Er wiederholte die Lüge noch einmal, blickte zur Seite, zwinkerte mit den Augen und fragte sich, was, zum Teufel, wohl als nächstes kommen mochte.

Anweisungen wurden gerufen, gebellt. Zigaretten wurden in den Kies getreten. Eine Hand fuhr ihm durchs Gesicht, und Scamp grölte: »Laß ihn in Ruhe – ich will ihn dreckig. Werft lieber noch ein bißchen mehr Dreck auf ihn.«

Speke erinnerte sich, ein einfaches, stilles menschliches Wesen gewesen zu sein, damals, vor unendlicher Zeit, in einem anderen Leben.

»Gib uns den Stumpf, Ham. Bring uns zu dem Baumstumpf.«

Er wirbelte herum, die Welt war leer und dunkel. »Ich will aber keinen Baumstumpf ausgraben! Ich bin müde und mir ist heiß. Würdest du mir bitte eine Sekunde geben, damit ich mich wieder halbwegs erfrische.«

Sarah legte Scamp die Hand auf die Schulter. »Möchten Sie vielleicht inzwischen eine Tasse geeisten Tee?«

Speke schloß die Augen und dankte Gott für diese beherrschte Frau.

Natürlich wollten sie alle geeisten Tee. Speke spürte, wie sie ihn alle höflich ignorierten, und doch spürte er gleichzeitig, wie sie alle jedem seiner Atemzüge lauschten.

Zum Glück wußte er von einem Baumstumpf. Sogar recht gut. Es handelte sich um ein wahres Urviech von einem Baumstumpf, an den er sich vor ein paar Wochen gemacht hatte. Mr. Brothers hatte etwas von Dynamit gemurmelt, aber Speke hatte darauf bestanden, daß der Baumstumpf als eine Art Herausforderung stehen blieb, wo er war. Er hatte sich selbst das Versprechen gegeben, eines Tages werde er diesen Drachen eigenhändig aus dem Boden reißen.

Jetzt würde er genau das vor einem internationalen Fernsehpublikum tun. Als Maria erschien, schickte er sie zurück, um den Spaten zu holen. Er würde sich anschicken, ein Massiv auszugraben, das das Anwesen seit Jahrhunderten beherrscht hatte. Ich, Hamilton Speke, werde vor euer aller Augen mit diesen beiden Händen und sonst nichts gegen den mächtigsten Baumstumpf der ganzen Welt ankämpfen.

Nur einen Moment lang bezweifelte er, ob es weise sei, das alles zu tun. Aber das wäre die perfekte Tarnung, oder etwa nicht? Es würde erklären, warum er schmutzig war. Bell würde in dem Stumpf eine Metapher für den Schreibblock eines Autos sehen. Scamp würde zufrieden sein, Erde fliegen zu sehen. Und er selbst würde es nicht mehr nötig haben, hier herumzustehen und Sarahs stillen, fragenden Blick zu ertragen.

Denn Sarah dachte nach. Sie sah durch ihn hindurch und versuchte, sich einen Vers auf das zu machen, was er tat.

Solche Frauen sind gefährlich, dachte er. Gefährlich, und zur gleichen Zeit aufregend.

Er hatte Sarah nie so gut kennengelernt, wie das eigentlich nötig gewesen wäre. Sie hatten sich beide stets sehr darum bemüht, ihre Beziehung auf das rein Berufliche zu beschränken. Sie war loyal und zuverlässig gewesen, der Leuchtturm seines beruflichen Lebens. Was ging nur mit ihm vor? Er merkte auf einmal, daß seine Gedanken in der Tat sehr seltsame Wege gingen. Ohne jeden erkennbaren Grund war ihm auf einmal, als liebe er Sarah.

Ihre Augen lagen selbst jetzt noch auf ihm. Diese intelligenten Augen, Augen, die sahen und die sich erinnerten.

Sie wird es erfahren, sagte er sich selbst. Solche schönen Augen können nicht getäuscht werden.

»Der Stumpf!« rief er und hob den Spaten, als hielte er ein Gewehr in den Händen. Er führte die kleine Mini-Armee den Hügel hinunter nach Westen, an der Garage vorbei in Richtung des Stumpfes. Sarah würde es auffallen, daß dies nicht die Stelle war, an der er den ganzen Morgen gegraben hatte.

Genau das dachte sie bereits jetzt, überlegte Speke sich, als er den Spaten wie ein Gewehr schulterte, wie eine Streitaxt, wie die erste, urtümlichste Waffe der Menschheitsgeschichte.

11

In dieser Nacht wurde Speke vom schwersten Alptraum heimgesucht, den er je hatte.

Er träumte, er habe jemanden ermordet, einen anderen Mann, jemanden, den er sehr gut kannte, und seine Leiche ganz in der Nähe des Hauses, in dem er lebte, begraben.

Wie bei den meisten Träumen war das alles kaum richtig zu fassen und doch sehr einprägsam, und der Mann, den er tötete, war ihm sehr wohl bekannt, obwohl er sich kaum an ihn erinnern konnte. Selbst die Umstände seines Todes waren unklar – vielleicht hatte er den Mann erwürgt, vielleicht hatte er ihn aber auch aus großer Höhe hinabgestürzt. Es war kaum genau festzustellen.

Was aber sehr lebendig, extrem klar war, das war die Empfindung eines großen Entsetzens. Der Traum war voller gelber und roter Spritzer und durchpulst von Verzweiflung.

Er erwachte keuchend, stöhnend und schwitzend und starrte hinauf in die Dunkelheit. Seine Finger krallten sich zu beiden Seiten in das Laken, und er kämpfte mit Macht gegen den Schlaf an. Aber der Traum ließ ihn nicht los. Er hielt ihn umklammert, bis er sich schließlich aufsetzte.

Welch entsetzlicher Traum, dachte er. Gott sei Dank bin ich wieder wach.

Es war eine Wohltat, sich aus einem Traum dieser Art endlich lösen zu können.

Und dann erinnerte er sich.

Er erstarrte zu Eis. Diesmal bedeutete das Erwachen kein Entkommen aus einem Alptraum.

Neben ihm schlummerte Maria. Er hatte das mehr als sonderbare Empfinden, als sei sie nicht die ganze Zeit an seiner Seite gewesen, sondern als habe sie zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt mitten in der Nacht das Bett verlassen.

Aber jetzt war sie da, und ihr Atem ging gleichmäßig und langsam.

Er streifte sich den Bademantel über und schlurfte durch das dunkle Haus. Jede Wand, die ein wenig schimmerte, haßte er und jeden dunklen Flur nicht weniger.

Er fiel – das war seine Empfindung – immer tiefer, so schnell ein Körper nur fallen konnte, obwohl er genau wußte, daß er aufrecht auf dem stabilen Fußboden stand und eine Hand ausgestreckt hielt, um die Wand zu spüren.

Das war Panik, Attacken reiner Panik, die er vor Beginn der Therapie vor vielen Jahren immer wieder erlebt hatte. Er eilte in sein Arbeitszimmer. Er gierte förmlich nach dem Gewohnten, dem Gefühl, irgendwo zu sein, wo er sich auskannte, irgendwo, wo er gewohnt war zu befehlen. Bei seinem Telefon. Seinen Notizbüchern. Seinem Computer neben dem Schreibtisch.

Die Kristallkaraffe wog schwer in seinen schützenden Händen. Der Scotch plätscherte, als er sich daraus einschenkte, und beim ersten Schluck stöhnte er laut auf. Er trieb ihm Tränen in die Augen. Er trank wieder – in einem langen, tiefen Zug – und ließ sich rückwärts auf seinen Stuhl sinken.

