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Um fünf Uhr und siebzehn Minuten meldete sich das Funkgerät in Officer Lyanne Marshs Wagen.

Sie aktivierte das Gerät und hustete. Jeden Morgen kroch ein Klumpen Schleim von irgendwoher in ihren Hals hinauf, und das, obwohl sie geschworen hätte, nicht erkältet zu sein. Darauf sollte sie ihren Hausarzt mal ansprechen. Allerdings würde er nur lachen. Der alte Dr. Finchley hatte zwei Krankheiten: Erstens Schilddrüsenkrebs, zweitens die Angewohnheit, über jeden Patienten zu lachen, der sich erdreistete, ihn wegen weniger zu konsultieren.

In diesem Moment schlich Lyanne auf der North-East 140th Street nach Osten, das Gaspedal eine weiche, angenehme Wolke unter ihrem Fußballen. Sie war auf der Suche nach einem netten dunklen Feldweg, vielleicht mit ein paar hohen Büschen, um dort etwas zu tun, worüber sie nicht sprechen wollte.

Hier, mitten in Kansas, war es eine beinahe klare Septembernacht. Die Sterne drangen durch den sanften Weichzeichner eines Dunstschleiers, und Lyanne hatte genügend Fantasie, um sich einzubilden, am Ende der Straße zeige sich bereits das erste Glimmen des nahenden Morgens.

Die Stimme, die plötzlich leicht verzerrt aus dem Lautsprecher knisterte, war ihr vertraut. So vertraut, dass ihr schon das erste Wort reichte, um ihren Besitzer zu identifizieren.

„Habe ich dich geweckt?“

„Falls ja, Marc, dann sollte ich dir dankbar sein. Immerhin sitze ich am Steuer, und die Räder rollen.“ Wie kam er auf die Idee, dass sie im Dienst schlief? Sie spürte, dass sie ein bisschen ungehalten wurde – dazu brauchte es wenig um diese Uhrzeit.

„Du fährst gerade durch Stafford County?“, erkundigte sich Marc Henderson.

„Noch nicht, bin aber auf dem Weg dahin, der rising sun entgegen.“

„Pawnee County?“

„Yupp.“

„Kannst du mal bei der Tayben-Farm vorbeischauen? Du weißt doch, gleich hinter …“

Er wollte mit der Beschreibung ansetzen, und Lyanne genoss es, ihn zu unterbrechen: „Schon klar. Der alte Hühner-Tayben ... Ich war vor zwei Jahren mal da. Irgendwas nicht in Ordnung, dort?“

„Gut möglich“, sagte Marc. Man hörte, wie er mit einem Notizzettel spielte. Seine Stimme klang entschieden nervöser als sonst. Sie bemerkte es erst jetzt. „Ein Nachbar will Feuerschein gesehen haben. Und Rauch.“

„Ein Nachbar?“ Das Wort hatte eine besondere Bedeutung in Landstrichen wie diesem. Um hier Nachbar zu sein, reichte es, im Umkreis von zehn Meilen zu wohnen. In den Vorstädten von Atlanta, Georgia, wo Lyanne aufgewachsen war, konnte man seine Nachbarn rülpsen hören.

Lyanne schnaubte. „Hast du die Feuerwehr schon verständigt? Ich verstehe nicht, wie er in dieser Finsternis Rauch gesehen haben will. Feuer, ja, aber Rauch?“

„Eben. Deshalb zögere ich noch damit, die roten Jungs aus den Federn zu trommeln. Und dazu kommt, dass der Anrufer der alte Sitchley war. Er ist über neunzig.“

„Er hat wohl schlecht geträumt.“ Und sie dachte: Nur alte Leute hier draußen. Ein riesiges Seniorenheim ist dieser Landstrich.

