Benjamino, er war unschuldig.«

»Wie kommst du darauf?« Ich stand vom Stuhl auf, um mir eine Zigarette zu holen. »Wenn ich nicht auf die Leiche von Piera Belli gestoßen wäre, vor allem aber, wenn ich nicht auf ihre Uhr geschaut hätte, hätte ich das nie entdeckt. so hingegen bin ich jetzt sicher, daß jemand in das Haus zurückgekehrt ist, und das, nachdem das Verbrechen verübt worden ist; bloß handelt es sich dabei nicht um Magagnin.«

»Immer vorausgesetzt, daß du dich nicht irrst.«

»Das hat die Anwältin Foscarini auch ein paar dutzendmal zu mir gesagt, aber seit ich den Bericht des Gerichtsmediziners gelesen habe, gibt es für mich keinen Zweifel mehr: Die Zeiger sind verstellt worden. Ich kann das mit Bestimmtheit sagen, jetzt, wo mir klar geworden ist, welche Bedeutung sie bei der ganzen Sache haben. Ein vorsätzliches Verbrechen, geplant und ausgeführt mit einem doppelten Zweck: die Frau aus dem Weg zu räumen und die Schuld auf jemanden zu schieben, der dafür bestens geeignet schien. Und damit meine ich hier natürlich unseren Freigänger, Magagnin, der häufig Gast im Haus der Ermordeten war und eine entschieden ungewöhnliche Beziehung zu ihr unterhielt. Und das in mehrfacher Hinsicht, nicht zuletzt deswegen, weil sie ausgerechnet in jenem Gericht Geschworene gewesen war, das ihn 15 Jahre zuvor eines Mordes für schuldig befunden hatte, der mit dem jetzigen viele Ähnlichkeiten aufweist. Dem Mörder genügte es, daß Magagnin im Gefängnis landete und sich die Ermittlungen voll und ganz auf ihn konzentrierten. Was ja auch tatsächlich geschah. Kurz, das klassische perfekte Verbrechen, das nicht darum so heißt, weil der wahre Täter nicht entdeckt wird, denn in diesem Fall besteht ja immer noch die Möglichkeit, daß die Bullen eines Tages vor seiner Tür stehen … sondern, weil ein Unschuldiger an seiner Stelle angeklagt und verurteilt wird. Nur so ist ihm, dank der unfreiwilligen Komplizität der Justiz, Straffreiheit bis in alle Ewigkeit sicher.«

»Halt, mach mal ’ne Pause«, unterbrach mich Benjamino. »Du kommst mir vor wie mein Anwalt: viele schöne Worte und nichts dahinter. Ich hab noch nicht kapiert, was die verstellten Zeiger damit zu tun haben.«

»Paß auf. Magagnin war, wie du weißt, auch an diesem Tag in die Kooperative Sole gegangen. Also hätte er die Frau erst nach der Arbeit, also nach 19 Uhr, töten können. Aber um diese Zeit war sie schon tot. Der Mörder mußte die Zeiger der Uhr also um drei Stunden vorstellen, damit es so aussah, als wäre der Mord genau dann passiert, als Magagnin kein Alibi mehr hatte und kein Zeuge ihn mehr entlasten konnte. Aber Vorsicht: Die Zeiger sind nicht sofort verstellt worden, weil es anfangs keinen Sinn gehabt hätte. Wenn das Verbrechen noch am selben Abend oder am nächsten Tag entdeckt worden wäre, dann hätte das Element Uhr kaum Bedeutung gehabt, weil sie dann noch gelaufen wäre. Die Fingerabdrücke und die Dynamik des Mords wären mehr als ausreichend gewesen, um Magagnin zu belasten. Die Uhr wurde erst später wichtig, als die Leiche anfing zu verwesen, denn von dem Moment an genügte ein einfaches technisches Gutachten, um den Zeitpunkt, zu dem das Verbrechen geschehen war, eindeutig zu bestimmen. Die Rolex so zu belassen, wie sie war, hätte sie zum entscheidenden Entlastungsmoment für den Verdächtigen gemacht. Der Mörder mußte seinen Plan also notgedrungen ändern und in das Haus des Opfers zurückkehren, sonst wäre das ganze Ding geplatzt: So ein kleiner Gegenstand hätte einen fraglos gut durchdachten Plan zunichte gemacht.«

»Und warum hat er sie nicht mitgenommen? Ich an seiner Stelle hätte mir das nicht zweimal überlegt und sie in die Tasche gesteckt.«

»Das hätte der klassische unstimmige Punkt werden können, und das hätte die Situation kompliziert, statt sie zu vereinfachen. Die verstellten Zeiger dagegen haben alles völlig umgekehrt: Die Uhr ist jetzt ein Belastungsmoment für Magagnin und ein bombensicheres Alibi für den wahren Täter, der, jede Wette, einen Haufen Zeugen haben wird, die bereit sind auszusagen, daß er am Montag nach 19 Uhr ganz woanders war.«

»Irgendwas stimmt hier nicht, Marco. Wie hat der Mörder es angestellt, all diese Sachen zu wissen, von wegen wie Leichen verwesen und so’n Kram? Ich hab ja schon den einen oder anderen Mörder kennengelernt in meinem Leben, aber keiner von denen wäre je imstande gewesen, so viele Details zu berücksichtigen. Und vor allem wären sie nie das Risiko eingegangen, an den Tatort zurückzukehren.«

»Ich hab’s dir gesagt, er war gezwungen, es zu tun. Das Risiko war erheblich, aber es hat ihm erlaubt, sich wieder ins Spiel einzubringen. Wenn alles glattgeht, wird er am Ende noch die Trumpfkarte des perfekten Verbrechens in Händen halten. Und alles dank seiner Fähigkeit, auch die kleinsten Details mit einzubeziehen, und dank eines bemerkenswerten Timings. Das ist bestimmt einer, der sich auskennt. Gerissen, skrupellos und methodisch.«

»Ein Profi? Ein bezahlter Killer?«

»Das glaube ich nicht, auch wenn die Belli in etwas merkwürdigen Kreisen verkehrte. Apropos, ich hab ganz vergessen dir zu sagen, daß Magagnin bezüglich der Schnupferei nicht gelogen hat: Es war eine hübsche Menge Benzoylekgonin im Urin. Eher schon denke ich an jemand, der die Frau so gut kannte, daß er – wäre da nicht wie durch Vorsehung Magagnin aufgekreuzt – riskiert hätte, sofort in den engeren Kreis der Verdächtigen gezogen zu werden.«

»Du könntest ja recht haben. Aber deine Rekonstruktion stützt sich auf etwas schwache Elemente, wie mein Anwalt wieder sagen würde. Sicher, wenn jemand in das Haus zurückgekehrt ist, dann bestimmt nicht der Tote hier auf dem Sofa. Es hätte keinen Sinn gehabt, das zu tun, außerdem waren seine Transportprobleme auch nicht unbeträchtlich. Ich hab mich umgeschaut: Hier gibt es nicht mal ein Fahrrad.« Ich hing lange meinen Gedanken nach, bis Benjamino wieder das Hauptproblem ansprach.

»Und mit ihm, was machen wir jetzt mit ihm?« fragte er und wies auf den Leichnam.

»Das hängt ganz davon ab, wie wir die Geschichte beenden wollen. Geben wir auf? Dann überlassen wir ihn denen, die da draußen die Hetzjagd auf ihn begonnen haben, und der Fall ist für immer abgeschlossen. Die Toten begraben ihre Toten, und der Mörder lebt in Frieden für den Rest seines Lebens. Wenn wir dagegen im Spiel bleiben wollen, dann müssen wir als erstes diesen Leichnam verstecken: Solange er gesucht wird, bleibt der Fall offen.«

»Willst du den Mörder finden?«

»Ja. Wir sind die einzigen, die das können. Ich spreche im Plural, weil ich es ohne deine Hilfe und die der Foscarini gar nicht erst zu versuchen bräuchte.«

»Und dann?«

»Was dann?«

»Wirst du ihn dann anzeigen?«

»Hör zu, Benjamino, du wirst dir doch wohl keine Gewissensbisse machen wegen einem, der ungeschoren davonkommen will, indem er die Schuld auf einen armen Schlucker wie den hier abwälzt. Es ist klar, daß er diesen Mord nach dem Muster des Mordes von 76 ausgeführt hat, wofür dieser Kerl hier schon im Knast saß. Und weißt du warum? Weil Magagnin der perfekte Sündenbock war: Häftling auf Bewährung, halbwegs drogenabhängig, in eine undurchsichtige Geschichte mit der Toten verwickelt. Ist das nicht ein widerliches Verbrechen? Eine unerträgliche Ungerechtigkeit? Oder besser: Eine Schandtat, wie ihr Gangster sagt?«

»Ja, es ist eine Schandtat, aber Mörder zu finden, ist die Sache von Bullen und Richtern. Das überlassen wir lieber denen.«

»Aber die haben ihren Mörder ja schon, und es ist der falsche. Ich habe seine Unschuld herausgefunden«, ich zeigte auf die Leiche, »und jetzt will ich sie beweisen, aber dazu muß ich dem Schuft einen Namen geben, der die Frau umgelegt hat und den Jungen wie eine Marionette benutzt und ihn so weit gebracht hat, daß er sich die Venen mit Heroin vollpumpte, bis es ihm das Herz zerriß. Du weißt ja, daß ich nicht zum Richter gehen und sagen kann, ich bin nicht einverstanden mit dem, was im Gutachten über die Uhr der Belli steht. Ich würde bloß ’ne Menge Ärger kriegen, und kein Mensch würde mir glauben.«

»Jetzt ist er aber nun mal tot, Marco. Was soll er mit seiner Unschuld anfangen?«

Ich konnte meine Wut nicht mehr bremsen. »Was?« schrie ich. »Er hatte die Chance, von vorne anzufangen, und ausgerechnet da haben sie ihn reingelegt. Alle! Die Belli, die mit seinem Leben herumspielte, der Mörder, der ihn reingelegt hat, die Justiz, die Jagd auf ihn macht, und das Heroin, das ihn umgebracht hat. Hier geht es nicht darum, Räuber und Gendarm zu spielen, sondern darum, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Er war unschuldig. Er hat ein Recht darauf, daß ihm Gerechtigkeit widerfährt, auch wenn er tot ist.«

»Die Gerechtigkeit, die du nicht bekommen hast, stimmt’s?«

»Was hat das jetzt damit zu tun?« brauste ich auf, irritiert davon, daß Benjamino mein Leben mit dem Magagnins verglich. »Auch du warst der ideale Sündenbock: Student weit über die Regelstudienzeit, Blues-Sänger, der gerne zu tief ins Glas schaut, nicht eben makellose Sitten und einen Haufen krauser Ideen im Kopf. Sie haben sich nicht mal die Mühe gemacht zu überprüfen, ob du mit dem Typen, den du aufgenommen hast, etwas zu tun hattest oder nicht, sie haben dir lediglich vorgeschlagen, zu ›widerrufen‹ und Leute, die du nicht mal kanntest, in den Knast zu bringen ….«

»Herrgott, Benjamino, worauf willst du hinaus?«

»Dir Lebensart beibringen will ich, denn manchmal benimmst du dich wie ein blutiger Anfänger. Schau doch nur, wie du den armen Kerl hier behandelt hast. Sobald er dir unter die Augen gekommen ist, hast du ihn fertiggemacht, daß er nicht mal mehr Piep sagen konnte. Er sagte dir, er sei unschuldig, und du hast ihm ins Gesicht gelacht. Jetzt hast du ein schlechtes Gewissen, fühlst dich mies wegen dem, was du getan hast, und willst mit deinem Gewissen ins reine kommen, indem du den Mörder findest. vorausgesetzt, es gibt einen Mörder. Aber du vergißt dabei eines: Die Justiz hat ihre Regeln, und eine davon ist, daß man sie nicht auf ihrem eigenen Gebiet herausfordern soll. Du kannst versuchen, sie zu umgehen, aber nicht, sie herauszufordern. Dieser Kreuzzug von dir auf der Suche nach dem Schuldigen ist ein Luxus, der dich teuer zu stehen kommen kann, vor allem, wenn dabei Bullen, Anwälte und ihr Gefolge in ein schlechtes Licht geraten. Merk dir, daß du kein ›Regulärer‹ bist, keiner, der es sich erlauben könnte, die Rolle des entrüsteten Bürgers zu spielen. Typen wie dich und mich nennt man Vorbestrafte. Wir sind der Abschaum der Gesellschaft. Die können uns fix und fertig machen. Wie und wann sie wollen.«

»Hör auf, den abgeklärten Gangster zu spielen. Antworte mir: ja oder nein?«

»Ja, ich laß dich in diesem Schlamassel nicht allein, aber ich tue es ausschließlich, weil du in der Schuld des Jungen stehst und ich in deiner. Und nur unter einer Bedingung: daß wir uns bedeckt halten. Sollte irgendwas sein, wird die Anwältin mit dem Richter reden. Einverstanden?«

»Einverstanden.« Ich drückte ihm die Hand und küßte ihn auf die Wangen. Er wußte, daß ich diese Rituale der Unterwelt haßte, so gab er mir mit selbstgefälliger Miene einen kräftigen Schlag auf die Schulter. Wir rauchten schweigend unsere Zigaretten. »Es ist das erste Mal, daß ich dich so nachdenklich seh, Benjamino«, sagte ich zu ihm. »Es ist das erste Mal, daß ich mich außerhalb der Spielregeln bewege, und das gefällt mir überhaupt nicht. Ich fühl mich nicht wohl … das riecht übel nach Ärger. Und dabei fällt mir ein daß auch der hier bald übel riechen wird. Hast du dir überlegt, wo wir ihn hinpacken können?«

»Beim Lesen des Gutachtens hatte ich eine Idee. Erinnerst du dich an die Bande von Lallo dem Hinkenden, dem Römer? Sie haben einen Industriellen entführt, haben ihn umgebracht und dann in eine Tiefkühltruhe gesteckt. Wenn sie ein Foto machen mußten, um der Familie zu zeigen, daß er noch am Leben war, holten sie ihn raus, drückten ihm ’ne aktuelle Tageszeitung in die Hand, machten das Foto, und dann wieder ab ins Eisfach. Nicht mal die Gerichtsmediziner haben es bemerkt, sie glaubten, er sei erst 24 Stunden vor Auffinden der Leiche getötet worden. Scheint dir das keine gute Lösung, auch in unserem Fall?«

»Doch, ich finde sie nicht schlecht. Und unten im Keller steht eine Tiefkühltruhe, die für unsere Zwecke geeignet ist … Los, nimm ihn bei den Füßen.«

Während wir die Treppen zum Keller hinunterstiegen, blieb der alte Rossini stehen.