Er hätte gern geweint, aber dies war ein Gefühl, das über Trauer weit hinausging.

Eine Sünde. Er hatte eine Sünde begangen. Er hatte etwas Unverzeihliches getan.

Er blinzelte unter Tränen. Ich werde nie wieder ein normales Leben führen, sagte er sich selbst. Ich werde nie wieder in der Lage sein, zu essen oder zu schlafen oder auch einfach nur spazierenzugehen und die Hügel und die Bäume zu betrachten.

Ich werde nie wieder in der Lage sein, irgend etwas zu tun, weil ich in jeder Sekunde wissen werde.

Und es gibt nichts, das ich dagegen tun könnte. Es ist geschehen. Es dauert fort, auf ewig.

Was alles noch schlimmer machte, das waren die bohrenden Zweifel an seiner ganzen schriftstellerischen Arbeit. Er hatte immer gewußt, daß viele seiner Ideen ihre Wurzeln in seiner Freundschaft zu Asquith hatten. Aber jetzt fing er an, an seinem Können zu zweifeln. Vielleicht waren es allesamt Asquiths Ideen gewesen, was er niedergeschrieben hatte – in jedem Augenblick. Das stimmt natürlich nicht, versuchte er sich selbst zu beruhigen.

Aber er konnte nicht sicher sein – jetzt nicht.

Vielleicht, dachte er, hatte Asquith ja recht gehabt. Vielleicht habe ich ihm wirklich die ganze Zeit schon sein Leben gestohlen, und der letzte große Diebstahl des Mexico-Stücks war ein Verbrechen, das zu groß war, um es zu tolerieren.

Mein Werk, sagte er sich selbst, verläßt mich, und ich kann gar nichts tun, es zurückzurufen.

Schwer zu sagen, was seine Aufmerksamkeit in der Dunkelheit da draußen erregte. Vielleicht war da eine vage Bewegung oder vielleicht hatte er es einfach nur gewußt, es in seinen Knochen gespürt, daß da draußen irgend etwas war. Er wandte sich um und strengte die Augen an, den Mund weit geöffnet und sicher, nichts zu sehen außer der leeren Finsternis.

Dann sah er es.

Irgend etwas schwebte dort draußen. Es war weniger als eine Vision und ein klein wenig mehr als ein bloßer Gedanke. Eine vage Präsenz, ein Klecks, der allmählich vor seinen Augen Gestalt annahm. Ein grauer Schatten verdichtete sich zu einer Gestalt. Die Gestalt war eine Wolke, eine Ansammlung von Rauch. Die Figur aus Rauch trat langsam, betont vorsichtig, als sie sich der eigenen Existenz und der eigenen Kraft nicht sicher, ins Licht.

Ihr Anblick ließ Speke innerlich erstarren. Ließ alles in ihm zu Eis werden. Jede Zelle, jedes Atom an ihm wurde wie Glas.

Der Mann dort draußen starrte Speke an. Starrte Speke direkt in die Augen.

Er mußte geschrien haben. Er mußte die Karaffe fallen gelassen haben. Er mußte an die gegenüberliegende Wand zurückgewichen sein und weiter geschrien haben, denn als Maria an seiner Seite war und ihn anrief, hockte er dicht an der Wand, und der ganze Boden war mit Glas und Scotch übersät und durchtränkt.

Sie legte ihm die Hand über den Mund, und ihre Hand war stark. »Es ist gut, Ham. Bitte, sei still – es ist ja alles in Ordnung.«

»Es war er!«

»Du wirst noch alle im Haus aufwecken. Sie werden dich hören können. Beruhige dich, Ham. Es ist doch alles in Ordnung.«

»Er war es, und er hat mich direkt angesehen. Maria, hör mich an. Er hat da draußen direkt vor meinem Fenster in der Dunkelheit gestanden.«

DRITTER TEIL

BLITZ

12

Sarah war früh auf den Beinen und bürstete sich das Haar.

Sie hatte den Morgen seit je geliebt. Morgens scheint der Tag noch tausend Möglichkeiten zu bergen. Warum dann nicht glauben, er werde süß sein, voller Versprechungen? Sie hatte nicht besonders gut geschlafen, und ihr war es vorgekommen, als seien Pferde, gigantische, nebelhafte Reittiere, die ganze Nacht hindurch über das Dach ihres Blockhauses galoppiert.

Ihr Schlaf war noch von dem Wissen gestört worden, daß gar nicht weit entfernt, jenseits der moosbewachsenen Felsen, Christopher Bell schlief. Das Ende ihres gegenwärtigen Lebensabschnittes war sehr nah. Sie wußte zu viel, auch wenn sie es so lange vor sich selbst zu leugnen versucht hatte.

Bells Anwesenheit berührte sie seltsam. Sie war wie der lange Strich auf einer Violine, ein Klang, der ihren Geist nicht weniger reizte als ihr Fleisch.

Aus irgendeinem Grund, wohl weil sie sehr besorgt gewesen war, war sie letzte Nacht zu seinem Blockhaus geschlichen, um sich zu vergewissern, daß es auch fest verschlossen war.

Dann hatte sie sich selbst in ihr eigenes eingeschlossen. Das tat sie sonst nie. In der Regel kannte sie keine Angst.

Doch in der Nacht, bei ihrem freiwilligen Botengang, war sie sehr schnell gelaufen. Es war jetzt etwas Bedrohliches um Live Oak, als seien die Eichen allesamt einen Schritt näher an das Haus herangetreten und warteten jetzt schweigend ab.

Sie schirmte die Augen mit der Hand gegen das helle Morgenrot ab und amüsierte sich über die eigene Narrheit. Sie hatte diesen Ort immer geliebt. Die großen Eichen waren nicht einfach nur Bäume. Sie waren mit Ästen ausgestattete Monumente, und an so manchem Morgen erschienen Tiere in der Farbe der Hügel bei Sonnenuntergang, rote, goldene Gestalten wie Traumgebilde, die so arglos waren, sie zu beobachten, während sie sich ihnen näherte, bevor sie im Unterholz verschwanden.

Bevor sie dieses Anwesen hier bezogen hatten, hatten sie und Speke wie ein Anwalt und seine Sekretärin in einem Büro in San Francisco gearbeitet. Dieser Ort bedeutete den totalen Frieden für sie, und doch fragte Sarah sich, ob der Umzug gut für Ham gewesen war. Die Eskapaden mit dem Baumstumpf waren geradezu schmerzlich verwirrend gewesen. Sie hatte versucht, das Ganze zu stoppen, soweit sie konnte. Ham hatte allerdings schon immer einen Ruf als ein urwüchsiger Bewohner der Hügel, eine zwar intellektuelle, gleichzeitig aber auch verwegene Gestalt, und in diesem Sinne würde sein Publikum das alles hoffentlich auch aufnehmen. Sarah war nicht sicher. Der Ausdruck seiner Augen hatte sie verunsichert.

Der geradezu fanatische Umgang mit dem Spaten war nicht gespielt gewesen. Er hatte die Kontrolle über sich verloren und war einem Nervenzusammenbruch nahe gewesen.

