals regelmäßig nach Durchsuchungsbefehlen durchkämmt hatte. Bosch hatte ihr zwar ausreden können, den Sprössling der lokalen Öldynastie in einem Artikel als Verdächtigen im Mordfall Gesto hinzustellen, aber trotzdem konnte sie sich zehn Jahre später noch an seinen Namen erinnern.
»Damit können Sie nichts anfangen, Keisha«, sagte er.
»Was haben Sie vor? Raynard Waits hat doch den Mord an Gesto gestanden. Wollen Sie damit sagen, das stimmt gar nicht?«
»Ich sage gar nichts. Ich war nur wegen einer bestimmten Sache neugierig, mehr nicht. Aber wie gesagt, Sie dürfen in der Sache nicht tätig werden. Wir haben eine Abmachung. Sie behalten das für sich, bis Sie von mir hören.«
»Sie sind nicht mein Boss, Harry. Also warum reden Sie dann mit mir, als wären Sie mein Boss?«
»Entschuldigung. Ich will nur nicht, dass Sie losgehen und einen Mordswirbel verursachen. Es könnte sich nachteilig auf meine bisherigen Bemühungen auswirken. Wir haben eine Abmachung, ja? Sie haben gerade gesagt, dass ich Ihnen vertrauen kann.«
Es dauerte eine Weile, bis sie antwortete.
»Ja, wir haben eine Abmachung. Und ja, Sie können sich auf mich verlassen. Aber wenn das in die Richtung geht, in die ich vermute, will ich auf dem Laufenden gehalten werden. Ich werde hier nicht brav herumsitzen und warten, dass ich von Ihnen höre, bis Sie alles unter Dach und Fach haben. Falls ich nichts von Ihnen höre, Harry, werde ich nervös. Und wenn ich nervös werde, mache ich alle möglichen verrückten Dinge, vielleicht auch alle möglichen verrückten Telefonate.«
Bosch schüttelte den Kopf. Er hätte sie niemals anrufen dürfen.
»Ich habe verstanden, Keisha. Sie hören von mir.«
Er klappte das Handy zu und fragte sich, welche Lawine er da gerade losgetreten hatte und wann sie ihn unter sich begraben würde. Er vertraute Russell, aber nur so weit, wie man einem Journalisten eben trauen konnte. Er trank sein Bier aus und ging in die Küche, um sich ein neues zu holen. Als er es aufmachte, läutete erneut sein Telefon.
Es war noch einmal Keisha Russell.
»Harry, haben Sie schon mal was von GO!-Industries gehört?«
Hatte er. GO!-Industries war der aktuelle Firmenname eines Unternehmens, das achtzig Jahre zuvor als Garland Oil Industries gegründet worden war. Das Unternehmen hatte ein Logo, auf dem das Wort GO! Räder hatte und nach rechts geneigt war, als wäre es ein schnell fahrendes Auto.
»Was ist damit?«, fragte er.
»Die Firmenzentrale ist downtown an der ARCO Plaza. Ich zähle zwölf GO!-Mitarbeiter, die jeweils tausend Dollar an O’Shea gespendet haben. Wie finden Sie das?«
»Sehr gut, Keisha. Danke, dass Sie noch mal angerufen haben.«
»Hat sich O’Shea schmieren lassen und dafür Waits den Mord an Gesto in die Schuhe geschoben? Ist es das?«
Bosch stöhnte ins Telefon.
»Nein, Keisha, das ist nicht, was passiert ist, und es ist auch nicht, womit ich mich beschäftige. Wenn Sie irgendwelche Telefonate in dieser Richtung führen, würde sich das negativ auf das auswirken, was ich tue. Außerdem könnten Sie dadurch sich, mich und andere in Gefahr bringen. Würden Sie dieses Thema jetzt also bitte auf sich beruhen lassen, bis ich Ihnen genau sagen kann, worum es geht und wann Sie damit an die Öffentlichkeit gehen können?«
Wieder einmal zögerte sie, bevor sie antwortete, und es war in diesem kurzen Moment des Schweigens, dass Bosch sich zum ersten Mal fragte, ob er ihr noch vertrauen konnte. Hatte sich mit ihrem Ressortwechsel von der Polizei zur Politik vielleicht eine Veränderung in ihr vollzogen? War ihre Integrität in Mitleidenschaft gezogen worden, wie bei den meisten, die mit dem ältesten Gewerbe der Welt, der politischen Hurerei, in Berührung kamen?
»Na schön, Harry, alles klar. Ich wollte Ihnen nur helfen. Aber vergessen Sie nicht, was ich gesagt habe. Ich will von Ihnen hören. Und zwar bald!«
»Werden Sie, Keisha. Einen schönen Abend noch.«
Er klappte das Handy zu und versuchte seine Befürchtungen wegen der Journalistin abzuschütteln. Er dachte über die Information nach, die er von ihr erhalten hatte. O’Shea hatte von GO! und der Kanzlei Cecil Dobbs’ mindestens 25000 Dollar an Wahlkampfspenden erhalten, also von lauter Leuten, die direkt mit den Garlands in Verbindung gebracht werden konnten. Es war zwar alles ganz offiziell und legal, aber trotzdem ein wichtiger Hinweis, dass er auf der richtigen Fährte war.
Er spürte ein zufriedenes Kribbeln im Bauch. Endlich hatte er etwas, womit er arbeiten konnte. Jetzt musste er nur noch den richtigen Weg finden, die Sache anzupacken. Er ging zum Esszimmertisch und blickte auf die Polizeiprotokolle und Unterlagen hinab, die dort ausgebreitet lagen. Er griff nach dem Ordner mit der Aufschrift WAITS – HINTERGRUND und begann zu lesen.
FÜNFUNDZWANZIG
Aus Sicht der Strafverfolger war Raynard Waits als Mordverdächtiger ein Ausnahmefall. Als sein Lieferwagen in Echo Park angehalten wurde, ging dem LAPD ein Mörder ins Netz, nach dem es gar nicht gesucht hatte. Und es hatte auch sonst keine Ermittlungsbehörde nach ihm gefahndet. In keinem Aktenschrank oder Computer existierte eine Akte über ihn. Es gab weder ein FBI-Profil noch Hintergrundinformationen, auf die man hätte zurückgreifen können. Sie hatten einen Mörder, bei dem sie gewissermaßen bei null anfangen mussten.
Aus diesem Grund waren Detective Freddy Olivas und sein Partner Ted Colbert anders als üblich an die Ermittlungen herangegangen. Der Fall hatte von Anfang an eine Eigendynamik entfaltet, die sie einfach mitgerissen hatte. Alles befand sich in Vorwärtsbewegung, in Richtung Anklage und Prozess. Da war wenig Zeit oder Veranlassung, rückwärts zu schauen. Bei seiner Festnahme hatte sich Waits im Besitz mehrerer Müllsäcke mit den Körperteilen zweier ermordeter Frauen befunden. Es war ein absoluter Glückstreffer gewesen, und deswegen hatte es niemand für nötig gehalten, der Frage auf den Grund zu gehen, wer ihnen da in die Hände gefallen war, und weshalb dieser Mann zu diesem Zeitpunkt auf dieser Straße in diesem Lieferwagen unterwegs gewesen war.
Folglich gab es in der Ermittlungsakte wenig, was Bosch weiterhalf. Sie dokumentierte in erster Linie die Bemühungen der Cops, die Opfer zu identifizieren und die Beweise für das bevorstehende Strafverfahren zu sammeln.
Die Hintergrundinformationen in der Akte beschränkten sich auf die elementaren persönlichen Daten zu Waits’ Person, die entweder vom Verdächtigen selbst stammten oder von Olivas und Colbert bei routinemäßig durchgeführten Computerrecherchen zusammengetragen worden waren. Tatsache war, dass sie sehr wenig über den Mann wussten, den sie unter Anklage stellen wollten, aber was sie wussten, reichte aus.
Bosch hatte die Akte in zwanzig Minuten durchgelesen. Auch diesmal hatte er hinterher weniger als eine halbe Seite seines Blocks vollgeschrieben. Er hatte eine kurze Zeitlinie skizziert, in die er Waits’ Festnahmen sowie die Verwendung der Namen Raynard Waits und Robert Saxon eingetragen hatte.