»Der ist schwer, los, mach weiter!« drängte ich. »Warte einen Moment. Ich dachte, wenn er nichts mit diesem Mord zu tun hat, dann vielleicht mit dem ersten auch nicht.«

»Das geht mir zu schnell. Wir müssen uns nur mit diesem hier befassen. Für den anderen, auch wenn es so wäre, ist es zu spät. Er hat die Rechnung schon bezahlt.« Wir vernichteten seine persönliche Habe: Die Drogen in die Klospülung, die Kleider und die Tasche verbrannten wir im Kamin. Das Geld nicht. Das behielten wir als Spesenrücklage für unsere Ermittlungen.

Es war spät in der Nacht, als wir das Haus verließen. Wir mußten dringend schlafen, und Benjamino lenkte den Wagen in Richtung Venedig.

»Bei mir ist es bequemer«, kommentierte er ironisch. Er wußte, daß ich niemand mehr bei mir beherbergte.

Ich steckte eine Kassette in den Recorder des Autoradios. Willie Dixon sang I’am your hoochie coochie man. Er ließ mich das Motiv ein Weilchen mitsummen. »Wirst du der Foscarini sagen, daß Magagnin tot ist?«

»Und daß wir ihn in einer Kühltruhe ›geparkt‹ haben?

Ich denk ja gar nicht dran. Auch weil sie das Spiel nicht durchhalten würde. Vergiß nicht, daß wir sie brauchen, sie verkehrt an Orten, wo wir nicht mal von ferne Zutritt haben. Wir müssen ihr halt ab und zu eine Lüge auftischen, um sie zu beruhigen, wie zum Beispiel, daß ihr Mandant seinen Unterschlupf geändert hat und sie nicht sehen will.«

»Hoffen wir, daß sie das schluckt. Und nun, Sherlock Holmes, wo fangen wir an?«

»Ich habe keinen blassen Schimmer, Watson.« Gleich darauf schlief ich ein.

Mir stieg kräftiger Kaffeeduft in die Nase, großzügig mit Calvados angereichert. Ich schlug die Augen auf und sah Benjamino am Rand meines Bettes sitzen, er hielt mir die Kaffeetasse unter die Nase. »Guten Morgen.«

Ich nahm sie ihm aus der Hand und trank gierig. »Ist noch ein Schluck da?«

Er zeigte auf die Flasche auf dem Nachttisch. »Bedien dich.« Nach einer Zigarette fühlte ich mich bereit, den Tag zu beginnen: Nach dem Licht zu schließen, das durch die Ritzen der Fensterläden drang, würde er heiß und schwül sein wie der vorangegangene und aller Wahrscheinlichkeit nach der folgende auch. Im Veneto ist das immer so: Die Hitze läßt nicht nach, und dann, eines Tages, verschwindet sie ebenso plötzlich, wie sie gekommen ist. »Wie spät ist es?«

»Fast zehn.«

»Neuigkeiten?«

»Das hier«, sagte er und reichte mir eine Tageszeitung mit Paduaner Lokalnachrichten. »Hör mal, ich hätte ein paar dringende Besorgungen zu machen. Was hältst du davon, wenn wir nach dem Mittagessen aufbrechen?«

»In Ordnung, so versuche ich unterdessen, auf ein paar gute Ideen zu kommen.«

Die Fotos von der Belli und Magagnin waren auf der ersten Seite. Die Bildunterschrift lautete: Geschworene aus Rache ermordet: Alberto Magagnin, der schon 1976 für den Mord an Evelina Mocellin Bianchini verurteilt wurde, wird auch dieses neue grausame Verbrechen zur Last gelegt … Die ausführlicheren Berichte nahmen innen zwei ganze Seiten des Lokalteils ein. Ich las sämtliche Artikel aufmerksam durch. Der Fall war schon gelöst, um ihn zum Abschluß zu bringen, brauchte man der Justiz jetzt nur noch den Schuldigen zu liefern, dessen Stunden wie üblich gezählt waren. Mordkommission, Carabinieri und Untersuchungsrichter gaben sich sehr sicher und zuversichtlich: Fingerabdrücke, Vorgehensweise und das Tatmotiv der Rache nagelten Magagnin unausweichlich fest.

Der Kommentar befaßte sich, wie erwartet, mit der Gefängnisreform, war aber gar nicht so übel. Obwohl er davon überzeugt war, daß ein Rechtsstaat ohne Gefängnisreform nicht auskommen kann, hielt der Autor es gleichwohl für wünschenswert, daß die Richter bei der Beurteilung der Voraussetzungen, die der Strafgefangene erfüllen mußte, um Freiheit auf Bewährung zu bekommen, strengere Maßstäbe walten ließen, insbesondere im Hinblick auf seine psychische Gesundheit. Dann folgte ein ausführlicher Bericht über den Prozeß von 1976. Auf den Fotos von damals aus dem Gerichtssaal waren die Gesichter des Angeklagten und der Geschworenen eingekreist. Wenn auch um fünfzehn Jahre jünger, waren auf seinem Gesicht doch schon der unsympathische Zug und die traurigen Augen, die ich kannte, zu erkennen. Sie hingegen lächelte, und ihr Gesichtsausdruck war leicht zweideutig. Ich verweilte lange bei diesen Bildern und fragte mich, was in aller Welt diese Frau dazu gebracht haben konnte, im Schwurgericht zu lächeln, wo doch dauernd eine so verhängnisschwangere Atmosphäre herrscht. Es wirkte, als hätte sie sich für den Fotografen in Pose gesetzt und als fühlte sie sich rundum wohl.

Wer hätte je gedacht, daß sie mal kokainsüchtig werden und sich mit einem Freigänger einlassen würde, mit einem, der ein paar Tage nachdem diese Bilder aufgenommen worden waren, auch dank ihrer Beihilfe, verurteilt worden war. Wer weiß, ob Magagnin den Teil seiner Erzählung bezüglich der sadomasochistischen Praktiken, in die er, wie er sagte, durch die Belli eingeführt worden war, frei erfunden hatte. Aus den Interviews mit Nachbarn und Lehrerkollegen gewann man den Eindruck, sie hätte ein eher zurückgezogenes Leben geführt, sei praktisch ganz in ihrer Lehrtätigkeit aufgegangen. Die nächsten Verwandten lebten in Treviso, und in den letzten Jahren hatten sie sie selten gesehen. Sie würden sich jedenfalls um die Beerdigung kümmern. Die Journalisten hatten keine Freunde ausfindig machen können, aber das interessierte die Ermittler bestimmt nicht: für die Untersuchungen nebensächlich. Adreßbücher waren nicht einmal beschlagnahmt worden. Und doch mußte sie ihre Bekanntschaften gehabt haben, und ziemlich vorurteilsfreie obendrein, da diese sie auf den Kokaingenuß gebracht hatten.

Auf das Kokain fand sich in den Artikeln nicht der geringste Hinweis. Das war verständlich, dem Richter würde das erst bei Vorlage des Gutachtens auffallen, denn das würde auch die toxikologischen Befunde umfassen; aber selbst wenn er es jetzt schon wußte, Magagnins Position würde sich dadurch um keinen Deut bessern.

Eines war sicher, hinter dem Lächeln dieser Frau gab es etwas zu entdecken. Eine so unerhörte Wahrheit, daß ein derart kompliziertes Verbrechen gegen sie ausgeheckt werden mußte. Auf das Foto von Barbara Foscarini im Talar folgte ein Interview mit ihr, eine weitere verzweifelte Verteidigung ihres Mandanten. Der Journalist schloß den Artikel mit einer ziemlich unfreundlichen Bemerkung, die die Anwältin erledigte. Wie üblich konnte natürlich die Meinung des Experten nicht fehlen. Der Seelenklempner, Dauergast in den meistgesehenen TV-Shows des Moments, hatte sich auch diesmal den gebührenden Platz gesichert, um über die narzißtische Persönlichkeit mit Borderline-Syndrom zu dozieren und über Streßfaktoren bei Einnahme von Drogen und Alkohol, die Argwohn und ritualisiertes Verhalten verstärken können. Armer Magagnin, sie hatten ihm das Gewand des Mörders auf den Leib geschneidert, auch mit dem Segen der Psychiatrie. Der Artikel mit der Unterschrift Giovanni Galderisi, dem Senior unter den Paduaner Lokaljournalisten, hob sich von den anderen ab, weil er nicht in den Chor der breiten Mehrheit einstimmte, sondern einige unklare Punkte hervorhob, von denen er meinte, sie verdienten die besondere Beachtung der Ermittler. Vor allem muß man sich fragen, wer der mysteriöse anonyme Anrufer ist, der den Ermittlern ermöglicht hat, den geschändeten und leblosen Körper der beklagenswerten Lehrerin zu finden. Es fällt schwer zu glauben, das sei Magagnin gewesen, der mutmaßliche Täter des Verbrechens. In der Tat geht man nach landläufiger Erfahrung davon aus, der Mörder sei der letzte, der wünscht, daß das Verbrechen entdeckt wird. Vielleicht ein Freund oder Nachbar zu Besuch? Das ist ebenso unwahrscheinlich, vor allem, weil er ohne weiteres seinen Namen hätte nennen können, und dann, weil der mysteriöse Anrufer bei der Polizeizentrale eine Angabe gemacht hat- die Leiche befindet sich in einem Raum im ersten Stock des Hauses –, die beweist, daß er sie zumindest gesehen hat. Wäre es ein Nachbar oder ein befreundeter Besucher gewesen, hätte er nach Auffinden der Leiche sofort Hilfe geholt und dazu das Telefon im Haus benutzt, in dem er sich aufhielt. Hingegen ist festgestellt worden, daß der Anruf um vier Uhr früh aus der Telefonzelle einer Tankstelle an der Autobahn Venedig-Mailand kam.

Muß man hier nicht vielleicht an einen Komplizen denken oder jedenfalls an jemanden, der über das Verbrechen ebensoviel weiß wie Magagnin?

Weiter muß man sich fragen, warum Magagnin ausgerechnet Professoressa Belli zum Ziel seiner Rache erkoren hat. Der Schreiber war einer der zahlreichen Berichterstatter, die den Prozeß um das Verbrechen Evelina Mocellin Bianchini Ende 1976 mitverfolgten. Ich kann versichern, daß im Lauf der Verhandlungen nichts vorgefallen ist, was auf einen besonderen Groll des Angeklagten gegenüber dieser Geschworenen hindeuten könnte.

Warum also ausgerechnet die Belli? Vielleicht kann nur Magagnin darauf eine erschöpfende Antwort geben. In Erwartung, daß er gefaßt wird, und wir hoffen, daß dies so bald wie möglich geschieht, sollten die Ermittlungen in sämtliche Richtungen fortgeführt werden, und auch die unscheinbarsten Aspekte sollten in Betracht gezogen werden.

Ich legte die Zeitung auf die Knie und fuhr mir mit der Hand durch die Haare. Ich hätte mir die Zunge abbeißen mögen, weil ich mir dieses Detail über die Lage der Leiche hatte entschlüpfen lassen, als ich den anonymen Anruf machte. Dann aber riß ich die Seite mit dem Artikel heraus und faltete sie sorgfältig zusammen. Mir war eine Idee gekommen. Die Foscarini empfing uns mit einem »Und wer ist dieser Herr?«, womit Benjamino gemeint war.