Sie kehrte in ihr kleines Büro zurück und sah in den Handspiegel, den sie in der Schreibtischschublade aufbewahrte. Er hatte einen Rahmen aus Ebenholz und war eine ihrer wenigen Extravaganzen. Sie bürstete sich das Haar und dachte an Ham in einer Art, die sie sich früher nie erlaubt hatte. Sie hatte Gefühle dieser Art in der Vergangenheit durchaus verspürt, und jedesmal hatte sie sie wieder unterdrückt. Auch jetzt wieder wies Sarah diese Aufwallungen weit von sich, und zwar so schnell, wie sie den Spiegel wieder in ihrer Schreibtischschublade verschwinden ließ. Dies war gewiß ein besonderer Morgen. Sie achtete selten so sehr auf ihr Äußeres. Aber sie konnte die Wahrheit auch nicht leugnen: Ham war mehr als nur eine Karriere für sie, mehr als der Künstler, den sie managte.

Sie gestattete es sich selbst nicht, weiter darüber nachzudenken, was er ihr in Wirklichkeit bedeutete.

In der Küche schob Clara ein Blech mit ihren muffins in den Backofen. Sie war eine stille, dunkelhaarige Frau in einer weißen Uniform, und Sarah hatte längst begriffen, daß sie ebenfalls vieles sah und auch ein wenig enttäuscht war. Sie lebte in einer der am weitesten abgelegenen Blockhütten, noch jenseits von Marias Studio.

»Haben Sie Ham gesehen?«

»Nein, ich habe ihn noch nicht gesehen«, antwortete Clara.

Doch die Art, wie sie es sagte, ließ Sarah von ihrem Kaffee aufsehen, den sie sich gerade einschenkte.

»Aber Sie wissen, wo er ist?«

»Ich denke, er ist schon auf und unternimmt einen Spaziergang.« Clara gehörte zu den selten gewordenen Menschen, die genauso freundlich und umgänglich sind, wie sie scheinen. So mancher machte den Fehler, sie einfach zu übersehen, aber Sarah wußte, daß sie alles hörte und sah, was von Bedeutung war.

Gut. Ein stiller Spaziergang war wohl wirklich das, was Ham brauchte. »Er hat unter großem Druck gestanden«, sagte Sarah.

»Ich glaube, das ist noch immer der Fall.«

Diese Worte trafen Sarah mit der Wucht eines Bulletins, dem man einfach Glauben schenken mußte. Mit solchen Dingen hatte Clara meistens recht. Warum eigentlich hatte sie, Sarah, erwartet, dieser Tag werde einen neuen, friedvolleren Hamilton bringen?

Die Tiere warteten bereits auf ihre gewohnte Morgengabe.

Die Eichhörnchen tollten über den Rasen und hielten inne, um Sarah zu beobachten und zu sehen, wie sie die Brotkrumen über den ganzen Rasen streute. Sie tat etwas, wovon sie wußte, daß es alles andere als weise war. Sie wußte, daß sie in ihr Büro gehen und sich mit Hamiltons Korrespondenz beschäftigen sollte. Ein paar Musiker hatten ihm Tonbänder geschickt, die mit einem freundlichen Dankschreiben zurückgesandt werden mußten. Er erhielt täglich Dutzende von Briefen und Manuskripten zu irgendwelchen Theaterstücken, und er beantwortete sie alle – oder sie tat es.

Doch als sie so da stand und die letzten Krümelchen ausstreute, entschied sie sich, etwas zu tun, was sie sich ausgesprochen unbehaglich fühlen ließ.

Sie machte sich auf, ihn zu suchen.

Folge ihm nicht, warnte sie sich selbst. Bleib, wo du bist, und füttere die Spatzen.

Die Sonne brannte heiß vom Himmel, und das Flirren der Luft trieb sie durch das Licht hinein in die Schatten der Bäume. Insekten summten, und Finken schossen wie Blitze durch das hochstehende Gras. Lorbeerbäume in dem ausgetrockneten Flußbett erfüllten die Luft mit ihrem süßen Duft.

Sie wollte nur eines wissen, und dann würde sie ihren Frieden wiedergefunden haben. Sie mußte sicher sein, daß Asquith gegangen war.

Dieser Mann, dieses Rätsel aus Hams frühen Tagen als Schriftsteller, hatte einige Macht über ihn. Er bedeutete Ärger, und er gehörte schlicht nicht hierher. Sie konnte sich des Gefühls nicht erwehren, daß dieser Mann nicht nur ein Rätsel, sondern eine echte Gefahr bedeutete.

Sei sehr vorsichtig, sagte sie sich selbst. Hab keine Angst, aber mach auch keine Fehler.

Das Außenbüro schimmerte als weißer Bungalow durchs Geäst. Das Sonnenlicht brach sich tausendfach im Gezweig einer uralten Eiche. Als sie so dort in der Morgenstille stand, war sie überzeugt, sich geirrt zu haben. Nirgendwo war ein Motorrad zu sehen. Irgendwann am Abend oder in der Nacht mußte Asquith wieder weggefahren sein.

Ihre Fingerspitzen zitterten vor Erleichterung. Sie fühlte keine fremde Präsenz. Alles war, wie es sein mußte.

Doch dann wußte sie, daß dem nicht so war. Ein Blatt raschelte. Ein Zweig bewegte sich, aber es ging kein Wind.

Unter den Bäumen in der Nähe erklang ein anderes Geräusch.

Vogelgezwitscher war aus der Richtung zu hören, wo jemand ganz in der Nähe stehen mußte, und von dort her kam auch das kaum wahrnehmbare Geräusch eines Menschen, der ganz still da stand und den Atem anhielt.

Speke hatte darauf bestanden, im Büro zu bleiben und Maria zu helfen, die Glassplitter vom Boden aufzusammeln. Er hatte immer gedacht, eine solche Kristallkaraffe habe eine gewisse Stabilität, doch er wußte, daß das hohe Singen in seinen Ohren, das Rauschen des Blutes durch sein Gehirn die Karaffe zerstört hatten, nicht der Fall.

Sobald es einigermaßen hell war und sich das erste Blau der Morgendämmerung zeigte, das alles in sein unwirkliches Licht tauchte, Gras, Bäume und Himmel, stieg er in seine Kleider und sah aus, so hoffte er jedenfalls, wie ein Mann, der sich für seinen Morgenspaziergang fertig macht.

»Sei vorsichtig«, sagte Maria, und der Tonfall ihrer Stimme begleitete ihn noch lange danach. Jetzt war er endgültig überzeugt: Sie hatte ihn letzte Nacht verlassen, in den Stunden vor seinem Alptraum.

Er stahl sich vom Haus fort und wagte kaum zu atmen, bis er in den Schatten der Bäume eintauchte. Doch dort blieb er unbeweglich stehen. Am liebsten wäre er nicht einen Schritt weitergegangen.

So zögerte er, bis er endlich den Weg entlangging, an dessen Ende das Mauseloch lag, wo er das einzige Geschenk für die Tiere des Waldes niederlegte, das er heute morgen bei sich trug, ein paar Krümel aus einer leeren Tüte gebrannter Erdnüsse.

Es war ein neuer Morgen, sanfter Tau hatte jedes Blatt überzogen, die Brombeeren wie die Haselnüsse und den Farn in den Felsspalten, wo es stets, selbst jetzt im Sommer, einen kleinen Rest von Feuchtigkeit gab.

Doch das alles war jetzt von ihm getrennt wie die Zweige und das Moos eines Dioramas, eingeschlossen hinter Glas und getrennt von dem Leben, das er jetzt führte. Er zögerte und ließ die Zeit verstreichen, denn er war nicht auf einem einfachen Morgenspaziergang. Er war auf Erkundungsfahrt, um herauszufinden, ob Asquiths Grab noch unberührt war.

Tote können nicht aufstehen und erneut umhergehen, sagte er sich selbst. Vielleicht gab es ein Leben nach dem Tod, vielleicht auch nicht. Er war nicht sicher, was er glauben sollte.