„Ich dachte, wenn du nur ein paar Minuten entfernt bist …“

„Verdammt, haben sie dir während der Ausbildung nicht beigebracht, dass es bei Feuern auf jede Sekunde ankommt?“

„Natürlich“, druckste er herum. Jetzt begriff Lyanne endlich, warum er klang, als wippe er von einer Hinterbacke auf die andere und hätte ein abgeknabbertes Stück Fingernagel zwischen den Zähnen. „Der alte Sitchley hat vor in den letzten Wochen dreimal angerufen, weil er ein UFO gesehen haben wollte. Und jetzt Rauch. Mein sechster Sinn sagt mir, das ist alles nur eine … eine Seifenblase. Es fühlt sich einfach nicht an, als hätte der Alte wirklich was gesehen, verstehst du?“ Am Ende wurde er laut, kämpfte regelrecht um ein Zeichen der Zustimmung von ihrer Seite.

Lyanne nickte, für ihn unsichtbar. „Warst schon immer ein Gefühlsmensch“, bemerkte sie.

Das war er wirklich. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, da hatte sie sich gewünscht, er wäre nicht ganz so einfühlsam und intuitiv gewesen. Vor sieben Jahren – o Gott, lag das wirklich schon so lange zurück? – hatte er ihr einmal den Hof gemacht, da war sie eben erst nach Kansas gezogen, schleppte ein fürchterliches Gefühl der Entwurzelung mit sich herum und hatte ein wenig Aufmerksamkeit bitter nötig. Und zunächst sah es auch sehr danach aus, als würde sie eine Menge Zuwendung bekommen. Noch ehe die Sache mit Marc Henderson richtig in Schwung kam, lernte sie zusätzlich Philipp Marsh kennen. Irgendetwas an ihm faszinierte sie – sie hatte bis zum heutigen Tag nicht herausgefunden, was es war. „Weißt du“, hatte sie Marc einst gestanden, als er sie zum wiederholten Mal zum Dinner einlud, „da gibt es einen Mann, der sich sehr um mich bemüht.“ Es war sehr aufrichtig von ihr, Philipp Marc gegenüber zu erwähnen. Und doch hatte sie im Grunde gelogen. Philipp Marsh bemühte sich nicht um sie. Er war einfach ab und zu in ihrer Nähe, lebte sein Leben und schien darauf zu warten, dass sie sich in ihn verliebte. Und Lyanne hatte mit der Bemerkung keine besonderen Absichten verbunden, höchstens die, Marcs männlichen Stolz anzuheizen. Sie gestand es sich nicht gerne ein, aber damals war sie verdammt scharf darauf gewesen, von zwei Männern angehimmelt zu werden. Einmal, ein einziges Mal zwischen Wiege und Grab, wollte sie so etwas erleben. Wollte erfahren, dass sie eine Frau war, um die zu streiten es sich lohnte. Wollte sich beweisen, dass es so etwas nicht nur im Film gab.

Aber Marc … tja, er war eben sehr einfühlsam. Wollte sie nicht in einen emotionalen Konflikt stürzen. Sich nicht aufdrängen. „So ist das also“, hatte er gesagt, nur diese vier Wörter, und damit war die Sache für ihn erledigt gewesen. Von diesem Moment an hatte er nie wieder auch nur das geringste Interesse an Lyanne gezeigt. Nicht einmal verbittert oder auch nur enttäuscht hatte er ausgesehen. Er hatte einfach eingesehen, dass da ein anderer war, und fertig. Ein Jahr später war Lyanne mit Philipp verheiratet. Und als der Hochzeitsmarsch ertönte, wippte in ihrem Bauch wahrscheinlich ein drei Inch langes Etwas mit den Zehen, denn damals trug sie längst Philipps Kind unter dem Herzen.

Warum hast du nicht um mich gekämpft, Marc, dachte sie später oft und lag mit geballten Fäusten im Bett, während Phil neben ihr seinen todesähnlichen Schlaf schlief. Verflucht, Marc, warum hast du’s nicht getan? Vielleicht hättest du mich vor der größten Dummheit meines Lebens bewahren können: davor, diesen … diesen … Säufer zu heiraten.

Philipp Marsh war kein schlechter Mensch. Das bestätigten alle. Oh nein, er hatte etwas, das man einfach lieben musste. Etwas Entspanntes, Abgehobenes, als ob man all die Striche, die einem das Schicksal durch die Rechnung machte, einfach mit einem Lächeln wegradieren könnte. Aber er soff wie ein Loch. Jeden Abend saßen seine trinkfesten Freunde bei Marshs in der Wohnstube und kippten sich ein Bier nach dem anderen hinter die Binde. Dabei trank Phil nicht aus einem Zwang heraus. Es gibt Menschen, die sind nicht alkoholsüchtig, putzen aber Abend für Abend mehr weg als mancher Suchtkranke, einfach, weil es zu ihrem Bild von einem gemütlichen Abend gehört.