»Mein Partner Benjamino Rossini. Da haben Sie Ihre kostbaren Akten wieder, Frau Anwältin. Ich überbringe Ihnen Grüße von Ihrem Mandanten. Apropos, er läßt Ihnen ausrichten, er möchte Sie lieber nicht treffen und noch viel weniger wolle er sich der Justiz stellen. Beim gegenwärtigen Stand der Dinge will er lieber versteckt bleiben und abwarten, daß sich die Situation klärt. Außerdem hat er mich beauftragt, parallele Ermittlungen durchzuführen, um den wahren Mörder zu finden.«

»Das bedeutet, daß Sie jetzt von seiner Unschuld überzeugt sind. Das überrascht mich. Erklären Sie mir das, ich bitte Sie.«

Ich erzählte ihr von meinen Entdeckungen und Schlußfolgerungen.

Zum Schluß sagte sie zur mir: »Ist Ihnen klar, daß Ihre Zeugenaussage ihn entlasten könnte? Als Alberto Magagnins Verteidigerin ist es meine Pflicht, Sie aufzufordern, beim Untersuchungsrichter vorzusprechen.«

»Reden Sie doch keinen Unsinn, Frau Anwältin. Wir wissen beide ganz genau, daß das gar nichts bringen würde und uns nur Schwierigkeiten machen würde. Was man machen kann, und das wünscht auch Ihr Mandant, ist, Ermittlungen aufzunehmen. Wenn wir unsere Kräfte zusammentun, könnte uns das vielleicht gelingen. Wir verfolgen die Spur Belli weiter, und Sie sammeln unterdessen Informationen aus dem Justizpalast. Was halten Sie davon?«

»Ich halte das für grundsätzlich falsch, und es hilft uns sicher nicht, Albertos Situation zu verbessern. Ich will Ihnen ja nicht zu nahe treten, Buratti, ich weiß, daß Sie sich im Gangstermilieu bestens auskennen, und verschiedene Kollegen haben eine hohe Meinung von Ihnen, aber ich bezweifle, daß Sie in der Lage sind, so schwierige und komplexe Ermittlungen durchzuführen, wie sie bei einem vorsätzlichen Mord erforderlich sind. Aber wenn das Albertos Wunsch ist, werde ich versuchen, ihm zu helfen, soweit es in meinen Kräften steht und im Rahmen meiner Kompetenzen liegt. Sagen Sie ihm, ich bedaure, daß ich ihn nicht treffen kann, ich bin sicher, ich könnte ihn überzeugen. Geht es ihm wenigstens gut?«

»Ich würde sagen, er leidet nicht unter der Hitze, wie wir«, bemerkte Benjamino scheinheilig.

Ich warf ihm einen bösen Blick zu und sagte dann, wieder zur Anwältin gewandt: »Ich verstehe, daß Sie an meinen ermittlerischen Fähigkeiten zweifeln, aber Sie müssen sich darüber im klaren sein, daß wir die einzigen sind, die Ihrem Mandanten helfen können.«

»Haben Sie eine Idee?«

»Ein paar. Aber ich glaube nicht, daß Sie die kennenlernen möchten. Sie würden sie wahrscheinlich für etwas unprofessionell halten.«

Ich war schon im Begriff, den Raum zu verlassen, als sie mich unvermittelt fragte: »Und woher nimmt Alberto das Geld, um Sie zu bezahlen?«

Instinktiv erwiderte ich: »Und das Geld, das er Ihnen in all den Jahren gegeben hat, wo hat er das hergenommen?« Sie steckte den Schlag ein und senkte den Blick auf den Schreibtisch.

»Sind Eure Unterhaltungen immer so herzlich?« fragte mein Freund, während wir auf den Aufzug warteten. »Mehr oder weniger.«

»Sie hat uns zu verstehen gegeben, daß sie Magagnin gratis verteidigt hat, aber sie hat uns den Grund dafür nicht genannt. Mit so viel professionellem Eifer einen hoffnungslosen Fall zu betreuen, ohne den Anreiz des Gottes Mammon – das tut doch kein Anwalt.«

»Da hast du recht. Meiner Ansicht nach ist sie gefühlsmäßig tief in die Sache verstrickt … ich habe den Verdacht, da gibt es noch andere Wahrheiten zu entdecken. Schade, daß der einzige, der uns helfen könnte, Licht in die Sache zu bringen, unter einer anständigen Schicht Tiefkühlkost begraben liegt.«

»Dottore Galderisi, bitte.«

»Der ist nicht in der Redaktion. Er hat frei.«

»Können Sie mir bitte seine Privatnummer geben?«

Mit einem Grunzen wurde am anderen Ende der Leitung die Verbindung unterbrochen. Der Telefonist war entschieden kein besonders liebenswürdiger Typ.

Im Telefonbuch nachzusehen, war völlig zwecklos, weil die Journalisten zu den Berufsgruppen gehören, die immer seltener darin auftauchen, aber gegen eine bescheidene Summe konnte ich direkt bei der Telefongesellschaft nachfragen: Ich kannte da einen Typen, der sich gerne eine Kleinigkeit dazuverdiente.

»Giovanni Galderisi?«

»Ja?«

»Ich bin der mysteriöse Anrufer im Fall Belli.«

»Aha! Und was kann ich für Sie tun?«

»Ich habe Ihren Artikel gelesen und dachte, ich rufe Sie an, um Ihnen meine Anerkennung auszusprechen.«

»Sonst nichts?«

»Eigentlich doch. Ich dachte, Sie könnten vielleicht auch an ein paar Dingen Interesse haben, die mit dem Mord zusammenhängen und die noch nicht entdeckt worden sind.«

»Zum Beispiel?«

»Daß zwischen Magagnin und der Toten ein Verhältnis bestand, das nun schon eine Weile dauerte, und daß die unbescholtene Lehrerin und ehemalige Geschworene dem Drogengenuß ergeben war. Und daß Magagnin unschuldig ist.«

»Können Sie das alles beweisen, was Sie da sagen?«

»Nur zum Teil, aber für einen Journalisten ist das doch ein gefundenes Fressen, scheint mir.«

»Das wird sich zeigen. Aber was ist mit Ihnen, welche Rolle spielen Sie in der Geschichte?«

»Aber kommen Sie, Dottor Galderisi, enttäuschen Sie mich nicht mit so wenig professionellen Fragen.«

»Sagen Sie mir wenigstens, warum Sie sich an mich gewandt haben.«

»Weil Sie der einzige sind, der sich Fragen gestellt hat und nicht begeistert auf die Hypothese der Anklage eingegangen ist. Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Ich liefere Ihnen die Nachrichten, und Sie veröffentlichen sie.«

»Um für Magagnins Unschuld einzutreten? Sie wissen, daß ich das nicht kann.«

»Ich weiß. Mir geht es nur darum, daß die Paduaner morgens aufstehen und zum Zeitungskiosk stürzen, um die neuesten Nachrichten in der Sache zu lesen; ich will, daß in der Stadt von nichts anderem die Rede ist.«

»Geben Sie mir die Zeit, mit dem Chefredakteur darüber zu sprechen.«

»Ich rufe Sie morgen abend wieder an.«

Der alte Rossini hatte das Gespräch mit angehört, die Arme verschränkt und mit dem Ausdruck unverhohlener Mißbilligung. »Du hattest mir geschworen, daß wir den Arsch bedeckt halten würden, und dann telefonierst du als erstes mit der Presse.«

»Komm, Partner, das ist ein genialer Schachzug. Wenn Galderisi sich entschließt, uns zu helfen, haben wir gleich zwei Vorteile davon. Erstens würden Bullen und Richter sich unter Druck fühlen und vielleicht sogar selbst etwas herausfinden. Zweitens, und das ist wichtiger, wir verhindern, daß der Mörder sich allzusehr in Sicherheit wiegt.«

»Und welche Geniestreiche hast du noch auf Lager?«

»Heute nacht zeig’ ich dir das Haus der Belli. Dort suchen wir das Versteck, von dem Magagnin erzählt hat. Wenn es wirklich existiert, könnten wir auf einige Fragen eine Antwort finden.«

»Ich habe verstanden. Wir riskieren mal wieder den Knast.« Wir kehrten in die Bar im Forcellini-Viertel zurück: Calvados, Wodka und Klimaanlage. Es war gerade sechs Uhr abends vorbei, und wir mußten unseren Besuch im Haus Belli noch vorbereiten.

»Ich glaube nicht, daß das leicht wird. Der Ort, an dem ein Mord verübt worden ist, zieht immer eine Menge neugieriger Blicke an«, begann Benjamino.

»Das stimmt. Aber dieses Haus liegt in einer wenig belebten Straße. Wenn wir ungesehen zu Fuß hinkommen, dann wird alles glatt gehen. Gehen wir beide rein, oder soll einer draußen bleiben und Schmiere stehen?«

»Beide rein. Auf der Straße oder im Garten rumzustehen, ist gefährlicher, das fällt zu sehr auf. Bevor die Geschäfte schließen, müssen wir noch in eine Eisenwarenhandlung und das nötige Werkzeug besorgen. Die Chirurgenhandschuhe sind bei den ›Teilen‹ im Auto.«

»Wir sollten ins Einkaufszentrum gehen. Das ist der ideale Ort für unsere Art von Einkäufen: Der ist immer voller Menschen, weil er klimatisiert ist.«

Sobald es dunkel war, machten wir einen Erkundungsgang, und Benjamino beschloß, daß wir durch das Fenster an der Rückseite des Hauses einsteigen würden, das durch eine dichte Buchsbaumhecke weniger gut zu sehen war.

Vier Stunden später sprangen wir über die Einzäunung. Der alte Rossini bewegte sich behende wie eine Katze. Seine Gegenwart gab mir Sicherheit.

Bevor er den Fensterladen mit einem kurzen Brecheisen aus den Angeln hob, kontrollierte er, ob nicht Sensoren einer Alarmanlage angebracht waren. Dann schnitt er die Fensterscheibe auf der Höhe des Griffs mit einem Glasschneider auf. Mit abgeblendeten Taschenlampen begannen wir, das Haus, beim Erdgeschoß angefangen, zu durchsuchen.

In dem Raum, wo ich auf die Leiche der Piera Belli gestoßen war, fanden wir hinter einem Bücherregal auch das Versteck. Das Bücherregal bedeckte zwei Wände. Nachdem wir die Regale leergeräumt und die Rückwände abgeklopft hatten, erkannten wir, daß der Teil an der schmäleren Wand hinten hohl war. Man brauchte nur leicht dagegenzudrücken, um festzustellen, daß das Regal auf Rollen lief, und so hatten wir es im Nu beiseite geschoben. Das Versteck war eine ungefähr zwei Quadratmeter große Kammer, deren Tür entfernt worden war. Einfach, aber genial. Ohne Einblick in die Grundrißzeichnungen des Hauses war es praktisch unmöglich, die Existenz dieses winzigen Kämmerchens zu entdecken. Die Polizei hatte nicht einmal danach gesucht; im übrigen hatte sie auch keinerlei Anhaltspunkte, die auf das Vorhandensein von Geheimnissen im Leben der Professoressa schließen ließen.

Am Boden standen vier große, elegante Pappschachteln, verziert mit einem Blumenmuster auf dunkelblauem Grund.

»Besorg eine Tasche oder einen Koffer, worin wir die unterbringen können«, befahl ich Benjamino, während ich mich hinunterbeugte, um den Inhalt zu studieren. Papiere, Fotografien, Briefe, ein Tütchen mit einigen Gramm Kokain, eine Polaroid-Kamera, ein Richtertalar samt Barett, ein paar Peitschen, Handschellen und sonstige Sado-Maso-Ausrüstung und ein paar Schmuckstücke. Magagnin hatte die Wahrheit gesagt. Begeisterung erfaßte mich. Ich hatte große Lust, aus diesem Haus weg und an einen sicheren Ort zu gehen, wo wir unseren Fund in Ruhe untersuchen konnten. Benjamino kam mit einem großen, weichen Ledersack wieder. »Ich habe den hübschesten ausgesucht, und wie es aussieht, behalte ich den auch. Damit mach ich garantiert ’nen tollen Eindruck.« Wir nahmen nur die Papiere und die Fotos. Dann rückten wir das Bücherregal sorgfältig wieder an seinen Platz, und damit die Polizei nicht erkannte, welches Ziel dieser Einbruch gehabt hatte, warfen wir in anderen Zimmern den Inhalt von Schubladen und Schränken durcheinander. Sicher würden sie auf Einbruch durch ungeschickte Diebe tippen. Bei der Mautstelle an der Ausfahrt von Mestre gerieten wir in eine Polizeikontrolle. Zum Glück waren die Carabinieri damit beschäftigt, den Wohnwagen einer Familie von Zigeunern auseinanderzunehmen; dennoch, um Überraschungen zu vermeiden, beschloß Benjamino, bis Punta Sabbioni auf der Landstraße zu fahren.

Wir räumten den großen rechteckigen Tisch im Wohnzimmer leer und begannen, das Material Schachtel für Schachtel zu sichten. Zuerst die Fotografien. Die älteren waren sorgfältig in versiegelten Umschlägen aufbewahrt. Sie zeigten Paare oder Trios, manchmal eine einzelne Person. Insgesamt zwei Frauen – unsere Professoressa und eine Freundin – und sechs Männer waren bei jeder Art von sadomasochistischen Praktiken verewigt. Interessant war zu beobachten, daß die zwei Frauen bei jedem Treffen anwesend waren, während die Männer jeweils einzeln teilnahmen.