Aber die Erscheinung, die er letzte Nacht gesehen hatte, war entweder eine Halluzination gewesen oder aber ein wirklicher, lebender Mensch.

Er wünschte sich, Asquith wäre noch am Leben. Aber der Gedanke an einen lebenden, tobenden Asquith irgendwo in den ausgetrockneten Bachläufen unter den Lorbeerbäumen machte ihm angst.

Die Ärzte hatten ihn gewarnt, seine Nerven würden ihn noch einmal umbringen, wenn er nicht anfinge, ruhiger zu werden.

Sie müssen Ihr Leben ändern, hatte ein jeder ihm geraten, jeder Spezialist, jeder lächelnde Therapeut.

Er folgte einem Wildwechsel entlang einer Rinne aus Basalt, in der einst ein Bach geflossen sein mochte, hin zu einem seiner Lieblingsplätze, dem Ort, an dem die Indianer gelebt hatten.

Geh zurück. Du bist ein Feigling.

Als Junge hatte er mit Freunden Krieg gespielt, und sie hatten sich abwechselnd gegenseitig totgeschossen. Er hatte sich immer viel auf seine Fähigkeit zugute gehalten, möglichst glaubwürdig hinzufallen und ›ganz echt‹ mit offenen Augen dazuliegen und dabei auch noch ein bißchen Speichel aus dem Mundwinkel fließen zu lassen. Seine Freunde waren davon jedesmal beeindruckt gewesen.

Geh zurück, Hamilton! Du hast doch Angst vor dem, was du zu sehen bekommen wirst.

Die Ohlonen, ein Indianerstamm, hatten hier ihre Eicheln gemahlen. In den Felsen waren noch ihre einstigen Höhlen auszumachen, die jetzt dunkel vom schwarzen Moos waren.

Hamilton kam oft hierher, um in der Gesellschaft von etwas Althergebrachtem, geistig Gesundem zu sein. Die Indianer hatten die Eicheln dieser Bäume zu einem so sauren Mehl vermählen, daß es in heißem Wasser hatte ausgelaugt werden müssen, bevor es genießbar wurde. Und doch hatte das Land sie ernährt. Eine intakte Kultur, eine Nation voller Vertrauen und voller Lieder hatte hier einst gelebt.

Wieder zögerte er. Er mußte mehr Angst haben, als er vor sich selbst zugeben mochte. Er eilte zurück. Nein, er war kein Feigling. Jetzt nicht. Dem alten Ham mochte vielleicht übel werden, nicht aber dem neuen, dem Killer Ham. Er war zu allem fähig.

Er blieb stehen. Dies war die Stelle. Ein Irrtum war ausgeschlossen. Mit lose herunterhängenden, kraftlosen Armen stand er da, während das Blut aus seinem Kopf wich, so daß die ganze Szenerie ringsum grau in grau erschien.

Das Grab war unversehrt. Die flachen Steine, die er in das Erdreich gedrückt hatte, waren alle noch da. Auf den Felsen ringsum waren keinerlei Fußspuren zurückgeblieben, und er stand da und blickte auf einen Rastplatz in totalem Frieden. Es gab keinerlei Anzeichen, daß auch nur ein Stinktier in den letzten hundert Jahren hier vorbeigekommen wäre.

Der Stein war nicht von der Grabstätte weggerollt worden.

Lazarus hatte sich nicht geregt. War nicht die Auferstehung alles in allem gesehen etwas Unflätiges, etwas, das niemals jemand zu sehen wünschte? Was immer da vor mir erschienen ist, dachte Speke, es war nicht real, es war nicht Asquith gewesen.

Hamilton lächelte unwillkürlich. Es war kein sehr angenehmes Gefühl zu wissen, daß man entweder drauf und dran war, dem Wahnsinn anheimzufallen oder Besuch von einer Art Racheengel zu bekommen.

Wie schwer das Motorrad war, wenn es nicht von seinem Motor angetrieben wurde. Und groß – es war ein schwergewichtiges Ungetüm, das Skelett einer eisernen, fremdartigen Rasse. Der Helm baumelte von einem der Handgriffe herunter, als Speke die Maschine über das Laub rollte. Die Räder drehten sich nahezu geräuschlos, aber nicht ganz ohne Widerstand. Das Ding wollte sich nicht bewegen.

Er balancierte es an den Rand eines ausgetrockneten Bachlaufs, der auf seinem Grund mit Farnen, Eichen und Giftsumach bestanden war. Die Räder drehten sich nicht mehr, das Vorderrad blockte, und als Hamilton der Maschine einen Stoß gab, wäre sie beinahe umgefallen, sie wankte einen Moment lang, blieb aber, wo sie war. Dann endlich senkte sie sich nach vorn und rollte schlingernd und sich überschlagend hinunter. Es gab dumpfe Geräusche, Staub stieg hoch, der Ständer knickte ab. Das Motorrad verschwand im hohen Farn.

Er holte tief Luft. Gestern war er sprunghaft, unsicher gewesen, heute dagegen fühlte er sich schlapp, steif und emotional ausgelaugt. In den letzten Jahren hatte er immer wieder Anfälle von Panik überstehen müssen, er hatte ein Krebsgeschwür ausgeheilt und immer wieder unter Migräne gelitten

all die physischen Nebenerscheinungen

durchschlagenden persönlichen Erfolgs. Doch bei allem Streß, unter dem er im Augenblick stand, und trotz seiner Schwäche glaubte er nicht, etwa ein Kandidat für die Zwangsjacke zu sein.

Er kehrte zum Grab zurück. Er hatte in der Vergangenheit allenfalls einmal ein leichtes Beruhigungsmittel genommen, wenn überhaupt, um einmal ein wenig zur Ruhe zu kommen.

Ein nervliches Wrack, ja. Ein Psychopath, nein.

Zu anderen, normalen Zeiten wäre dies beruhigend gewesen, aber er sah sich der Möglichkeit gegenüber, von nun an von etwas Undenkbarem verfolgt zu werden.

Gute Neuigkeiten, Ham. Du hast keine Halluzinationen. Die schlechte Nachricht ist – in deinem Haus spukt es.

Ich werde Maria fragen, was zu tun ist. Ich danke Gott für ihre Hilfe.

Die Erinnerung war eine Tortour, die Erinnerung an jenen Sonnenaufgang in Cozumel, als die Sonne über der See zu explodieren schien und der kalkweiße Strand mit lauter kleinen Fröschen übersät war. Das war der Morgen gewesen, jener winzige Augenblick, in dem ihre Freundschaft sich veränderte.

Sich in ihr Gegenteil verkehrte. Starb. Er erinnerte sich an die Frösche, ein jeder viel zu klein, um noch real sein zu können.

Waren sie real gewesen? Vielleicht waren sie nur eine weitere Halluzination gewesen.

Das waren die Tage der schwarzen Katze gewesen, die Tage, die er nicht in ein Theaterspiel umzusetzen verstanden hatte, die Tage, die Asquith als sein Eigentum reklamiert hatte.

Hamilton hielt den Atem an. Da war das Flüstern eines Schritts und das laute Rascheln eines Blattes. Er kauerte sich neben das Grab und lauschte. Irgendwie hatte er nie erwartet, Geister könnten auch bei Tageslicht auf Erden wandeln, aber das Leben hatte ja immer wieder neue Überraschungen bereit gehalten.

Wenn doch nur seine Beine nicht so jämmerlich zittern würden.

Das Geräusch eines weiteren Schritts erklang – von einem kleinen Fuß, der ein Steinchen beiseite stieß.