Kurz nachdem Wendy auf die Welt kam, verlor Phil seine Arbeit, und Lyanne, die eigentlich vorgehabt hatte, mindestens ein Jahr lang mit Haut und Haar für ihre Tochter dazusein, warf ihre Planungen über den Haufen und beschloss, wieder in ihren Job zurückzukehren. Es wäre einfach unsinnig gewesen, zu zweit zu Hause herumzusitzen und zuzusehen, wie ihr bescheidenes Bankkonto sich beständig rot färbte.

Anfangs glaubte sie fest daran, dass Phil ein guter Vater sei. Er war sanft, verständnisvoll, und er liebte seine Tochter. Liebte sie mit diesem übernatürlichen Glänzen in den Augen, das man nicht spielen kann. Aber er ölte dieses Glänzen Abend für Abend mit Bier, lud dazu seine Saufkumpane ins Haus, und sie lachten und gröhlten, erzählten sich schmutzige Witze und tranken, bis sie nicht mehr gehen konnten und Phil sie in das zweite Schlafzimmer packen musste. Das Baby Wendy wuchs in dieser Mischung aus Alkoholdunst und lachendem Lallen auf. Wenn Lyanne von der Arbeit kam, war Wendy meistens halb verhungert, Windel, Strampelhose und Bettchen patschnass gepinkelt. Wendy war ein stilles Baby. Sie schrie nicht, wenn sie nass war oder einen Stinki in der Windel hatte. Selbst wenn sie Hunger hatte, maunzte sie nur zehn Minuten lang leise wie eine Katze, dann schlief sie erschöpft ein.

Für Lyanne war Wendy ein Kind, das besondere Aufmerksamkeit brauchte, eben, weil sie sich nicht so lautstarkt artikulierte wie andere Säuglinge. Für Phil war Wendy ein Baby, das man lieben konnte, ohne nach ihm sehen zu müssen.

Lyanne fand diesen Zustand unerträglich. Wenn sie lange Streifen fuhr, dachte sie an nichts anderes als an ihr Baby. Würde Phil es merken, wenn Wendy etwas in die Luftröhre bekam und es nicht aus eigener Kraft aushusten konnte? Würde es ihm auffallen, wenn sie plötzlich Fieber bekam? Wendy begann früh zu krabbeln, versuchte auf Tische zu steigen, fiel herunter. Würde Lyanne sie eines Tages schwerverletzt auffinden, wenn sie nach Hause kam? Während Phil und seine feuchtfröhlichen Freunde sich im Nebenzimmer Bierrülpser zuwarfen?

Und eines Tages hatte Lyanne zum zweiten Mal einen Babybauch. Sie war nicht ganz sicher, wie es geschehen war, denn sie nahm die Pille, aber vielleicht hatte sie sie ein oder zwei Mal vergessen. Solche Dinge passierten. Passierten sogar Leuten, die ihr Leben besser im Griff hatten als sie beide.

Natürlich hatte die Sache Phil nicht aus der Bahn geworfen. „Pass du nur gut auf Nummer Zwei auf, solange sie in dir drin ist“, hatte er betont. „Sobald sie das Köpfchen rausstreckt, werde ich sie übernehmen. Keine Sorge.“

Diese Worte, auch wenn sie gut gemeint sein mochten, bescherten Lyanne eine Gänsehaut, so oft sie an sie dachte.

Nummer Zwei wurde ein Junge. David.

Als David auf die Welt kam, stand es mit ihren Finanzen nicht gerade zum Besten. Sie hatten einen neuen Wagen gebraucht und auf Phils Anraten („Wir sind jetzt eine richtig große Familie, weißt du?“) nicht den kleinsten und billigsten gekauft. Dann hatte die Veranda renoviert werden müssen, und Lyanne hatte eine kostspielige Zahnkorrektur gehabt. Natürlich gab die Bank ihnen Kredit – eine amerikanische Bank würde doch einer jungen Polizistin keinen Kredit verweigern! Doch es war fraglich, wie sie ihn zurückzahlen sollten. Der Mutterschaftsurlaub endete acht Wochen nach der Entbindung – danach würden sie ohne Einkommen dastehen.

