Als ich sie eintreten sah, im teuren Kostüm und mit steifem Aktenköfferchen, war mir sofort klar, daß ich einen Teil des Konzerts von Cooper Terry, das eben anfing, verpassen würde.

Das Lokal, in dem ich mich befand – das Noisebar Banale –, war nur schwach vom bunten Neonlicht der verschiedenen Bierreklamen beleuchtet. Es war ein Keller, der sich zum bestbesuchten Club Paduas gemausert hatte, beim Portello gelegen, in jenem Stadtteil, der früher mal ein munteres Halbweltviertel gewesen war, heute dagegen Zuflucht und Schlafstätte für pendelnde Profs und ewige Studenten: jede vierte Haustür ein Pizzasnack, jede zehnte ein Waschsalon, und überall haufenweise verrostete Fahrräder an die Pfosten der Straßenschilder gekettet.

Ich hasse es, gestört zu werden, wenn ich guten Blues höre, aber damals kam das ziemlich häufig vor. Alle wußten, daß es nur einen Weg gab, mich zu finden: eine Runde durch die Lokale zu drehen. Mein Name war im Telefonbuch nicht zu finden, und niemand kannte meine Adresse. Viele Jahre früher – ich studierte noch – stand meine Wohnung in der Altstadt jedem offen, der sich an der Tür blicken ließ und erklärte, er brauchte eine Unterkunft. Eines Abends war da ein Typ mit römischem Akzent aufgekreuzt, mit Sporttasche und einem Gesicht, das ich schon mal gesehen hatte. Im Morgengrauen wurden wir festgenommen. Er sitzt noch immer, ich habe ihm sieben lange Jahre Gesellschaft geleistet. Um mit erheblich weniger davonzukommen, hätte ich bestimmte Protokolle unterschreiben und bestimmte Gesichter wiedererkennen müssen. Ich zog es vor zu schweigen. Ich ging nicht einmal zum Prozeß und überließ alles dem Pflichtverteidiger, einem schmächtigen Typen mit lebhaften, dunklen Augen und einem auffälligen Schnurrbart. Beide wußten wir, daß für mich nicht viel zu machen war. Richter und Journalisten nannten mich einen Unverbesserlichen. Ich dagegen stand weder auf der einen noch auf der anderen Seite. Ich hatte ganz einfach nichts-zu sagen.

Im Gefängnis sah und hörte ich weiterhin nichts. Dadurch wurde ich eine Art Guru, eine Respektsperson. Wenn es also ein Problem gab, kamen sie zu mir, und ich mußte den Vermittler spielen. Ihre Knackistreitereien waren mir völlig egal, aber die internen Bandenkriege, in die sie unweigerlich ausarteten, machten einem das Leben schwer. Mir auch. Als ich draußen war, genoß ich weiterhin diesen guten Ruf. Eines Tages kam ein Rechtsanwalt zu mir, er wußte nicht, wie er beweisen sollte, daß sein Mandant, der angeklagt war, eine Bank überfallen zu haben, vollkommen unschuldig war. Da habe ich saubere Arbeit geleistet. Die wirklichen Täter entschlossen sich, die Beweise für die Unschuld des Angeklagten zu liefern, als sie mein Wort hatten, daß nie jemand ihre Identität aufdecken würde.

Seitdem führe ich kleine Ermittlungen für Anwälte durch, die Verbindungen zur Unterwelt brauchen. Nur gegen Bezahlung natürlich.

Alles gute Gründe, nicht überall bekannt zu machen, wo ich wohne. Nicht einmal bei Freunden.

Aber mich zu finden, war nicht schwer, denn in der Szene wußte jeder, daß ich bei Blues-Konzerten nie fehlte. Bevor ich im Gefängnis landete, war ich Sänger in der Gruppe Old Red Alligators gewesen, und daher nannte man mich Alligator. Wir traten in den Clubs im Norden auf, und wir waren nicht schlecht. Ich begleitete meinen Blues auf dem Rubboard, einem Instrument, das man aus einem Stück Wellblech herstellt – auf den ersten Blick sieht es aus wie ein Waschbrett -und das in der Zydeco-Musik der schwarzen Cajuns-Gruppen, der Nachfahren der Afroamerikaner aus Louisiana, immer dabei ist. Ich spielte es wie Cliveland Chenier mit einem Plektron, was meist bloß der Reißöffner einer Bierdose war, die man neben sich stehen hat, um sich die Kehle zu befeuchten, wenn man durstig ist. Unser bestes Stück war nach einem Gedicht von Assata Shakur:

I must confess that waltzes

do not move me.

I have no sympathy

for symphonies.

I guess I hummed the Blues

too early, and spent too many midnights

out wailing to the rain.

Ich kam aus dem Gefängnis und hatte keine Lust mehr zu singen oder zu spielen. Ich mag nur noch zuhören. Und weiterhin trinken. Jetzt ausschließlich Calvados. Das ist alles, was mir von einer Frau geblieben ist, die ich in Frankreich verloren habe. Früher trank ich alles, was in meine Reichweite kam, denn »man kann den Blues vom Alkohol abziehen, aber nicht den Alkohol vom Blues«. Aber während dieser sieben langen Jahre habe ich keinen Tropfen angerührt. Im Knast wurde unter der Hand ein Gift gebrannt, das die Alten den »Brandy Hotel Tausendstab« nannten. Aber heimlich zu trinken, war zu traurig.

Die Tussi mit dem geschäftigen Gehabe mußte gut informiert sein, wie man mich finden konnte, und sie machte auch den Eindruck von einer, die nicht so schnell lockerläßt. Sie hatte sich an den Barmann gewandt, um ihn zu fragen, wo ich saß, und während er ihr antwortete, hatte sie sich immer wieder auf die Zehenspitzen gestellt und den Hals gereckt, bis sie mich ausgemacht hatte.

»Marco Buratti?« fragte sie und streckte mir die Hand hin. »Mögen Sie Blues«, fragte ich zurück, ohne die Rechte vom Glas zu nehmen.

»Nein, und im übrigen bin ich aus beruflichen Gründen hier. Ich habe ein Problem, und ein Kollege, Rechtsanwalt Secchi, hat mir gesagt, Sie könnten mir helfen.«

»Einen Rechtsanwalt, der gute Musik zu schätzen weiß, muß ich erst noch finden. Ja, ich bin Marco Buratti«, und da sie ihre Hand nicht zurückgezogen hatte, stand ich auf und erwiderte den Händedruck. »Und ich bin Barbara Foscarini.«

Ich wies auf einen Tisch, der vom weißen und roten Neonlicht der Budweiser-Reklame erhellt war. Während sie sich setzte, nutzte ich die Gelegenheit, sie mir genauer anzusehen. Violette Schuhe mit Pfennigabsätzen, gelbes Kostüm, das ihre für die Jahreszeit – es war erst Ende Juni – überraschende Bräune hervorhob; ihr Verhalten war scheinbar ohne jene Arroganz, wie sie sonst für aufstrebende junge Anwälte typisch ist. Um die fünfundvierzig, rundlich, klein, gut gebaut und – ich hätte geschworen – geschieden.

»Ein Mandant von mir, Alberto Magagnin, der eine Haftstrafe von achtzehn Jahren verbüßt, aber derzeit Freigänger ist, ist seit gestern abend verschwunden. Morgens ist er regulär zur Arbeit angetreten, in der Kooperative Sole, die er zur gewohnten Zeit verlassen hat. Das Gesetz sieht vor, daß er bis spätestens zweiundzwanzig Uhr wieder im Gefängnis ist …«

»Sparen Sie sich diese Einzelheiten«, unterbrach ich sie, »ich war selbst Freigänger.«

»Entschuldigen Sie, Rechtsanwalt Secchi hatte es mir bereits gesagt. Genau deswegen habe ich beschlossen, mich an Sie zu wenden: Sie kennen das Milieu und könnten mir helfen, Alberto Magagnin wiederzufinden.«

»Warum?«

»Wie bitte?«

»Warum wollen Sie ihn wiederfinden? Wenn er beschlossen hat abzuhauen, ist das seine Sache. Außerdem sucht die Polizei ihn doch schon, oder?«

»Ich möchte ihn vor der Polizei finden, um ihn davon zu überzeugen, daß er sich stellt. Tut er das in den nächsten Tagen, bestehen gute Chancen, daß das Gericht sich als milde erweist und ihm gestattet, seine Haftstrafe als Freigänger zu beenden«, sie sah mich mit besorgter Miene an, »er hat nur noch ein knappes Jahr vor sich.«

»Und dann?« provozierte ich sie. »Ich kenne das Milieu, ein Anwalt hebt seinen Hintern nicht für so wenig. Erzählen Sie mir die ganze Story.«

»Ich werde versuchen, mich besser verständlich zu machen«, die Stimme der Frau wirkte jetzt leicht gereizt. »Ich kenne Alberto seit Jahren, genauer, seitdem er wegen Mordes an Evelina Mocellin Bianchini verhaftet wurde. Ich weiß nicht, ob Sie sich an den Fall erinnern, Januar 1976. Nach all den Jahren bin ich noch immer überzeugt, daß er zu Unrecht verurteilt wurde. Er hat Schreckliches durchgemacht. Ich möchte ihm ganz einfach helfen.«

Aber sicher, ich erinnerte mich gut an die Sache und an den Wirbel, den die Zeitungen darum gemacht hatten. Magagnin, ein Drogensüchtiger von der Piazza Signori, war zwecks Raub in eine Villa im Arcella-Viertel eingedrungen und hatte die Hausherrin, die ihn überrascht hatte, mit zahlreichen Messerstichen umgebracht. Die Nachricht hatte Aufsehen erregt, weil die Frau einer der Familien angehörte, die in Padua das Sagen haben. Die Carabinieri hatten ihn noch am selben Abend verhaftet, während er, die Kleider blutverschmiert, ziellos umherirrte. Er hatte erzählt, er hätte sie schon tot aufgefunden und sei geflohen, nachdem er sie angefaßt hatte, weil er ihr zu Hilfe kommen wollte. Natürlich hatte man ihm nicht einen Moment lang geglaubt, und vor dem Schwurgericht hatten ihn ein paar Gutachten endgültig festgenagelt. Auch ich hatte immer vermutet, daß er schuldig war, und seine Flucht war mir wirklich ziemlich gleichgültig. Aber das Verhalten der Foscarini hatte mir Eindruck gemacht. Eher merkwürdig für einen Anwalt. Diese starke Anteilnahme bedeutete, daß ich es mit einer recht ungewöhnlichen Situation zu tun hatte.

»Das ist nicht mein Metier, ich mache keine Flüchtigen ausfindig. Anwalt Secchi hat Sie schlecht beraten.«

»Das glaube ich nicht. Er wußte, daß Sie ablehnen würden und hat mir geraten, Ihnen diesen Zettel zu übergeben.« Ich öffnete den Umschlag unter dem Tisch. Ich las: »Du schuldest mir einen Gefallen.«

»Ich nehme an, Rechtsanwalt Secchi hat Ihnen auch von meinen Tarifen erzählt«, knurrte ich ziemlich gereizt, als ich sie wieder ansah.

»Natürlich, das ist kein Problem. Nehmen Sie den Auftrag an?«

»Ja, das scheint mir selbstverständlich. Ich brauche aber ein Foto.« Ich zündete mir eine Zigarette an. »Möglichst jüngeren Datums.«

Sie zog eine blaue Mappe aus ihrer Tasche. »Ich kann Ihnen nur Zeitungsausschnitte mit den Prozeßberichten geben. Hier, da sind auch einige Fotos dabei, aber sie sind vor fünfzehn Jahren gemacht worden.«

»Geben Sie her, sie können mir auf jeden Fall nützlich sein. Eine letzte Frage: Haben Sie die leiseste Idee, wo er sein könnte?«

»Nein, ich fürchte aber, daß er wieder angefangen hat, Drogen zu nehmen, und ich schließe nicht aus, daß das der Grund für seine Flucht ist. Also dürfte er nicht sehr weit weg sein.«

»Sobald ich etwas weiß, rufe ich Sie an.«

Sie gab mir ihre Visitenkarte. »Da ist auch die Nummer vom Handy drauf, Sie können mich jederzeit anrufen. In der Mappe«, sie wies mit dem Kinn darauf, »finden Sie ein Kuvert mit der Anzahlung. In bar natürlich.«

Sie stand auf und drückte mir die Hand. Ich folgte ihr mit den Augen, während sie hinausging. Erleichtert dachte ich, daß ich alles in allem schnell davongekommen war. Ich konnte noch einen großen Teil des Konzerts genießen. Copper hatte eben mit Everything gonna be alright von Muddy Waters angefangen. Schade nur, daß nicht Mojo Buford die Harmonika spielte.