Hamilton kroch in die Büsche, wobei er sorgsam die grünen dornenbewehrten Blätter des Giftsumachs mied. Dies war kein Geist, sagte er sich selbst. Dies war eine lebende menschliche Gestalt mit warmem Blut. Er konnte sehen, wie sich der Busch bewegte, als sie vorbeiging, denn er konnte spüren, daß es sich um ein weibliches Wesen handelte, und er spürte noch mehr, als er sich erhob, um sich ihr entgegenzustellen.

Wer, glaubte sie, war sie, daß sie in dieser Art herumschnüffeln konnte? Er hatte ihr schon zu lange vertraut.

Dem würde er jetzt ein Ende machen. Aber er brauchte sie, das wußte er. Und er bewunderte sie. Er würde es ihr einfach nur erklären.

Aber als er durch das Buschwerk brach, war niemand da.

Eine Gestalt verschwand gerade auf dem Weg, und er holte schon Luft, um ihr nachzurufen.

Doch dann hielt er inne. Vielleicht war es jemand anderes gewesen. Großer Gott, warum nur zitterte er so?

Zum erstenmal in seinem Leben war der Wald für ihn nicht nur ein freundlicher Ort. Er fühlte sich von ihm beobachtet aus vielen kleinen Augen überall in den Zweigen, von kleinen geschnäbelten, lauten Lebewesen, von den kleinen Nagern unter dem Waldboden, der ganzen Masse lebenden Getiers um ihn herum, die ihn kannte und keinerlei Liebe für ihn bereit hielt.

»Sarah!« rief er.

Sie hatte das Grab gesehen. Sie hatte ihn gesehen, wie Hamilton dagestanden und darauf hinabgesehen hatte, und sie wußte, was es war.

13

Die Sonne verschwand hinter einer Wolkenwand, und Brothers verbrannte die Bougainvillea. Die giftigen, goldgelben Blüten tanzten in den goldenen Flammen, und die Luft war schwer vom Geruch der Feuchtigkeit, die bis vor wenigen Augenblicken noch pures Lebenselixier für die Pflanzen gewesen war.

Als das Feuer lange genug gebrannt hatte, hielt Speke den Schlauch über die brennenden Zweige. Sofort wurde der Qualm zu weißlichem Dampf, und Brothers harkte die Asche zusammen.

Ich werde mich auf Maria verlassen, dachte Speke. Ich werde tun, was sie sagt.

Was ihn mehr als alles andere beeindruckte, war seine Fähigkeit, wenigstens für Minuten zu vergessen, was um ihn herum vorging. Er verfügte über ein Konzentrationsvermögen, das fast schon an Selbsthypnose grenzte. Er konnte hier im Licht des frühen Morgens stehen und mit Brothers über Gott und die Welt plaudern, als sei nie jemand gestorben, nirgendwo auf dieser Welt.

Vielleicht hatte er diese Fähigkeit geerbt. Sein Vater war ebenfalls in der Lage gewesen, einfach alles um ihn herum zu ignorieren. »Eine der Rückzugsmöglichkeiten für den Geist«, hatte sein Vater gesagt und sich die Hände mit einem Taschentuch abgewischt, »besteht darin, die Umgebung einfach zu vergessen und manchmal auch die Leute in der näheren Umgebung. Du mußt ignorieren, was sie sagen, vielleicht sogar, was sie fühlen, und einfach nur deine Arbeit tun.«

Er war Erfinder gewesen, und es konnte durchaus passieren, daß er an seiner Werkbank stand, während neben ihm der Lötkolben ein Handtuch in Flammen setzte, bis dann daraus das schönste Feuer entstand. Die Feuerwehr war dreimal zu Gerald Spekes Garage ausgerückt, und jedesmal hatte sie ihren Besuch mit einer Unterweisung im Gebrauch des Handfeuerlöschers verbunden. Die großen Männer in den Asbestanzügen hatten sich jedesmal gleichermaßen liebenswürdig wie herablassend gegeben. Die Feuerwehrleute hatten Gerald Speke stets als brillanten Exzentriker angesehen, und nach der sturen Meßlatte, die so viele Leute bei der Beurteilung anderer anlegen, stuften sie ihn als geradezu gefährlich unpraktisch veranlagt ein.

Gerald Speke hatte zwei Söhne allein großgezogen, nachdem seine Frau bei einer Fehlgeburt gestorben war. Sie war schon verschieden, noch bevor sie sich sonderlich in das Bewußtsein der beiden Jungen hatte einprägen können. Art, der ältere der beiden, hielt gegenüber seinem jüngeren Bruder mit seinen vagen Erinnerungen an sie immer zurück, bis Ham irgend etwas für ihn erledigt hatte – den Müll hinaustragen oder Art das Bett zu machen – und erst dann sagte er wohl einmal: »Sie war groß.« Oder: »Sie hatte dunkle Haare.« Ihr beider Vater, das wußten die Jungen, trauerte viel zu sehr um sie, um sich mit ihnen über sie zu unterhalten oder auch nur ein Foto von ihr aufzustellen.

Gerald Speke starb bei einem Flugzeugunglück, als er mit seiner Piper über den Mount San Gorgonio fliegen wollte.

Ham war damals schon nach einigen vergeblichen Versuchen, einen College-Abschluß zu schaffen, von zu Hause fort und nach San Francisco gegangen, und Art war zu dem immer unzufriedenen Mann herangewachsen, der er bis heute geblieben war: Der Erfinder hatte ein wenig Geld hinterlassen dank einer Reihe von Verbesserungsvorschlägen für einstellbare Naßrasierer, die er an Gilette verkauft hatte, und einem chemischen System für die Reinigung von Kontaktlinsen, das jetzt zwar überholt war, seinerzeit aber viel Geld eingebracht hatte. Ham war daher durchaus in der Lage, mit seinem Anteil am Erbe zu leben, oft genug sogar auf großem Fuß, wenn man die Unmengen von Alkohol in Betracht zog, die er konsumierte, und Art hatte seine Ausbildung abgeschlossen. Speke erhielt noch immer einen Drei-Monats-Scheck von der Stiftung seines Vaters, die von einer Bank in Santa Monica verwaltet wurde. Selbst ohne seine goldenen und Platin-Platten und die Einkünfte von den Aufführungen der Stücke, die er geschrieben hatte, hätte er noch immer recht komfortabel leben können.

Aber Speke hatte mehr gewollt als nur Komfort. Er hatte stets darum gekämpft, etwas Sinnvolles mit seinem Leben anzufangen, er wollte etwas Großes schaffen, etwas, worauf ein Junge mit einer trüben Vorstadt-Vergangenheit stolz sein konnte. Er wollte sich einen Namen machen. Sein Vater hätte sein brennendes Verlangen verstanden. Zu den Dingen, die er am meisten in seinem Leben bedauerte, gehörte der Umstand, daß er seinem Vater Live Oak nicht mehr hatte zeigen können.

Sein Vater hätte es geliebt, sagte Speke sich selbst, und er wäre stolz auf seinen jüngeren Sohn gewesen. Er hatte ja nicht mehr lange genug gelebt, um den Namen Hamilton Speke auf einem Plattencover oder im TV Guide zu lesen.

»Ich glaube, wir haben ein Verhältnis von etwa zwanzig Böcken zu hundert Muttertieren.« Mr. Brothers hatte ein zerfurchtes, wettergebräuntes Gesicht und befleißigte sich stets einer lakonischen Sprechweise, die ihm wohl noch Kommentare zu Sport, Wetter und über den Wildbestand erlaubte, aber alles darüber Hinausgehende ausschloß. »Das dürfte normal sein für die Küstenregion, würde ich sagen.«

Das war Brothers’ übliche Phrase. Er sagte nicht, was er wirklich dachte, sondern was er denken würde, wenn er sich wirklich genötigt sähe, eine Meinung zu äußern.