Bosch studierte die Zeitlinie. Zwei Dinge fand er bemerkenswert. Zum einen hatte Waits offensichtlich erst mit zwanzig einen Führerschein bekommen, zum anderen hatte er, egal, welchen Namen er verwendete, immer denselben Geburtstag und -monat angegeben. Um noch als Minderjähriger durchzugehen, hatte er zwar bei einer Gelegenheit 1975 als Geburtsjahr angegeben, aber sonst ausnahmslos 1971. Bosch wusste, dass das bei Personen, die ihre Identität wechselten, gängige Praxis war. Man änderte den Namen, behielt aber einige der anderen Angaben unverändert bei, um nicht durcheinanderzukommen oder wichtige Daten zu vergessen – was einem vor allem bei Befragungen durch die Cops leicht zum Verhängnis werden konnte.
Durch die Recherchen, die Bosch und Rider Anfang der Woche durchgeführt hatten, wusste er, dass in Los Angeles County unter dem Datum 3.11. keine Geburtsurkunde für einen Raynard Waits oder Robert Saxon vorlag. Daraus hatten er und Rider den Schluss gezogen, dass beide Namen falsch waren. Aber inzwischen war Bosch zu der Ansicht gelangt, dass das Geburtsdatum 3.11.71 womöglich stimmte. Vielleicht hatte Waits, oder wie immer er mit richtigem Namen hieß, sein Geburtsdatum beibehalten und nur seinen Namen geändert.
Bosch fiel die große zeitliche Nähe zwischen Fitzpatricks Ermordung und dem Ausstellungsdatum von Waits’ Führerschein auf. Dazwischen lag weniger als ein Monat. Hinzu kam noch, dass Waits seinen Personalunterlagen zufolge erst mit zwanzig einen Führerschein beantragt hatte. Bosch fand es unwahrscheinlich, dass sich ein in der Autostadt L. A. aufwachsender Junge erst mit zwanzig einen Führerschein zugelegt haben sollte. Es war ein weiteres Anzeichen dafür, dass Raynard Waits nicht sein richtiger Name war.
Bosch konnte es fühlen. Wie ein Surfer, der auf die richtige Dünung wartet, bevor er zu paddeln beginnt, spürte er, wie seine Welle kam. Was er hier betrachtete, war die Geburt einer neuen Identität. Achtzehn Tage nachdem er im Schutz der Unruhen Daniel Fitzpatrick ermordet hatte, kam sein Mörder in die Führerscheinstelle in Hollywood und beantragte einen Führerschein. Als Geburtsdatum gab er den 3. November 1971 an, als Namen Raynard Waits. Bei der Antragstellung hatte er zwar eine Geburtsurkunde vorlegen müssen, aber wenn er die richtigen Leute kannte, dürfte das kein allzu großes Problem gewesen sein. Nicht in Hollywood. Nicht in L. A. Sich eine falsche Geburtsurkunde zu beschaffen wäre einfach und mit keinerlei nennenswerten Risiken verbunden gewesen.
Bosch glaubte, dass der Fitzpatrick-Mord und die Namensänderung sich zueinander wie Ursache und Wirkung verhielten. Irgendetwas in Zusammenhang mit dem Mord hatte den Mörder veranlasst, seinen Namen zu ändern. Das stand in krassem Widerspruch zu dem Geständnis, das Raynard Waits zwei Tage zuvor abgelegt hatte. Er hatte die Ermordung Daniel Fitzpatricks als einen Mord hingestellt, den er um des Kitzels willen begangen hatte, als eine Gelegenheit, lang gehegte Fantasien auszuleben. Er hatte Fitzpatrick ganz bewusst als ein Opfer dargestellt, das er sich vollkommen willkürlich und aus keinem anderen Grund als dem ausgesucht hatte, dass es zufällig gerade seinen Weg kreuzte.
Doch wenn es tatsächlich so gewesen sein sollte und der Mörder vorher keinerlei Kontakt mit seinem Opfer gehabt hatte, warum hatte er sich dann unmittelbar nach der Tat eine neue Identität zugelegt? Innerhalb von achtzehn Tagen besorgte sich der Mörder eine gefälschte Geburtsurkunde und beantragte einen neuen Führerschein. Raynard Waits war geboren.
Bosch wusste, irgendwo bestand hier ein Widerspruch. Wenn die Ermordung Fitzpatricks tatsächlich so abgelaufen war, wie Waits sie geschildert hatte, hätte für ihn kein Anlass bestanden, sich umgehend eine neue Identität zuzulegen. Doch dem widersprachen die Fakten – die Zeitlinie des Mordes und das Ausstellungsdatum des Führerscheins. Die Schlussfolgerung lag für Bosch auf der Hand. Es gab einen Zusammenhang. Fitzpatrick war kein Zufallsopfer. Zwischen ihm und seinem Mörder musste es eine Verbindung gegeben haben. Und das war der Grund, weshalb Waits seinen Namen geändert hatte.
Bosch stand auf und trug die leere Flasche in die Küche. Er fand, zwei Bier waren genug. Er musste bei klarem Verstand und immer schön oben auf der Welle bleiben. Er ging zur Stereoanlage und legte das Meisterwerk ein. Kind of Blue. Es ging ihm jedes Mal von Neuem unter die Haut. »All Blues« war die erste Nummer der Zufallswiedergabe, und es war, als bekäme man an einem 25-Dollar-Tisch einen Black Jack. Es war seine Lieblingsnummer, und er ließ sie laufen.
Zurück am Esstisch, schlug er das Fitzpatrick-Mordbuch auf und begann zu lesen. Kiz Rider hatte es erst vor Kurzem durchgearbeitet, aber sie hatte sich nur einen allgemeinen Überblick verschafft, um sich auf Waits’ Geständnis vorzubereiten. Sie hatte nicht nach dem verborgenen Zusammenhang gesucht, nach dem Bosch jetzt Ausschau hielt.
Die Ermittlungen zu Fitzpatricks Tod hatten zwei Detectives durchgeführt, die vorübergehend der Riot Crimes Task Force zugeteilt worden waren. Sie hatten sich bestenfalls oberflächlich damit befasst. Weil es nicht viele Anhaltspunkte gab, waren sie auch nur wenigen gefolgt; zudem hatte bei allen während der dreitägigen Unruhen begangenen Straftaten, von vorneherein wenig Hoffnung bestanden, sie könnten jemals gelöst werden. Insbesondere die Gewaltverbrechen waren fast ausnahmslos willkürlicher und zufälliger Natur gewesen. Die Leute hatten wahllos und nach Belieben geraubt, vergewaltigt und gemordet – einfach, weil sie es konnten.
Es wurden keine Zeugen für den Mord an Fitzpatrick ermittelt. Außer der Dose Brennspiritus, die zudem nachträglich abgewischt worden war, wurde kein forensisches Beweismaterial gefunden. Die meisten Pfandscheine waren durch Feuer oder Wasser zerstört worden. Die wenigen, die übrig geblieben waren, hatte man in zwei Plastikbehälter gepackt und in der Asservatenkammer vor sich hin schimmeln lassen. Der Fall wurde vom ersten Augenblick an als aussichtslos betrachtet. Er verwaiste und kam ins Archiv.
Das Mordbuch war so dünn, dass es Bosch in weniger als zwanzig Minuten von vorn bis hinten durchgelesen hatte. Er hatte sich keine Notizen gemacht, keine Ideen bekommen, keine Zusammenhänge gesehen. Er spürte, wie sein Schwung nachließ. Sein Ritt auf der Welle neigte sich dem Ende zu.
Er überlegte gerade, ob er doch noch ein Bier aus dem Kühlschrank holen und sich den Fall am nächsten Tag noch einmal vornehmen sollte. Da ging die Haustür auf, und Rachel Walling kam mit mehreren Kartons von Chinese Friends herein. Um Platz zum Essen zu schaffen, stapelte Bosch die Akten auf dem Esstisch. Rachel holte Teller aus der Küche und öffnete die Kartons. Bosch nahm die letzten zwei Anchors aus dem Kühlschrank.