Am nächsten Tag stand ich kurz vor sechs auf. Mir blieb knapp eine Stunde, um an die Gefängnistore zu gelangen, bevor die Freigänger herauskamen. Einen alten Bekannten aus Knastzeiten anzusprechen, war der schnellste Weg, um an Informationen über das Verschwinden Magagnins zu kommen. Sonst hätte ich auf jemand aus meinem derzeitigen Kreis zurückgreifen müssen; in dem Fall hätte ich aber bis zur ersten Kontaktaufnahme zu lange warten müssen.

Ich parkte an einer Stelle, von der aus man einen guten Überblick hatte und die gleichzeitig nicht zu exponiert war, damit die Wachposten nicht auf mich aufmerksam wurden. Ich ertappte mich bei dem Gedanken, daß ich seit drei Jahren bei diesem Ritual fehlte. Es war vielleicht besser, sich eine Zigarette anzuzünden. Ich pfefferte das Feuerzeug ziemlich geräuschvoll auf die Ablagefläche des Armaturenbretts. Sie kamen wie immer im Gänsemarsch heraus, mit raschen und nervösen Schritten, wie Menschen, die sich so schnell wie möglich davonmachen wollen. Ein paar, die in meinem Trakt gewesen waren, erkannte ich wieder; als sie näherkamen, stieg ich aus. »He, Buratti«, rief der erste, »Heimweh nach dem Knast?«

»Ciao, Morabito, ich bin gekommen, um mit dir und Mazinga zu reden.«

Dem Ritual entsprechend, mußte ich sie zunächst umarmen und dann küssen. Morabito war ein Kalabrier, der wegen Entführung saß, und Mazinga ein Dealer aus Bozen mit unaussprechlichem deutschem Nachnamen. Zwei alte Knastbrüder, die schon wußten, weswegen ich da war. »Wir wissen nichts«, erklärte der Krautfresser, ohne meine Frage abzuwarten. »Magagnin hat mit uns beim Pfarrer in der Kooperative gearbeitet; er ist um sieben Uhr abends weg, wie üblich, und nicht wiedergekommen. So ’n Arsch, es fehlte ihm nicht mehr viel.«

»Ihr wißt nicht, wohin er gewöhnlich zwischen sechs und zehn Uhr abends ging?«

»Wer weiß das schon. Eine Frau holte ihn meistens am Ausgang ab. Mit einem metallicfarbenen Golf.«

»Kennt ihr sie?«

»Nein. Aber bestimmt über vierzig. Älter als Alberto … nicht aus dem Milieu, eine ›Reguläre‹.«

»Die sah aus wie eine typische Angestellte, machte aber den Eindruck von einer mit ordentlich viel Knete«, bestätigte Mazinga.

»Hat sie ihn an dem Tag, als er verschwunden ist, auch abgeholt?«

»Nein«, antwortete Morabito. »Alberto ist zu Fuß weggegangen.«

»Irgendeine Idee wohin?« fragte ich noch, wobei ich sie abwechselnd ansah.

Beide beschränkten sich auf ein entschiedenes Kopfschütteln. Während sie zur Bushaltestelle davongingen, drehte Mazinga sich noch einmal um. »Kennst du Carrara? Das ist einer hier aus Padua, der war vor ein paar Monaten mit dem Freigang fertig. Er war sehr eng mit Magagnin befreundet«, er machte die Geste von einem, der sich die Spritze gibt, »vielleicht weiß er, wer die Frau ist.«

Mariette Carrara, eine Drogenkarriere wie viele andere. Beschaffungsdiebstahl, immer wieder rein und raus aus dem Knast, einer der wenigen aus seiner Fixer-Generation, die überlebt haben. Ich hatte ihn schnell gefunden. Aus der Innenstadt vertrieben, hielten sich die Drogensüchtigen jetzt alle in Prato della Valle auf – auf »dem größten Platz Europas«, wie es in sämtlichen Reiseführern der Stadt hieß –, verbannt auf den Raum zwischen Polizeipräsidium und Carabinieri-Hauptquartier. Stets bereit für die Festnahme, die Abschiebung in den Knast oder die therapeutische Gemeinschaft.

Marietto saß am Tisch einer Bar in unmittelbarer Nähe des früheren Viehmarkts und sprach mit der Tochter des Pächters. »Oh, der Alligator höchstpersönlich.«

»Ciao, Marietto. Wie immer spritzig und munter, was?«

»Aber klar doch! Gibst du mir was Knete?«

»Ja, aber nicht umsonst.«

»Du kommst zu spät: Huren gibt’s bei mir nicht mehr, seitdem ich HIV-positiv bin.«

»Keine Huren«, antwortete ich, und sah mich dabei etwas verlegen um, »nur ein Bruchteil von deinem Gedächtnis. Komm, laß uns eine Runde drehen.«

Ich ließ ihn in den Wagen einsteigen und begann, durch die Straßen zu kurven, die vom Prato bis zur Basilika des Stadtheiligen führen. Nach einer Weile fragte ich ihn: »Wo ist Alberto Magagnin?«

»Er ist abgehauen. Im Milieu hat sich die Nachricht schon herumgesprochen.«

»Marietto, ich bin nicht zu dir gekommen, um zu hören, was ich ohnehin schon weiß«, erwiderte ich geduldig. »Also, wo steckt er jetzt? Ich geb dir einen Hunderter.«

»Es ist schon ein Weilchen her, daß ich hundert Mäuse auf einmal gesehen hab. Aber ich weiß nicht, wo Alberto ist. Frag mich was anderes.«

»Versuchen wir’s anders rum: Kannst du mir sagen, wer die Frau ist, die ihn in einem metallicfarbenen Golf bei der Kooperative abholen kam?«

»Ich weiß, wo sie wohnt, sonst nichts. Einmal habe ich Alberto begleitet. Er sagte mir, sie wär’ eine Spinnerin, die ihm einen Haufen Geld gibt. Der Glückliche.«

»Fixt Alberto noch?«

»Na ja, damals setzte er sich ab und zu einen Schuß. Er hatte sich im Griff, er wollte ohne Scherereien mit dem Knast fertig werden.«

»Scherereien hat er jetzt jedenfalls mehr als genug. Wer war sein Dealer?«

»Bepi Baldan, der aus der Via Savonarola.«

»Den kenne ich. Was meinst du, wenn Magagnin jetzt wieder angefangen hätte, im großen Stil zu fixen, würde er sich an ihn wenden?«

»Ja, er ist zu lange raus aus dem Geschäft, um andere zu kennen. Ich habe ihn mit ihm bekannt gemacht.«

»Eine wirklich gute Tat, Marietto«, erwiderte ich sarkastisch.

»Komm, zeig mir dieses Haus.«

Es war ein hübsches zweistöckiges Häuschen mit Garten am Rand des Sacra Famiglia-Viertels, ähnlich wie viele andere, die auch vor rund dreißig Jahren erbaut worden sind. Eine ruhige, baumgesäumte Straße. Bestimmt keine Reichengegend. Mazinga mußte sich bei der Einschätzung der Vermögensverhältnisse der Frau geirrt haben.

Ich parkte ungefähr hundert Meter weiter vorn und ging zu Fuß auf das Haus zu, Carraro hatte ich eingeschärft, er solle sich nicht vom Fleck rühren. Ich gelangte auf die Höhe der Klingel und verlangsamte den Schritt unmerklich, gerade genug, um auf dem Klingelschild lesen zu können: Prof. Piera Belli. Ich setzte meinen Spaziergang bis ans Ende der Straße fort, überquerte sie und machte auf dem gegenüberliegenden Gehsteig kehrt. Als ich wieder in Höhe des Häuschens angelangt war, hielt ich an und band mir einen Schuh, dabei schaute ich zu den Fenstern hinauf. Ich bemerkte, daß sie alle geschlossen waren, außer einem Eckfenster, das auf den Garten des Nachbarhauses ging.

Ich stieg wieder zu Marietto in den Wagen und brachte ihn zu seiner Bar zurück. Als ich ihm den Hunderttausend-Lire-Schein gab, begann er ihn in den Händen herumzudrehen. Zum Schluß sagte er: »Danke, Alligator, danke. Damit kauf ich mir ’ne ganze Menge Stoff.«

»Mach, was du willst.«

Als er sich entfernte, rief ich ihm vom Fenster aus nach: »He Marietto, bist du wirklich HIV-positiv?«

»Ja.«

Ich legte den ersten Gang ein und sah geradeaus vor mich hin.

Das Haus der Belli zog mich an. Es schien genau der richtige Schlupfwinkel für einen Flüchtigen. An einer Telefonzelle hielt ich an, und bevor ich ausstieg, zog ich unter dem Fahrersitz das Telefonbuch hervor. Belli, Piera Belli … Via Torlonga, 29 … 8700392.

Ich ließ es ungefähr zwanzig Mal klingeln, niemand hob ab.

Nach zwei weiteren Versuchen beschloß ich, nach Hause zu gehen. Es war Mittagszeit.

Ich begnügte mich mit einer Pastasciutta, die Hitze war zu drückend, um noch ein Hauptgericht zu kochen. Es gelang mir gerade noch, die mit Sugo verschmierten Teller und Töpfe vom Tisch ins Spülbecken zu räumen, dann streckte ich mich faul auf dem Sofa aus, genau unter dem großen Flügelventilator, das Telefon in Reichweite.

Bei Belli hob nie jemand ab. So verbrachte ich den Nachmittag, zwischen einem Versuch und dem nächsten, döste, schlürfte ein paar Erfrischungsgetränke und hörte alte Platten von Hound Dog Taylor und The Houserockers. Ich erinnere mich, daß ich an einem bestimmten Punkt träumte, ich geh auf dem Dach spazieren, und mit einem Ruck wachte ich auf, als ich dabei war, ins Leere zu fallen.

Es war schon tief in der Nacht, als ich beschloß, daß es Zeit war, mir die Sache näher anzusehen.

Nummer 29 war das einzige Haus, das völlig im Dunkeln lag.

Das Eckfenster stand noch immer offen.

Ich läutete. Ich hörte die Klingel deutlich, obwohl rund zehn Meter Rasen zwischen dem Gartentor und der Haustür lagen.

Keiner antwortete. Ich ging zur Einfahrt hinüber, und hinter den Gitterstäben sah ich weiter hinten unter einem Schutzdach den metallicfarbenen Golf.

Ich versuchte die Klinke herunterzudrücken, und das große Tor ließ sich problemlos öffnen. Ich durchquerte den Garten und erreichte die Haustür. Da bemerkte ich, daß sie nur angelehnt war. Mit sanftem Druck stieß ich sie ganz auf. Der Geruch schlug mir ins Gesicht, als ob mir hinter der Tür einer mit einem Gummiknüppel aufgelauert hätte. Ich taumelte, und nur mit Mühe konnte ich einen heftigen Brechreiz beherrschen. Noch nie hatte ich etwas derartiges gerochen, aber es verlangte nicht viel Vorstellungskraft, um zu begreifen, worum es sich dabei handelte.

Die Tür wieder zu schließen und zu gehen, wäre das Vernünftigste gewesen, aber die Neugier hielt mich zurück, und so begann ich, nachdem ich die Tür wieder angelehnt und im Eingang Licht gemacht hatte, das Haus zu erforschen. Dem ekelerregenden Gestank folgend, stieg ich die Treppe hinauf und befand mich auf der Schwelle zu dem Zimmer mit dem offenen Fenster.

Der Gestank hinderte mich daran einzutreten. Ich flüchtete ins Bad, wo ich hektisch in den Schränkchen herumzuwühlen begann, bis ich auf ein Fläschchen mit Parfüm stieß. Ich tränkte ein Taschentuch reichlich damit, um es mir dann knapp unter den Augen straff vors Gesicht zu binden. Auf dem Weg zum Zimmer fragte ich mich, wie es möglich gewesen war, daß die Nachbarn diesen höllischen Gestank nicht bemerkt hatten. Aber anscheinend war es so, denn wenn sie ihn bemerkt hätten, da war ich mir sicher, hätten sie bestimmt sofort Alarm gegeben.

Vorsichtig näherte ich mich dem offenen Fenster, durch das schwach das Licht von der Straßenbeleuchtung hereinfiel. Ich warf einen Blick hinaus. Na klar! Sie hatten eine Klimaanlage angebracht, die wirkte als Filter und hatte sie von allem abgeschirmt, was draußen vor sich ging.

Auf die Leiche war ich noch nicht gestoßen. Ich mußte Licht machen. Ich schloß das Fenster und zog die Vorhänge zu. Tastend fand ich den Lichtschalter. O Gott, die Fingerabdrücke, die ich überall hinterließ! Mit einem Papiertaschentuch wischte ich die Flächen ab, die ich berührt hatte, kehrte sofort zurück ins Bad und beseitigte auch dort mögliche Spuren meiner Anwesenheit.