Die Freundin der Belli war eine Brünette um die 35, ein aparter Typ. Leider waren die Gesichter nur auf wenigen Fotos deutlich zu erkennen, und die legte ich beiseite in der Hoffnung, sie mit den dazugehörigen Namen und Nachnamen versehen zu können.

Der alte Rossini schüttelte den Kopf. »Ist ja nicht zu fassen … Und diese Schnepfe hier«, lachend wies er auf die Belli, »hatte den Mut, zu Gericht zu sitzen und Gefängnisstrafen auszuteilen.«

»Nun ja, jeder hat so seinen Geschmack in puncto Sex. Ich würde sie aber nicht so sehr als Schnepfe bezeichnen, sondern eher als schlau, sie verstand, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden. Erst amüsierte sie sich, dann erpreßte sie. Das könnte das viele Bargeld erklären, das Magagnin zur Verfügung hatte, und es könnte vor allem das Motiv für das Delikt sein. Vielleicht war es einer von diesen Typen hier, der sie abgemurkst hat.«

»Möglich. Ist dir aufgefallen, daß die alle eine Rolex am Handgelenk tragen? Das Modell, das du auf diesem Foto siehst, kostet an die 20 Millionen Lire.«

»Du hast recht«, sagte ich, und ging näher hin, um besser zu sehen. »Das sind alles Leute, die aussehen, als hätten sie Geld.«

Ein anderer Umschlag enthielt Fotografien, die nur Piera Belli, ihre Freundin und einen Mann zeigten, der eine Ledermaske mit Metallbeschlägen trug, in Höhe des Mundes ein vergoldeter Reißverschluß. Trotz der sadistischen Aufmachung hatte ich den Eindruck, daß er der Passive war, nicht die zwei Frauen. »Hier, die Fotos mit Magagnin«, sagte Rossini und reichte sie mir.

Magagnin zu sehen, in Lederhosen, die seine Genitalien entblößten, und in Gesellschaft seiner Professoressa in der Version »Richterin in der langen Robe« deprimierte mich und trocknete mir die Kehle aus.

Es war Zeit für eine Pause. Ich kippte mehrere Gläschen, aber ich fühlte mich noch völlig klar, als ich die Polaroid-Fotos wieder in die Hand nahm.

»Schwacher Magen, Sherlock Holmes?«

Ich antwortete nicht. Ich verweilte bei einem Schnappschuß, auf dem das Gesicht der Brünetten besonders scharf zu erkennen war.

»Erinnerst du dich, was Magagnin von der hier gesagt hat?«

»Er meinte, sie sei Verkäuferin.«

»Es ist vielleicht gar nicht so schwer, sie ausfindig zu machen. Ein Freund von mir, ein Saxophonist, kennt alle schönen Frauen von Padua, und ich glaube, die hier gehört in die Kategorie.«

Von den Fotos zu den Briefen. Auch in diesem Punkt hatte Magagnin die Wahrheit gesagt: Piera Belli war eine Graphomanin. Bei den hunderten von Seiten, die mit einer klaren und flüssigen Handschrift bedeckt waren, war alles dabei: Abschriften von Briefen an Geliebte bis hin zu der Auflistung der sexuellen Wünsche des Tages, von denen Magagnin erzählt hatte. Leider erschien nirgendwo ein Adressat. Die Briefe an den Freigänger erkannte ich lediglich deswegen, weil er mir davon erzählt hatte.

Die einzige Frau, von der die Rede war, war natürlich die, die überall auf den Fotografien als unzertrennliche Gefährtin der Dame des Hauses erschien. Auch ihr Name wurde nie preisgegeben. Sie war nur »meine dunkle Spielgefährtin«, die, wie aus einigen Sätzen hervorging, die Aufgabe hatte, ihr das Kokain zu beschaffen.

Vom Boden der letzten Schachtel holte Benjamino zwei Mappen hervor, die mit einem pinkfarbenen Band zugebunden waren. Die erste enthielt die Fotokopie eines längeren Artikels aus einer englischen Zeitschrift mit dem Titel Photography of bloodstains visualized by luminol, der von Hand auf 1973 datiert war, in einer Handschrift, die mit Sicherheit Piera Belli gehörte. »Schau her, sieht aus wie eine wissenschaftliche Zeitschrift.«

»Nun, die Verstorbene unterrichtete Englisch: Vielleicht handelt es sich um eine alte Übersetzung.«

»Und das, was ist das?« Benjamino reichte mir die zweite Mappe.

»Noch mehr Briefe. Schauen wir mal, an wen sie jetzt schreiben wollte.«

Zerstreut sah ich in den ersten Umschlag hinein, aber nach den ersten Zeilen war ich sofort wieder hellwach und ganz bei der Sache.

Diesmal hatte ich vielleicht ins Schwarze getroffen. Sämtliche Briefe waren an den Mann mit der schwarzen Ledermaske gerichtet; nicht nur lud ihn die Professoressa zu den gewohnten Treffen zu dritt ein – offenbar in Gesellschaft der Brünetten –, sondern sie erinnerte ihn auch daran, daß er noch die Monatsrate zu begleichen hatte, die ihr half zu vergessen, daß er der Verantwortliche für die Verurteilung eines Unschuldigen war. Alberto Magagnin.

»Ich glaube, wir haben die richtige Spur gefunden, hör zu«, sagte ich zu meinem Freund, und begann die Seite vorzulesen, die ich am interessantesten fand.

Unser Treffen findet am Sonntag statt. Richte es so ein, daß Du pünktlich um drei Uhr nachmittags hier sein kannst. Und nun wie immer meine Anweisungen:

Die Haustür wird nur angelehnt sein. Geh in das erste Zimmer links. Dort wirst Du einige kleine Überraschungen finden, neue Accessoires, die unser Zusammensein unvergeßlich machen werden. Siehst Du diese köstliche kleine Peitsche? Nimm sie in die Hand, ihr Griff ist aus Elfenbein, lang und schmal. Als ich ihn sah, kam mir so vieles in den Sinn … aber nicht jetzt. Leg erst einmal diese tristen, grauen Kleider ab und zieh die weiche Ledermaske über. Wie immer wird Deine Identität verborgen bleiben. Ein erregendes Geheimnis, das meine dunkle Spielgefährtin vor Neugier vergehen läßt. Keine Angst, sie wird nie erfahren, wer Du bist, denn das ist eines unserer kleinen Geheimnisse. Und jetzt mach weiter. Wir warten oben auf Dich. tritt ein und befiehl uns, vor Dir auf allen Vieren zu gehen. Laß Dich ansehen, mit dieser hübschen Peitsche in der Hand siehst Du aus wie ein Herrscher. Dann wirst Du zuerst auf mich zugehen, mich vom Boden hochheben, wirst mich an den Handgelenken packen und mich zwingen, die Arme auf den Rücken zu biegen. Du wirst mich mit den schwarzen Schnüren fesseln, die ich um meine Hüften gebunden habe. Heb mich in den Sessel, spreiz meine Beine auseinander und bind sie an den Armlehnen fest. Reiß mir den Slip herunter. Ich weiß, was Du jetzt willst. aber das kannst Du nicht tun, weil meine dunkle Spielgefährtin auf Dich wartet. Laß sie vor Dir niederknien, ihre Handgelenke sind straff mit den Knöcheln zusammengebunden. Dann ohrfeige sie sanft, pack sie bei den Haaren und zieh sie hoch. Bring sie dazu, daß sie ihn in den Mund nimmt. Du magst doch, daß sie ihn Dir lutscht, nicht wahr?

Aber vergiß nicht, daß ich vollkommen offen bin. Steck mir die Gerte rein. Du wirst mir weh tun, aber aus meinem Mund wird kein Laut der Klage kommen, wie aus Deinem kein Wort. Kurz bevor Du kommst, wirst Du meine dunkle Spielgefährtin zwingen, sich umzudrehen, und Du wirst sie von hinten nehmen. Aber wenn sie Dich nicht vollauf befriedigt, wirst Du sie strafen, indem Du sie mit zwei silbernen Klammern in die Brustwarzen kneifst.

Vor fünf mußt Du fort sein. Wenn Du Dich anziehst, vergiß nicht, das Geld, das mein Schweigen über die ungerechte Verurteilung von Alberto Magagnin erkauft, in die Schublade des Badezimmerschränkchens zu legen. Alberto – er lernt schnell, ist viel besser als Du, bereitet uns viel mehr Lust, befriedigt uns mehr. Vielleicht wegen der zwangsweisen Enthaltsamkeit in all den Jahren Gefängnis, zu denen Du ihn verurteilt hast. Manchmal denke ich, wie ungerecht das war, was Du getan hast, vielleicht sollte er von Dir wissen. Aber im Augenblick, habe ich beschlossen, hast Du nichts zu befürchten.

»Unschuldig in allen Punkten. Ich hab’s doch geahnt!« rief Benjamino.

»Ja. Wenn wir diesen Typen finden, klären wir zwei Verbrechen auf. Jede Wette, daß er sie umgebracht hat. Der Ton der Briefe macht deutlich, daß die Belli die Schraube immer enger zog: Geld, Sex und eine psychologische Abhängigkeit, die ihn zur Verzweiflung gebracht hat. Jetzt ist alles viel klarer, und es fällt ein neues Licht auf das, was wir ohnehin schon vermutet haben. Er hat das perfekte Verbrechen und die Vernichtung Magagnins inszeniert, um sich von den Launen der Frau zu befreien, dem ständigen finanziellen Aderlaß und der subtilen aber doch beängstigenden Drohung, dem Freigänger alles zu enthüllen. Sie tot und er im Gefängnis. Magagnins Leben und Schicksal waren echt beschissen, der Ärmste.«

»Bist du sicher, daß du ihn der Justiz ausliefern willst?«

»Was willst du damit sagen?«

»So einem würde ich lieber in den Mund schießen und ihm dann aufs Grab pinkeln.«

»Hast du schon vergessen, was Gefängnis bedeutet? Meinst du nicht, daß das für so einen Dreckskerl wie den hier die schlimmste Strafe ist?«

»Du hast recht. Aber erst müssen wir ihn mal finden. Was tun wir?«

»Die Brünette. Wir müssen sie unbedingt auftreiben und zum Reden bringen.«

»Hast du eine Idee, wie?«

»Zwei. Meinen Freund, den Saxophonisten fragen, ob er sie kennt, und eine schöne Fotoreportage von der Beerdigung der Professoressa in Auftrag geben, die, wenn ich mich nicht irre«, ich sah auf die Uhr, »und da es jetzt fast neun Uhr früh ist, morgen stattfinden wird. Wär’ doch möglich, daß der eine oder andere aus der Rolex-Bande der Versuchung nicht widerstehen kann, der unglücklichen Freundin die letzte Ehre zu erweisen.«

»Ich glaube nicht, daß die sich blicken lassen. Meiner Meinung nach machen die sich im Augenblick in die Hosen vor Angst.

Ich bezweifle, daß sie von dem Versteck der Belli wußten, und jetzt werden sie sich fragen, wo die Fotos abgeblieben sind … ob die Polizei sie schon in Händen hat.«

»Stimmt, das sind gewiß keine unbeschwerten Tage für sie. Aber wenn die Polizei die Aufnahmen gefunden hätte, da kannst du Gift drauf nehmen, dann wüßte es jetzt schon die ganze Stadt. So ein saftiges Klatschthema bleibt in Padua doch keine fünf Minuten geheim.«

Rossini konnte ein tiefes Gähnen nicht unterdrücken. »Ich bin müde. Ich bin nicht mehr in dem Alter, in dem man sich die Nächte um die Ohren schlagen kann. Schlafen wir bis zum Mittagessen und fahren dann zurück nach Padua. Ist dir das recht?«

Benjamino ging ins Bett. Ich war jetzt allein, also holte ich die Flasche raus und trank mir einen Rausch an. Ich ging zum Stereogerät, legte die Kassette The healer von John Lee Hooker ein und drehte auf volle Lautstärke. Als ich mich gerade im Rhythmus eines Solos von Carlos Santana wiegte, erschien Benjamino in einem schönen, feuerroten Seidenpyjama. Er nahm das Stereogerät und schleuderte es gegen die Wand, warf mir eine Kußhand zu, zwinkerte mir zu und ging wieder schlafen.