Sie unterhielten sich eine Weile, und dann erzählte er ihr, was er seit dem Mittagessen gemacht und was er in Erfahrung gebracht hatte. Ihre zurückhaltenden Kommentare verrieten ihm, dass sie seine Beschreibung der Wegzeichnung, die er im Beachwood Canyon gefunden hatte, nicht überzeugte. Doch als er ihr seine Zeitlinie zeigte, war sie, was seine Schlussfolgerungen hinsichtlich der Namensänderung des Mörders nach dem Fitzpatrick-Mord anging, mit ihm einer Meinung. Sie gab ihm auch darin recht, dass sie zwar nicht den richtigen Namen des Mörders hatten, aber möglicherweise sein richtiges Geburtsdatum.
Bosch blickte auf die zwei Plastikbehälter auf dem Boden hinab.
»Dann sind die Dinger wohl einen Versuch wert«, sagte er.
Sie neigte sich zur Seite, um sehen zu können, worauf er schaute.
»Was ist das?«
»Hauptsächlich alte Pfandscheine. Alle Unterlagen, die nach dem Brand aus dem Leihhaus geborgen wurden. Sie wurden damals alle nass. Sie haben sie in diese Behälter geworfen und vor sich hin gammeln lassen. Niemand hat sie je durchgesehen.«
»Ist das dein Plan für heute Abend, Harry?«
Er schaute zu ihr auf und lächelte. Er nickte.
Als sie mit dem Essen fertig waren, schnappte sich jeder von ihnen einen Behälter. Bosch schlug vor, sie wegen des Modergeruchs, der ihnen beim Öffnen sicher entgegenschlüge, mit nach draußen auf die Terrasse zu nehmen. Rachel erklärte sich sofort einverstanden. Bosch trug die zwei Behälter nach draußen, dann holte er aus dem Carport zwei leere Pappkartons. Sie setzten sich in die Liegestühle und machten sich an die Arbeit.
Auf dem Deckel des Behälters, den Bosch sich vorgenommen hatte, war mit Klebeband eine 8 x 12 Zentimeter große Karte mit der Aufschrift HAUPTAKTENSCHRANK befestigt. Bosch nahm den Deckel ab und fächelte damit die Dämpfe fort, die aus dem Behälter aufstiegen. Er enthielt hauptsächlich rosafarbene Pfandscheinabschnitte und 8 x 12 Zentimeter große Karten, die offensichtlich einfach in den Behälter gekippt worden waren. Die Unterlagen waren in keiner Weise geordnet.
Das Wasser hatte erheblichen Schaden angerichtet. Viele Leihscheine waren in feuchtem Zustand aneinandergeklebt, auf anderen war die Tinte bis zur Unleserlichkeit verschmiert. Bosch schaute zu Rachel hinüber und sah, dass sie mit den gleichen Problemen zu kämpfen hatte.
»Sieht nicht gerade vielversprechend aus, Harry«, sagte sie.
»Ich weiß. Tu einfach, was du kannst. Es könnte unsere letzte Hoffnung sein.«
Es gab keine andere Möglichkeit anzufangen, als einfach zuzugreifen. Bosch nahm einen Packen Pfandscheine heraus, legte sie sich in den Schoß und begann, sie durchzusehen. Sein Augenmerk richtete sich vor allem auf Namen, Adresse und Geburtsdatum der einzelnen Kunden. Jeden Abschnitt, den er sich angesehen hatte, markierte er in der linken oberen Ecke mit einem roten Stift aus der Esstischschublade und warf ihn dann in die Schachtel auf der anderen Seite seines Liegestuhls.
Sie waren eine gute halbe Stunde voll konzentriert und schweigend bei der Sache, als Bosch das Telefon in der Küche klingeln hörte. Er überlegte, ob er es läuten lassen sollte, aber er wusste, es könnte ein Anruf aus Hongkong sein. Er stand auf.
»Ich wusste gar nicht, dass du einen Festnetzanschluss hast«, sagte Walling.
»Das wissen auch nicht viele.«
Er nahm das Telefon beim achten Läuten aus der Ladestation. Es war nicht seine Tochter. Es war Abel Pratt.
»Ich wollte nur sehen, was Sie treiben«, sagte er. »Aber ich gehe mal davon aus, dass Sie tatsächlich zu Hause sind, wenn ich Sie über den Festnetzanschluss erreiche.«
»Stehe ich jetzt schon unter Hausarrest, oder was?«
»Nein, Harry, ich mache mir nur Sorgen um Sie, mehr nicht.«
»Hören Sie, Sie werden meinetwegen keine Scherereien kriegen, okay? Aber Beurlaubung heißt nicht, dass ich sieben Tage die Woche vierundzwanzig Stunden zu Hause sein muss. Ich habe mich bei der Gewerkschaft erkundigt.«
»Ich weiß. Aber es heißt, dass Sie sich nicht mit irgendwelchen polizeilichen Ermittlungen befassen dürfen.«
»Schon klar.«
»Was machen Sie gerade?«
»Ich sitze mit einer Freundin auf der Terrasse. Wir trinken Bier und genießen die Abendluft. Irgendwas dagegen einzuwenden, Chef?«
»Jemand, den ich kenne?«
»Höchstwahrscheinlich nicht. Sie mag keine Cops.«
Pratt lachte, und es schien, als hätte Bosch endlich seine Bedenken hinsichtlich dessen, was er gerade machte, ausgeräumt.
»Dann will ich Sie nicht mehr weiter stören. Einen schönen Abend noch, Harry.«
»Werde ich sicher haben, sofern ich nicht ständig ans Telefon muss. Ich melde mich morgen bei Ihnen.«
»Ich werde im Büro sein.«
»Und ich werde hier sein. Gute Nacht.«
Er hängte auf, hielt im Kühlschrank nach versteckten oder bisher übersehenen Bieren Ausschau und kehrte mit leeren Händen auf die Terrasse zurück. Rachel erwartete ihn mit einem Lächeln im Gesicht und einer wasserfleckigen 8x12-Karte in der Hand, an der mit einer Büroklammer ein rosafarbener Pfandschein befestigt war.
»Ich hab’s gefunden«, sagte sie.
Sie reichte ihm die Karte, und Bosch ging ins Haus zurück, wo das Licht besser war. Zuerst las er die Karte. Sie war mit blauer Tinte beschriftet, die vom Wasser zwar zum Teil zerlaufen, aber noch lesbar war.
Unzufriedener Kunde – 12.2.92
Kunde hat sich beschwert, dass Eigentum vor Ablauf der 90-tägigen Aufbewahrungsfrist verkauft wurde. Pfandschein gezeigt und berichtigt. Kunde hat sich beschwert, dass 90 Tage keine Wochenenden und Feiertage einschließen dürften. Geschimpft/Tür zugeknallt.
DGF
Auf dem rosafarbenen Pfandschein, der an der Beschwerdekarte befestigt war, standen der Name Robert Foxworth, das Geburtsdatum 03.11.71 und eine Adresse in der Fountain Avenue in Hollywood. Der am 8. Oktober 1991 verpfändete Gegenstand war als »Medaillon, Erbstück« angegeben. Foxworth hatte achtzig Dollar dafür erhalten. In der rechten unteren Ecke des Pfandscheins war ein Kästchen für einen Fingerabdruck. Bosch konnte darin die Ränder eines Abdrucks erkennen, aber die Tinte war entweder verblasst oder wegen der Feuchtigkeit im Innern des Lagerbehälters ausgewaschen worden.
»Das Geburtsdatum ist dasselbe«, sagte Rachel. »Und der Name passt in zweifacher Hinsicht.«
»Inwiefern?«
»Robert übernahm er bei dem Namen Robert Saxon, und das Fox aus Foxworth übernahm er in Form von Raynard. Vielleicht ist diese ganze Raynard-Geschichte darauf zurückzuführen. Wenn Foxworth sein richtiger Name ist, erzählten ihm seine Eltern als kleinem Jungen vielleicht Geschichten über einen Fuchs namens Reynard.«
»Wenn Foxworth wirklich sein richtiger Name ist«, gab Bosch zu bedenken. »Vielleicht ist das auch nur ein Deckname.«
»Durchaus möglich. Aber zumindest ist es etwas, was du vorher nicht hattest.«
Bosch nickte. Er spürte, wie seine Aufregung wuchs. Sie hatte recht. Endlich hatten sie einen neuen Anhaltspunkt. Bosch holte sein Handy aus der Tasche.