Schließlich kehrte ich in das Zimmer zurück. Sie lag auf dem Boden, auf dem Rücken. Sie trug ein Paar Ballerinaschuhe aus rotem Lack, der letzte Schrei der Sommermode. Eine Frau, deren Gesicht und Körper ich zum größten Teil nicht sehen konnte, da sie von drei großen, weichen Kissen bedeckt waren. Bezogen mit leuchtendgrünem Samt.

Ich ließ den Blick von den Beinen aus an der rechten Körperseite hinaufgleiten, und da kam unter dem Kissen ein nackter Arm zum Vorschein, der genau im rechten Winkel vom Rumpf abstand, die Hand zur Faust geballt. Genau symmetrisch dazu die Position des anderen Arms und der linken Hand. Sie wirkte wie gekreuzigt.

Am Handgelenk trug sie eine kleine stählerne Rolex. Ich beugte mich hinunter, um sie aus der Nähe zu betrachten: Die Zeiger standen auf 4 Uhr 36 oder 16 Uhr 36, und die Datumsanzeige zeigte den 28. Juni. Ich verglich sie mit meiner Uhr: Es war 23 Uhr 42 desselben Tages. Die Rolex mußte zwischen neunzehn und sieben Stunden zuvor stehengeblieben sein, je nachdem, ob es sich um Vormittag oder Nachmittag handelte, aber bei dem Zustand, in dem sich die Leiche befand, war klar, daß der Tod vor diesem Zeitraum eingetreten sein mußte. Vorsichtig nahm ich erst die unteren, dann die oberen Kissen weg und legte sie nacheinander neben den Körper. Ich bemerkte, daß sie von dem Sofa genommen worden waren, das an der linken Zimmerwand stand.

Der Geruch drang durch das Parfüm hindurch, und ich glaubte, in Ohnmacht fallen zu müssen. Ich kehrte ins Bad zurück, um das Taschentuch noch einmal zu tränken, auf dem Etikett der Parfümflasche las ich: Rumba von Balenciaga. Wieder ging ich zur Leiche: Ich war wieder imstande, sie zu untersuchen. Mord, ohne allen Zweifel. Jede Menge Messerstiche: mehrere Dutzend am Rumpf, einer, mit unregelmäßigen Rändern, am Halsansatz. Sie durchlöcherten ein rot-weiß-gestreiftes kurzärmeliges T-Shirt unter einer schwarzen Weste aus sehr leichtem Stoff, dazu ein Paar weiße Hosen, gehalten von einem roten Gürtel. Auf der Höhe des Rückens tränkte ein großer Blutfleck das Gewebe und breitete sich auch auf dem elfenbeinfarbenen Teppichboden aus.

Der Leib war aufgebläht wie der einer zu stark gestopften Puppe, das Gesicht violett angelaufen und in fortgeschrittenem Zustand der Verwesung. Die Augen quollen aus den Höhlen heraus, und im leicht geöffneten Mund stand eine schwärzliche Flüssigkeit. Der unregelmäßige Rand der Stichwunde am Hals war von weißen Pünktchen besetzt, die sich bei genauerem Hinsehen als Fliegenlarven erwiesen.

Es war nicht die erste Leiche, die ich aus so großer Nähe betrachtete, aber noch nie hatte ich solchen Ekel verspürt. Mit einem Ruck stand ich auf und versuchte das Bild durch ein beliebiges anderes zu verscheuchen, aber mir kamen nur die Körper und Gesichter der Toten in den Sinn – ob Selbstmörder oder durch Streitereien zu Tode gekommene –, die ich im Knast gesehen hatte und die ich glaubte, schon lange vergessen zu haben. Dröhnend explodierte in meinem Kopf der Blues:

You died.

I cried

and kept getting up,

a little slower

and a lot more deadly.

Ich bedeckte die Leiche wieder mit den Kissen und sah mich in dem Raum um: Schreibtisch, Sessel, Sofa, Bücherregale an zwei Wänden, Stereoanlage und Plattensammlung mit klassischer Musik, drei Stehlampen, sehr vorteilhaft in den verschiedenen Ecken plaziert, eine Tischlampe auf dem Schreibtisch.

Schöne Möbel: modern, eher teuer, vielleicht sogar Designermöbel, allesamt neu. Nur die Bücher und einige Platten sahen etwas abgegriffener aus.

In einem kleinen Silberrahmen entdeckte ich ein Foto, ohne jeden Zweifel ein Bild des Opfers, und ich steckte es ein. Ich hätte mir gern auch den Rest des Hauses angesehen, aber die Uhr sagte mir, daß ich mich seit nunmehr zwanzig Minuten in Gesellschaft einer Leiche befand. Alle Sicherheitslimits waren überschritten. Ich verließ den Raum, nachdem ich das Licht ausgemacht und das Fenster wieder geöffnet hatte; beim Hinausgehen wischte ich noch alle Flächen ab, die ich versehentlich berührt haben konnte, und trat schließlich auf die Straße hinaus; erst dann nahm ich das Taschentuch vom Gesicht. Ich war derart schweißgebadet, daß die Luft, die durchs Wagenfenster hereinkam, mir heftige Schauder über den Körper jagte.

Zuhause stopfte ich meine Kleider sofort in den Schmutzwäschekorb und stürzte unter die Dusche, in der Hoffnung, mich auf schnellstem Wege vom Gestank eines frühsommerlichen Mordes zu befreien. Unter dem Wasserstrahl, der heftig auf mich niederprasselte, begann ich meine Gedanken zu ordnen. Für die schöne Anwältin würde es eine böse Überraschung geben: Ihr Mandant hatte ein da capo eingelegt. Von wegen unschuldig. Wenn sie ihn kriegten, würden sie den Zellenschlüssel ins Klo werfen. So einer gehörte lebenslänglich eingesperrt. Aber ins Irrenhaus, nicht ins Gefängnis. Ich war wütend, nicht so sehr wegen des Mordes, als vielmehr wegen der Auswirkungen, die diese Nachricht für die Gefängnisinsassen haben würde. Ich malte mir schon die Schlagzeilen in den Zeitungen aus. Wenn ein Häftling eine Straftat begeht und dabei von den Vorteilen der Gefängnisreform profitiert hat, dann ist die Hölle los, und die Folgen davon bekommen die zu spüren, die im Gefängnis sitzen. Einmal hatte ich über ein Jahr lang warten müssen, bis ich wieder einmal Ausgang bekam, bloß wegen eines Betrügers, der nicht mehr aus seinem Urlaub zurückgekommen war und dem Richter obendrein aus der Schweiz eine Ansichtskarte geschickt hatte. Ich sage euch, ein Jahr ist verdammt lang.

Dem Richter gegenüber hatte ich mich immer loyal verhalten, eben um willkürliche Repressionen zu vermeiden. Und so hatte es die Mehrzahl der Häftlinge gehalten, die ich kannte. Aber Ausnahmen gibt es immer, und diesmal, wo es um Mord ging, würde es wirklich bösen Ärger geben.

Und dann, diese Leiche. man mußte etwas unternehmen. Ich entschied mich für einen anonymen Anruf, vorausgesetzt, die Foscarini wollte sich nicht selbst der Sache annehmen. Ich mußte sofort mit ihr sprechen.

»Hallo, hier ist Marco Buratti.«

»Buratti … wie spät ist es?«

»Zwei Uhr nachts. Sie haben gesagt, ich könnte Sie jederzeit anrufen, Frau Anwältin. Ich habe große Neuigkeiten und muß Sie sofort sehen.«

»Können Sie mir das nicht am Telefon sagen?«

»Ich glaube, das wäre nicht angebracht.«

»Ist gut, Sie haben gewonnen. Wann und wo?«

»In einer Stunde an der Bar der Autobahnraststätte Ausfahrt Padua West. Das ist die einzige, die noch offen hat.« In Jeans und einem rosa Lacoste-Hemd wirkte sie nicht gerade wie eine Anwältin. Sie schien ebenso verärgert wie besorgt, vielleicht verhielt sie sich noch abwartend, wollte erst sehen, ob es angebracht war, mir eine ordentliche Szene zu machen, weil ich sie mitten in der Nacht aus dem Bett geworfen hatte. Ich lud sie ein, mir Gesellschaft zu leisten, während ich meinen Cappuccino austrank und es bereute, das kälteste und zäheste Hörnchen bestellt zu haben, das ich je gegessen hatte. Aber sie sagte, sie warte lieber draußen auf mich. Ein paar Minuten später ging ich zu ihr hinaus, ärgerlich, weil ich die klimatisierte Bar verlassen mußte. Trotz der fortgeschrittenen Stunde hatte die Schwüle nicht nachgelassen, und der Schwall feuchtwarmer Luft, der mir beim Hinausgehen entgegenschlug, war fast unerträglich.

»Also?« fuhr sie mich an.

»Ihr Mandant hat es wieder getan.«

»Buratti, Sie werden mich doch nicht mitten in der Nacht aufgeweckt und hierher bestellt haben, einzig, um mir mit verklausulierten Sätzen Eindruck zu machen, will ich hoffen. Drücken Sie sich etwas deutlicher aus: Was hat er wieder getan?«

»Nun, er hat einer anderen Hausbesitzerin eine hübsche Anzahl Messerstiche versetzt. Vielleicht interessiert es Sie ja zu wissen, daß es sich diesmal um eine Lehrerin handelt.« Ich zog die noch gerahmte Fotografie des Opfers aus der Tasche meiner Leinenjacke und gab sie ihr. »Sie hieß Piera Belli und hatte scheinbar ein Verhältnis mit Magagnin. Ich verfolgte eine Spur, um Ihren Mandanten ausfindig zu machen, aber auf dem Weg dorthin bin ich auf ganz anderes gestoßen: eine mindestens zwei Tage alte Leiche. Finden Sie das nicht komisch?« Sie sah mich ungläubig an. »Sie wollen doch nicht behaupten, er sei es gewesen, nicht wahr? Nein, das kann ich nicht glauben. Das war nicht Alberto.«

»Denken Sie von mir aus, was Sie wollen. Er war es nicht, na klar … Jesus Christus ist erfroren, Gandhi hat Selbstmord verübt, und, lassen Sie mal sehen, Pinelli …«

»Buratti«, zischte sie, und sah mir in die Augen, »geh zum Teufel!«

»Aber machen Sie doch die Augen auf, Frau Anwältin«, stieß ich aufgebracht hervor. »76 wird Magagnin verurteilt, weil er eine Frau mit einer netten Anzahl Messerstichen ermordet hat. Er kommt aus dem Gefängnis, lernt eine reifere Dame kennen, ziemlich betucht, er geht mit ihr … folgen Sie mir?« Sie nickte, äußerst angespannt. »Gut. Er verschwindet, und gleichzeitig wird die Frau auf eine Art und Weise umgebracht, die, sieh einer an, identisch ist wie beim ersten Mord. Was sind das, alles Zufälle?«

»Ich bitte Sie, Buratti. Sie kennen Alberto nicht. Er ist drogenabhängig, ein Nichtsnutz, aber ein Mörder ist er nicht. Das kann ich Ihnen versichern.«

»Hören Sie mir gut zu, Frau Anwältin. Wir haben uns vielleicht nicht verstanden: Überzeugen müssen Sie nicht mich, sondern ein Schwurgericht. Ich gehe jede Wette mit Ihnen ein, daß, sobald die Leiche entdeckt wird, Haftbefehl erlassen wird, und.« Ich merkte, daß sie mir nicht mehr zuhörte. Sie sah das Foto an und war wie versteinert, die Hände um den Rahmen geklammert.

»Buratti …«, sagte sie mit hauchdünner Stimme. »Hier bin ich, Frau Anwältin.«

»Diese Frau. wie sagten Sie noch, daß sie hieß? Ich kenne sie. Aber ja, sie war eine der Geschworenen in dem Schwurgericht, das Alberto verurteilte!«

Diese Neuigkeit verschlug mir die Sprache. Ich hielt einen Moment lang inne, um meine Gedanken zu ordnen.