»Fotoagentur Familie Trentotto. Wer ist da bitte?«

»Marco Buratti. Kann ich mit Paolo Mazzo sprechen?«

»Einen Augenblick bitte.«

»Hallo, alter Gauner! Wie geht’s dir?«

»Glänzend. Hör zu, ich bin in einer Telefonzelle und das Geld ist bald durch. Ich brauche einen guten Fotografen, gut und verschwiegen. Seitdem du in Mailand arbeitest, weiß ich nicht mehr, an wen ich mich wenden kann.«

»Farbe oder Schwarzweiß?«

»Schwarzweiß.«

»Dann empfehle ich dir Claudio Sorgetti. Er ist einer der erfahrensten Fotografen von Padua, viele Kollegen haben bei ihm gelernt. Ich weiß, daß er sich jetzt mit Industriefotografie beschäftigt, aber er kann alles.«

Kurz vor vier Uhr nachmittags war ich am Geschäft des Fotografen. Es war noch zu, und ich flüchtete mich in den Schatten eines Laubengangs. Ich sah einen Mann um die fünfzig näherkommen, Jeans und kurzärmeliges Hemd, schulterlanges, weißes Haar und eine brennende Pfeife im Mund: Das mußte er sein. »Morgen ist ein Begräbnis. Ich brauchte einen Satz Fotos davon.«

»Das ist das erste Mal, daß ich um so etwas gebeten werde. Was brauchen Sie genau?«

»Scharfe Porträtaufnahmen in Schwarzweiß von allen Teilnehmern der Trauerfeier. Der Trauerzug wird morgen früh um acht Uhr zur Kirche San Pantaleo aufbrechen, wo die Messe gefeiert wird, dann wird der Sarg zum Hauptfriedhof von Treviso gebracht, um dort im Familiengrab beigesetzt zu werden. Mit ›allen‹ meine ich wirklich ausnahmslos alle, auch den Priester und die Totengräber.«

»Ist gut. Welches Format wünschen Sie?«

»Machen Sie nur Probeabzüge, dann werde ich Ihnen sagen, welche vergrößert werden sollen. Wann sind sie fertig?«

»Kommen Sie übermorgen um diese Zeit wieder.«

»Fragen Sie mich nicht nach dem Grund für diesen Auftrag?«

»Nein. Ich habe irgendwie das Gefühl, Sie würden mir ’ne Lüge auftischen.«

»Stimmt. Schade, ich hatte mir eine gute halbe Stunde lang den Kopf zerbrochen, um eine halbwegs passable Lüge zu erfinden.«

Ich traf Benjamino in der üblichen Bar.

»Wie ist es gelaufen?«

»Montag haben wir die Probeabzüge.«

»Und bis dahin?«

»Ruhen die Ermittlungen. Wir könnten es so machen: Wir fahren nach Punta Sabbioni, ich hole meinen Wagen, und wir sehen uns hier am Montag um zehn.«

»Ausgezeichnete Idee. Onkel Benjamino hat Lust, sich mal wieder verwöhnen zu lassen, und im Tucano Blu in Jesolo gibt es eine neue Entraîneuse, die gar nicht übel ist. Wenn du mitkommen willst, bist du mein Gast.«

»Nein danke. Ich glaube, ich werde gute Musik hören und dann nach Hause gehen und schlafen. Es war eine anstrengende Woche.«

Mein Freund warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu. »Was ist denn jetzt los?« fragte ich schnaubend. »Du wirst dich mit Calvados und Musik zuschütten bis zur Bewußtlosigkeit.«

»Wenn du gestattest, ist das meine Sache. Auf jeden Fall immer noch besser, als die Nacht in einem Nachtclub in Gesellschaft einer Mieze zuzubringen, die dich für Geld anlächelt.«

»Es gibt solche und solche Huren. würdest du das Ambiente besser kennen, hättest du nicht diese Vorurteile.«

»Ich habe die größte Achtung vor dem Gewerbe, aber ich habe überhaupt keine Absicht, neue Erfahrungen zu sammeln: Die, die ich in meinem Leben gemacht habe, reichen mir vollauf.« Der alte Rossini zündete sich eine Zigarette an. »Wenn du noch auf der Suche nach der großen Liebe bist, dann bewegst du dich im falschen Milieu. Und hast den falschen Beruf.«

»Ciao, Benjamino, bis Montag«, verabschiedete ich mich abrupt.

»Und der Wagen?«

»Diesmal nehme ich den Autobus.«

Auf dem Weg nach Hause machte ich halt, um Galderisi anzurufen.

»Nun, was hat der große Boß gesagt?«

»Er ist einverstanden, aber er will nur hieb- und stichfeste Nachrichten bringen. Mein Artikel erscheint morgen. Also müssen wir uns heute abend treffen.«

»Kommt überhaupt nicht in Frage. Unser Kontakt wird ausschließlich telefonisch bleiben. Wenn ich Material für Sie habe, sage ich Ihnen, wo Sie es abholen können.«

»Sie machen einen Fehler, wenn Sie mir nicht trauen. Das Berufsgeheimnis wird bei dieser Zeitung sehr ernst genommen.«

»Daran zweifle ich nicht. Aber es besteht die Gefahr, daß die Bullen nach dem ersten Artikel Lunte riechen und der Spur nachgehen. Ich rufe Sie in einer halben Stunde wieder an, um Ihnen die ersten Informationen durchzugeben. Machen Sie ruhig das Tonband fertig … wenn es nicht schon läuft.«

»Touché! Sie sind wirklich auf Zack …«

»Bis gleich.«

Ich wählte eine freistehende Telefonzelle beim Messegelände, und in einer Viertelstunde hatte ich alles erledigt. Ich hinterlegte ihm Material in einem Umschlag. Beim Öffnen würde er darin zwei Fotos finden. Auf dem ersten war Piera Belli beim Kokainschnupfen zu sehen – hinter ihr war Alberto Magagnin mit nacktem Oberkörper zu erkennen –, auf dem zweiten war die Frau in Gesellschaft des Mannes mit der Ledermaske. »Schönen Sonntag, du Mistkerl«, wünschte ich letzterem, während ich die Telefonzelle verließ.

Den Großteil der Nacht verbrachte ich im Biko’s, einem Lokal etwas außerhalb der Stadt, lauschte der Gitarre und der Harmonika von Claudio Bertolin – meiner Ansicht nach der einzige echte Bluesman des Veneto.

Ich trank viel. Mehr als gewöhnlich. Benjaminos Worte hatten eine alte Wunde wieder aufgerissen, und auch der Calvados genügte nicht, um sie wieder zu schließen. Die große Liebe meines Lebens war mir schon begegnet, aber sie hatte mich verlassen, während ich das letzte Jahr als Freigänger verbüßte. Sie hatte mir aus der Bretagne einen Brief geschickt, nur wenige Zeilen: Ich bleibe hier. Ein anderes Land, ein anderes Leben, ein anderer Mann. Ich liebe Dich nicht mehr und werde Dich vergessen. Viel Glück.

Ich glaubte, den Verstand zu verlieren, und sobald ich konnte, fuhr ich zu ihr. Ich war sicher, ich würde sie überzeugen können, zu mir zurückzukehren. Ich fand sie in einem Lokal in Brignogan, beim Austern essen und Chablis trinken, in Gesellschaft eines Typen, der mir überhaupt nicht ähnlich sah. Sie sah mich nicht hereinkommen. Sie war zu sehr von ihrem Verliebtsein in Anspruch genommen. Ich bemerkte, daß sie einen Schuh ausgezogen hatte, ihr Fuß streichelte das Bein des Mannes. Ich ging an den Tresen. Mein Kiefer war so verkrampft, daß ich nichts bestellen konnte. Der Wirt musterte mich, dann lächelte er mir zu und setzte mir eine reichliche Menge eines bernsteinfarbenen Likörs vor. Meine Hände zitterten, und ich mußte beide zu Hilfe nehmen, um das Glas an die Lippen zu führen. Ich trank in kleinen Schlucken. Jetzt fühlte ich mich besser. Viel besser. »Was ist das?« fragte ich, auf die Flasche deutend. »Calvados«, sagte er in verschwörerischem Ton. »Gut. Geben Sie mir eine Flasche und bringen Sie eine Flasche Champagner an den Tisch, wo diese wunderschöne Frau mit dem Muttermal auf der linken Wange sitzt. Aber erst, wenn ich draußen bin.« Ich zahlte und ging.

Seitdem fühle ich mich wie ein Meteor, der ins Leben geschleudert wurde. Ich habe andere Frauen kennengelernt, aber jedesmal war mir klar, daß ich nicht bei ihnen bleiben würde. Jeder hat so seinen Blues. Meiner ist die Erinnerung an eine Frau, die mich verlassen hat, während ich im Gefängnis saß.

Love. Only a memory.

In poems and blues songs

and saxophone screams.

Am nächsten Tag wachte ich mit erheblichen Kopfschmerzen auf, und nach einer ausgiebigen Dusche beschloß ich, die Zeitung kaufen zu gehen. Ich mußte nachsehen, ob Galderisi sein Versprechen gehalten hatte. Noch bevor ich beim Zeitungskiosk angekommen war, wurde mir klar, daß alles nach Wunsch lief: Ich begegnete mehreren Leuten, die den Kopf in die Zeitung steckten, und anderen, die schon aufgeregt miteinander diskutierten.

Erschütternde Enthüllungen im Fall Piera Belli. Kokain und Sadomaso. Ist Magagnin unschuldig? titelte die Zeitung über die ganze Seite. Der Leitartikel des Chefredakteurs, Die Justiz braucht Gewißheit, forderte die Staatsanwaltschaft höflich auf, den Fall wieder aufzurollen und insbesondere das Privatleben von Piera Belli gründlicher unter die Lupe zu nehmen, um zu verhindern, daß ein Justizirrtum begangen würde, das schlimmste Vergehen in einem Rechtsstaat. Galderisis Eifer übertraf alle meine Erwartungen. Überraschende Wendung im Fall Belli. Gern hätten wir geschrieben: in den Ermittlungen, aber die bestürzenden Tatsachen, die wir heute veröffentlichen, sind nicht von den Ermittlungsbehörden an uns gegangen, sondern stammen aus anonymer Quelle. Derselbe Mann hatte schon am Morgen des 29. Juni die Polizei vom Vorhandensein einer Leiche in der Via Torlonga Nr. 29 verständigt. Vor einigen Tagen hat sich diese Person nun mit unserer Redaktion in Verbindung gesetzt, der Mann gab sich als »der mysteriöse Anrufer im Fall Belli« aus und behauptete, Alberto Magagnin, der des Mordes an der Professoressa angeklagte Freigänger, sei unschuldig; außerdem sei er in der Lage, Details über das Privatleben des Opfers zu liefern, die in den Ermittlungen noch nicht aufgetaucht seien.

Die Redaktion erklärte sich bereit, nur wirklich fundierte Nachrichten abzudrucken. Zu diesen gehört nicht die Behauptung, Magagnin sei unschuldig, auch wenn unsere Leser, wenn sie weiterlesen, vermutlich mit uns übereinstimmen werden, daß sich diesbezüglich erhebliche Zweifel aufdrängen. Piera Belli führte ein Doppelleben. In der Öffentlichkeit war sie die untadelige, ganz ihrer Lehrtätigkeit ergebene Gymnasialprofessorin, scheu und zurückhaltend, wie Kollegen und Nachbarn sie geschildert haben. Privat jedoch hatte diese unsere Mitbürgerin ziemlich zweifelhafte Gewohnheiten. Es geht hier nicht darum, ihr öffentlich den Prozeß zu machen, bestimmt vergessen wir auch nicht einen Augenblick ihr vorzeitiges und grausames Ende; vielmehr geht es darum, die neuen Erkenntnisse bekannt zu machen, denn wir glauben, damit verantwortungsvoll zu handeln und unsere Pflicht der Öffentlichkeit, vor allem aber der Justiz gegenüber, zu erfüllen. Hier also die Tatsachen, die durch in unserem Besitz befindliche Fotos belegt sind:

Piera Belli gab sich sadomasochistischen Praktiken hin. Sie organisierte Treffen für mehrere Personen, in deren Verlauf Kokain eingenommen wurde, das sie selbst regelmäßig konsumierte.

Die Frau hatte ein undurchsichtiges Verhältnis mit dem Freigänger Alberto Magagnin, auch dieses war sadomasochistisch gefärbt und mit Drogenkonsum verbunden. Die Tatsache an sich wäre nicht weiter erstaunlich, wenn Piera Belli nicht ausgerechnet dem Schwurgericht angehört hätte, das Magagnin für den Mord an Evelina Mocellin Bianchini zu achtzehn Jahren Haft verurteilt hatte.

Im Lichte dieser Enthüllungen drängen sich gewisse Fragen auf, die wir den zuständigen Behörden vorlegen …

Bravo, Galderisi! Alles lief nach Plan. Der Skandal war so groß, daß die Ermittler gezwungen sein würden, den Fall wiederaufzurollen. Der Mörder hingegen mußte an diesem Punkt begriffen haben, daß die Konstruktion, auf die er sein Verbrechen gestützt hatte, ins Wanken geraten war.

Gegen Abend rief ich den Journalisten an, um ihm meine Glückwünsche auszusprechen, aber er war miserabler Laune.