Während ihrer Schwangerschaft hatte Lyanne sich vorgenommen, beim zweiten Kind alles perfekt zu machen. Sie würde David auf jeden Fall länger stillen als Wendy (drei Monate), und Phil würde entweder endlich kapieren, was es bedeutete, ein treusorgender Vater zu sein, und Ordnung in seinem Leben schaffen, oder er würde arbeiten gehen und ihr die Kindererziehung überlassen. Doch alle Aussprachen mit ihm prallten an seinem wohlwollenden, schwebenden Lächeln ab, und an Scheidung wollte sie um Himmels, Himmels Willen nicht einmal denken. Abgesehen davon, dass sie noch immer irgendwie an ihm hing und das Gefühl hatte, ihn trotz allem zu brauchen – eine Scheidung hätte ihre finanzielle Situation nicht besser gemacht.

Also biss sie in einen Apfel, der saurer war als Essigessenz.

Am ersten Tag nach Ablauf des Mutterschutzes saß sie wieder in ihrem schwarz-weiß-schwarzen Polizeiwagen oder hinter ihrem kleinen Schreibtisch im Präsidium. David, der winzige, rote David, der viel lauter und häufiger schrie als seine Schwester, war bei Wendy und Phil. Nicht zu vergessen, bei Phils Freunden. Nichts hatte sich geändert.

Doch.

Es war schlimmer geworden.

Lyanne hatte sich geweigert, ihren Sohn mit acht Wochen abzustillen. Diese eine Sache wollte sie sich nicht nehmen lassen. Sie hatte gelesen, wie wichtig es war, Kinder mindestens ein halbes Jahr lang zu stillen, und mehr noch als auf einen Artikel in einer Zeitschrift vertraute sie auf ihr eigenes Gefühl. Ihr Herz brüllte, dass sie ihn stillen wollte.

Musste.

Würde.

Muttermilch war die Mutter. Wenn die Mutter schon arbeiten ging, musste wenigstens ihre Milch beim Kleinen sein. Er würde seine Mutter nicht immer spüren, sehen, hören können, aber zumindest würde er sie riechen und schmecken. Und war riechen und schmecken für einen Säugling nicht ohnehin viel wichtiger als alles andere?

Dazu kam, dass Lyannes Milchfluss bei David übermenschliche Dimensionen annahm. Ihre Brüste waren riesig geworden, seit der kleine Schreihals auf der Welt war, sie spannten wie zwei Luftballone, und wenn man sie auch nur ein wenig drückte, spritzten sie Milch in die Welt.

Phil hatte ihr vorgeschlagen, sich für Playboy’s Big Boobs Magazine ablichten zu lassen, „solange deine Brüste solche Phänomene sind“. Er hatte schon drei Flaschen Miller lite („Great taste – less filling“) intus, als er das von sich gab, außerdem verwendete er die Wörter Brüste und Phänomene, nicht etwa Titten und Hämmer, und er sagte es rücksichtsvollerweise nicht vor seinen Freunden, sondern unter vier Augen in der Küche vor dem Kühlschrank beim Nachlegen der Bierflaschen. Also vergab sie ihm. Und betrachtete sich im Badezimmerspiegel ein wenig länger als sonst. Vor dem Duschen.

Und nach dem Duschen noch einmal.

Von nun an hatte Lyanne ihre Milchpumpe immer dabei. Die Pumpe und eine gute, richtig teure Kühlbox. Drei oder vier Mal am Tag pumpte sie sich die Milch ab – sie nannte es melken, vermutlich, weil sie mit Humor überspielen wollte, wie peinlich es ihr war, ihre Kolleginnen im Präsidium zu informieren, wenn sie wieder einmal in Zimmer 4 verschwand, dem kleinsten der Besprechungsräume, den niemand benutzen wollte, weil ihn die Putzfrau aus unerfindlichen Gründen übersprang.