Brothers rollte einen langen, grünen Schlauch aus und gestattete sich noch einige Bemerkungen über den Wildbestand im allgemeinen. »Gerade jetzt zeigt das Rotwild Anzeichen von Schwäche. Die Eicheln sind alle weggefressen.«

Plötzlich war es mit Spekes Konzentration zu Ende, und er war wieder wie Eis.

Es ist real. Es ist geschehen. Dieser Tag, diese solide Welt und ihr ganzer Frieden, alles ist nur eine Illusion.

Und dieser Mann, dieser runzelige Gärtner, war eine Bedrohung, genau wie jedes andere menschliche Wesen eine Bedrohung war. Brothers’ Geist war keineswegs auf ganz bestimmte Kategorien beschränkt, nur seine Gesprächsthemen.

Das Anwesen erstreckte sich über mehrere Meilen nach allen Seiten, doch der größte Teil davon war undurchdringliche Eichenwildnis. Brothers konnte erfühlen, daß es eine Störung im Schoß der Erde dieses Anwesens gab, die letzte Woche noch nicht dagewesen war.

»Ein paar Jahre bevor Sie hierhergezogen sind, gab es einen Zwischenfall mit einem Jäger«, sagte Brothers ganz nebenbei.

»Hab’ sein Gewehr irgendwo im Süden hören können. Eine Kugel verirrte sich bis in die Einfahrt.«

Der Gedanke nagte an Speke auf seinem ganzen Weg ins Haus zurück. Die Kugel eines Jägers konnte bis in sein Leben dringen, sogar bis in sein Refugium.

Maria trocknete sich das Haar. Sie wirkte blasser und jünger denn je, und Hamilton wußte nicht, ob er sie trösten oder selbst Kraft schöpfen solle aus ihrer offensichtlichen Gelassenheit.

»Ich denke«, sagte er, während er sich auf das Bett setzte,

»daß die Leute hier bald merken werden, was passiert ist.«

»Wie denn?« Sie ließ die Bürste sinken und sah ihn an. »Was sollte sich denn verändert haben?«

»Die Höhle.« Er verbesserte sich selbst. »Das Grab.

Vielleicht sollte ich das Motorrad auch noch vergraben.«

»Man kann nichts mehr von ihm sehen. Ich habe mich selbst überzeugt.«

Der Gedanke, daß Maria seine Arbeit begutachtet und für einwandfrei befunden hatte, tat ihm gut.

»Sie werden auch nie drauf kommen«, sagte sie, »vor allem, wenn wir uns von den entsprechenden Stellen fernhalten.«

Sarah hat mich aber gesehen, dachte Speke.

Maria berührte ihn leicht an der Wange. »Mach dir keine Gedanken, Ham. Es ist doch alles vorbei. Du wirst nie mehr Scherereien haben. Versuch doch, dich zu entspannen.«

Er schöpfte neue Kraft aus ihrer Berührung. Aber er sah auch, in welch hohem Maße Maria genauso war wie andere Frauen auch – so viele Frauen, die er einmal geliebt hatte. Er war in der Vergangenheit oft in heißen Leidenschaften für einen ganz bestimmten Frauentyp entbrannt, der Typ der Künstlerin, der Geheimnisumwitterten, und diese Leidenschaft hatte sich immer dann zu verflüchtigen begonnen, wenn erst das Geheimnisvolle an seiner jeweiligen Gespielin verflogen war.

»Ich weiß genau, was ich tue«, sagte sie. Und doch lag etwas Krampfhaftes in der Art, wie sie es sagte. Sie war verschlossen, es war aussichtslos, etwas in ihr lesen zu wollen.

Es war ihm nie gelungen, sie in ein Gespräch über sie selbst zu ziehen, über ihre Vergangenheit. »Ich will nur die Zukunft –

und dich«, pflegte sie dann zu sagen. Seine Frau war ein lyrisches Rätsel. Er würde sie wohl nie verstehen, dachte er, genausowenig, wie er die Gravitation oder die Natur des Elektrons je würde verstehen können.

»Es wird nicht funktionieren«, sagte er, bevor er sich seine Antwort noch recht überlegt hatte.

Sie nahm ihn mit einem einzigen Blick gefangen und tat seine Worte mit einem scharfen Schnauben ab, das ihre Nasenflügel beben ließ. Was ihn plötzlich kalt werden ließ, war der leichte Spott und Hohn, der darin zum Ausdruck kam.

Einen Augenblick lang hatte sie wie Asquith geklungen.

»Du hast nicht das geringste Vertrauen«, sagte sie.

»Natürlich habe ich Vertrauen«, begann er zu protestieren.

»In mich«, sagte sie.

Er konnte nichts erwidern.

»Wenn die Welt entdecken sollte, was du getan hast«, sagte sie mit sanfter Stimme, als rezitiere sie romantische Verse,

»dann würde ich das nicht überleben können.«

Er faßte nach ihrer Hand, und nach langem Zögern sagte er:

»Ich glaube, Sarah weiß etwas.« Seltsam genug, die Person, der er immer am meisten vertraut hatte, Sarah, war jetzt zu einer Bedrohung geworden.

Maria faltete ihr Handtuch zusammen. »Ich würde mir um Sarah nicht allzu viele Gedanken machen«, sagte sie in einem so harten Tonfall, wie er ihn noch nie von ihr vernommen hatte. »Ich werde mit Sarah schon fertig.«

Sein Vater hatte sich in seine Arbeit vergraben. Arbeit war, und das hatte sein Vater nicht erst zu erklären brauchen, das beste Heilmittel gegen Kummer. Ergo, versprach Speke sich selbst, werde ich hart arbeiten.

Er würde hart an seiner Biographie arbeiten. Genauso entschlossen war er, nicht mehr mit Sarah zu reden. Sie könnte eine mehr als unangenehme Frage stellen, oder, was noch schlimmer wäre, er könnte ungefragt eine noch ärgere Lüge von sich geben. Er bat, ihm die morgendlichen muffins in seinem Büro zu servieren, und ging noch einmal die Einzelheiten durch, die er mit Bell besprechen wollte.

Er studierte die Liste seiner Lieblingsfilme. Es gab so viele Filme, die er liebte und immer wieder sehen wollte, daß die Liste vier Seiten umfaßte. Sein Biograph würde das sicher faszinierend finden. Dann war da auch noch die Liste seiner Lieblingsmusiker. Er fügte noch John Lee Hooker hinzu, strich ihn dann aber wieder von der Liste.

Die Gegensprechanlage ließ immer ein kaum vernehmliches Klicken hören, bevor die Stimme vom anderen Ende erklang.

Genau dieses Geräusch erklang in diesem Moment, aber danach folgte ein langes Schweigen.

Ein langes Schweigen, unter dessen Eindruck Speke der Kragen zu eng wurde. War Sarah etwa dabei, ihn zu belauschen?

»Da ist jemand von der Polizei«, sagte Sarah mit ihrer kühlsten Stimme.

Das war ja unheimlich, einfach wundersam. Er umklammerte die Tischkante. Sarah hatte sie gerufen, sagte eine Stimme in ihm. Das war ihr Werk.