»Wie Sie sehen, haben wir jetzt auch das Motiv: Rache. Was wollen Sie jetzt machen?«

»Wurde das Verbrechen schon entdeckt?«

»Ich glaube nicht. Warum?«

»Wir müssen Alberto finden. Auf der Stelle, bevor ihn die Polizei findet.«

»Vielleicht weiß ich, wo ich ihn auftreiben kann, besser gesagt, ich glaube zu wissen, wer ihn versteckt hat. Aber das Verbrechen muß sofort angezeigt werden, der Leichnam ist schon verwest.«

»Nein, ich bitte Sie. Wir brauchen Zeit …«

»Frau Rechtsanwältin, Sie verlieren ja den Kopf, vergessen Sie nicht, was Sie von Beruf sind. Beruhigen Sie sich und denken Sie nach. Wenn es stimmt, was Sie gesagt haben, nämlich daß Magagnin unschuldig ist, dann wird es für die Polizei um so schwerer sein, Elemente oder Spuren zu seinen Gunsten zu entdecken, je mehr Zeit vergeht. Das Wichtigste ist jetzt, Ihren Mandanten zu suchen, und wenn ich ihn finde, wie ich glaube, ein Treffen mit Ihnen zu arrangieren. In Ordnung?«

»Ja sicher. Aber entschuldigen Sie, aber.«

Ich unterbrach sie: »Gehen Sie jetzt nach Hause«, und nach einem Moment des Zögerns, »ich muß einen anonymen Anruf machen.«

Während sie sich entfernte, dachte ich, daß ich etwas zu hart gewesen war. Das war ihr nahe gegangen, zu nahe für einen Anwalt.

Um vier Uhr früh kam ich nach Hause. Ich war nicht müde, also fing ich an, darüber nachzudenken, was als nächstes zu tun war. Ich mußte Magagnin ausfindig machen. Mein Gefühl sagte mir, daß ich bei Bepi Baldan anklopfen mußte. Nach allem, was so über ihn geredet wurde, war er nicht nur Drogenhändler der Mittelklasse, sondern verfügte darüber hinaus über Mittel, um allen Flüchtigen, die mit ausreichend Geld zu ihm kamen, Unterschlupf zu bieten, immer unter der Bedingung freilich, daß es ihm nicht vorteilhafter erschien, sie an die Polizei zu verpfeifen. Er galt als knallharter Typ, wenig geneigt, etwas preiszugeben. Kurz, um ihn zum Reden zu bringen, würde es nötig sein, Muskeln zu zeigen. Damit war der Moment gekommen, Benjamino Rossini ins Spiel zu bringen, im Milieu auch bekannt als »der alte Rossini«, um ihn von seinen zahlreichen Brüdern zu unterscheiden. Trotz seines Alters – gute fünfzig, davon runde fünfzehn im Knast verbracht – hatte er sich einen schlanken und muskulösen Körper bewahrt, »à la Moser«, wie er sich selbst gerne definierte. Er war einer der letzten Repräsentanten der Mailänder Unterwelt, seine Spezialität waren Überfälle auf Geldtransporte. Aber er hatte von allem etwas gemacht. Angefangen hatte er, in bester Familientradition, als Schmuggler. Seine Mutter, eine französische Baskin, war in den Pyrenäen eine legendäre Schmugglerin gewesen, bis sie eines Tages einem spindeldürren Italiener begegnet war, der einen Führer brauchte, der ihn illegal nach Spanien schleusen konnte. Natürlich hatte ich ihn hinter Gittern kennengelernt, und wir waren sehr gute Freunde geworden, nachdem ich ihm aus einer eher heiklen Situation mit einer Gruppe von Camorristen herausgeholfen hatte.

Im Hochsicherheitsgefängnis auf der Insel Pianosa hatten drei Cutolianer seinen Zellennachbarn erdrosselt, einen Neapolitaner, der einer rivalisierenden Gruppe angehörte. Rossini war aus dem Schlaf hochgefahren und hatte die Szene ein paar Sekunden lang beobachtet, lang genug, um ihn zu einem unbequemen Zeugen zu machen. Dann hatte er den Kopf wieder aufs Kissen gelegt und so getan, als hätte er nichts bemerkt. So hatten die Wachbeamten ihn gefunden und in die berüchtigte Agrippa-Sektion geschleift, wo die Isolierzellen mit Blut verschmiert und verkleistert sind. Sie hatten ihn windelweich geschlagen, aber er hatte geschwiegen: Nicht seine Angelegenheit. Nach zwei Monaten Isolierhaft und Verhören kamen sie zum den Schluß, daß sie aus ihm nie etwas herausbringen würden, und verlegten ihn in die Strafanstalt nach Padua, wo ich ihn kennenlernte. Sein Gedächtnis mochte vielleicht für das Wachpersonal kein Problem mehr sein, aber für die Cutolianer war das noch lange nicht so – sie betrachteten ihn nach wie vor als Risikofaktor.

Nachdem der Versuch, ihn unter der Dusche zu erstechen, mit der Verwundung seiner beiden Angreifer geendet war, nahm Benj amino Kontakt zu mir auf und bat mich, die Camorristen wissen zu lassen, daß sie von ihm nichts zu befürchten hätten und daß er nicht die geringste Absicht hätte, für den Rest seines Lebens auf der Hut zu sein. Was mit anderen Worten hieß: Die Neapolitaner sollten gefälligst seinem Wort vertrauen, oder es würde ein gnadenloser Krieg ausbrechen. Mit der gebotenen Vorsicht hatte ich zum Chef der Cutolianer Kontakt aufgenommen, und am Ende eines langen Mittagessens, nachdem er genüßlich zwei Babà verspeist hatte, sagte er mir, der gute Ruf des Mailänders und mein Auftreten als Garant wären ausreichend, um den »Zwischenfall« als abgeschlossen betrachten zu können.

Nach seiner letzten Inhaftierung – fünf Jahre wegen Ausräumen eines Juwelierladens im Comaskischen – hatte er Mailand verlassen, »weil es da mittlerweile von Drogenhändlern und anderem Gesocks wimmelt«. Auf meinen Rat hin hatte er sich in einen kleinen Ort an der venezianischen Küste zurückgezogen, Punta Sabbioni, wo er sich durch Schmuggel mit dem nahegelegenen Dalmatien bereicherte. Ein bißchen verrückt als Typ, teilweise unverständlich, aber echt hartgesotten. Ich rief ihn jedesmal zu Hilfe, wenn ich in besonders schwierigen Situationen steckte. Er sagte nie nein. Aus Freundschaft, aber nicht nur. Für einen, der auf der Straße groß geworden ist und all ihre Geheimnisse kennt, ging es sozusagen um die Lust, noch einmal die starken Emotionen von einst auszukosten. Anscheinend war es eben doch nicht besonders aufregend, ein Motorboot zwischen zwei Küsten hin- und herzufahren.

Es dämmerte, und die Autobahn war leer. Ich hatte es langsam satt, immer nur an Magagnin und seine Scherereien zu denken. Um wach zu bleiben und den Kopf frei zu halten, schob ich eine Kassette ins Autoradio und drehte auf volle Lautstärke. Ich war am Ziel, noch bevor ich Hear my blues von Al Smith zu Ende gehört hatte.

Benjamino wohnte in einem Häuschen direkt am Meer. Es öffnete mir ein ausländisches Mädchen um die zwanzig, sie führte mich in die Küche, wo mein Freund saß und Kaffee trank.

»Ciao, Marco«, er war einer der wenigen, die mich mit meinem richtigen Namen anredeten. »Magst du Kaffee?«

»So früh schon auf den Beinen?«

»Eigentlich muß ich erst noch schlafen gehen.«

»Woher kommt sie?« fragte ich, ich meinte das Mädchen, das inzwischen aus dem Zimmer gegangen war.

»Kroatien. Sie will in einem Nachtclub Tänzerin werden. Aber unter uns gesagt, es ist das Übliche, sie wird hier Hure werden. Das haben die daheim in ihrem Dorf alles ausgeheckt, und ich hatte den Auftrag, sie hierher zu bringen. Aber du, vielmehr«, er stützte den Unterarm auf den Tisch und beugte sich zu mir herüber, »sag mir, aus welchen Scherereien Onkel Benjamino dir diesmal heraushelfen soll.«

Ich sah ihn an. Er wurde kahl, und ich wette, daß dieser Schnurrbart à la Xavier Cugat, einem südamerikanischen Sänger der fünfziger Jahre, gefärbt war. Aber diese sonnenverbrannte, gegerbte Haut sprühte vor Energie und Vitalität wie die eines Zwanzigjährigen.

Ich erzählte ihm alles, und sein einziger Kommentar war: »Warte, ich hole die Ausrüstung.«

»Benjamino!« hielt ich ihn zurück, während er die Falltür zum Speicher öffnen wollte. »Das kleine Set. Es geht hier nicht um Krieg.«

Wir nahmen seinen Wagen. Er war groß und auffällig, jeder hätte sich denken können, daß Gangster darin sitzen, aber wir nahmen ihn trotzdem, denn er war mit einem Versteck ausgestattet, in dem wir unsere »Teile« verstauen konnten. Kein Polizist würde sie je entdecken. Denn über eines waren Benjamino und ich uns hundertprozentig einig: Wieder ins Gefängnis zu gehen, bloß weil wir einen wie Magagnin gesucht hatten, das wäre uns beiden zu viel gewesen.

Unter den Lauben an der Via Savonarola, ein paar Meter vor Baldans Haustür entfernt, berührte mein Freund mich kurz am Arm: »Spielen wir ›der Gute und der Böse‹?«

»Klar, das zieht immer.«

Ich drückte mehrmals auf die Klingel, mit polizeilichem Nachdruck. Eine verschlafene Stimme krächzte in die Sprechanlage: »Wer zum Teufel bist du?«

Benjamino sah mich an. »Sag du es ihm, ich bring das nicht fertig.«

»Polizei. Mach auf, Baldan!« Das Schloß der Haustür sprang sofort auf, wir gingen hinein und liefen die Treppen hinauf. Auf dem Treppenabsatz erwartete uns ein überraschter Baldan in Unterhosen: »He, du bist doch der Alligator.«

»Aber er ist nicht allein«, ergänzte Benjamino, der schon in die Rolle des Bösen geschlüpft war. Er trat auf ihn zu, wobei er ihm unverwandt in die Augen schaute. Schließlich legte er seine Stirn gegen die von Baldan, und auf diese Weise, ohne die Hände zu benützen, schob er ihn rückwärts zurück in seine Wohnung. Direkt zur Sache, wie immer. Der Dealer versuchte das verlorene Terrain wiederzugewinnen. »Alligator, was will der hier?«, während der andere ihn mit einem leichten Stoß vor die Brust in einen Sessel schubste. »He, was zum Teufel willst du?«

»Ach, Baldan, achte gar nicht auf ihn. Er ist bloß ein verrückter Mailänder, der alle Drogenhändler haßt. Weißt du, seine Tochter ist letztes Jahr an einer Überdosis gestorben.«

»Und was habe ich damit zu tun? Mein Stoff ist nur beste Qualität.«

»Das ist ihm völlig egal, Bepi. Er haßt Dealer im allgemeinen.«

»Also, was wollt ihr?«

»Du stehst aber heute auf der Leitung, was? Wir wollen Nachrichten von Alberto Magagnin. Und sei ja nicht zu sparsam mit den Worten.«

Der Dealer sah Benjamino an. »Marietto hat gesungen, stimmt’s?«

»Nein«, log ich, »er war’s nicht.«

»Alligator, weißt du überhaupt, mit wem du dich da anlegst?«

»Ich weiß, wer du bist, Bepi. Du handelst mit türkischem Heroin, das dir die Veroneser beschaffen. Wenn du Probleme mit den Neapolitanern hast – die das thailändische Heroin vertreiben –, dann wendest du dich an einen Bullen deines Vertrauens, denn du bist auch ein mieser Kerl und verpfeifst die Konkurrenz. Zwei Fliegen mit einer Klappe: Du dealst, riskierst dabei aber nichts, weil du den Spitzel machst. Wie du siehst, bin ich über alles bestens informiert, aber ich werde so tun, als interessierte mich das gar nicht. Ich will nur wissen, wo Magagnin ist. Du wirst es mir sagen, nicht wahr?« Er war verschüchtert, machte den Mund aber immer noch nicht auf. Gleichzeitig warf er verstohlene Blicke ringsumher. Insbesondere versuchte er die Bewegungen Benjaminos zu verfolgen, irritiert von der Hand hinter seinem Rücken. Ich entfernte mich, um eine Zigarette zu holen: das vereinbarte Zeichen, daß ich meinem Partner das Feld überließ. Man hörte einen heftigen Knall. Baldan stieß einen Schrei aus. Ich drehte mich um, gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, daß er sich am Boden wälzte und mit der Hand das linke Ohr zu schützen versuchte – zu spät. Hinter ihm Rossini. In den Händen hielt er einen kräftigen Ochsenziemer.

Ich spielte den Guten und beugte mich zu dem Dealer hinunter. »Siehst du, du hast ihn wütend gemacht. Ich hatte dir gesagt, daß er verrückt ist und alle Dealer haßt. Sag mir, wo Magagnin versteckt ist, und wir ziehen ab.« Heulend vor Wut und Schmerz, nickte er mehrmals. Ich half ihm, sich aufzurichten, und er fing an zu reden. Eigentlich war er gar kein wirklich harter Kerl.