Anfangs hatte sie sich sogar auf der Toilette gemolken – ein scheußliches Gefühl, aber wenn sie an David dachte, konnte sie es ertragen. Ihre Kolleginnen verzogen das Gesicht, wenn sie dieses Wort verwendete, dieses Kuh-Wort, und sie bemitleideten sie, wenn sie mit dem gefüllten Kunststoffbecher von der Toilette kam, als brächte sie eine trübe Urinprobe mit. Eines Tages, als Lyanne mit einem Stöhnen vom Schreibtisch aufstand und in Richtung WC ging, räusperte sich Betty Narles und führte sie ins Zimmer 4.

„Das ist lieb von dir, Betty“, presste Lyanne hervor. „Aber ich muss dringend mal für kleine Mädchen.“

Es war alles schrecklich unangenehm, aber sie tat es gerne für ihren Stern und Schatz und Krümel David.

Richtig lästig war es unterwegs. Glücklicherweise fuhr sie alleine Streife – in den meisten ländlichen Gebieten war das üblich. Hauptsächlich in den größeren Städten fuhr man paarweise Streife, aber so beruhigend das vielleicht sein mochte, zurzeit wäre es das Letzte gewesen, was Lyanne sich gewünscht hätte. Nicht auszudenken, wenn da einer dieser donut-gemästeten Officer auf dem Beifahrersitz gesessen und so getan hätte, als würde er die Augen abwenden, während sie zwischen sich und dem Lenkrad ihre big boobs knetete und mit der sperrigen Milchpumpe versehentlich Hupe oder Scheibenwischer betätigte …

Wenn ihre Brüste zu sehr kribbelten und schmerzten, lenkte sie den Wagen etwas abseits der Straße, meistens in ein Wiesenstück oder auf einen Feldweg, seltener auf einen Parkplatz (weil man da nie wusste, wer plötzlich hereingefahren kam), blickte sich zwei Minuten lang mit roten Ohren und pochendem Herzen um, knöpfte ihre Bluse auf, hatte jedes Mal wieder das verfluchte und unfaire Gefühl, etwas Schmutziges oder Verbotenes zu tun … und legte die Pumpe an.

Sie bekam einfach keine Routine darin, so oft sie es auch tat. Wenn sich das Funkgerät meldete, riss sie die Pumpe so ungeschickt weg, dass es schmerzte, und verhüllte sich hastig. Dasselbe, sobald sich ein Auto näherte. Nachts lag sie wach und malte sich hübsche Zeitungsartikel aus, Artikel über eine Polizistin, die nachts mit entblößten Brüsten beim Milchpumpen im Auto eingeschlafen war. Jemand hatte sie entdeckt. Jemand, der zufällig einen Fotoapparat bei sich trug – wer hatte keinen im Zeitalter der knipsenden, musizierenden, netsurfenden Cellphones? Es würde ein Foto voller schwarzer Balken werden, einen schmalen über ihren Augen, einen richtig breiten über ihren Playboy-Big-Boobs-Busen. Ihre engsten Kollegen würden wissen, wen das Foto zeigte. Die Zeitungsleute machten die Balken nie so dick, dass Freunde und Familie einen nicht erkannten.

„Bist du noch da?“, erkundigte sich Marc.

Lyanne stellte fest, dass sie das Gespräch noch nicht beendet hatte. „Ich hatte gerade eben einen großen Flashback“, erklärte sie. Marc gegenüber war sie stets ehrlich. Aber sie vermied es, ins Detail zu gehen, und Marc hakte niemals nach, wenn er auch nur den Hauch von Privatsphäre witterte. „Die letzten Jahre meines Lebens – sie flimmerten über meinen inneren Bildschirm.“

„Bist du okay, Lyanne?“

„Zumindest am Rande des grünen Bereichs, schätze ich. Wie lange war ich weg?“

„Keine Ahnung. Auch nicht länger, als ein Delfin tauchen kann.“

Sie schmunzelte. Es gefiel ihr, wenn Marc wegen ihr versuchte, witzig zu sein. Im Grunde gehörte er zu den Menschen, die sich damit schwertaten, etwas Humorvolles zu sagen, aber seit er Lyanne kannte, hatte er diesbezüglich ein paar Dinge dazugelernt. Es könnte tatsächlich sein, dass Marc meine große Liebe ist, dachte sie plötzlich. Aber wenn es so ist, dann darf es niemand jemals erfahren.