Aber noch, sagte er sich selbst, gab es keinen Grund, die Nerven zu verlieren. Bleib ruhig. Er preßte einen Finger auf den letzten noch verbliebenen muffin- Krümel und leckte sich die Fingerkuppe ab. Dann rieb er sich die Hände und schob das Tablett über den Schreibtisch. Im Zimmer roch es noch immer nach Scotch, obwohl der Hauch des frühen Morgens durch die geöffneten Fenster hereinwehte.

Sarah wartete auf seine Antwort. Ich bin absolut cool, sagte er sich. Räuspere dich, lehn dich in deinem Stuhl zurück und frag, ob er angemeldet ist.

»Ham? Haben Sie gehört?« klang es aus der Sprechanlage.

Er könnte aus dem Fenster springen und aus dem Büro fliehen, hinüber zur Garage, den Jaguar herausholen und Richtung Highway preschen, noch bevor Sarah und der Cop überhaupt begriffen hatten, daß er weg war. Aber das war ein schlechter Plan. Und er konnte einen Cop nicht gut allein auf seinem Grund und Boden lassen. Er könnte herumstöbern. Er wußte, wie sie es machten. Sie stocherten mit langen Stäben in der Erde herum und schnüffelten dann an dem Ende, das im Boden gesteckt hatte.

»Ham?«

»Alles in Ordnung, Sarah. Ich war nur mitten in einem Gedankengang. Dieses muffin ist einfach großartig. Hat er denn gesagt, worum es geht?«

Die Sprechanlage verstummte. Im nächsten Augenblick war sie wieder da. »Er sagt, er müsse dich wirklich persönlich sprechen.« Ihr Tonfall klang wie: Er hört jedes Wort mit.

Die Neuigkeiten wurden immer besser. Fein. Das war’s dann ja wohl. Wie regelte er das jetzt? A la Jimmy Cagney?

Humphrey Bogart? Eine Schießerei wäre wohl nicht der rechte Weg, seine Karriere zu beenden, auch wenn Bell das vielleicht ausgesprochen romantisch gestalten könnte. Es könnte zur Vorlage für das vorletzte Kapitel der Biographie werden.

›Spekes letzter Kampf.‹ Aber er hatte ja sowieso keinen Revolver. Er haßte Schußwaffen.

Das war das Ende. Vielleicht hatte Sarah sie nicht gerufen.

Vielleicht hatte ja auch Asquith eine Notiz hinterlassen. Etwas in der Art wie: ›Wenn ich bis Mitternacht nicht zurück bin, dann ruf die Polizei.‹ Denn es war ja erst der erste Tag, und schon schwärmten Polizisten aus.

Hamilton stemmte sich hoch und spreizte die Beine wie ein Mann, der sich zum Kampf mit Schwert und Schild bereit macht.

Mach es ihnen nicht so leicht, dachte er. Laß sie dich hier mit Gewalt herausholen müssen.

14

Der Polizist war grauhaarig, aber jugendlich, einer von diesen gepflegten, kleinen Männern, in deren Gesellschaft Speke sich immer sehr wohl gefühlt hatte. Eine hellrote Krawatte verlieh ihm im Verein mit den schwarzen italienischen Halbschuhen ein ausgesprochen sportliches Äußeres. Er hätte ein stellvertretender Filmproduzent sein können, wäre da nicht der eine braune Zahn gewesen.

Speke warf einen Blick auf die Visitenkarte und ließ auch noch die Finger über die Buchstaben laufen, weil er sich plötzlich wie ein Legastheniker vorkam: Franklin Holub, Detective, Polizei der Stadt San Francisco.

Er atmete tief durch und hoffte, irgendwie, Holub werde es nicht weiter auffallen. Okay, dachte er. Jedenfalls fehlte das Wort ›Mordkommission‹. Also mal keine Panik. Eine Untersuchung war unausweichlich. Bleib ruhig. Lächle nicht zuviel.

Die Dinge entwickelten sich schnell. Es waren weniger als vierundzwanzig Stunden vergangen, seit er Asquith – seit dem Unfall. Auch eine Romanze kann sich sehr schnell entwickeln.

Er hatte Maria in einer Galerie getroffen. So ganz zufällig war es allerdings nicht passiert. Er hatte eine telefonische Einladung angenommen, sich eine Sammlung von Aquarellen anzusehen, die die Künstlerin Maria Merriam ihm, Hamilton Speke, gewidmet hatte. Maria Merriam war die Entdeckung der Saison gewesen. Daher hatte er auch nach der Vernissage nicht nur aus purer Neugier eine Einladung zu einem Drink angenommen, und eine Woche später war er mit ihr verheiratet. Es war schnell gegangen. Sehr schnell. Und hatte glücklich geendet. Vielleicht würde das hier ja auch glücklich ausgehen.

Natürlich, sagte er sich selbst. Alles wird gut sein. Aber dieser Mann hatte klare, dunkle Augen. Er setzte sich, als gehöre ihm der Stuhl, und holte ein Notizbuch mit gelben Blättern aus einer kunstledernen Brieftasche.

»Sie sind ein wenig außerhalb ihres normalen Territoriums«, sagte Speke. Fast hätte er gesagt ›außerhalb ihres Gerichtsbezirks‹, aber das hätte ihm zu sehr nach Anklage, Staatsanwaltschaft und Gefängnis geklungen.

»Es ist ein schöner Morgen für eine Spazierfahrt.« Dieser Versuch, sich beliebt zu machen, war fast noch schlimmer.

Dieser Mann ähnelte doch sehr einem rücksichtsvollen Henker.

»Ich denke, für uns ist der County Sheriff von San Mateo zuständig, wenn wir es einmal mit einem Einbrecher zu tun bekommen.«

In Wirklichkeit, erinnerte Speke sich, hatten sie es hier in Oak Live noch nie mit einem Einbrecher zu tun gehabt. Es hatte überhaupt noch nie irgendwelchen Ärger gegeben. »Ich habe Sie bei der Verleihung der Academic Awards gesehen«, sagte Holub.

»Oh!«

»Zu schade, daß Sie nicht den ersten Preis bekommen haben.«

Das stimmte, dachte Speke. Zu schade. Er sagte nichts, sondern setzte statt dessen lieber sein – wie er hoffte –

männlichstes Lächeln auf, eines von jener Art, die noch immer ihren Zweck erfüllt hatten.

»Ich bin hier, um Ihnen ein paar Fragen über Timothy Asquith zu stellen.«

Hoffnung, dieses zerbrechliche Wesen, brach zusammen.

Speke rang schwer nach Atem.

Holub redete weiter. Er wolle schnell machen, sagte er, um Speke nicht mehr von seiner kostbaren Zeit zu stehlen, als unbedingt nötig sei, und dabei nahm er bereits seinen Füllfederhalter zur Hand. »Ich hoffe nur, ich bin Ihnen nicht allzu lästig.«

Speke starrte ihn an und öffnete den Mund. »Ich spreche gern über Timothy Asquith.«

»Sie kennen ihn.« Es war eine Feststellung, keine Frage.

Die englische Sprache entschlüpfte ins Unendliche und war in keiner Weise mehr zu kontrollieren. »Sicher. Ein brillanter Bursche.«

»Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?«

Ein Zittern durchlief Spekes ganze Gestalt. »Das ist schon Jahre her, viele Jahre. Warum? Worum geht es denn? Es ist doch hoffentlich nichts Ernstes? Ich frage Sie nicht gern. Ich meine, ich sitze und spreche mit einem – Sie sind doch Detective?«

»Richtig.«

Holub war schlank mit muskulösen Armen unter seinem taillierten Hemd. Speke beschloß, kühn zu sein. »Gerade jetzt arbeite ich an einem Buch. Meiner Biographie. Keine Autobiographie. Eine offizielle Vita.« Speke war von der eigenen Gewandtheit überrascht. »Das ist ein gar nicht so einfaches Unterfangen.«

Holub machte sich Notizen. Was schrieb er da nur nieder?