Ich hatte richtig getippt: Magagnin war nur Gelegenheitskunde, er kreuzte auf, um etwas Stoff zu kaufen, und dann verschwand er wieder für eine Weile. Montag abend war er dann völlig unerwartet plötzlich vor ihm gestanden, sichtlich verwirrt, aber mit einer hübschen Summe Bargeld. Er wiederholte unentwegt, daß er mit dem Knast fertig sei. Er wollte Stoff und einen sicheren Ort, wo er ein paar Tage bleiben könnte. Er hatte ihm beides beschafft: ungefähr dreißig Tütchen Heroin – verschnitten selbstverständlich – und ein Haus auf dem Land, das Freunden gehörte, die für ein paar Monate verreist waren; er hatte ihn selbst dorthin gebracht. Das alles für bescheidene acht Millionen. In bar. Er hatte gedacht, das Geld stamme aus einem Raubüberfall oder einem Diebstahl und sei folglich das eigentliche Motiv für die Flucht.

Es war Zeit zu gehen. Ich war befriedigt und erleichtert bei dem Gedanken, daß Baldan noch nichts von dem Mord wußte. Ich erreichte die Tür, überzeugt, daß Benjamino mir folgen würde. Verdammt! Wieder ein Knall, der Ochsenziemer noch mal in Aktion.

Rasch kehrte ich zurück. Baldan, mit gebrochener Nase, versuchte das Blut zu stoppen, das ihm den Hals hinunterfloß. Ich packte Benjamino bei einem Arm und stieß ihn vorwärts, zwang ihn, vor mir herzugehen, bis wir auf der Straße waren.

»Du hättest ihn nicht so zuzurichten brauchen«, zischte ich wütend. »Er hatte schon geredet. Jetzt muß er Erklärungen abgeben, und das einzige, was wir nun wirklich nicht brauchen können, ist, daß jemand anfängt, auf unser Interesse für Magagnin aufmerksam zu werden.«

»Mach dir keine Sorgen«, antwortete er ruhig. »Der verbarrikadiert sich zu Hause. Wenn er sich in dem Zustand blicken läßt, dann fühlen sich alle Junkies berechtigt, ihn auszurauben.«

»Jedenfalls hast du übertrieben.«

»Und die Erinnerung an meine Tochter, die an Überdosis gestorben ist?«

»Verdammt, Benjamino! Du hast weder eine Tochter gehabt, noch ist sie an einer Überdosis Heroin gestorben.«

»Na ja, ich habe mich eben zu sehr in die Rolle hineingesteigert.«

Ich sah ihn an. Er grinste befriedigt. Ich mußte lachen. »Du bist verrückt.«

Magagnin hielt sich in einem Haus in der Umgebung von Abano Terme versteckt. Die Angaben, die uns der Dealer gemacht hatte, waren so präzise, daß wir es auf Anhieb fanden. Ein altes Bauernhaus inmitten von Feldern, und ziemlich kitschig renoviert.

»Weißt du, Marco, wenn ich mir ein Haus auf dem Land herrichten sollte, dann würde ich nicht gerade Schneewittchen und die sieben Zwerge davor aufstellen, noch dazu in Zement. Das paßt einfach nicht.«

»Bitte, erzähl mir jetzt bloß nicht, was du da aufstellen würdest«, ermahnte ich ihn, während ich über den Zaun sprang. Wir näherten uns von hinten dem Haus. Die Glastür zur Küche hatte ein eher loses Schloß, das unter dem erfahrenen Druck von Benjaminos Klappmesser sofort willig nachgab. Wir fanden Magagnin im Wohnzimmer bequem auf einem Sofa ausgestreckt, er sah sich eine Quizsendung an. Er knabberte Schokoladenkekse und trank Fruchtsaft.

Wir standen hinter ihm. Er hatte uns weder gesehen noch gehört. Benjamino flüsterte: »Zucker.«

»Was?«

»Zucker, Junkies brauchen ständig welchen.«

»Erscheint dir das der geeignete Moment, mir einen Vortrag über die Stoffwechselveränderungen bei Drogengenuß zu halten?« gab ich ärgerlich zurück.

Ich berührte den Mann an der Schulter, und er wandte sich mit nervtötender Langsamkeit um. Dann sah er mich mit völlig abwesendem Blick an.

»Ganz ruhig, wir sind keine Bullen. Deine Anwältin schickt mich. Sie will mir dir reden, am besten bevor man dir wieder Handschellen anlegt.«

Keine Reaktion. Der war völlig zu und so weit von der Realität entfernt wie ein unerforschter Planet von der Erde. Er hob die Schultern und sah mich weiterhin aus wässrig-blauen, leeren Augen an.

Benjamino kam näher und gab mir zu verstehen, ich sollte mich beiseite machen. Dann setzte er sich neben ihn und legte ihm einen Arm um die Schultern. »Laß mich nur machen, Marco. Schau du dich im Haus um, ich bring ihn dir in der Zwischenzeit wieder auf Vordermann.«

Daran zweifelte ich nicht. Im Gefängnis war ihm das auch immer wieder gelungen, allerdings weiß ich nicht, wie. Jedenfalls wäre ich jede Wette eingegangen, daß Magagnin im Laufe einer halben Stunde in der Lage sein würde, in zusammenhängenden Sätzen zu reden.

In der Küche bemerkte ich ein kleines Schiffsmodell und ein abscheuliches Ölgemälde, das ein galoppierendes Pferd darstellte. Der Bilderrahmen und das kleine Modell bestanden aus unzähligen abgebrannten und zusammengeklebten Streichhölzern. Billiges Material für die typische Geduldsarbeit, die einer verrichtet, der die Zeit totschlagen muß.

Der Eigentümer des Hauses war also ebenfalls in den vaterländischen Zuchthäusern zu Gast gewesen. Freilich war das auch kaum anders zu erwarten, da Baldan seine ersten Freundschaften in der Jugenderziehungsanstalt geschlossen hatte. All das konnte nur eines bedeuten: Der Ort war nicht sicher für einen Flüchtigen.

Das wunderte mich nicht. Sicherlich hatte der Dealer vor, wenn man ihn ungestört machen ließ, Magagnin alles Geld abzuknöpfen, das er bei sich hatte, um ihn dann der Polizei auf einem Silbertablett zu servieren. Alles in allem betrachtet, hatte der alte Rossini schon gut daran getan, ihm die Nase einzuschlagen.

In einem Schlafzimmer im oberen Stock fand ich Magagnins Tasche. Ich durchsuchte sie: schmutzige Wäsche, ein Klarsichtbeutel mit Heroin und eine nette Summe Geld in einer Plastiktüte. Ungefähr sieben Millionen Lire. Ich rechnete: Das hier plus die acht, die er dem Dealer gegeben hatte, eine achtstellige Zahl in Bargeld, das war beträchtlich. Ein erkleckliches Sümmchen für einen, der praktisch immer auf dem Trockenen saß. Wie war er daran gekommen? Etwas sagte mir, daß das alles Geld der Belli war und daß der Grund für ihren Tod ganz einfach war: Er hatte sie umgebracht, weil sie es ihm nicht geben wollte.

Ich verließ das Zimmer und setzte meinen Erkundungsgang fort. Im Rest des Hauses fand ich nichts Interessantes mehr, nur weitere zehn Zimmer und einen großen Keller.

Ich rauchte zwei Zigaretten, ließ meinen Blick über die Felder schweifen, und dachte über die gegenwärtige Lage nach. Es war der 29. Juni, 12 Uhr 20, und die Nachricht von der Auffindung der Leiche der Belli mußte sich inzwischen in der Stadt herumgesprochen haben. Man mußte schnell handeln, damit Frau Foscarini ihren Mandanten treffen konnte, bevor er des Mordes angeklagt würde, auch wenn das Geld, das ich gefunden hatte, ihn in jedermanns Augen belastete. Die künftigen Schachzüge unseres Freundes Baldan wollten ebenfalls bedacht sein. Um diese Zeit mußte auch er von dem Mord erfahren haben, und war der Name Magagnin einmal gefallen, so war nicht auszuschließen, daß er früher oder später Lust bekommen würde, jemandem den Ort zu nennen, an dem sich dieser versteckt hielt; und dem Ganzen womöglich noch eins draufzusetzen, indem er meinen Namen erwähnte. Aber ich verwarf die Idee wieder. Er hatte bestimmt keine Lust, Fragen zu einem Mord zu beantworten, das würde nur den Geschäften schaden.

Als ich ins Wohnzimmer zurückkam, zwinkerte Benjamino mir zu: »Der Herr ist wieder unter uns«, sagte er mit befriedigter Miene.

»Hervorragende Arbeit. Früher oder später wirst du mir mal verraten müssen, wie du das anstellst, mein Freund, sie so schnell wieder fit zu machen.« Ich ging nah an ihn heran und flüsterte ihm ins Ohr, was ich gefunden hatte. Ich betrachtete Magagnin. Ein großer Junge mit traurigen Augen und einem unsympathischen Gesicht. Wenn ich an den Ärger dachte, den die anderen Häftlinge seinetwegen bekommen würden, hätte ich ihm am liebsten eine geschmiert. Ich packte mir einen Stuhl und setzte mich vor ihm hin. »Der Name Piera Belli sagt dir nichts?«

»Sie ist tot«, antwortete er mit tonloser Stimme. »Sicher. Du hast sie umgebracht.«

»Ich bin’s nicht gewesen.« Seine Art zu reden, ohne jeden Gefühlsausdruck, machte mich rasend. »Du weißt, daß du ins Firmament aller bescheuerten Kriminellen eingehen wirst? Ich glaube, du bist der einzige auf dieser Welt, der einen Geschworenen aus einem Schwurgericht – aus dem eigenen Schwurgericht – abmurkst. Und, wohlgemerkt, nach demselben Muster wie bei dem Delikt, wofür du dich vor diesem Gericht verantworten mußtest und bei dem du beharrlich jede Schuld abgestritten hast. Wahrhaftig ein Genie, keine Frage.«

»Ich bin’s nicht gewesen.«

»Ach ja, ich hab ganz vergessen, das Wichtigste ist natürlich, zu leugnen. Immer und unter allen Umständen. Typisch Prolo.«

»Ich bin’s nicht gewesen.«

»Ich hab verstanden«, fuhr ich ihn an. »Im übrigen ist das nicht meine Sache. Meine Aufgabe ist lediglich, dich mit der Foscarini zusammenzubringen.«

»Ich bin’s nicht gewesen.«

»Was soll das, willst du mich verarschen?« Meine Lust, handgreiflich zu werden, nahm deutlich zu. Benjamino hielt mich zurück. »Laß ihn reden.«

»Warum?« fragte ich unwirsch.

»Was, warum, Marco. Das weißt du selbst, das ist die Regel. Du hast ihm eine Schandtat vorgeworfen, und jetzt hat er das Recht, sich zu verteidigen.«

»Benjamino, misch du dich da nicht auch noch ein. Paß auf, wir sind nicht im Knast.«

»Drin oder draußen, die Spielregeln sind immer dieselben. Ich weiß, daß du sie nicht magst, weder unsere, noch die der ›Regulären‹. Aber so tust du dem Jungen Unrecht.« Er hatte recht. Mehr noch: Ich hätte nicht einmal den Mund aufmachen dürfen. Ich war angeheuert worden, einzig und allein, um ihn ausfindig zu machen. Schon durch meine Herumschnüffelei im Haus der Toten hatte ich mich zu weit vorgewagt. »Sprich!« forderte Rossini ihn in väterlichem Ton auf.