„Ich bin noch eine halbe Meile von der Tayben Farm entfernt“, meldete sie. „Bisher kann ich keinen Feuerschein erkennen. Ich denke, dein Informant hat wieder mal ein UFO gesehen. Oder er … Moment mal, Marc, da ist was …“

„Soll ich die Firefighters alarmieren?“

Lyanne umklammerte das Lenkrad. „Warte noch eine Sekunde. Das ist entweder Rauch oder … Verdammt, Marc, ich glaube, das ist Rauch.“

Längst war sie von der Landstraße in einen staubigen Feldweg eingebogen, der sie hinab in die Mulde führte, in der die Tayben Farm lag, weit vom Schuss, schlecht einzusehen, zu drei Seiten gesäumt von hohen Bäumen – Pappeln, wenn sie sich nicht irrte. Dabei hörte sie, wie Marc über das Telefon die Feuerwehr verständigte und alle Daten durchgab. Seine Stimme zitterte schrecklich. Er hatte viel zu lange gezögert. So eine dumme Geschichte konnte ihn seinen Job kosten. Und darüber hinaus weitere Konsequenzen haben, wenn es richtig schlecht lief …

Obwohl er sich selbst in diese Lage gebracht hatte, fühlte sie sich mitschuldig.

Dabei war es so eine harmlose, lange, eintönige Nacht gewesen.

Lyanne begann auf ihrer Unterlippe zu kauen. Sie wünschte Marc von ganzem Herzen, dass sie sich täuschte, aber über den dunklen Himmel schien sich eine Decke aus etwas noch Dunklerem zu legen. Sie überlegte, ob es theoretisch möglich war, dass die Farm abbrannte, ohne dass jemand darauf aufmerksam wurde. Wenn alle Faktoren zusammenspielten, musste man die Frage wohl bejahen. Falls die Meilen entfernt lebenden Nachbarn einen gesunden Schlaf hatten und die spärlichen Autofahrer nicht so genau hinschauten.

Um diese Zeit war wirklich kaum jemand unterwegs. Manchmal kam einem eine halbe Stunde lang kein Wagen entgegen. So langsam würde sich das ändern, denn es ging auf sechs Uhr zu.

„Vorsicht, Mädchen!“, herrschte sie sich selbst an. Der Zufahrtsweg zur Farm hob sich bei diesen Lichtverhältnissen kaum von der buckeligen Wiese ab, und Lyanne blickte zu oft nach oben, nach dem Rauch. Zum Glück hatte es lange nicht geregnet, und der Untergrund war griffig.

Das Licht ihrer Scheinwerfer traf auf eine Reihe aus drei Bäumen – keine Pappeln, sondern etwas Wuchtigeres, Ulmen vielleicht. Es war ihr, als ließe sich dahinter ein rötliches Glimmen ausmachen, aber es konnte sich auch um eine Lichtreflexion handeln. Der Weg wand sich an den Bäumen vorbei. Wenn ihre Erinnerung an ihren letzten Besuch sie nicht im Stich ließ, musste im nächsten Augenblick der Blick frei werden auf das zweistöckige Wohnhaus zur Rechten und auf den großen, flachen Hühnerstall zur Linken, Inhalt: zweitausend Hühner, wenn es hoch kam.

Lyanne spürte ihre Brüste. Sie spannten, sie schmerzten, sie wollten ihre Milch loswerden. Was für eine merkwürdige Apparatur der menschliche Körper doch war! Vor ihrer ersten Schwangerschaft war ihr nicht bewusst gewesen, was so ein Körper alles tat, ohne dass man ihm den Befehl dazu gab. Jetzt kam es ihr manchmal vor, als habe er ein Eigenleben. Er kümmerte sich eindeutig mehr um das kleine Wesen, das er vor ein paar Monaten noch in sich beherbergt hatte, als um die Person, der er eigentlich gehörte.