»Mal sehen, was herauskommt, wenn ich den Namen durchgebe.«
Er rief die Telefonzentrale an und bat die Telefonistin, den Namen und das Geburtsdatum durch den Computer laufen zu lassen. Sie kam ohne Vorstrafen und ohne einen Hinweis auf einen gültigen Führerschein zurück. Bosch bedankte sich und steckte das Telefon wieder weg.
»Nichts«, sagte er. »Nicht mal ein Führerschein.«
»Aber das ist doch gut«, sagte Rachel. »Verstehst du denn nicht? Robert Foxworth wäre jetzt fünfunddreißig. Wenn es kein Vorstrafenregister und keinen Führerschein gibt, ist das ein weiteres Anzeichen dafür, dass er nicht mehr existiert, dass er entweder tot oder ein anderer geworden ist.«
»Raynard Waits.«
Sie nickte.
»Wahrscheinlich hatte ich gehofft, einen Führerschein mit einer Adresse in Echo Park zu kriegen«, sagte Bosch. »Aber das wäre wohl etwas zu viel verlangt.«
»Nicht unbedingt. Gibt es in Kalifornien eine Möglichkeit, abgelaufene Führerscheine nachzuprüfen? Wahrscheinlich bekam Robert Foxworth, wenn das sein richtiger Name ist, 1987, als er sechzehn wurde, einen Führerschein. Und der müsste dann erloschen sein, als er sich eine neue Identität zulegte.«
Bosch ließ sich das kurz durch den Kopf gehen. Er wusste, dass Führerscheininhaber bis Anfang der Neunzigerjahre keinen Daumenabdruck hatten hinterlegen müssen. Das hieß, wenn Foxworth sich schon in den späten Achtzigerjahren einen Führerschein hatte ausstellen lassen, gab es keine Möglichkeit, ihn mit seiner neuen Identität als Raynard Waits in Verbindung zu bringen.
»Ich könnte morgen bei der Führerscheinstelle anrufen. Das ist nichts, was ich heute Abend noch über die Telefonzentrale feststellen lassen kann.«
»Da ist noch etwas, was du morgen fragen kannst«, sagte sie. »Erinnerst du dich noch an das Profil, das ich dir neulich auf die Schnelle erstellt habe? Ich habe dir doch gesagt, dass diese frühen Straftaten keine vereinzelten Aussetzer waren. Da muss es auch vorher schon etwas gegeben haben.«
Bosch verstand, worauf sie hinauswollte.
»Du meinst, irgendwelche Jugendstrafen.«
Sie nickte.
»Möglicherweise existiert ein Jugendvorstrafenregister für Robert Foxworth – vorausgesetzt natürlich, es ist sein richtiger Name. Darauf hättest du über die Telefonzentrale auch keinen Zugriff gehabt.«
Sie hatte recht. Laut kalifornischem Recht durften bei einem Straftäter nach Erreichen der Volljährigkeit die Jugendstrafen nicht mehr in der Akte auftauchen. Als die Zentrale den Namen durch den Computer laufen ließ, mochte er zwar frei von Vorstrafen zurückgekommen sein, aber sein Träger musste deshalb keine weiße Weste haben. Wie bei der Führerscheinanfrage müsste Bosch bis zum nächsten Morgen warten. Erst dann konnte er im Amt für Bewährungshilfe in das Jugendstrafregister Einsicht nehmen.
Doch kaum waren seine Hoffnungen wieder erwacht, erhielten sie einen neuerlichen Dämpfer.
»Augenblick, das haut nicht hin«, sagte er. »Als sie damals die Fingerabdrücke von Raynard Waits durch den Computer laufen ließen, hätten sie automatisch eine Übereinstimmung mit den Fingerabdrücken des Jugendstraftäters Robert Foxworth erzielen müssen. Selbst wenn sein Vorstrafenregister nicht zugänglich ist, bleiben die Fingerabdrücke trotzdem gespeichert.«
»Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Zwei separate Systeme. Zwei separate Bürokratien. Da klappt die Vernetzung nicht immer.«
Das stimmte zwar, war aber in erster Linie Wunschdenken. Bosch stufte die Jugendstrafentheorie auf »unwahrscheinlich« zurück. Wesentlich höher war die Wahrscheinlichkeit, dass Robert Foxworth als Jugendlicher nie mit dem Gesetz in Konflikt gekommen war. Bosch gelangte zu der Überzeugung, dass der Name nur eine weitere falsche Identität war.
Rachel versuchte, das Thema zu wechseln.
»Was hältst du von diesem verpfändeten Erbstück?«, fragte sie.
»Keine Ahnung.«
»Ist doch interessant, dass er es zurückhaben wollte. Es deutet darauf hin, dass es nicht gestohlen war. Wahrscheinlich hat es einem Familienangehörigen gehört, und er wollte es zurückhaben.«
»Das würde wahrscheinlich das Schimpfen und Türenschlagen erklären.«
Sie nickte.
Bosch musste gähnen und merkte plötzlich, wie müde er war. Er hatte sich den ganzen Tag lang die Hacken abgelaufen, nur um auf diesen Namen zu stoßen und die vielen neuen Fragen, die er aufwarf. Der Fall wuchs ihm über den Kopf. Rachel schien zu merken, was in ihm vorging.
»Harry, lass uns Schluss machen. Wir sind, denke ich, ganz gut vorangekommen. Genehmigen wir uns lieber noch ein Bier.«
»Ich weiß nicht, ob wir tatsächlich so gut vorangekommen sind, aber gegen ein Bier hätte nichts einzuwenden«, sagte Bosch. »Die Sache hat nur einen Haken.«
»Und der wäre?«
»Ich habe kein Bier mehr im Haus.«
»Jetzt hör aber mal, Harry. Du lädst ein Mädchen zu dir ein, damit sie die Drecksarbeit für dich macht und dir den Fall lösen hilft, und alles, was sie von dir kriegt, ist ein Bier? Was ist eigentlich los mit dir? Wie sieht es mit einem Glas Wein aus? Hast du Wein da?«
Bosch schüttelte geknickt den Kopf.
»Aber ich fahre gleich welchen holen.«
»Sehr gut. Und ich mache mich schon mal auf den Weg ins Schlafzimmer. Ich warte dort auf dich.«
»Dann werde ich mich extra beeilen.«
»Nimm mir bitte eine Flasche Roten mit, ja?«
»Bin schon unterwegs.«
Bosch verließ rasch das Haus. Er hatte seinen Wagen am Straßenrand geparkt, damit Rachel ihren in den Carport stellen konnte, wenn sie ihn besuchte. Als er die Haustür hinter sich schloss, fiel ihm ein Auto auf, das zwei Häuser weiter auf der anderen Straßenseite stand. Der silberfarbene Geländewagen stach ihm deshalb ins Auge, weil er in einer roten Zone hielt. Dort war das Parken am Straßenrand verboten. Die Gefahr, dass ein um die Kurve kommendes Fahrzeug mit einem dort geparkten Wagen kollidierte, war zu groß.
Während Bosch noch zu dem Geländewagen schaute, fuhr dieser plötzlich mit ausgeschalteten Lichtern los und verschwand um die Kurve.
Bosch lief zu seinem Auto, sprang hinein und folgte dem Geländewagen. Er fuhr so schnell, wie er verantworten zu können glaubte. Zwei Minuten später hatte er auf der kurvenreichen Straße die Kreuzung mit dem Mulholland Drive erreicht. Von dem Geländewagen war keine Spur zu sehen. Er konnte an der Kreuzung in alle drei Richtungen gefahren sein.
»Scheiße!«
Bosch blieb eine Weile an der Kreuzung stehen und dachte darüber nach, was er gerade gesehen hatte und was es bedeuten könnte. Er gelangte zu der Überzeugung, dass es entweder nichts zu bedeuten hatte oder dass jemand sein Haus und somit auch ihn beobachtete. Im Moment gab es jedoch nichts, was er tun konnte. Er ließ die Sache vorläufig auf sich beruhen. Er bog links ab und fuhr mit normaler Geschwindigkeit auf dem Mulholland Drive zum Cahuenga Boulevard hinunter. Er wusste, nicht weit vom Lankershim Boulevard gab es einen Getränkemarkt. Während der Fahrt dorthin sah er immer wieder in den Rückspiegel, ob ihm jemand folgte.