»Gestern, nein, vorgestern … Scheiße, ich erinnere mich nicht mehr. Irgendwie kommt mir alles so komisch vor. Ich kam um sieben aus der Kooperative, und Piera war nicht da, um mich wie üblich abzuholen. Ich hab nicht lang überlegt und bin zu ihr nach Hause. Die Tür war angelehnt, ich bin rein – ich Idiot! – und bin durchs Haus, hab nach ihr gerufen. Dann dieser Körper, am Boden ausgestreckt, mit Kissen bedeckt. Ich wollte nicht näher hingehen, hab’s aber doch getan. Ich hab ein Kissen abgenommen und ihr Gesicht erkannt. all das Blut. wie damals. ›Es ist ein Fluchc, hab ich gedacht, ›noch eine tote Frau, die ich nicht ermordet habe.‹ Ich hab den Kopf verloren, ich fühlte, daß mir die Knie zitterten, ich weiß nicht, wie ich die Kraft gefunden hab, mich vom Fleck zu rühren. Nach ’ner Weile fand ich mich auf der Straße wieder, den Kopf völlig leer, eine wahnsinnige Lust, mir einen Schuß zu setzen, um nicht mehr denken zu müssen. So bin ich zu Baldan gegangen. Den hatte mir Marietto Carrara vorgestellt. Ich habe ihm einen Bären aufgebunden. Daß ich es satt hatte und nicht in den Knast zurückwollte, daß nur er mir helfen könnte. Ich hab ihn gebeten, mir etwas Stoff zu verkaufen und mir einen Platz zu besorgen, wo ich mich verstecken konnte.«

»So eine Geschichte habe ich ja noch nie gehört, mein Junge«, unterbrach ihn Rossini bedauernd. »Entschuldige, wenn ich dir das sage, aber meiner Meinung nach bist du reif fürs Zuchthaus. Das kauft dir doch keiner ab, weil. nun, weil das einfach nicht zusammenpaßt. Du bist ein miserabler Lügner. Oder hirngeschädigt. Sag mir viel eher, wo hast du die Millionen her, die du Baldan gegeben hast, und die, die du noch im Koffer hast?«

»Das Geld? Ach ja, sicher. Aus Pieras Haus. Ich wußte, wo sie’s aufbewahrte. Ich wollte nicht stehlen, aber ich brauchte das Geld.«

»Und du glaubst, vor Gericht kommst du mit dieser Geschichte durch?«

»Rache und Diebstahl«, warf ich ein, zu Benjamino gewandt, »zwei Motive wie aus dem Lehrbuch. Und zur Entlastung haben wir denselben Tathergang wie 1976. Wir verlieren hier bloß Zeit, bringen wir ihn mit seinem Anwalt zusammen und befassen wir uns wieder mit ernsthafteren Dingen.«

»Einen Moment. Laß ihn ausreden. Es ist alles so merkwürdig, und ich möchte klar sehen in dieser Geschichte.«

»Hör zu, Magagnin, mein Freund hat recht. Wir haben nichts begriffen. Vielleicht fängst du besser noch mal ganz von vorne an. Ich will sagen, erzähl uns von ihr, von Piera Belli.«

»Was willst du wissen?«

»Na, ich weiß nicht … zum Beispiel, was für ein Typ sie war. Besser noch, wie kam es, daß ihr miteinander zu tun hattet?« Benjamino zündete eine Zigarette an und steckte sie ihm zwischen die Lippen. Mein Partner wußte, wie man mit Leuten umgeht.

Der Mann inhalierte gierig einige Züge. »Wenige Tage nach dem Ende des Prozesses bekam ich im Gefängnis Briefe. Merkwürdige, anonyme Briefe voll …«

»Briefe? Ich glaube, wir haben uns nicht verstanden. Was haben die Briefe damit zu tun, wir wollen Informationen über deine Freundin.«

»Laß mich doch ausreden! Ich wußte nicht, wer sie schickte, aber ich war sicher, daß es sich um eine Frau handelte. Und diese Frau, wie ich später erfuhr, war sie.«

»Mach weiter. Warum hast du gesagt, sie waren merkwürdig?« griff Benjamino ein.

»Weil sie voller schmutziger Gedanken waren.«

»Schmutzig? In welchem Sinn?«

»Von der Art: ›Es würde mir gefallen, daß du mir wehtust‹ oder ›würdest du mich schlagen, wenn ich dich darum bitte? Stell dir vor, ich bin nackt unter meinem Talar ….‹ Plötzlich, so wie es angefangen hatte, brach das Spiel ab: lange Zeit keine Briefe mehr. Bis eine Paduaner Zeitung die Nachricht brachte, daß ich Freigänger war und also bald aus dem Knast kommen würde. Sie fing wieder an, mir zu schreiben, und jedesmal versicherte sie, daß sie in der Lage wäre, mir zu helfen und eine Wiederaufnahme des Verfahrens erreichen könnte. Dann schloß sie mit der Frage: ›Aber du, wie weit bist du bereit zu gehen, um die Wahrheit zu erfahren?‹ Ich fing an, in der Kooperative Sole zu arbeiten, und nach einiger Zeit bemerkte ich, daß auf dem Platz gegenüber dem Ausgang oft ein metallicfarbener Golf geparkt war. Eines Tages wechselte ich mit der Frau am Steuer einen Blick. Das war nur ein Moment, aber ich hatte sie auf der Stelle wiedererkannt: Die Gesichter der Geschworenen, die einen verurteilen, die vergißt man nicht. Da hab ich kapiert, daß die Briefe von ihr waren. Ich wußte aber nicht, wie ich Kontakt aufnehmen konnte. Das hat sie dann gemacht, ungefähr zehn Tage später. Wir sind in den Golf eingestiegen, und sie hat mich zu sich nach Hause mitgenommen. Sie hat mir gesagt, nach dem Prozeß hätte sie entdeckt, daß ich unschuldig war und daß sie mir helfen könnte. Aber dafür müßte ich bestimmte Dinge tun …«, er warf mir einen Blick zu, vielleicht, um unsere Reaktionen zu prüfen, aber unsere Gesichter waren undurchdringlich, »… sie sagte, die Atmosphäre beim Prozeß hätte ihr gefallen, hätte sie erregt. Und auch ich würde sie erregen. Kurzum, es gefiel ihr, sich als Richterin zu verkleiden und sich wehtun zu lassen.«

»Bondage«, warf ich ein, »leichter Sado-Maso. Aber das mit der Verkleidung als Richterin habe ich noch nie gehört.«

»Hast du sie gevögelt?« fragte Benjamino. »Nein. Ich fesselte sie, peitschte sie ein bißchen aus. sowas in der Art. Wir gingen zu ihr nach Hause, und sie gab mir einen ihrer Briefe in die Hand, wo sie aufgeschrieben hatte, was sie an dem Tag eben erregte. Dann schnupfte sie eine Linie Kokain und führte mich ins Schlafzimmer. Ihr werdet es nicht glauben, aber sie schrieb alles auf, sie ließ kein einziges Detail aus. Eine Verrückte. Und als ob das nicht genug wäre, hatte sie auch noch diese Manie, mit Selbstauslöser zu fotografieren. Jedesmal einen ganzen Film. Oft ließ sie eine Freundin kommen. Selbe Vorlieben, aber die ließ sich am Schluß ficken.«

»Wer war die Freundin?«

»Ihr werdet es mir nicht glauben, aber ich weiß es nicht. Aber mir scheint, sie ist Verkäuferin.«

»Und du?« fragte Rossini.

»Ich hab mitgemacht. Es war klar, daß Piera etwas wußte. Sie wiederholte immer wieder, daß sie meine Unschuld beweisen könnte, aber daß wir noch etwas warten müßten, bis wir ›unsere Karten aufdeckten‹. Sie benutzte diesen Ausdruck: ›unsere Karten‹. Sie war verrückt, aber nicht bösartig. Sie hatte ihre Perversionen, ja, aber sie behandelte mich gut: Sie gab mir Geld, kaufte mir Klamotten, wusch meine Sachen. Ich hatte noch elf Monate bis zum Ende des Freigangs, und bis dahin, hatte ich beschlossen, war es mir recht, mit ihr zu gehen. Mit einer, die, wie ich, niemanden hatte.«

»Keine Verwandten?«

»Sie war Einzelkind. Die Eltern sind vor ein paar Jahren gestorben, und sie hatte nie geheiratet.«

»Was arbeitete sie?«

»Sie unterrichtete. Aber dieses Jahr nicht. Sie war …«

»Beurlaubt?«

»Ja, genau.«

»Aber dieses ganze Geld«, beharrte ich, »wo kam das her? Hatte sie was geerbt?«

»Ich weiß nicht. Aber sie hatte immer eine ganze Menge in bar. Sie bewahrte es hinter einem Bücherschrank auf, in einer kleinen Geheimkammer, wo sie alles versteckte, was andere lieber nicht sehen sollten. Sie gab bedenkenlos Geld aus. Sie war dabei, die ganze Wohnung neu einzurichten, und brauchte ständig mehr Kokain.«

»Von wem kaufte sie es?«

»Das weiß ich nicht.«

»Aber das gibt’s doch nicht! Einen Beweis, einen einzigen kleinen Beweis für das, was du gesagt hast, solltest du schon haben«, platzte ich heraus. »Nein«, antwortete er untröstlich und senkte den Blick.

»Verdammt! Wenn du es nicht gewesen bist, wie du sagst, wer zum Teufel hat sie dann umgebracht?«

»Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht, ich weiß es nicht. Laßt mich in Frieden!« flehte er verzweifelt.

»Noch eine Frage hingegen. Wann warst du zum letzten Mal in diesem Haus?«

»Montag.«

»Also am 26.«, dachte ich. »Dann ist sie seit drei Tagen tot.«

»Und um wieviel Uhr bist du dort angekommen?«

»Mh, es wird Viertel vor acht gewesen sein.«

Benjamino machte mir ein Zeichen, ich folgte ihm aus dem Raum. »Glaubst du ihm?«

»Nein. Noch nie habe ich eine so beknackte Geschichte gehört.

Weißt du, was ich dir sage? Der ist wirklich durchgeknallt.

Wenn ich sein Anwalt wäre, dann würde ich auf geistige Unzurechnungsfähigkeit plädieren. Vielleicht käme er nach zehn Jahren Irrenhaus dann wieder auf freien Fuß. Und du, was hältst du davon?«

»Ich finde, auch wenn es unglaublich klingt, alles kann er nicht erfunden haben.«

»O. K.«, erwiderte ich. »Es ist klar, daß er mit der Toten ein Verhältnis hatte und daß die, wenn sie sich mit einem wie ihm einließ, ein bißchen durchgeknallt gewesen sein muß. Aber der Rest der Geschichte ist ein Haufen Schwachsinn. Wer sagt dir außerdem, daß es wirklich ein Verhältnis war? Schließlich und endlich hat er sie nicht gevögelt. Womöglich tat er ihr bloß leid, und sie hatte beschlossen, sich wie eine nette Tante zärtlich seiner anzunehmen. Meiner Meinung nach sind die Dinge so gelaufen: Sie haben sich gestritten, sie hat ihm gedroht, den Geldhahn zuzudrehen, er hat rot gesehen und hat sie erledigt. Wir dürfen schließlich nicht vergessen, daß sie eine von denen war, die ihm die achtzehn Jahre Knast aufgebrummt haben, und daß sie – nicht gerade unter der Matratze, aber beinahe – fünfzehn Millionen in bar aufbewahrte.«

»Mh, ich weiß nicht«, Benjamino strich sich den schmalen Schnurrbart glatt. »Jedenfalls glaube ich, daß man an diesem Punkt nichts weiter tun kann, als ihn zu einem Anwalt, zu seinem Anwalt zu bringen.«

»Ich rühr mich nicht von der Stelle.«

Wir fuhren herum. Er war von hinten dicht an uns herangekommen, ohne daß wir es bemerkt hatten. »Fängst du schon wieder an, den Idioten zu spielen?« gab Benjamino zurück. »Du weißt, daß du mit einem Anwalt reden mußt. Wie lange werden sie brauchen, bis sie dich finden, was glaubst du?«

Seine Augen füllten sich mit Tränen. »Warum wollt ihr mir einreden, die anderen würden mir glauben? Sie werden es genauso machen wir ihr zwei. An diesem Punkt ist mir alles scheißegal. Ich bleibe hier. Das einzige, was ich wirklich will, ist alleine bleiben, um mir in Ruhe den Stoff reinzuziehen. Haut ab, ihr Mistkerle.«

»Ich hätte echt Lust, dir die Fresse zu polieren für das, was du da gesagt hast, aber ich werde es nicht tun. Ich geb dir sogar noch etwas Zeit, um deine Meinung zu ändern, weil außerdem«, ich sah auf die Uhr, »jetzt gerade die Regionalnachrichten anfangen. Es wäre nicht schlecht, wenn auch du dich über den letzten Stand der Dinge informieren würdest.«

Es war der Aufmacher der Sendung. Der Bildbericht unmittelbar nach der Ansage zeigte, daß die Neuigkeit Aufsehen erregt hatte: Man sah, wie der Garten des Hauses, in dem der Mord geschehen war, nur so wimmelte von Journalisten und Ermittlern bei der Arbeit. Das Verbrechen, berichtete der Reporter, war im Morgengrauen entdeckt worden, dank eines anonymen Anrufs. Benjamino wandte sich mir zu und applaudierte kurz. Die Interviews – eines mit dem Direktor des Gymnasiums, wo die Ermordete Englisch unterrichtet hatte, die anderen mit Nachbarn – ergaben das Bild einer absolut positiven Persönlichkeit. Zum Schluß erklärte der mit den Ermittlungen betraute Untersuchungsrichter, er erwarte im Laufe des Nachmittags die ersten Ergebnisse der gerichtsmedizinischen Untersuchung, könne aber unter Wahrung seiner Geheimhaltungspflicht doch schon vorwegnehmen, daß die bisher zusammengetragenen Indizien erlaubten, den Verdacht auf eine einzige Person zu konzentrieren.