»Ich habe den Tag bei Gericht verbracht. Die sind außer sich. Alle, vom Oberstaatsanwalt bis zum letzten Polizisten. Sie wollen keine Zweifel an der Anklage gegen Magagnin aufkommen lassen, aber es ist ihnen klar, daß alle Augen auf sie gerichtet sind und daß sie jede Menge Erklärungen schuldig sind. Sie werden sich mit äußerster Vorsicht bewegen, auch weil die Korrespondenten sämtlicher nationaler Medien in die Stadt eingefallen sind, aber ich habe das Gefühl, sie werden alles daran setzen, Magagnin festzunageln, egal, ob schuldig oder nicht. Es stehen zu viele Interessen auf dem Spiel, das ist einer von den Fällen, bei denen viele Köpfe rollen könnten, einschließlich meines eigenen. Der Chefredakteur wird ganz erheblich unter Druck gesetzt, und ich habe einige Mühe gehabt, ihn davon zu überzeugen, daß er den Artikel von morgen bringt. Das wird aber auch der letzte sein … und die Verantwortung dafür trage ganz allein ich. Auf der ersten Seite wird ein vergrößertes Detail der Ledermaske zu sehen sein, und ich behaupte in meinem Artikel, daß sich dahinter das Gesicht des wahren Schuldigen verbirgt.«

»Sind Sie jetzt auch davon überzeugt, daß Magagnin unschuldig ist?«

»Nein, gewiß nicht. Aber ich bin überzeugt, daß Sie wesentlich mehr wissen, als Sie mir gesagt haben, und daß es sich dabei um einigermaßen fundierte Informationen handelt. Der Chefredakteur wird von Leuten unter Druck gesetzt, die mit Sado-maso-Praktiken und Kokain eigentlich nichts zu tun haben dürften. Es ist klar, daß was anderes dahintersteckt.«

»Welche Kreise?« fragte ich beunruhigt.

»Ha, jetzt werde ich mal geheimnisvoll tun. Sie liefern mir weiter die Informationen, und dann werden Sie schon sehen, daß auch ich was preisgebe.«

»Wenn das morgen der letzte Artikel ist, wozu sollen Ihnen meine Informationen dann noch dienen?«

»Ich bin jetzt dreißig Jahre in diesem Beruf, und ich weiß, wann ein Fall wirklich heiß ist. Ich habe mich nie für Schönfärberei oder Vertuschungen hergegeben, und ich werde bestimmt nicht jetzt damit anfangen. Der Chefredakteur hat mir einen anderen Auftrag zugeteilt, aber ich kann natürlich auf eigene Faust weiter recherchieren, wenn Sie mir eine Spur geben, die ich verfolgen kann.«

Ich schwieg lange, überlegte, ob es sinnvoll war, Galderisi in die Geschichte zu verwickeln. Ich verließ mich auf meinen Instinkt. »Einverstanden, aber wir benutzen weiterhin das Telefon als Kommunikationsmittel.«

»Ist mir recht.«

Auch Barbara Foscarini war schlechter Laune. Sie gabelte mich wieder im Banale auf.

»Das ist Ihr Werk, nicht wahr?« fragte sie mit schriller Stimme und warf Galderisis Zeitung auf den Tisch. »Setzen Sie sich, Frau Anwältin. Sie ziehen ja die Aufmerksamkeit des ganzen Lokals auf sich.«

»Neulich in meiner Kanzlei haben Sie mir versprochen, daß wir während der Ermittlungen immer zusammenarbeiten würden, aber wenn ich wissen will, was Sie entdeckt haben, muß ich in der Zeitung nachlesen.«

»Ich habe Ihnen nichts gesagt, weil Sie nicht damit einverstanden gewesen wären, die Informationen an die Presse weiterzuleiten. Sie hätten lieber alles einem Richter in die Hand gegeben, damit alles fein säuberlich in der Familie bleibt. Da wäre keine Bombe geplatzt, und alle hätten den wahren Sachverhalt weiterhin ignoriert. Jetzt hingegen sind alle gezwungen, sich damit auseinanderzusetzen, sowohl die Ermittler als auch der Mörder.«

»Sie meinen, Sie sind ein großer Detektiv, dabei sind Sie nur dumm. Alles, was Sie erreicht haben, ist, daß die Ermittler stinksauer sind. Ich habe mit dem Staatsanwalt gesprochen, er war so in Rage, daß er mir gedroht hat, er würde meine Karriere ruinieren, wenn sich herausstellen sollte, daß ich irgend etwas mit all dem zu tun habe.«

»Jetzt reicht’s«, platzte ich heraus und hob eine Hand. »Hören Sie ein für allemal auf, Schwachsinn zu reden, das geht mir nämlich auf die Nerven. Piera Belli hatte herausgefunden, daß Alberto Magagnin an der Ermordung von Evelina Mocellin Bianchini nicht schuldig war und daß jemand vorsätzlich auf seine Verurteilung hingearbeitet hat. Sie hatte begriffen, wer das war und von dem Augenblick an hatte sie ihn in der Hand und hat ihn schwer erpreßt. Nur hat sie übertrieben. Sie hat Magagnin sogar ins Haus geholt, was diesen Typen über jedes Maß gereizt haben muß. Schließlich hat er es nicht mehr ausgehalten und hat beschlossen, mit beiden aufzuräumen. Piera mußte sterben und Magagnin für immer im Gefängnis verschwinden. Alles ist glatt gegangen, bis ich am Ort des Verbrechens aufgekreuzt bin und mich dort ein bißchen umgesehen hab.«

»Was sagen Sie da, erklären Sie das genauer.« Ich redete ungefähr zwanzig Minuten lang. Erst als ich fertig war, spürte ich, daß ihre Hand schon ein Weilchen meinen linken Unterarm umklammert hielt. Als ich ihn wegzog, sah ich die Spuren ihrer Nägel auf der Haut. »Ich muß mit Alberto sprechen. An diesem Punkt muß er sich unbedingt stellen. Wir können beweisen, daß die Belli nicht die Voraussetzungen erfüllte, um Geschworene zu sein, und so können wir die Wiederaufnahme des Verfahrens erwirken. Mit den neuen Erkenntnissen kann die Staatsanwaltschaft …«

»Schon wieder diese Tour mit dem Sich-Stellen«, fuhr ich dazwischen. »Sie wissen besser als ich, wenn die Sache in die Hände der Ermittler gerät, dann erledigt sich alles mit der Rückkehr Magagnins ins Gefängnis. Der einzige Ausweg ist, den Mörder zu finden.«

»Buratti, Sie begreifen nicht …«

»Nein, Sie sind es, die nicht begreift. Sie haben ihn schon mal verurteilen lassen, und deswegen hat er fünfzehn Jahre im Gefängnis zugebracht. Jetzt lassen Sie mich machen.« Es war, als hätte ich sie geohrfeigt. Sie brach in Tränen aus und lief davon, die Hände vorm Gesicht. Der Barmann kam her und brachte mir noch einen Calvados. »Auf Kosten des Hauses. Es muß was Wichtiges passiert sein«, kommentierte er und zwinkerte mir zu.

Benjamino knabberte zerstreut an einem Butterhörnchen herum, die Zeitung war auf der Seite mit dem Artikel von Galderisi aufgeschlagen. Er hob den Blick und empfing mich mit einem: »Ein schöner Schlamassel, Marco, wirklich ein schöner Schlamassel. Im Radio, im Fernsehen und in den Zeitungen ist von nichts anderem die Rede. Wenn wir nicht aufpassen, landen wir mitten in der Scheiße.«

Ich setzte mich zu ihm. »Ich liebe Optimismusspritzen am Montag morgen.«

»Sei nicht albern. Jetzt wissen die Bullen, daß da jemand den Privatdetektiv spielt. Seinetwegen steht die gesamte Polizei ziemlich dumm da. Habe ich dir je gesagt, daß Bullen nachtragend sind? Jetzt werden sie die Augen aber ganz weit offenhalten.«

»Wir auch, keine Sorge.«

Über dem Foto des Mannes mit der Maske titelte die Zeitung: Ist das der wahre Mörder von Frau Belli?

Wie schon gestern berichtet, ist aus anonymer Quelle Fotomaterial in unsere Hände gelangt, das das Doppelleben der Piera Belli bezeugt. Heute veröffentlichen wir das maskierte Gesicht eines Mannes, der unserem Informanten zufolge der wirkliche Mörder sein könnte. Das Motiv: Erpressung. In der Tat soll Piera Belli diesen Mann über längere Zeit gezwungen haben, sich ihren sexuellen Wünschen zu fügen und erhebliche Summen Geldes an sie zu zahlen, um sich ihr Schweigen zu erkaufen. Der Grund dafür ist bislang unbekannt, der mysteriöse Anrufer erklärt, er wolle ihn noch nicht offenbaren. Vermutungen also, keinerlei Gewißheit bezüglich der Unschuld von Alberto Magagnin. Sicher wäre es interessant herauszufinden, wer dieser Mann ist, der auf der Fotografie (von der wir hier nur diesen Ausschnitt wiedergeben, da wir sie aus Gründen der öffentlichen Moral nicht vollständig publizieren können) nur mit der Maske bekleidet erscheint. Neben ihm das Opfer, völlig nackt. Wir können dieser Beschreibung nichts weiter hinzufügen, da die Aufnahme von den Ermittlungsbehörden beschlagnahmt wurde, wie wir an anderer Stelle berichten. Eine Maske hat an sich schon etwas Geheimnisvolles, aber diese hier mit dem Reißverschluß auf der Höhe des Mundes ist wirklich beängstigend. Wer verbirgt sich hinter einer solchen Maskierung? Ein perverser Spielgefährte oder ein Mann, der durch eine schreckliche Erpressung gezwungen ist, sich für derart üble Praktiken herzugeben?

Der Artikel von Galderisi warf so viele Zweifel auf, daß es einem Plädoyer vor Gericht gleichkam.

»Er hätte Anwalt werden sollen, als Journalist ist seine Begabung vergeudet«, erklärte Benjamino voller Bewunderung. »Was hast du ihm sonst noch gesagt?«

»Nichts weiter, nur was er geschrieben hat. Er riecht, daß da was faul ist, und hat mir seine Mitarbeit angeboten.«

»Ein Journalist hat uns gerade noch gefehlt im Team. Warum heuerst du nicht auch gleich noch einen Psychologen und einen Priester an?«

»Ganz ruhig, Partner. Es sind nur telefonische Kontakte. Er hat mir gesagt, der Chefredakteur werde aus ›gewissen Kreisen-unter Druck gesetzt, aber er wollte sich nicht dazu äußern, von welchen, deshalb ist das sein letzter Artikel über den Fall. Der Chefredakteur hat ihn schon fallenlassen, in der Tat befaßt sich der Leitartikel von heute mit den Schmiergeldaffären der italienischen Politiker.«

»Es könnte sich um die Rolex-Bande handeln.«

»Es ist verfrüht, das zu sagen.«

»Marco. ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll.«

»Sag es mit deinen eigenen Worten«, frotzelte ich. »Wenn sie uns schnappen. wenn wir im Knast landen., diese Geschichte mit uns als Privatdetektiven, weißt du, die Jungs würden uns jahrelang damit aufziehen.«

»Ich werde deinen Ruf schützen, Benjamino, bis in den Tod werde ich jegliche Beteiligung deinerseits leugnen. Die lächerliche Figur des Idioten gebe ich alleine ab.«

Ein paar Minuten vor vier kamen wir ins Geschäft des Fotografen, und er war schon da und erwartete uns. »Ich habe einen Großteil der Nacht in der Dunkelkammer zugebracht. Ich mußte das Teleobjektiv benutzen. Es waren nicht viele Leute da, aber die Verwandten mochten die Anwesenheit von Fotografen nicht.«

Sorgetti breitete rund dreißig Bögen mit Probeabzügen auf der Ladentheke aus und legte eine Lupe dazu. »Suchen Sie die heraus, die ich vergrößern soll.«

Er hatte tolle Arbeit geleistet. Trotz des winzigen Formats der Fotogramme waren die Gesichter der Teilnehmer auch mit bloßem Auge ganz genau zu erkennen. Benjamino zog die Polaroid-Fotos, die wir im Haus der Belli gefunden hatten, aus der Tasche.

Schweigend sahen wir Sorgetti an, der auf der Stelle begriff. »Ich mach ’ne Pause, ich geh einen Kaffee trinken. In zehn Minuten bin ich wieder da.«

Die Brünette trug ein schwarzes Kleid, das eher für eine Cocktailparty als für eine Beerdigung passend schien, aber ihr Gesicht war von aufrichtigen Tränen gezeichnet. Um sie herum die gesamte Rolex-Bande, mit den verzerrten Zügen und den typischen Grimassen von Leuten, die hinter vorgehaltener Hand tuscheln.