SECHSUNDZWANZIG
Beurlaubung hin oder her, am nächsten Morgen zog Bosch einen Anzug an, bevor er losfuhr. Er wusste, er verliehe ihm eine Aura von Autorität und Selbstvertrauen, wenn er sich mit den Behörden herumschlagen musste. Und spätestens zwanzig nach neun hatte sich diese Entscheidung bezahlt gemacht. Er hatte eine konkrete Spur. Im Archiv der Führerschein- und Zulassungsstelle gab es Unterlagen zu einer Fahrerlaubnis, die am 3. November 1987, also an dem Tag, an dem er sechzehn wurde und Auto fahren durfte, auf einen Robert Foxworth ausgestellt worden war. Der Führerschein war in Kalifornien nie verlängert worden, aber dem Amt lagen auch keine Angaben vor, dass der Inhaber verstorben war. Das konnte drei Dinge bedeuten: Entweder hatte sich Foxworth in einem anderen Bundesstaat niedergelassen und dort einen Führerschein beantragt, oder er hatte aufgehört, Auto zu fahren, oder er hatte eine andere Identität angenommen. Bosch tippte auf Letzteres.
Die Spur war die Adresse auf dem Führerschein. Als Foxworth’ Wohnsitz war darauf das Los Angeles County Department of Children and Family Services, 3075 Wilshire Blvd., Los Angeles, angegeben. Demnach war er 1987 in einem Heim des County untergebracht gewesen. Das hieß, er hatte entweder keine Eltern mehr gehabt, oder sie waren nicht imstande gewesen, ihn aufzuziehen, sodass er ihnen weggenommen worden war. Dass das DCFS als seine Adresse angegeben war, bedeutete, dass er entweder in einem der Heime des DCFS oder bei einer Pflegefamilie untergebracht gewesen war. Bosch wusste das alles deshalb so genau, weil auch auf seinem ersten Führerschein eine solche Adresse gestanden hatte. Auch er war ein Pflegling des County gewesen.
Beim Verlassen der Führerscheinstelle in der Spring Street verspürte Bosch einen deutlichen Energieschub. Was ihm am Abend zuvor noch wie eine Sackgasse erschienen war, hatte sich als eine konkrete Spur entpuppt. Als er zu seinem Auto ging, begann sein Handy zu vibrieren, und er nahm den Anruf entgegen, ohne im Gehen innezuhalten oder einen Blick auf das Display zu werfen. Er hoffte, es wäre Rachel, damit er ihr die gute Nachricht gleich mitteilen könnte.
»Harry, wo sind Sie? Bei Ihnen zu Hause ist niemand drangegangen.«
Es war Abel Pratt. Langsam hatte Bosch die Nase voll, dass er ihm ständig hinterherschnüffelte.
»Ich bin gerade unterwegs zu Kiz. Was dagegen?«
»Nein, Harry, außer dass Sie sich bei mir melden sollten.«
»Einmal am Tag. Es ist noch nicht mal zehn!«
»Ich möchte jeden Morgen von Ihnen hören.«
»Wie Sie wollen. Morgen ist Samstag. Soll ich Sie da auch anrufen? Und was ist mit Sonntag?«
»Jetzt regen Sie sich nicht gleich so auf. Ich meine es doch nur gut mit Ihnen, das wissen Sie ganz genau.«
»Klar, Chef, wie Sie meinen.«
»Das Neueste haben Sie doch sicher schon gehört.«
Bosch blieb abrupt stehen.
»Wurde Waits gefasst?«
»Nein – schön wär’s.«
»Was dann?«
»Es kam ganz groß in den Nachrichten. Hier sind sie deswegen alle total aus dem Häuschen. Gestern Nacht wurde in Hollywood auf offener Straße ein Mädchen entführt. Auf dem Hollywood Boulevard in einen Lieferwagen gezerrt. Letztes Jahr haben sie dort diese neuen Überwachungskameras aufgestellt, und eine hat einen Teil der Entführung aufgenommen. Ich habe die Aufnahmen zwar noch nicht gesehen, aber sie sagen, es war Waits. Er hat sein Aussehen verändert – sich eine Glatze rasiert, glaube ich –, aber sie sagen, er ist es. Für elf ist eine Pressekonferenz angesetzt, und dann wird das Video zur Veröffentlichung freigegeben.«
Bosch spürte ein dumpfes Pochen in seiner Brust. Er hatte recht behalten mit seiner Annahme, dass Waits noch in Los Angeles war. Inzwischen wünschte er sich, er hätte sich getäuscht. Dabei fiel ihm auf, dass er vom Mörder immer noch als Raynard Waits dachte. Auch wenn er in Wirklichkeit Robert Foxworth war, wusste Bosch, dass er für ihn immer Waits bleiben würde.
»Haben sie das Kennzeichen des Lieferwagens?«, fragte er.
»Nein, es war verdeckt. Alles, was sie durchgegeben haben, ist, dass es ein stinknormaler weißer Econoline-Kastenwagen war. Wie der andere, den er fuhr, nur älter. Aber ich muss jetzt Schluss machen. Ich wollte nur sehen, was Sie so treiben. Hoffentlich bringt die OIS den Fall endlich zum Abschluss, damit Sie wieder zurück zur Einheit können.«
»Ja, das wäre schön. Ach, noch was, Chef, bei seinem Geständnis hat Waits gesagt, in den Neunzigerjahren hätte er einen anderen Kastenwagen gefahren. Vielleicht sollte die Spezialeinheit jemand damit beauftragen, nach alten Zulassungen unter seinem Namen zu suchen. Unter Umständen stoßen sie dabei auf ein Kennzeichen, das zu dem Lieferwagen gehört.«
»Einen Versuch wäre es jedenfalls wert. Ich werde es ihnen sagen.«
»Gut.«
»Bewegen Sie sich nicht zu weit von zu Hause fort, Harry. Und bestellen Sie Kiz schön Grüße.«
»Mache ich.«
Froh, dass ihm so schnell die Ausrede mit Kiz eingefallen war, klappte Bosch das Handy zu. Gleichzeitig wurde ihm klar, dass ihm das Lügen gegenüber Pratt langsam zur Gewohnheit wurde, und darüber war er weniger begeistert.
Bosch stieg in sein Auto und fuhr zum Wilshire Boulevard. Durch Pratts Anruf war ihm die Brisanz der Sache noch deutlicher bewusst geworden. Waits hatte wieder eine Frau entführt, aber zum Glück gab es in den Akten keine Hinweise darauf, dass er seine Opfer sofort tötete. Das hieß, sein jüngstes Opfer war möglicherweise noch am Leben. Bosch wusste, er könnte die Frau vielleicht retten, wenn es ihm gelang, Waits aufzuspüren.
Im Jugendamt war es laut und voll. Er musste an einem Schalter im Archiv fünfzehn Minuten lang warten, bis er an die Reihe kam. Nachdem die Sachbearbeiterin die Daten, die Bosch ihr gab, in den Computer eingetippt hatte, teilte sie ihm mit, es gebe tatsächlich ein Jugendstrafregister für Robert Foxworth, geboren am 3.11.71, aber um es einzusehen, bräuchte er eine richterliche Anordnung.
Bosch lächelte nur. Der Umstand, dass tatsächlich eine Akte existierte, versetzte ihn in solche Aufregung, dass er sich kaum über die neuerliche Erschwernis ärgerte. Er bedankte sich bei der Frau und sagte, er käme mit einem Durchsuchungsbefehl wieder.
Bosch trat hinaus in den Sonnenschein. Er musste jetzt eine Entscheidung treffen. Abel Pratt am Telefon etwas vorzuflunkern war eine Sache. Wenn er allerdings ohne Genehmigung seiner eigenen Behörde – in Form eines Okay seines Vorgesetzten – eine richterliche Anordnung zur Einsichtnahme in die DCFS-Unterlagen beantragte, ginge er eindeutig einen Schritt zu weit. Damit stellte er auf eigene Faust Ermittlungen an und machte sich eines Verstoßes schuldig, der seine Entlassung nach sich ziehen konnte.