Ich schaltete den Fernseher aus. »Er wird gesucht.«

»Na klar.«

Magagnin war nicht zu bewegen. Nachdem er sich zum xten Mal geweigert hatte, mit uns zu kommen, ließen wir ihn in Gesellschaft des Heroins zurück und machten uns auf den Weg nach Padua.

Auf der Rückfahrt dachte ich immer wieder, daß ich genug hatte von dieser Geschichte; ich konnte es kaum erwarten, die Anwältin zu sehen, ihr über die letzten Ereignisse zu berichten und das Geld für meine Bemühungen zu kassieren. Benjamino schwieg während der Fahrt. Ich spürte, daß er den Fluß meiner Gedanken nicht unterbrechen wollte. Ein paar Mal streifte er mit der Hand die Goldkettchen hoch, die er am linken Handgelenk trug. Ich bemerkte, daß seit unserem letzten Treffen ein neues dazugekommen war, und fand es amüsant festzustellen, daß, nach der bisherigen Reihenfolge ihres Auftauchens zu urteilen, das nächste bestimmt noch protziger und massiver sein würde.

Den ganzen Nachmittag über war die Foscarini nicht aufzutreiben. Freundliche und professionelle Frauenstimmen antworteten unter den verschiedenen, von mir angewählten Nummern, daß die Frau Anwältin nicht gesagt habe, wann sie wieder zurück sein würde. Das Handy war ausgeschaltet. Die Hitze ließ nicht nach. Um uns die Wartezeit zu verkürzen, flüchteten wir in eine Bar des Forcellini-Viertels. Ein kühles und eher ruhiges Lokal, dessen Pächter sehr schnell gelernt hatte, die besonderen Vorlieben seiner Kunden zu erkennen. In meinem Fall versäumte er nie, mir ein Glas von der Reserve des Calvados Roger Groult zu servieren, den er eigens für mich bereithielt. Benjamino bestellte einen Wodka und war von dem Absolut, den ich ihm empfahl, sehr angetan. Wir redeten wenig, weil uns die Gespräche der anderen Gäste neugierig machten. Natürlich sprachen sie über das Verbrechen, die Nachricht des Tages. Wie immer gab es einen Wortführer, der versuchte, uns in eine Diskussion zu verwickeln; er fragte uns, ob wir in einem Fall wie diesem die Todesstrafe für richtig hielten. Aber unsere nicht gerade herzlichen Blicke brachten ihn davon ab, auf eine Antwort zu dringen. Es war kurz nach elf Uhr zwanzig, als ich die Foscarini endlich erreichte. »Frau Anwältin«, begann ich mit leicht belegter Stimme, »wenn man sich ein Handy kauft, dann tut man das, um immer erreichbar zu sein, besonders, wenn man Ihren Beruf ausübt und schwierige Mandanten hat wie Magagnin.«

»Haben Sie ihn gefunden?« fragte sie und überging meine Rüge. »Ja.«

»Können Sie zu mir in die Kanzlei kommen, sagen wir in einer Viertelstunde?«

»Ich bin schon auf dem Weg.«

Ich bezahlte unsere Getränke und machte Benjamino ein Zeichen, er solle mir folgen.

Die Kanzlei der Foscarini lag in der Nähe des Gerichts. Um diese Tageszeit waren die Büros leer, und es war leicht, einen Parkplatz zu finden. Benjamino wollte im Wagen bleiben und auf mich warten. »Weißt du, Marco, zum Anwalt und zum Arzt gehe ich in der Regel nur, wenn es unbedingt sein muß.« Ich hatte nicht erwartet, sie persönlich vor mir zu sehen, als die Tür aufging, aber dann dachte ich, daß die Sekretärin ja bestimmt längst nach Hause gegangen sein mußte. Sie wirkte ziemlich müde und niedergeschlagen.

Ich begrüßte sie mit einem »Schlechter Tag heute, was?«, während ich etwas befangen eintrat und mich fragte, ob es mir gelungen war, den exzessiv hohen Alkoholspiegel mit Natürlichkeit zu überspielen.

Sie ließ mich in ihrem Büro Platz nehmen, setzte sich hinter den Schreibtisch und sah mich schweigend und mit fragendem Ausdruck an. Ich vergaß einen Moment lang ihre Anwesenheit – zum Teufel mit diesem Blick – und studierte die Einrichtung des Raums. Der Stil war völlig unpersönlich, von einer so raffinierten Frau hätte ich mir was Besseres erwartet. »Also?« fragte sie und unterbrach meine Überlegungen. Ich schilderte ihr die jüngsten Ereignisse. Selbstverständlich überging ich dabei jene Details, die ihr professionelles Gewissen bestimmt nicht gerne zur Kenntnis genommen hätte, wie das, was Baldans Nase und Ohr zugestoßen war. »Jetzt sind Sie dran«, schloß ich.

»Nun, wie Sie schon vermutet haben«, begann sie, und stand dabei auf, »ist Haftbefehl erlassen worden. Vor dem Mittagessen wurden die Fingerabdrücke identifiziert, und die Vergangenheit der Belli als Geschworene wurde mit meinem Mandanten in Verbindung gebracht. Morgen wird es in allen Zeitungen stehen. Es ist mir nicht gelungen, mit dem Richter zu sprechen, obwohl ich den ganzen Nachmittag bei der Staatsanwaltschaft war. Glücklicherweise kenne ich einen Gerichtsschreiber, der mich über die neuesten Entwicklungen informiert hat und mir eine Kopie der Protokolle der Spurensicherung und des gerichtsmedizinischen Gutachtens gegeben hat. Ich hatte gehofft, es wäre etwas dabei, was Alberto entlasten könnte, aber leider ist alles nur zu seinem Nachteil. Für die Ermittler ist der Fall schon abgeschlossen.« Ich konnte mich nicht zurückhalten: »Das finde ich aber reichlich illegal, sich die Akten auf diesem Weg zu beschaffen.«

»Oh, das ist das Geringste! Wissen sie denn nicht, daß es mittlerweile an der Tagesordnung ist, in den Zeitungen Vernehmungsprotokolle zu lesen, die eigentlich der Geheimhaltungspflicht unterliegen …«

»Noch immer überzeugt, daß er unschuldig ist?«

»Ja, und hören sie endlich auf, mich danach zu fragen.«

»Bloße Neugier. Gut, mein Auftrag ist damit erfüllt, ich habe das Geheimnis des verschwundenen Mandanten gelöst, und nun wissen Sie, wie Sie ihn finden können. Wenn Sie so freundlich wären, mir das Geld zu geben, das mir zusteht, dann will ich Sie auch nicht länger belästigen.« Das Telefon läutete, während sie vor meinen Augen Fünfzig-und Hunderttausender-Banknoten aufhäufte. Sie lauschte ein paar Sekunden lang. »Entschuldigen Sie, ich kann dieses Telefonat nicht aufschieben, ich werde versuchen, in ein paar Minuten fertig zu sein«, versicherte sie, während sie ins Nebenzimmer ging, wo ein zweiter Apparat stand. Ich nickte schwach, auf eine längere Wartezeit gefaßt: Mittlerweile weiß ich aus Erfahrung, daß die Telefonate von Anwälten nur der Intention nach kurz sind.

Ich war allein geblieben, zündete mir eine Zigarette an, rauchte sie mit Genuß und trat ans Fenster. Von dieser Position aus konnte ich das Kommen und Gehen der Leute und der Autos verfolgen. Die Anordnung der Straßen lenkte den Verkehr in ganz bestimmte, feste Bahnen. Am Rand meines Blickfelds das Auto, in dem Benjamino saß und auf mich wartete. Das erste Stück Asche fiel auf den Parkettboden. Ich riß mich aus meinen Träumereien los: Die Anwältin würde das vermutlich gar nicht mögen. Mit einem raschen Blick suchte ich nach einem Aschenbecher, vergeblich. Langsam schlenderte ich zum Schreibtisch hinüber. Eine Schublade stand offen, und drin lag eine graue Mappe. Die Aufschrift lautete: PIERA BELLI – PROTOKOLL DER SPURENSICHERUNG AM TATORT / PROTOKOLL DER AUTOPSIE.

Ohne Zögern griff ich nach der Mappe, teils aus Neugier, teils aber auch aus Angst, ich könnte in der Via Torlonga Spuren meiner Anwesenheit hinterlassen haben. Während die Asche weiterhin auf den glänzenden Parkettboden fiel, blätterte ich rasch die ersten zwanzig Seiten durch, die ganz der Beschreibung des Tatorts gewidmet waren. Es folgte die vom Zustand der Leiche. Auf Seite 24 in der Mitte hieß es: Schmuckgegenstände: Am Hals ein Kettchen aus Weißgold, am rechten Handgelenk ein Kettengliederarmband in Gold, und am linken Handgelenk eine Uhr der Marke Rolex mit Metallarmband, stehengeblieben um 7 Uhr 36 oder 19 Uhr 36 des 28.

Ich las die letzte Zeile noch zwei Mal. Ein dummer Tippfehler. Die angegebenen Uhrzeiten, da war ich mir sicher, ja, hundertprozentig sicher, waren falsch. Ich blätterte noch weiter in der Mappe herum. Als ich die fotostatische Ablichtung des Polaroidfotos vom linken Handgelenk sah, zuckte ich zusammen: Die Zeigerposition bestätigte die Angaben im Protokoll. Und doch war ich mir hundertprozentig sicher, daß ich mich nicht getäuscht hatte; daß mein Gedächtnis mich nicht im Stich gelassen hatte, bestätigten meine Berechnungen am Tatort: Daraus hatte ich geschlossen, daß die Uhr sieben oder neunzehn Stunden, bevor ich das Verbrechen entdeckte, stehengeblieben sein mußte.

All das führte mich zu der Annahme, daß dieser verrückte Magagnin ins Haus zurückgekehrt war, vermutlich um noch mehr Geld zu holen, und vor Ort beschlossen hatte, die Uhr zu verstellen. Um die Spuren zu verwischen? Nein, das ergab keinen Sinn. Dann hätte er bestimmt nicht überall Fingerabdrücke hinterlassen, wie es hingegen der Fall war. Außerdem, wie hätte er ohne Auto von Abano nach Padua kommen sollen? Bepi Baldan hatte ihn in diesem verlassenen Haus abgesetzt, und die nächste Bushaltestelle war drei, vielleicht vier Kilometer entfernt. Und die zu Fuß zurückzulegen, bei einer körperlichen Verfassung wie der von Magagnin, die ihm bestimmt keine besondere Mobilität erlaubte, war unmöglich. Vor allem, weil dieser wußte, daß ihm die Polizei auf den Fersen war. Irgendwas stimmte da nicht.

Ich ließ die Blätter wieder auf den Tisch fallen und fuhr mir mit der Hand übers Gesicht. Die einlullende Benommenheit des Alkohols ließ langsam nach. An ihrer Stelle machte sich eine schleichende Unruhe breit. Einerseits fühlte ich mich von einer Art Instinkt getrieben, diese Angelegenheit für abgeschlossen zu betrachten – ich konnte mein Geld, das mir in Kürze ausgehändigt werden würde, in aller Ruhe genießen, viele Platten und Flaschen von Jahrgangs-Calvados davon kaufen –, andererseits machte sich die Blues-Hälfte meines Charakters wieder bemerkbar, zupfte mich am Ärmel, forderte mich auf, nicht lockerzulassen, weiterzusuchen. Mein verflixtes Bedürfnis zu verstehen, nichts Ungelöstes hinter mir zu lassen. Es kam mir ein für den Anlaß geeigneter Blues in den Sinn:

You closed your eyes

and neon spun inside your head

cause it was dark outside.

You read your bible

but God never came.