Seltsamerweise wurde das peinvolle Ziehen gerade in dem Augenblick stärker, als Officer Lyanne Marsh die Farm sah. Ihr Fuß geriet irgendwie zwischen Bremse und Gaspedal, und mit einem Rucken, als wolle ein wilder Mustang sie abwerfen, erstarb der Motor.

Die Scheinwerfer trafen ein schwarzes Ruinenfeld, von dem schwerer dunkler Rauch aufstieg und in dem Dutzende hasserfüllter, tiefroter Augen glühten. Das Feuer war heruntergebrannt und hatte nicht viel von der Farm übriggelassen.

Das Haus hatte kein Dach mehr. Nur glimmende schwarze Balken ragten in die Höhe, und während die Polizistin die Augen zusammenkniff, um die Silhouette des Hauses vor dem Nachthimmel deutlicher zu erkennen, brach der längste der Balken ab, stürzte in den Mittelteil des Hauses und fiel krachend in die Trümmer. Eine Lohe aus Funken stieg in die Höhe, und für einen Moment sah es aus, als entstehe dort im Zentrum des Farmhauses eine neue, riesige Flamme, die es vollends ausradieren würde. Eine Seitenwand des Hauses stand noch, auch ein Teil vom Fußboden des oberen Stockwerks war noch intakt. Und doch konnte sie bereits aus der Entfernung sicher sagen, dass kein Feuerwehrmann je einen Fuß darauf setzen würde. Vermutlich würde das Haus in der nächsten halben Stunde vollends in sich zusammenstürzen.

Vom Hühnerstall war nicht mehr viel zu erkennen. Das Feuer musste durch Funkenflug darauf übergegriffen haben. Das Dach – ein Flickenteppich aus Blech – war heruntergebrochen und hatte die Holzwände unter sich begraben … die Wände und das Vieh zwischen ihnen. An einigen Stellen stachen schwarze Balken oder Metallteile unter dem Dach hervor, und im vorderen Drittel war es abgeknickt und hatte einen langen Riss bekommen. Der Riss stieß Rauchwolken aus wie der Mund eines riesigen Rauchers.

Links neben dem Stall, etwas vom Weg zurückgesetzt, standen ein alter Traktor und andere Geräte. Dort schien etwas zu flattern, vielleicht ein einzelnes Huhn, das mit dem Leben davongekommen war.

Lyanne fluchte, wie sie schon lange nicht mehr geflucht hatte.

„Ganz deiner Meinung“, reagierte Marc, und Lyanne zuckte zusammen. Sie hatte nicht mehr daran gedacht, dass die Funkverbindung nach wie vor bestand. „Was siehst du?“, erkundigte sich ihr Kollege.

„Taybens Farm ist hinüber“, sagte sie und fand ihre eigene Formulierung mehr als unpassend. Sie wollte beschreiben, was sie wahrnahm, am besten so, wie sie es auf der Polizeischule gelernt hatte, aber die richtigen Worte standen einfach nicht zur Verfügung. Das Bewusstsein, dass hier sehr wahrscheinlich in der letzten Stunde eine Handvoll Menschen und einige Tausend Broiler den Flammentod gestorben waren, veränderte etwas in ihr, schaltete Teile ihres Gehirns einfach ab. Eine Art Stromausfall. Ein Stück Lyanne Marsh ging offline.

„Brauchst du Hilfe?“, fragte Marc, obwohl er klang, als ob eher er welche benötigte.

„Es ist zu spät für Hilfe“, erwiderte sie. „Ich geh jetzt raus und werfe aus der Nähe einen Blick drauf.“

„Was ist da los?“, versuchte ihr Gesprächspartner es noch einmal. „Brennt es auf der Farm?“ Und als sie nicht antwortete, fügte er hinzu: „Die Jungs von der Feuerwehr sind unterwegs. Ich denke, sie brauchen keine zehn Minuten. Geh bloß kein Risiko ein, hörst du?“

„Ich unterbreche jetzt die Verbindung“, sagte Lyanne. Sie sagte es sanft, aber bestimmt. Manchmal konnte sie so sein. Wenn etwas sie überwältigte, wurde sie wortkarg und bekam Schwierigkeiten, klar zu denken. Aber gleichzeitig wuchs eine Entschlossenheit in ihr, auf die sie sonst nicht zugreifen konnte. Sie hatte schon männliche Officer beim Anblick eines Schwerverletzten oder Toten heulen sehen. Manche begannen zu kichern, wenn sie von der Situation überfordert wurden, und konnten gar nicht mehr damit aufhören. Sie war anders. Eine Maschinerie in ihrem Inneren lief an und trieb sie vorwärts. Alles wurde viel einfacher.