Er konnte mit dem, was er hatte, zu Randolph von der OIS oder zur Fugitive Task Force, der Fahndungsabteilung, gehen, damit sie sich um alles Weitere kümmerten, oder er konnte den verbotenen Weg einschlagen und das damit verbundene Risiko auf sich nehmen. Noch nie hatte sich Bosch seit seiner Rückkehr in den Polizeidienst durch die Dienstvorschriften so stark eingeengt gefühlt. Er hatte bereits einmal alles hingeworfen und wusste, er könnte es im Notfall wieder tun. Beim zweiten Mal fiele es ihm sogar leichter. Er wollte zwar nicht, dass es so weit käme, aber wenn es sich nicht anders machen ließe, wäre er dazu durchaus imstande.
Er zog sein Handy heraus und machte den einen Anruf, der es ihm möglicherweise ersparen würde, zwischen zwei gleichermaßen unbefriedigenden Alternativen wählen zu müssen. Rachel Walling meldete sich nach dem zweiten Läuten auf ihrem Handy.
»Und was tut sich so bei Taktik?«, fragte er.
»Oh, bei uns tut sich immer was. Wie ging’s bei dir? Hast du schon gehört, dass Waits gestern Abend eine Frau entführt hat?«
Sie hatte, besonders wenn sie aufgeregt war, die Angewohnheit, mehr als eine Frage auf einmal zu stellen. Bosch bejahte, dass er von der Entführung gehört hatte, und berichtete ihr dann von seinen morgendlichen Aktivitäten.
»Und was willst du jetzt tun?«
»Ich bin am Überlegen, ob das FBI vielleicht Interesse hat, sich in den Fall einzuschalten.«
»Und was macht den Fall plötzlich auch für das FBI interessant?«
»Ach, weißt du, Bestechung von Staatsbeamten, Verstöße gegen das Parteispendengesetz, Entführung – das Übliche eben.«
Sie blieb ernst.
»Ich weiß nicht, Harry. Wenn du diese Tür öffnest, kann kein Mensch sagen, was dahinter lauert.«
»Aber ich habe einen Insider. Jemand, der auf mich aufpasst und seine schützende Hand über den Fall hält.«
»Mach dir da mal keine Illusionen. Wahrscheinlich würden sie mich von der Sache fernhalten, so weit es nur geht. Es ist nicht meine Gruppe, und dann wäre da auch noch der Interessenkonflikt.«
»Was für ein Interessenkonflikt? Wir haben auch zuvor schon zusammengearbeitet.«
»Ich sage dir nur, wie es wahrscheinlich aufgenommen würde.«
»Hör zu, ich brauche eine richterliche Anordnung. Wenn ich mir in meiner augenblicklichen Situation eine zu beschaffen versuche, schmeißen sie mich möglicherweise raus. Für Pratt wäre es der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt, da bin ich mir ganz sicher. Wenn ich allerdings sagen kann, dass ich zu einem FBI-Verfahren hinzugezogen wurde, wäre das eine hinreichende Erklärung. Dann könnten sie mir nichts anhaben. Alles, was ich will, ist, mir Foxworth’ DCFS-Akte anzusehen. Ich glaube, sie ist der Schlüssel dazu, was es mit Echo Park auf sich hat.«
Sie schwieg eine Weile, bevor sie antwortete.
»Wo bist du gerade?«
»Noch beim DCFS.«
»Kauf dir einen Doughnut oder was. Ich komme, so schnell es irgend geht.«
»Bist du dir da auch wirklich sicher?«
»Nein, aber ich tu’s trotzdem.«
Sie beendete das Gespräch. Bosch klappte sein Handy zu und blickte sich um. Statt sich einen Doughnut zu kaufen, ging er zu einem Zeitungskasten und holte sich die Morgenausgabe der Times. Er setzte sich auf den Pflanzkasten, der entlang der gesamten Vorderseite des DCFS-Gebäudes verlief, und blätterte die Zeitung nach Meldungen über die Raynard-Waits- und Beachwood-Canyon-Ermittlungen durch.
Über die Entführung auf dem Hollywood Boulevard gab es keine Meldung, weil sie sich in der Nacht und lange nach der Drucklegung der Zeitung ereignet hatte. Die Berichterstattung über den Fall Waits war von der ersten Seite in den Lokalteil gerutscht, aber sie war immer noch sehr umfangreich. Insgesamt waren es drei Artikel. Die prominenteste Meldung befasste sich mit der bislang erfolglosen landesweiten Fahndung nach dem entflohenen Serienmörder. Angesichts der Ereignisse der vergangenen Nacht waren die meisten darin enthaltenen Informationen überholt. Es gab keine landesweite Fahndung mehr. Waits war noch in der Stadt.
Diese Meldung befand sich in der Mitte der Seite und wurde von zwei begleitenden Artikeln flankiert. Einer davon hatte die jüngsten Ermittlungsergebnisse zum Gegenstand und enthielt einige Details über den Ablauf von Waits’ Flucht, der andere befasste sich mit den neuesten politischen Entwicklungen in Zusammenhang mit dem Vorfall. Letzterer stammte von Keisha Russell, und Bosch überflog ihn hastig, um zu sehen, ob sie irgendetwas über die Finanzierung von Rick O’Sheas Wahlkampf in den Artikel hatte einfließen lassen. Zum Glück war das nicht der Fall, und er spürte, wie sein Vertrauen in sie wieder wuchs.
Bosch hatte inzwischen alle drei Artikel gelesen, aber Rachel war immer noch nicht aufgetaucht. Er blätterte zu den anderen Teilen der Zeitung, studierte Tabellen von Sportereignissen, deren Ausgang ihm egal war, und las Kritiken von Filmen, die er sich nie ansehen würde. Als es nichts mehr zu lesen gab, legte er die Zeitung weg und begann, vor dem Gebäude auf und ab zu gehen. Er wurde unruhig, denn er fürchtete, den Schwung zu verlieren, zu dem ihm die Entdeckungen des Morgens verholfen hatten.
Er holte das Handy heraus, um Rachel anzurufen, beschloss dann aber, sich stattdessen im St. Joseph’s Hospital nach Kiz Riders Zustand zu erkundigen. Er wurde zur Krankenstation im zweiten Stock durchgestellt und dann erst einmal auf Warteschleife gelegt. Während er darauf wartete, durchgestellt zu werden, sah er, wie Rachel in einer FBI-Limousine angefahren kam. Er klappte das Handy zu und ging auf sie zu, als sie ausstieg.
»Und was machen wir jetzt?«, sagte er zur Begrüßung.
»Was, kein ›Wie geht’s?‹ oder ›Danke, dass du gekommen bist‹?«
»Danke, dass du gekommen bist. Und was machen wir jetzt?«
Sie gingen in das Gebäude.
»Was wir jetzt machen, ist Folgendes – wir gehen nach FBI-Manier vor. Ich marschiere da jetzt rein und komme dem Verantwortlichen mit der geballten Macht der Regierung dieses großen Landes. Ich lasse das Gespenst des Terrorismus vor ihm auferstehen, und er wird die Akte rausrücken.«
Bosch blieb stehen.
»Das nennst du einen Plan?«
»Diese Methode hat mehr als fünfzig Jahre lang ihren Zweck hervorragend erfüllt.«
Sie blieb nicht stehen. Jetzt musste er sich beeilen, um sie einzuholen.
»Woher willst du wissen, dass der Verantwortliche ein Mann ist?«
»Weil das immer so ist. Wo lang?«
Er deutete geradeaus nach vorn in den Hauptkorridor. Rachel ging mit unverminderter Entschlossenheit weiter.
»Für so einen Schwachsinn habe ich nicht vierzig Minuten auf dich gewartet, Rachel.«
»Hast du etwa eine bessere Idee?«
»Ich hatte eine bessere Idee. Einen FBI-Durchsuchungsbefehl, falls du dich noch erinnerst.«
»Das kam von vornherein nicht infrage, Bosch. Ich habe dir doch gesagt, wenn ich diese Schleuse öffne, wirst du einfach weggeschwemmt. So ist es besser. Rein, raus. Ich habe doch gesagt, ich beschaffe dir die Akte. Wie, spielt keine Rolle.«
Sie marschierte jetzt mit bundespolizeilichem Elan zwei Schritte vor ihm her. Insgeheim begann Bosch, an sie zu glauben. Die Aura von Autorität und Befehlsgewalt, mit der sie durch die Flügeltür unter dem Schild ARCHIV schritt, war über jeden Zweifel erhaben.