Just in dem Moment kam Barbara Foscarini wieder herein. »Buratti, wer hat Ihnen erlaubt, in meinem Schreibtisch herumzuwühlen?«

»Haben Sie vielleicht einen Aschenbecher?« fragte ich sie und wies auf die Kippe, die ich auf einem eleganten Tintenfaß aus Kristall ausgedrückt hatte. »Geben Sie sofort diese Papiere wieder her.«

»Regen Sie sich doch wegen so einer Kleinigkeit nicht auf. Setzen Sie sich und schenken Sie mir ein wenig von Ihrer werten Aufmerksamkeit.« Rasch erzählte ich ihr, was ich entdeckt hatte. »Und Sie sind sich völlig sicher, sich richtig zu erinnern?«

»Ich versichere Ihnen, daß die Zeiger auf 4 Uhr 36 oder 16 Uhr 36 standen, aber bitte, wie Sie wollen.«

Sie bombardierte mich mit Fragen, als wäre es das Kreuzverhör in einem großen Prozeß. Meine Antworten überzeugten sie schließlich: Und es konnte auch gar nicht anders sein, denn wer die Uhr am Handgelenk einer Leiche ansieht, der vergißt den Anblick sein Lebtag nicht. Als gute Anwältin versuchte sie, diese neue Erkenntnis zugunsten ihres Mandanten zu verwenden, aber diese ließ sich unmöglich in eine Rekonstruktion der Fakten einbauen, die ihn in irgendeiner Weise entlastete.

Ich klemmte mir die ganze Mappe unter den Arm. »Hören Sie, es ist sinnlos, daß wir hier unsere Phantasie strapazieren, wir sind zu müde. Wir riskieren, kostbare Zeit zu verlieren. Der einzige, der dieses neue Geheimnis aufklären kann, ist Magagnin, und jetzt geh ich hin und rede mit ihm. Ich nehme auch die Kopien von den Fotografien mit. An irgendwas wird er sich schon erinnern … wenn er nicht zu vollgepumpt ist mit Drogen, versteht sich.«

»Was soll das heißen, Sie wollen die ganze Aktenmappe mitnehmen? Erinnern Sie sich, daß ich auf informellem Weg daran gekommen bin, und obendrein habe ich sie noch nicht ganz durchgesehen.«

»Keine Sorge, morgen gebe ich sie Ihnen zurück.« Sie krallte sich an meiner Schulter fest. »Überzeugen Sie ihn davon, daß er mit mir reden soll. Er muß sich so schnell wie möglich stellen. Noch kann er sich retten. Er ist unschuldig, ich werde das beweisen können.«

»Ich werde es versuchen, aber haben Sie schon mal daran gedacht, daß womöglich der einzige Weg, von ihm angehört zu werden, der sein könnte, zu ihm hinzufahren?«

»Lieber nicht. Wenn das bekannt würde, würde das dem Image der Verteidigung nur schaden. Es ist besser, daß er hierher kommt, in die Kanzlei, und daß wir dann gemeinsam zum Richter gehen.«

»Ich glaube nicht, daß er von dem Vorschlag begeistert sein wird. Ich werde jedenfalls versuchen, ihn davon zu überzeugen. Morgen im Lauf des Vormittags rufe ich Sie an … und schalten Sie dieses blöde Handy nicht wieder aus, bitte!« Im Wagen berichtete ich Benjamino von meiner Entdeckung. »Also Marco, wenn ich das recht verstehe, dann hat jemand diese Zeiger verstellt; und zwar jemand, der zwischen dem Zeitpunkt, als du das Haus verlassen hast, also gegen Mitternacht des 28., und dem Eintreffen der Polizei, so gegen fünf Uhr früh des 29., in dieses Haus eingedrungen ist, stimmt’s?«

»5 Uhr 25«, korrigierte ich ihn aus dem Protokoll der Spurensicherung. »Magagnin?«

»Ich wüßte nicht, wer sonst, auch wenn es mir unwahrscheinlich vorkommt, daß er beschlossen haben soll, an diesen Ort zurückzukehren. Das ergibt keinen Sinn.«

»Die ganze Geschichte ergibt keinen.«

Wieder betraten wir das Landhaus von hinten durch die Küchentür. Wir fanden ihn auf dem Sofa ausgestreckt, der Fernseher lief noch immer: Charlie Chaplin war mit einem Wachmann mit großem Schnurrbart, Knüppel und finsterem Blick zugange. Aber Magagnin lachte nicht. Er war tot. Der linke Arm war mit einem Schnürsenkel abgebunden, eine Spritze steckte in einer geschwollenen Vene. Ich faßte ihn an, er war noch warm.

»Überdosis«, kommentierte Benjamino.

»Ja.« Ich nahm das Tütchen mit dem Heroin in die Hand. Es fehlte ’ne ganze Menge. »Meinst du, er hat sich umgebracht?«

»Ich würde es nicht ausschließen. Er fühlte sich völlig am Ende.«

»Kommt er dir nicht, wie soll ich sagen, länger vor?«

»Ja, Leichen sehen immer größer aus.«

Wir blieben noch ein paar Minuten vor ihm stehen und betrachteten ihn, dann sprach Benjamino das Problem an: »Was machen wir mit ihm?«

»Ich denke gerade darüber nach«, ich wog die Aktenmappe in der Hand, »mach mir bitte eine ordentliche Portion Kaffee. Ich will mir diesen Papierkram hier aufmerksam durchlesen, bevor ich was entscheide.«

Ich setzte mich in einen Sessel gegenüber vom Sofa und Magagnins Körper. Beim Umblättern fiel jedesmal unweigerlich mein Blick auf diesen Arm mit der Spritze darin. Ich las noch einmal den Bericht der Spurensicherung, er sagte mir nichts Neues. Ich ging zum Autopsiebericht über. Bei der Abfassung des Gutachtens hatte der Richter sich an den üblichen Fragenkatalog gehalten: Todesursache, Zeitpunkt des Todes, Mittel, die ihn herbeigeführt haben. Bei Verletzungen gleich welcher Art, die auf Verursachung durch eine andere Person zurückzuführen sind, sind die jeweiligen Positionen zueinander zu bestimmen. Schließlich sind Gewebsproben zu entnehmen und histiologischen bzw. toxikologischen Untersuchungen zu unterziehen.

Gleich auf der ersten Seite versuchte der Gutachter, sich abzusichern, indem er auf die endgültige Fassung des Berichts verwies, die sich auf sämtliche Laborwerte würde stützen können, die aber nicht vor Ablauf eines Monats vorliegen würde. Vorläufig mußte man sich also mit einer Beschreibung begnügen, ein paar Daten und vielen Vermutungen. Die Beschreibung stimmte mit der der Spurensicherung überein, auch was die Uhrzeit auf der Uhr des Opfers betraf. Unter den wenigen angeführten Laborwerten machte mich einer besonders stutzig: Im Urin der Piera Belli war eine beträchtliche Konzentration von Benzoylekgonin festgestellt worden. Der Wert wurde kommentarlos angeführt, aber jeder, der im Knast gewesen ist, weiß, daß Benzoylekgonin das wichtigste Stoffwechselprodukt von Kokain ist. Hinsichtlich einer Sache hatte Magagnin also bestimmt nicht gelogen: Die beurlaubte Lehrerin, die einstige Geschworene am Schwurgericht, schnupfte Kokain. Nun paßte das alles noch weniger zusammen. Ab und zu unterbrach ich die Lektüre, um einen Schluck von dem Kaffee zu trinken, den Benjamino mir in der Zwischenzeit gemacht hatte. Sehr stark und mit viel Zucker, so, wie wir es beide im Knast gelernt hatten. Ich trank ihn ganz mechanisch: Eigentlich brauchte ich ihn gar nicht mehr, denn ich fühlte mich mittlerweile völlig klar im Kopf. Im Grunde wäre es mir wohl lieber gewesen, mein Freund hätte mir was Alkoholisches angeboten, vielleicht hätte mir das geholfen, die Unruhe zu vertreiben, die ich jetzt empfand, sie lag mir wie ein Kloß im Magen.

Das Protokoll verzeichnete 49 Stichwunden, zugefügt mit einem spitzen Messer mit drei Zentimeter breiter Klinge, aller Wahrscheinlichkeit nach einem Käsemesser, bei dem die Klinge sofort breit wird und der Griff fest in der Hand liegt, so daß die Wundränder nicht gequetscht werden, was auf ein Zustechen mit der Faust und nicht mit der Hand schließen läßt. Die Vermutung einer so ausgefallenen Waffe wurde dadurch nahegelegt, daß sämtliche Stiche, außer dreien, nur ein oder zwei Zentimeter tief ins Fleisch eingedrungen waren. Von den dreien – der erste im rechten Lungenflügel war dreieinhalb Zentimeter tief, der zweite in der Leber vier Zentimeter und der letzte am Halsansatz fünf Zentimeter, klaffend und mit unregelmäßigen Rändern – erwies sich keiner als unmittelbar tödlich. Ein Liter Blut im Magen sprach dafür, daß sich Piera Belli, sobald auf sie eingestochen wurde, instinktiv am Boden zusammengekauert hatte, um sich zu schützen. Dabei war sie zweifellos noch wach und bei vollem Bewußtsein gewesen.

Sie hatte dann reglos so verharrt, während der Mörder zustach, und angefangen, ihr Blut zu schlucken, das in die Speiseröhre eingedrungen war. Die Agonie hatte zwischen zehn und zwanzig Minuten gedauert. Nach und nach war Benommenheit eingetreten, dann Bewußtlosigkeit und schließlich der Tod, der nicht so sehr durch den Blutverlust verursacht wurde, als vielmehr durch Ersticken, durch Bedecken des Körpers und des Rumpfes mit den Kissen vom Sofa.

Hinsichtlich dieses merkwürdigen Details stellte der Gutachter die Vermutung auf, der Mörder habe es nicht länger ausgehalten, diese geweiteten und glänzenden Augen zu sehen, wie sie für die erste Phase des Schocks typisch sind. Daß die Dinge wirklich überhaupt nicht zusammenpaßten, wurde mir endgültig klar, als ich die Mutmaßungen über den Zeitpunkt des Todes las.

Die Leiche zeigt erste Anzeichen von Blähung durch Verwesung sowie beginnendes Heraustreten der Augäpfel, sie weist einen froschmaulartig vortretenden Mund auf, oberflächliche Hautablösungen, offenbare Fettleibigkeit und entsprechend einschnürende Kleidung, Verlust von Urin, massiv geblähten Bauch, große grüne Flecken über dem Abdomen, übergehend in die schwärzlichen der Hypostase, reichlich Fliegenlarven auf den Wunden, Austritt einer schwärzlichen Flüssigkeit aus den Öffnungen von Mund und Nase. In Anbetracht der jahreszeitlichen Temperatur, der Enge und schlechten Belüftung des Raums, der einschnürenden Wirkung der getragenen Kleidung und der drei Kissen, die die Leiche bedeckten, können wir vermuten, daß der Tod mindestens drei Tage vor Auffindung derselben eingetreten ist.

Diese Schlüsse haben keinerlei wissenschaftlichen Charakter, stützen sich lediglich auf langjährige Erfahrung. Eine Rekonstruktion des Verwesungsvorgangs würde die exakte Kenntnis der thermischen Veränderungen, Stunde um Stunde, voraussetzen. Gleiches gilt für die Belüftung, die direkte oder indirekte Sonneneinstrahlung, die Todesursachen, Dauer der Agonie, den Zeitraum seit Einnahme der letzten Mahlzeit, Art der verzehrten Speisen, Beschaffenheit und Aggressivität der Darmflora, die molekulare Zusammensetzung der Proteine und alle weiteren möglichen Varianten in der biologischen Zusammensetzung der Materie. In der Tat wird der Verwesungsprozeß vorangetrieben von Keimen, die aus dem Darm aufsteigen, nachdem sie sich beim Tod des Wirtsorganismus rapide vermehrt haben.

Selbst wenn wir alles wüßten, würden ein Antibiotikum, ein sanftes Abführmittel oder andere Medikamente oder andererseits eine leichte Darmverstimmung mit unauffälliger Verstopfung genügen, um jede Vermutung wieder radikal umzustürzen.

Das einzige Element, das Tag und Stunde des Todes mit Präzision zu bestimmen erlaubt, ist die Armbanduhr am linken Handgelenk des Opfers. Da sie im Lauf der Tötungsaktion nicht beschädigt wurde und ein automatisches Uhrwerk besitzt, das bei Erlöschen jeder Bewegung am Puls zum Stillstand kommt, könnte man wie auch schon in anderen Fällen mittels eines speziellen Gutachtens ermitteln, wie lange der Mechanismus aufgeladen war, und dadurch den fraglichen Zeitpunkt eindeutig bestimmen.

Mit einem Ruck klappte ich die Mappe zu und blickte in Magagnins starrende Augen. Zum zweiten Mal im Lauf von nur wenigen Tagen begegnete ich diesem weit aufgerissenen Blick einer Person, die das Bild des Todes in sich trägt. Mit dem Unterschied, daß dieser Tod hier zweifellos schneller, weniger grausam, aber ebenfalls gewaltsam gewesen war. Es waren Augen, in denen ich einen Schatten des Vorwurfs zu erkennen glaubte.

Nicht ganz zu Unrecht. Schließlich hatte ich mich böse getäuscht.