»Hast du gesehen, Benjamino, daß sie der Versuchung nicht widerstanden haben, ihrer Zeremonienmeisterin das letzte Geleit zu geben?«

»Stimmt. Wie eine Gruppe trauernder Freunde sehen die allerdings nicht aus, eher schon wie Verschwörer bei einer geheimen Zusammenkunft.«

»Nach den Artikeln von Galderisi haben sie endlich die Gewißheit, daß die Fotos von ihren Spielchen jemandem in die Hände gefallen sind. Und da es sich nicht um die Polizei handelt, glauben sie vielleicht, daß sie sich auf neue Erpressungen gefaßt machen müssen.«

»Ja. In diesen Tagen spuken wir einer Menge Leuten im Kopf herum. Diesen Idioten, dem Mörder und der ganzen Bullenschaft der Stadt. Und alle wollen sie rauskriegen, wer wir sind. Ich will mich ja nicht ständig wiederholen, aber.«

»Du tust es aber, Benjamino, du tust es.« Als der Fotograf wiederkam, hatten wir schon die Probeabzüge ausgesucht, die uns interessierten. Ich wies mit dem Finger auf einen bestimmten. »Das hier bräuchte ich sofort.«

Er betrachtete es. »Aha, Miss Beerdigung. Die Fotogenste unter den Trauernden, ohne Zweifel. In welchem Format die Vergrößerung?«

Mein Freund, der Saxophonist, trat an diesem Abend mit seiner Band, dem Sax Appeal Saxophone Quartett, im Mezzocono auf, einem Lokal beim Ponte Molino, im Herzen der Altstadt. Ich wußte, daß er heute sein letztes Werk, eine CD mit dem Titel Giotto, präsentierte, auf der jeder Song nach einer anderen Farbe benannt war.

Wie betraten das Lokal kurz vor Beginn des Konzerts, und ich lud den Musiker zu uns an den Tisch ein. »Benjamino, darf ich dir Maurizio Camardi vorstellen, einen hervorragenden Saxophonisten und wahren Experten in Sachen schöne Frauen von Padua.«

»Hast du dich zum Jazz bekehrt?« fragte er mich amüsiert. »Noch nicht, auch wenn es immer ein Vergnügen ist, dir zuzuhören.« Ich hielt ihm das Foto mit der mysteriösen Brünetten hin. »Ich bin auf der Suche nach dieser Frau, kennst du sie? Scheinbar ist sie Verkäuferin in einer Boutique.«

»Schöne Schnecke«, kommentierte er. »Ich habe sie schon mal irgendwo gesehen, aber im Augenblick fällt mir nichts dazu ein.«

»Durchforste deine Kartei gründlich, Maurizio. Ich muß sie unbedingt finden.«

»Laß mich darüber nachdenken.«

Gegen Ende des Konzerts, als sie Violet spielten, nützte er das Solo eines anderen Musikers und kam noch einmal zu unserem Tisch herüber. »Sie ist nicht Verkäuferin«, flüsterte er mir ins Ohr, »sondern Inhaberin einer Boutique am Largo Pacinotti.«

Der Firmenname Beverly Nails – Intimwäsche Damen und Herren stand über einem geschmackvoll eingerichteten Geschäft, geräumig und ziemlich gut besucht für einen heißen Julimorgen. Drei Verkäuferinnen arbeiteten dort, jung und mit fachkundigem Auftreten.

Punkt 13 Uhr verließen die Mädchen das Geschäft, und Giusy Testa, die Inhaberin, verschloß die große Glastür von innen mit einem Schlüssel. Ich überquerte die Straße und klopfte an, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Neugierig drehte sie sich um, vor allem versuchte sie zu erkennen, was ich gegen die Scheibe gepreßt hatte. Sie kam näher, und als sie sah, daß es sich um ein Polaroidfoto handelte, auf dem sie im Akt der Fellatio mit dem Mann mit der Ledermaske zu sehen war, fuhr sie sich mit der Hand ans Herz, und von ihren Lippen konnte ich ablesen, daß sie »Oh, mein Gott«, ausrief. Ein paar Augenblicke lang blieben wir so stehen und starrten uns an, dann gab ich ihr zu verstehen, sie solle die Tür öffnen. Benjamino schloß sie wieder und lehnte sich mit dem Rücken dagegen, die Arme verschränkt. Wir schwiegen und sahen sie an, ohne eine Miene zu verziehen. Ich hielt das Foto weiterhin gut sichtbar vor mich hin. Man hörte nur ihren keuchenden Atem. Trotz der Klimaanlage liefen ihr einige Schweißperlen von den Schläfen den Hals herunter. Nach ein paar Minuten brach sie zusammen. Sie fing an zu weinen und zu schreien. Ein hysterischer Anfall wie aus dem Lehrbuch. Wir ließen die Minuten verstreichen, dann, auf mein Zeichen hin, versetzte Benjamino ihr eine Ohrfeige, so daß sie zu Boden fiel. Sie verstummte. Freundlich hob mein Partner sie hoch und setzte sie auf die Verkaufstheke. Er strich ihr über die Haare, trocknete ihr das Gesicht und steckte ihr eine Zigarette in den Mund. Sie war bereit. »Wer ist das?« fragte ich und deutete auf den maskierten Mann.

»Ihr seid keine Polizisten, nicht?«

»Wer ist das?« wiederholte ich.

»Wir sind bereit, gut zu bezahlen für die Fotos.«

»Wer ist das?« brüllte ich. Diesmal hatte ich die Rolle des Bösen übernommen.

Sie erschrak. »Ich schwöre, ich weiß es nicht, ich habe es nie erfahren.«

»Hat deine Mama dir nicht gesagt, daß man solche Sachen mit fremden Männern nicht machen soll?« fragte Rossini schneidend.

»Nur Piera kannte ihn, ich hab ihn immer nur mit Maske gesehen.«

»Wer hat sie umgebracht?« fragte ich.

»Ich weiß es nicht, ich schwöre es, ich weiß es nicht. Vielleicht dieser Junge, Alberto. Ich habe mit den anderen geredet, von ihnen war’s keiner, sie hatten kein Motiv.«

»Vielleicht bist du es gewesen. Sie hat dir das Kokain nicht bezahlt, das du ihr geliefert hast, und da hast du sie abgemurkst. Die Stichwunden sind nicht tief. Sie könnten auch von einer Frau zugefügt worden sein.«

»Nein, ich mochte Piera. Sie war meine beste Freundin.«

»Und ein guter Teil deines Einkommens. Wart ihr auch im Geschäftszweig Erpressungen Partnerinnen?« drängte ich.

»Was für Erpressungen?«

»Ich hab so das Gefühl, du willst uns verarschen. Weißt du, was wir machen, wenn du uns nicht die Wahrheit erzählst? Wir gehen durch diese Tür hinaus und geben das gesamte Material an die Presse. Hast du eine Vorstellung davon, wie danach dein Leben und das deiner lieben Freunde aussehen wird? Diese Stadt verzeiht alle Sünden, solange sie insgeheim begangen werden, auf wenige Eingeweihte beschränkt sind oder im Beichtstuhl geflüstert werden, aber wenn sie zur öffentlichen Angelegenheit werden, dann kennt sie keine Gnade.«

»Ich schwöre, daß ich nicht weiß, wovon ihr redet.«

Ich sah auf die Uhr. »Du hast eine Stunde Zeit, um mich davon zu überzeugen. Erzähl alles von Anfang an.« Sie bat um eine weitere Zigarette. »Ich habe Piera hier im Geschäft kennengelernt. Vor fünf Jahren ungefähr. Sie kam oft, und nach den Dessous zu urteilen, die sie aussuchte, und immer unter strikt seriöser Kleidung trug, mußte sie so sein wie ich … mußte sie eine bestimmte Art von Sex mögen. Zu diesem Zeitpunkt bestand der Freundeskreis schon, aber wir suchten schon lang eine zweite Frau. Ab und zu holten wir Prostituierte dazu, aber diese Sache mit dem Aids, da kann man sich nicht drauf verlassen. Es war nicht schwer, mit ihr Freundschaft zu schließen. Ich habe ihr von unserem Kreis erzählt, und sie war gleich mit Begeisterung dabei. Sie nahm alle sofort für sich ein, durch ihre Art, und.«

»Und …«, drängte ich sie.

»… sie wurde unsere Zeremonienmeisterin. Sie übernahm die Organisation von allen unseren Treffen. Ihr Haus wurde der ›Tempel der Lustc, so nannten wir es.«

»Tempel. Zeremonienmeisterin. so ein Quatsch«, unterbrach Benjamino sie. »Und das Kokain?« fragte ich.

»Das Kokain. mit dem Kokain hat alles angefangen. Unsere Freunde sind Geschäftsleute mit Beziehungen nach Südamerika. Anfänglich brachten sie ein paar Gramm mit.

Jetzt zwei, drei Kilo im Jahr.«

»Die werdet ihr doch nicht alle allein verschnupfen, diese Souvenirs?«

»Nein, sicher nicht. Wir verkaufen es an eine Frau, die sich um … Öffentlichkeitsarbeit kümmert.«

»Bei uns nennt man das Prostitution«, unterstrich ich. »Es ist ein Netzwerk von Studentinnen und jungen Frauen, die von Politikern und Akademikern besucht werden. Alles sehr angesehene Leute.«

»Weiß diese ›Madame‹ von deiner Freundschaft mit Piera Belli?« fragte ich.

»Ja.«

»Das sind sie«, flüsterte ich Benjamino ins Ohr. »Das sind die ›Kreise‹, von denen unser Freund, der Journalist, redet. Sie üben Druck aus, nicht weil sie was mit dem Verbrechen zu tun hätten, sondern weil sie verhindern wollen, daß die Ermittlungen bis zu ihrem Nuttennetzwerk vordringen. Die Angelegenheit kompliziert sich aber ganz übel.«

»Das kannst du laut sagen. Ich befürchte, daß deine Ermittlungen im Sand verlaufen werden.«

»Das ist nicht gesagt«, widersprach ich, nicht sehr überzeugt. Ich kehrte zu Giusy Testa zurück und fragte sie weiter aus. »Hat Piera Belli auch Kokain verkauft?«

»Nein. Sie kaufte es nur. Von mir.«

»Und das Geld? Ihr Lebensstandard war bestimmt nicht der einer Beamtin. Wir haben einen Brief gefunden, aus dem hervorgeht, daß sie den Mann mit der Maske erpreßte. Was weißt du darüber?«

»Absolut nichts. Vor drei Jahren bat sie mich, ich solle ihr dreißig Millionen leihen. Die hat sie mir nach ein paar Monaten zurückgegeben, und seitdem hatte sie immer reichlich Geld. Eines Tages im Bett hat sie mir gesagt, sie hätte einen sehr reichen Geliebten. ich habe immer gedacht, das wäre eben der Mann mit der Maske. Ich stellte mir vor, er sei ein hohes Tier, ein reicher Knacker mit besonderen Vorlieben, der Piera für unsere Treffen fürstlich entlohnte. Sie war gut, sie hatte Phantasie, und es gelang ihr, alle zu beherrschen.«

»Auch Alberto Magagnin?«

»Ja, ihn mehr als alle anderen. Am Anfang war ich dagegen, daß sie ihn ins Haus brachte, auch weil er ein Knacki und ein Junkie war … womöglich hatte er Aids. Aber sie überzeugte mich davon, daß das nützlich und amüsant sein würde. Piera und ich nannten ihn nur ›Pudelchenc. Er tat alles, was wir wollten …«

»Das reicht«, stoppte ich sie, »mir wird gleich schlecht.« Aus der Innentasche meiner Leinenjacke holte ich das Aufnahmegerät hervor und zeigte es ihr. »Hör mir gut zu: Wir sind im Besitz des Archivs deiner Freundin, und hier ist dein Geständnis aufgezeichnet. Wir werden das alles an einem sicheren Ort deponieren. Sollten wir aber erfahren, daß du irgendwem von unserer Unterhaltung erzählt hast oder daß du versuchst, uns hinterherzuschnüffeln, dann geht das alles an die Presse. und an die Staatsanwaltschaft. Auf Drogenhandel stehen schwere Strafen. Hast du verstanden?« Sie nickte.

»Gut so«, fuhr ich fort. »Ich bin überzeugt, du und deine Freunde, ihr habt nichts mit dem Verbrechen zu tun. Aber denk an das, was ich dir gesagt habe: Schön brav bleiben und stillhalten, sonst ruinieren wir dich.«

Wir waren schon fast aus dem Geschäft raus, als Rossini sich noch einmal umdrehte: »Schwester, entschuldige, aber ich habe eine schlechte Nachricht für dich. Magagnin hat mir gesagt, daß seine letzen Blutwerte HIV positiv waren. denk dran, Aids hat eine Inkubationszeit von fünf Jahren.« Wie vom Donner gerührt sah sie ihn an und brach wieder in Tränen aus.

»Hat dir Alberto wirklich erzählt, er ist HIV positiv?« fragte ich ihn, sobald wir im Wagen saßen.