Die Frau, mit der Bosch kurz zuvor zu tun gehabt hatte, fertigte am Schalter einen anderen Bürger ab. Walling pflanzte sich vor ihr auf und wartete nicht ab, bis sie aufgefordert wurde zu sprechen. Mit einer raschen, flüssigen Bewegung zog sie ihren Dienstausweis aus der Jacke ihres Kostüms.
»FBI. Ich muss in einer dringenden Angelegenheit Ihren Abteilungsleiter sprechen.«
Die Frau sah sie unbeeindruckt an.
»Ich bin Ihnen gern behilflich, sobald ich …«
»Sie sind mir jetzt sofort behilflich, meine Liebe. Holen Sie Ihren Chef, oder ich hole ihn. In dieser Sache geht es um Leben und Tod.«
Die Frau machte ein Gesicht, als wäre ihr noch nie jemand so unverschämt gekommen. Ohne den Bürger vor ihr oder sonst jemanden eines Wortes zu würdigen, wandte sie sich vom Schalter ab und ging zu einer Tür hinter einer Reihe von Schreibtischen.
Sie mussten keine Minute warten. Die Frau tauchte wieder in der Tür auf, gefolgt von einem Mann in einem weißen kurzärmeligen Hemd mit einer braunen Krawatte. Er kam direkt auf Rachel Walling zu.
»Ich bin Mr. Osborne. Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Wir müssten kurz in Ihr Büro, Sir. Es handelt sich um eine streng vertrauliche Angelegenheit.«
»Da lang, bitte.«
Er deutete auf eine Schwingtür im hinteren Ende des Schalters. Bosch und Walling gingen darauf zu, und das Türschloss öffnete sich mit einem leisen Summen. Sie folgten Osborne durch die Flügeltür in sein Büro. Sobald er hinter seinem mit staubigen Dodgers-Erinnerungsstücken zugestellten Schreibtisch Platz genommen hatte, zeigte ihm Rachel ihren Ausweis. Mitten auf seinem Arbeitstisch lag ein eingepacktes Sandwich von Subway.
»Was hat das alles …«
»Mr. Osborne, ich arbeite für die Tactical-Intelligence-Einheit hier in Los Angeles. Was das heißt, ist Ihnen sicher klar. Und das hier ist Detective Harry Bosch vom LAPD. Wir sind mit gemeinsamen Ermittlungen von enormer Wichtigkeit und Dringlichkeit befasst. Von Ihrer Mitarbeiterin haben wir erfahren, dass es in Ihrem Archiv eine Akte für eine Person namens Robert Foxworth gibt, geboren am 3.11.71. Es ist von äußerster Wichtigkeit, dass wir unverzüglich Einsicht in diese Akte erhalten.«
Osborne nickte, aber was er sagte, entsprach dem keineswegs.
»Ich verstehe. Aber wir sind hier beim DCFS an strikte Weisungen gebunden. Bundesstaatliche Gesetze zum Schutz der Kinder und Jugendlichen. Die Unterlagen unserer minderjährigen Schützlinge dürfen nur mit einer entsprechenden richterlichen Anordnung eingesehen werden. Mir sind also die Hände …«
»Sir, Robert Foxworth ist nicht mehr minderjährig. Er ist vierunddreißig Jahre alt. Die Akte könnte Angaben enthalten, die uns ermöglichen, eine außerordentlich ernste Bedrohung von dieser Stadt abzuwenden. Sie wird auf jeden Fall helfen, Leben zu retten.«
»Ich weiß, aber trotzdem müssen Sie verstehen, dass wir nicht …«
»Das ist mir durchaus klar. Allerdings werden wir, wenn wir diese Akte nicht sofort zu sehen bekommen, möglicherweise den Verlust eines Menschenlebens zu beklagen haben. Damit wollen Sie Ihr Gewissen doch ebenso wenig belasten, Mr. Osborne, wie wir das wollen. Deshalb sitzen wir im selben Boot. Ich will Ihnen einen Vorschlag machen, Sir. Wir werden hier in Ihrem Büro und in Ihrem Beisein Einsicht in die Akte nehmen. In der Zwischenzeit werde ich kurz telefonieren und ein Mitglied meines Teams beauftragen, eine richterliche Anordnung aufzusetzen. Ich werde dafür Sorge tragen, dass sie noch heute von einem Richter unterzeichnet und Ihnen vor Ende des Geschäftstages überstellt wird.«
»Na schön. Ich muss die Akte allerdings aus dem Archiv anfordern.«
»Ist das Archiv hier im Haus?«
»Ja, unten im Keller.«
»Dann rufen Sie bitte im Archiv an, und lassen Sie die Akte heraufbringen. Wir haben nicht viel Zeit, Sir.«
»Warten Sie hier. Ich werde mich persönlich darum kümmern.«
»Danke, Mr. Osborne.«
Der Mann verließ das Büro, und Walling und Bosch setzten sich auf die Stühle vor seinem Schreibtisch. Rachel lächelte.
»Jetzt lass uns mal hoffen, dass er es sich nicht anders überlegt«, sagte sie.
»Du bist wirklich unschlagbar«, sagte er. »Ich sage zu meiner Tochter immer, du könntest einem Zebra seine Streifen ausreden. Ich glaube, du könntest sie sogar einem Tiger ausreden.«
»Wenn das klappt, bist du mir noch ein Mittagessen im Water Grill schuldig.«
»Okay. Aber bitte kein Sashimi.«
Sie warteten fast fünfzehn Minuten auf Osbornes Rückkehr. Als er in das Büro zurückkam, hatte er einen zwei Zentimeter dicken Ordner bei sich. Er reichte ihn Walling, die ihn im Aufstehen an sich nahm. Bosch folgte ihrem Beispiel und erhob sich ebenfalls.
»Sie kriegen die Akte so bald wie möglich zurück«, sagte sie. »Danke, Mr. Osborne.«
»Moment, Moment! Sie sagten, Sie würden sie sich hier ansehen.«
Rachel steuerte, bereits wieder Schwung aufnehmend, auf die Tür des Büros zu.
»Dafür ist jetzt keine Zeit, Mr. Osborne. Wir müssen los. Sie erhalten die Akte morgen früh zurück.«
Sie war bereits aus dem Zimmer. Bosch folgte ihr und schloss hinter sich die Tür, durch die gerade noch Osbornes letzten Worte drangen.
»Was ist mit der richterlichen …«
Als sie hinter der Schalterbeamtin vorbeigingen, bat Walling sie, die Schwingtür zu öffnen. Rachel hielt ihren Zwei-Schritte-Vorsprung auf Bosch, als sie in den Flur hinausmarschierten. Es gefiel ihm, hinter ihr zu gehen, und er bewunderte ihr Auftreten. Führungsstärke in Reinkultur.
»Gibt es hier in der Nähe ein Starbucks, wo wir uns die Akte ansehen können? Ich würde auch gern einen Blick reinwerfen, bevor ich zurückfahre.«
»Es gibt immer ein Starbucks in der Nähe.«
Sie verließen das Gebäude und liefen in Richtung Osten los, bis sie zu einem winzigen Imbiss mit einer kleinen Theke und ein paar Hockern kamen. Das war auf jeden Fall besser, als nach einem Starbucks zu suchen. Während Bosch bei dem Mann hinter der Theke zwei Tassen Kaffee bestellte, schlug Rachel bereits den Ordner auf.
Bis der Kaffee auf die Theke gestellt und bezahlt war, hatte Rachel eine Seite Vorsprung vor Bosch. Sie saßen nebeneinander, und sie reichte ihm jeweils eine Seite, wenn sie damit fertig war. Sie lasen schweigend, und keiner von beiden trank seinen Kaffee. Mit dem Kaffee hatten sie sich lediglich den Arbeitsplatz an der Theke erkauft.
Das erste Dokument in der Akte war eine Kopie von Foxworth’ Geburtsurkunde. Er war im Queen of Angels Hospital auf die Welt gekommen. Als seine Mutter war Rosemary Foxworth eingetragen, geb. 21.6.54 in Philadelphia, Pa., Vater unbekannt. Wohnsitz der Mutter war in der Orchid Avenue in Hollywood gewesen. Bosch siedelte die Adresse im Herzen eines Viertels an, das sich mittlerweile Kodak Center nannte und Teil der umfassenden Sanierung Hollywoods war. Inzwischen prägten dort Glamour, Glas und rote Teppiche das Bild, aber 1971 hatten es noch Nutten und Drogensüchtige bestimmt.