Vielleicht war es das, was man Kühnheit nannte. Dass man an den Autopiloten übergab und sich nicht mehr selbst in das einmischte, was man tat. Machte ihr Körper nicht ohnehin, was er wollte?

Zum Beispiel schwitzte er gerade, ohne dass sie hätte sagen können, warum. Sie war nicht aufgeregt. Bewirkte der Druck der Muttermilch in ihr, dass ihr der Schweiß ausbrach? Wenn ja, dann reagierte er zum ersten Mal so.

Sie wischte sich die Stirn, schaltete den Funkkontakt ab, ließ das Handfunkgerät liegen und die Scheinwerfer eingeschaltet.

Dann öffnete sie die Tür des Wagens und verstand augenblicklich, warum sie schwitzte.

Eine Welle aus Hitze schlug ihr entgegen. Die glühenden Ruinen atmeten trockene, heiße Luft aus, und das mit einer Gewalt, mit der sie nicht gerechnet hatte. Es war, als betrete man eine Sauna. Lyanne betrachtete die Trümmer, und es fühlte sich noch einmal völlig anders an als eben durch die Windschutzscheibe hindurch.

Nicht nur die Hitze machte einen Unterschied. Ein bitterer Geruch drang ihr in die Nase und setzte sich rußig und gallig auf ihrer Zunge ab. Dazu gesellte sich ein anderer Geruch, ein pervers guter Geruch, der verführerische Duft von tausend eine Spur zu crispy gegrillten Hühnern …

Lyanne stieg aus und schloss die Autotür. Stellte sich dem falschen Wüstenwind entgegen, bis sie sich an die Hitze auf ihrer Gesichtshaut gewöhnt hatte, und ging dann los. Wie nahe sie an die Häuser herangehen konnte, würde ihr Körper entscheiden.

An einer weit abgelegenen Stelle in ihrem Hinterkopf tauchte der Gedanke auf, dass es nicht ungefährlich war, um Haus und Stall herumzugehen. Noch immer fielen Bruchstücke herab. Welchen enormen Radius sie erreichten konnten, bewiesen die rauchenden Objekte, die viele Yards von den Ruinen entfernt lagen. Außerdem würde ein leichter Windstoß ausreichen, um Teile des schwelenden Feuers neu zu entfachen.

Auf die meisten Menschen übte Feuer eine schwer zu erklärende Faszination aus. Ebenso wie Schauplätze der Zerstörung. Hier hatte sie beides. Während sich das Morgengrauen einfach nicht einstellen wollte, färbte die Glut die Szenerie orange. Die tiefschwarzen Holztrümmer dazwischen hätten die Skelette von irgendetwas Riesigem sein können. Auf eine gewisse, nicht ganz gesunde Weise fühlte es sich gut an, diesen Ort für sich alleine zu haben, ein paar Minuten noch, ehe geschäftige Feuerwehrleute umherwimmeln und ihn für sich vereinnahmen würden.

An der Ruhe in Lyanne mochte auch das Bewusstsein schuld sein, nicht viel falsch machen zu können. So schrecklich der Anblick sein mochte – was passiert war, war passiert. In Haus und Stall konnte niemand mehr am Leben sein, und ob die Feuerwehr fünf Minuten früher oder später eintraf, machte jetzt keinen Unterschied mehr.

Es war höchstens denkbar, dass jemand es nach draußen geschafft hatte und verletzt irgendwo lag. Das musste sie ausschließen.

Da das Haus immer noch seine Balken abwarf, nahm sie sich zunächst den Stall vor. Während sie auf den Traktor zuging, bei dem sie vorher ein Flattern zu sehen geglaubt hatte, fiel ihr erstmals der Ton auf.