»Nein. Aber das ist mir derartig auf den Keks gegangen, als ich hörte, daß sie den Jungen ›Pudelchen‹ nannten jedenfalls hat die süße Giusy uns viele nette Dinge erzählt, aber nichts, was nützlich wäre, um den Mörder zu fassen.«

»Vielleicht haben wir aber doch eine Spur: die dreißig Millionen, die sie der Belli geliehen hat, und ihr plötzlicher Reichtum.«

»Wie meinst du das?«

»Meiner Meinung nach hat die Verstorbene das geliehene Geld in die Erpressung investiert. Mit diesem Geld hat sie sich die Information beschafft oder gekauft, die ihr erlaubte, den maskierten Mann festzunageln. Die Spur ist drei Jahre alt, aber vielleicht ist es noch möglich, den Weg des Geldes zu rekonstruieren. Die Testa und die Belli haben sich immer in regulären Milieus bewegt. Ich bezweifle, daß die Giusy der Freundin mit Barem ausgeholfen hat. Wenn sie einen Scheck benutzt hat, dann besteht noch Hoffnung.«

»Warum hast du sie nicht danach gefragt?«

»Das hätte sie nur mißtrauisch gemacht, und sie hätte womöglich angefangen, die Spuren des Kredits zu verwischen. Sie kennt die richtigen Leute, um das zu bewerkstelligen.«

»Und wir?«

»Wir könnten die Foscarini bitten, aber ich glaube nicht, daß sie das tun würde. Ich glaube, wir sollten uns vielmehr an.«

»… Giovanni Galderisi wenden.«

»So gefällst du mir. Und jetzt rufen wir ihn an.« Ich erreichte ihn in der Redaktion. Als er meine Stimme erkannte, warnte er mich: »Das Telefon wird abgehört. Das daheim auch«, und legte auf.

»Das war zu erwarten«, war Benjaminos Kommentar, »und du kannst sicher sein, daß sie ihn beschatten.«

»Und jetzt?«

»Wir besorgen uns zwei getürkte Handys. Du weißt, wie das funktioniert, nicht? Offiziell sind sie im Besitz von Herrschaften, die natürlich nicht wissen, daß da jemand auf ihre Kosten telefoniert. Ein Gerät geben wir Galderisi, und das andere benutzen wir. Öffentliche Telefone können wir nicht mehr benützen, weil man in zwei Minuten die Telefonzelle lokalisieren kann, und dann sind wir geliefert. Aber denk dran, dieses System ist bloß sicher, um die Festnahme zu verhindern. Abhören ist schon leichter.«

»Ich bezweifle, daß unser Freund, der Journalist, bereit ist, ein getürktes Handy zu benutzen.«

»Dann sag es ihm eben nicht.«

»Es bleibt mir gar nichts anderes übrig. Ich wette, du weißt, wie man sie sich beschafft.«

»Ich kenne einen Typen in Vicenza, der sie verkauft.«

»Und wie gelangt es zu Galderisi? Wenn er beschattet wird, können wir nicht hin.«

Genervt breitete der alte Rossini die Arme aus. »Du bist wirklich ein Anfänger. Alles muß man dir beibringen. Wir schicken ihm einen Kurier, diese Jungs mit Moped, weißt du, die Briefe oder Päckchen zustellen. In einer Zeitungsredaktion gehen die dauernd ein und aus. Das Handy wird völlig problemlos vor der Nase der Bullen vorbeigetragen.«

Er hatte recht, und ein paar Stunden später konnte ich mit Galderisi Kontakt aufnehmen. »Ich hoffe sehr, daß es nicht illegaler Herkunft ist.«

»Das dürfen Sie nicht einmal im Scherz sagen«, log ich, und versuchte überzeugend zu wirken. »Neuigkeiten?«

»Ich brauche Ihre Hilfe. Ich habe da eine Spur, der ich selbst nicht nachgehen kann.«

»Das heißt?«

»Die Kontobewegungen der Piera Belli in den letzten drei Jahren wären zu überprüfen. Insbesondere die im Zusammenhang mit einem Scheck über dreißig Millionen, von einer gewissen Giusy Testa zu ihren Gunsten ausgestellt.«

»Ich kenne jemand in dem Bereich. Bei welcher Bank war die Professoressa Kundin?«

Am nächsten Morgen war der Fall Belli im Lokalteil wieder groß aufgemacht. Man hatte den Diebstahl im Haus entdeckt, und der Oberstaatsanwalt hatte im Rahmen einer Pressekonferenz eine Reihe von Erklärungen abgegeben, die sogar das Interesse der nationalen Medien geweckt hatten. Zunächst hatte der hohe Justizbeamte betont, daß die Indiskretionen von Galderisis Zeitung den Ermittlungen geschadet hätten, und hatte daher die Presse aufgefordert, mehr Respekt für die Arbeit der Ermittler an den Tag zu legen. Diese waren selbstverständlich über die sonderbaren Gewohnheiten der Professoressa auf dem laufenden und versuchten nun zu klären, wer ihr das Kokain beschaffte. Des weiteren konnte es für den Staatsanwalt gar keinen Zweifel daran geben, daß Piera Belli erst nach ihrer Verpflichtung als Geschworene vom rechten Weg abgekommen war. Folglich war eine Wiederaufnahme des Verfahrens auszuschließen. Magagnin blieb der einzige Verdächtige, da die Fingerabdrücke und die Art des Verbrechens als Indizien mehr als ausreichend waren, um gegen ihn vorzugehen. Und auch gegen den- oder diejenigen, die ihm dabei behilflich waren, sich der Festnahme zu entziehen und die Ermittlungen zu behindern. Auch gegen sie wurde also aktiv ermittelt.

»Siehst du? jammerte der alte Rossini. »Sie machen ›offiziell‹ Jagd auf uns. Ich hab’s dir gesagt …«

»Sie wissen ja nicht mal, wo sie anfangen sollen, uns zu suchen. Hören wir lieber, ob Galderisi Neuigkeiten hat.« Er antwortete nach dem ersten Läuten. »Endlich. Ich konnte eine Kopie von den Kontoauszügen der Belli bekommen. Sie hatten recht: Dieser Scheck von Frau Testa ist eine heiße Spur. Er ist sofort in eine Banküberweisung an einen englischen Gerichtsmediziner umgewandelt worden, einen gewissen Professor Nigel Cook … wie der große Admiral. Ich habe das überprüft: Er ist bei Gericht Spezialist für Hämatologie und wird von Scotland Yard oft als Gutachter zugezogen. Er wohnt in London.«

Ich schwieg lange. Ich versuchte eine Verbindung zu dem herzustellen, was ich bisher herausgefunden hatte. Warum in aller Welt hatte die Belli einen englischen Fachmann konsultiert? »Sind Sie noch dran?« fragte der Journalist. »Ja, aber Sie müssen entschuldigen, ich bin etwas verwirrt. Diese Nachricht ist wirklich überraschend, und im Augenblick weiß ich sie nicht einzuordnen. Haben Sie eine Idee?«

»Nein, und ich muß jetzt Schluß machen. Lassen Sie mich weiteres wissen.«

Eine Stunde später waren wir in der Kanzlei der Anwältin Foscarini. Sie war mit einem Mandanten beschäftigt und ließ uns lange warten.

»Beim nächsten Mal machen Sie vorher einen Termin aus« waren ihre ersten Worte. Sie war noch beleidigt über das, was ich ihr bei unserer letzten Begegnung gesagt hatte. »Lassen Sie Ihre persönlichen Ressentiments beiseite, wir müssen uns der heiligen Sache der Justiz widmen«, sagte ich ärgerlich.

»Jedesmal, wenn ich Sie sehe, ist mir der Tag vergällt. Ihre bloße Gegenwart irritiert mich schon. Wenn Sie dann auch noch den Mund aufmachen, packt mich unweigerlich das Bedürfnis, Ihnen etwas an den Kopf zu werfen. Arrogant und lächerlich! Sie wirken wie aus einem Gangsterfilm der vierziger Jahre.«

Benjamino stand vom Stuhl auf und beugte sich weit über den Schreibtisch, bis dicht vor die Nasenspitze der Anwältin. »Jetzt reicht’s«, sagte er in bestimmtem Ton und setzte sich wieder.

Barbara Foscarini beruhigte sich und fragte mich: »Was wollen Sie?«

»Wie kommen Sie mit dem Englischen zurecht?«

»Ich spreche es fließend. Warum?«

Ich spielte ihr das Tonband mit dem Geständnis von Giusy Testa vor und erzählte ihr von den Recherchen Galderisis bei der Bank.

»Und Sie wollen, daß ich zu diesem Professor Cook fahre und mit ihm rede?«

»Ja.«

»Meine Antwort ist aber nein. Fahren Sie doch selbst hin. Was Sie mir erzählt haben, ist erschütternd, aber es reicht weder aus, um den alten Prozeß wiederaufzurollen, noch ließe sich dadurch verhindern, daß Alberto wegen des Mordfalls Belli verfolgt wird.«

»Ehrlich gesagt, verstehe ich Sie nicht. Den Mann mit der Maske zu schnappen, bedeutet, die Wahrheit über beide Verbrechen herauszufinden und Magagnin vollständig zu entlasten. Es ist nicht gesagt, daß die englische Spur uns direkt zu ihm führt, aber da es momentan die einzige ist, die wir haben, lohnt sich der Versuch.«

»Mein Einwand bezieht sich nicht darauf, Buratti. Diese Informationen sind auf illegalem Wege beschafft worden, vor Gericht völlig wertlos. Als Albertos Anwalt kann ich nicht zulassen, daß mein Mandant geschädigt wird.«

»Hier geht es darum, die Wahrheit herauszufinden, und die Wahrheit kann Magagnin nicht schaden, sondern nur dem wirklichen Schuldigen. Und die juristischen Fragen, die lassen sich aus dem Weg räumen, Frau Anwältin, schließlich sind wir in Italien.«

»Ich weiß, wo wir sind, aber ich kann nicht.«

»Weil Sie nicht bis zur Wahrheit vordringen wollen?«

»Sie irren sich. Ich will es so sehr wie Sie, allerdings im Rahmen des Gesetzes.«

»Ich dagegen glaube das nicht. Je besser ich Sie kennenlerne, um so mehr komme ich zu der Überzeugung, daß Sie uns etwas verbergen, vielleicht etwas, was zur Zeit des Prozesses passiert ist. Und das würde dann auch erklären, warum sich Ihr Verhalten geändert hat, seitdem Magagnin mich mit der Suche nach dem wirklichen Mörder beauftragt hat. Wo ist denn die Verzweiflung hin, die Sie bei unseren ersten Treffen in der Stimme hatten, als Sie vom Schicksal Ihres zu Unrecht verurteilten Mandanten erzählten?«

»Gehen Sie.«

»Nein. Und ich werde meinen Arsch auch erst dann von diesem Stuhl erheben, wenn es mir paßt, und nicht, ohne zuvor ein paar Details geklärt zu haben. Zum Beispiel, warum Magagnin Sie nie bezahlt hat, obwohl Sie nicht als Pflichtverteidiger nominiert waren?«

Wenn sie wenig zuvor empört gewirkt hatte über mein Verhalten, schien sie jetzt entschieden in Schwierigkeiten zu sein. Sie hielt den Blick gesenkt und knetete ihre Hände. »Das geht Sie nichts an.«

»Wie die Tatsache, daß die Gewißheit, mit der Sie Magagnins Unschuld verkünden, nicht allein vom Studium der Prozeßakten herrührt, sondern daher, daß Sie darüber hinaus noch das eine oder andere wissen, nicht wahr, Frau Anwältin?« Diesmal antwortete sie nicht, und ihr Schweigen klang wie Zustimmung.

Ein paar Augenblicke lang herrschte gespanntes Schweigen. »Sagen Sie Alberto, daß ich das Mandat niederlege. Er soll sich einen anderen Anwalt suchen.«

»Nein. Statt dessen werden Sie nach England fahren und mit diesem Professor sprechen. Was auch immer Ihre Verantwortung in dieser Sache sein mag, Sie werden Magagnin weiterhin vertreten.«

»Sie drohen mir?«

»Ja. Ich bin in der Lage, Ihnen die Karriere zu ruinieren. Und wenn Sie wollen, erkläre ich Ihnen auch wie: Man braucht bloß in Gefängniskreisen das Gerücht auszustreuen, daß Sie nicht verläßlich sind. Sie werden keine Mandanten mehr finden, und nach einer Weile werden auch Ihre Kollegen und die Richter anfangen, sich ein paar Fragen zu stellen.«

»Es ist nicht so, wie Sie glauben …«

»Also?«

»Ich fahre. Nächste Woche habe ich keine Gerichtstermine.«

»Morgen.«

»Aber ich kann nicht.«

»Morgen«, befahl ich und stand auf. »Hinterlassen Sie bei Ihrer Sekretärin Namen und Telefonnummer des Hotels, wo Sie übernachten. Ich werde mich melden.«

»Gute Reise, Frau Anwältin«, grüßte Benjamino sie beim Hinausgehen.

Ich informierte mich über die Flüge vom Flughafen Tessera aus nach London. Den ganzen Tag über kontrollierten Rossini und ich die Passagiere. Sie nahm die letzte Maschine. Sie hatte einen kleinen Koffer bei sich. Am nächsten Tag rief ich sie an. Sie sagte mir, es sei nicht einfach gewesen, ein Treffen mit Nigel Cook auszumachen, aber schließlich hatte er eingewilligt, heute mit ihr zu Abend zu essen.

Ab 22 Uhr rief ich jede Viertelstunde bei ihr an, ich erreichte sie gegen Mitternacht.

»Ich hänge an Ihren Lippen, Frau Anwältin.«

»Ich komme morgen zurück, ich bin um 14 Uhr 20 in Tessera.«

»Haben Sie etwas gefunden?«

»Ja.«

»Also los, sagen Sie’s mir.«

»Buratti, verdammt, lassen Sie mich in Frieden, ich bin völlig durcheinander.«