In der Geburtsurkunde waren auch der Arzt, der die Entbindung vorgenommen hatte, und ein mit dem Fall betrauter Sozialarbeiter des Krankenhauses aufgeführt.
Bosch rechnete nach. Rosemary Foxworth war siebzehn Jahre alt gewesen, als sie ihren Sohn auf die Welt gebracht hatte. Kein Vater eingetragen oder bei der Geburt anwesend. Kein Vater bekannt. Die Eintragung des Sozialarbeiters bedeutete, dass das County die Rechnung für die Entbindung übernommen hatte, und der Wohnsitz der Mutter verhieß nichts Gutes für einen glücklichen Lebenseinstieg des kleinen Robert.
All das fügte sich in Boschs Kopf zu einem Bild, das wie ein Polaroidfoto immer deutlichere Umrisse entwickelte. Er nahm an, Rosemary Foxworth war eine Ausreißerin aus Philadelphia, die in Hollywood gelandet war und dort mit Gleichgesinnten in irgendeinem Loch gehaust hatte. Wahrscheinlich hatte sie auf den Straßen der näheren Umgebung als Prostituierte gearbeitet. Vermutlich hatte sie Drogen genommen. Sie brachte den Jungen zur Welt, und dann schritt irgendwann das County ein und nahm ihn ihr weg.
Mit jedem Dokument, das Rachel ihm gab, gewann die tragische Geschichte weiter an Kontur. Als Robert Foxworth zwei Jahre alt war, wurde seiner Mutter das Sorgerecht für ihn entzogen. Von nun an war die DCFS für ihn zuständig und brachte ihn in den nächsten sechzehn Jahren seines Lebens in ständig wechselnden Heimen und Pflegefamilien unter. Bosch stellte fest, dass sich unter den Einrichtungen, in denen Foxworth untergebracht gewesen war, auch die McLaren Youth Hall in El Monte befand, in der auch Bosch ein paar Jahre seiner Kindheit verbracht hatte.
Die Akte war voll mit psychiatrischen Gutachten, die im jährlichen Turnus erstellt worden waren, oder wenn Foxworth wieder einmal bei einer Pflegefamilie rausgeflogen war. Alles in allem betrachtet, dokumentierte die Akte den Verlauf eines verpfuschten Lebens. Traurig, ja. Ungewöhnlich, nein. Es war die Geschichte eines Kindes, das seinem einzigen Elternteil weggenommen und anschließend von der Institution, die ihn stattdessen unter ihre Obhut genommen hatte, ähnlich unzureichend versorgt worden war. Foxworth wurde von einer Unterbringung zur nächsten weitergereicht. Er hatte nie ein richtiges Zuhause oder eine richtige Familie. Wahrscheinlich erfuhr er nie, was es hieß, erwünscht oder geliebt zu sein.
Beim Lesen dieser Seiten stiegen Erinnerungen in Bosch auf. Zwei Jahrzehnte vor Foxworth hatte auch Bosch diesen Weg durch das System durchlaufen. Er hatte mit den entsprechenden Narben überlebt, doch der Schaden, den er davongetragen hatte, war nichts im Vergleich zu Foxworth’ Verletzungen.
Das nächste Dokument, das Rachel ihm reichte, war die Kopie von Rosemary Foxworth’ Sterbeurkunde. Sie war am 5. März 1986 in der geschlossenen Abteilung des County-USC Medical Center an den Folgen von Drogenmissbrauch und einer Hepatitis C gestorben. Robert Foxworth war zu diesem Zeitpunkt vierzehn gewesen.
»Da hätten wir’s«, sagte Rachel plötzlich.
»Was?«
»Sein längster Aufenthalt bei Pflegeeltern war bei einer Familie in Echo Park. Und die Leute, die ihn bei sich aufgenommen hatten? Harlan und Janet Saxon.«
»Ihre Adresse?«
»Figueroa Lane 710. Er war von 1983 bis 1987 bei ihnen. Insgesamt fast vier Jahre. Er muss sie gemocht haben, und ich schätze mal, sie mochten ihn auch.«
Bosch beugte sich vor, um einen Blick auf das Dokument zu werfen, das sie vor sich liegen hatte.
»Als er mit den Leichen angehalten wurde, war er in der Figueroa Terrace. Das ist nur ein paar Straßen weiter. Wenn sie ihm nur eine Minute länger gefolgt wären, hätten sie die Stelle gefunden!«
»Wenn er wirklich dorthin unterwegs war.«
»Er muss dorthin unterwegs gewesen sein.«
Sie reichte ihm die Seite und wandte sich der nächsten zu. Doch Bosch war bereits aufgestanden und lief in Richtung Ausgang. Er hatte genug gesehen. Er hatte eine Verbindung zu Echo Park gesucht, und jetzt hatte er sie gefunden. Er war bereit, das Aktenstudium zu beenden. Er war bereit, zu handeln.
»Harry, diese psychologischen Gutachten aus seiner Pubertät – zum Teil ist das ganz schön krankes Zeug, was er da alles erzählt hat.«
»Was zum Beispiel?«
»Eine Menge Hass auf Frauen. Vor allem auf junge, promiskuitive Frauen. Prostituierte, Drogenabhängige. Weißt du, was dahinter für eine Psychologie steckt? Weißt du, wozu das alles schließlich geführt hat?«
»Nein. Wozu?«
»Dass er immer und immer wieder seine Mutter getötet hat. Diese ganzen vermissten Frauen und Mädchen, die sie ihm anlasten? Die von gestern Abend? Für ihn waren sie wie seine Mutter. Und er wollte sie umbringen, weil sie ihn verlassen hatte. Vielleicht hat er diese Mädchen auch ermordet, damit sie nicht das Gleiche tun konnten wie sie – ein Kind auf die Welt zu bringen.«
Bosch nickte.
»Ein wirklich schönes Beispiel von Laienpsychologie. Wenn wir genügend Zeit hätten, könnten wir wahrscheinlich sogar seine Rosebud-Erinnerung finden. Bloß hat sie ihn nicht verlassen. Sie haben ihn ihr weggenommen.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Das spielt keine Rolle. Sie hat ihn durch ihren Lebenswandel verstoßen. Die Behörden hatten gar keine andere Wahl, als einzuschreiten und ihn ihr wegzunehmen. Drogen, Prostitution, das ganze Programm. Durch ihr Versagen als Mutter überließ sie ihn dieser zutiefst fragwürdigen Institution, der er so lange wehrlos ausgeliefert war, bis er alt genug war, um auf eigenen Füßen zu stehen. Für ihn stellte es sich so dar, dass sie ihn im Stich gelassen hat.«
Bosch nickte langsam. Wahrscheinlich hatte sie recht, aber ihm war nicht wohl bei der Sache. Das Ganze ging ihm zu nahe, wies zu viele Ähnlichkeiten mit seiner eigenen Biografie auf. Abgesehen von der einen oder anderen Abweichung hatten Bosch und Foxworth ähnliche Lebenswege hinter sich. Foxworth war dazu verdammt, seine eigene Mutter immer wieder zu töten. Ein Polizeipsychologe hatte Bosch einmal gesagt, er sei dazu verdammt, den Mord an seiner Mutter immer wieder aufzuklären.
»Was hast du denn?«
Bosch sah sie an. Er hatte Rachel seine schäbige Lebensgeschichte noch nicht erzählt. Er wollte nicht, dass sie ihre Fähigkeiten als Profiler auf seine Person richtete.
»Nichts«, sagte er. »Ich denke nur nach.«
»Du siehst aus, als hättest du gerade einen Geist gesehen, Bosch.«
Er zuckte mit den Achseln. Walling klappte den Ordner auf der Theke zu und hob endlich ihre Kaffeetasse, um einen Schluck daraus zu nehmen.
»Und was nun?«, fragte sie.
Bosch sah sie kurz an, bevor er antwortete.
»Wir fahren nach Echo Park«, sagte er.
»Was ist mit Verstärkung?«
»Ich will mich dort erst mal umsehen, dann fordere ich Verstärkung an.«
Sie nickte.
»Ich komme mit.«