»Keine Autobiographie?« Speke war nah am ersten Herzinfarkt oder einem Kreislaufkollaps oder schlicht kurz davor zu explodieren. Mühsam rang er um Beherrschung.

»Was ich Ihnen zu sagen versuche, ist«, fuhr Speke fort, »daß ich Ihnen gern helfen würde. Aber meine Zeit ist arg knapp bemessen.«

»Wir nehmen an, Asquith hat in den letzten Monaten in San Francisco gelebt.« Holub spielte mit dem Füllhalter und sah Speke dabei an, daß diesem kalt bis ins Mark wurde. Er räusperte sich. »Das wußte ich nicht. Ich dachte immer, er lebte irgendwo im Osten. Nun, um es genauer zu sagen, ich war eher davon überzeugt, daß er entweder tot oder in einem Sanatorium ist.«

»Tot?«

Weiterreden, befahl Speke sich selbst. »Er war drogenabhängig. Sehr stark sogar. Ich erwarte eigentlich nicht, ihn je wiederzusehen.« Das war die Wahrheit, und es klang wie die Wahrheit.

Irgend etwas erlosch in Holub, etwas wie Skepsis. Vielleicht lag es an Spekes angenehmem, berühmtem Lächeln. Vielleicht lag es an der deutlichen Aufrichtigkeit in seiner Stimme.

»Asquith ist – nun ja, mit dem Gesetz in Konflikt gekommen.

Dabei ist auch Ihr Name aufgetaucht.«

Das war nicht so informativ, wie es zunächst klang. »Mit dem Gesetz in Konflikt gekommen?« echote er. Speke gefiel diese Phrase, aber er fand, sie lasse doch zu wünschen übrig.

»Ich habe ihn seit fünfzehn Jahren nicht mehr gesehen.«

»Er war immer wieder wegen seines Geisteszustands in Behandlung, aber etliche Leute, mit denen wir gesprochen haben, fanden ihn eigentlich ganz vernünftig.«

Leute! Asquith hatte echte Bekannte? Dem alten Asquith waren Gespräche immer verhaßt gewesen. Er hatte sich der Musik verschrieben und dem Heroismus, wo immer er ihm begegnete, aber Menschen aus Fleisch und Blut hatten ihn eher gelangweilt.

Darüber hinaus erzählte ihm Holub nichts. »Warum sind Sie hier?« Unverblümt, die Frage, aber Speke wollte das hier hinter sich bringen, auf die eine oder die andere Weise, und zwar so schnell wie möglich.

»Wir versuchen gerade, diesen Mann ausfindig zu machen.

An der Ostküste gibt es einige Leute, die ein paar Fragen an ihn haben.«

Fragen. Wieder so ein Wort, mit dem kaum etwas anzufangen war. »Sie suchen doch nicht nach jemandem, nur weil Sie ihm ein paar Fragen stellen wollen.«

»Das kommt ganz auf die Natur der Fragen an.«

Dieser Cop war so gerissen, wie er aussah. Aber Speke konnte ebenfalls schlau zu Werke gehen. »Was hat er denn getan?«

»Er war abwechselnd in psychiatrischen Anstalten und auf freiem Fuß. Einmal offiziell entlassen, einmal entflohen und dann wieder bedingt entlassen.«

»Oh? War er gemeingefährlich?«

»Die Gutachter waren sich nicht sicher.«

»Wir waren recht gut miteinander bekannt. Ich bekomme ja auch so meinen Anteil an verrückten Briefen – alle möglichen Leute haben Songs geschrieben, die sie mir verkaufen wollen oder – andere Ideen.« Er unterbrach sich, bevor er hinzusetzen konnte – Sketche, ganze Kunstwerke, aus denen man eine Menge Geld machen konnte.

»Natürlich.« Die Füllfeder schrieb eine weitere Notiz nieder.

»Aber Asquith ist der Überwachung entschlüpft – Verzeihung, dem Hospital – und zwar schon vor zwei Jahren. Man hielt ihn für geistig krank mit leicht kriminellem Einschlag. Niemand kümmert sich groß um Verrückte. Es gibt zu viele. Aber kürzlich fing er an, zu einer Nervensäge besonderer Art zu werden.«

Speke öffnete die Hände, als wolle er sagen, erzähl mehr.

»Er fing an, die Leute zu bedrohen. Einmal erschien er im Wohnzimmer des Besitzers des Mason- Theaters, offenbar stockbetrunken, und behauptete, er werde binnen kurzem beweisen, daß er der Autor von… jedenfalls einem Ihrer frühen Werke sei, das auch mal verfilmt wurde… da wo der Mann seine Frau umbringt und dann versucht…«

»Das Kingdom of Day light.«

»Er hat Fernsehstationen und Zeitungen angerufen. Immer dieselbe Geschichte. Er habe die Songs geschrieben, die einzelnen Szenen – und das würde er innerhalb weniger Tage auch beweisen. Wir haben zwei und zwei zusammengezählt, ein bißchen recherchiert und uns dann mal in seinem Apartment umgesehen, als wir ihn ausfindig gemacht hatten.

Er lebte gar nicht schlecht. Er muß Einkünfte gehabt haben, deren Quellen wir noch nicht genau kennen. Und seine ganze Wohnung, ein nettes Einbettzimmer im Pacific Heights, war ein einziger Schrein der Verehrung für Sie. Ihr Bild, Rezensionen, Artikel – sämtliche Wände waren voll damit.«

Speke sagte nichts, sein Gesicht war eine einzige nichtssagende Maske, da war er sicher. Insgeheim schalt er sich selbst, sich so sehr abgeschottet zu haben, daß er nichts von Asquiths jüngsten Aktivitäten gehört hatte.

Holub beendete das Schweigen. »Der Mann ist verschwunden. Niemand hat ihn mehr gesehen. Wir gehen nun davon aus, daß er etwas Kriminelles im Schilde führt.«

Speke zwinkerte nicht einmal mit den Augen. Er wartete ab.

»Um ganz ehrlich zu sein, ich hatte gehofft, er habe Sie vielleicht angerufen oder Ihnen einen Besuch abgestattet und Sie in irgendeiner Weise bedroht. Ein so großer Name wie der Ihre wäre für uns hinreichend Anlaß gewesen, daraus eine größere Aktion zu machen. Er kann ja nicht herumlaufen und friedliebende Bürger bedrohen. Es gibt Leute, die meinen ja, wir sollten ihn in eine geschlossene Anstalt stecken, aber ich persönlich glaube, ein paar Monate im Rampenlicht würden ihm guttun.«

»Rampenlicht?«

»Gefängnis.«

Red weiter, befahl Speke sich selbst. Und sorg dafür, daß du glaubwürdig klingst. »Aber der arme Bursche ist doch ganz offensichtlich ein seelisches Wrack. Er gehört doch nicht ins Gefängnis! Asquith war ein Mensch, der sich leidenschaftlich für andere einsetzen konnte.« Spekes Stimme hob sich langsam. »Man kann doch einen Menschen nicht für seine Sensibilität bestrafen wie einen Dieb.«

»Theaterbesitzer, Reporter, ordentliche Bürger – selbst Prominente. Die haben aber auch einen Anspruch auf Schutz, finden Sie nicht?«

»Ich kann darin keine Bedrohung sehen.«

»Sie verdienen es, geschützt zu werden, Mr. Speke.«

»Er ist kein Krimineller. Asquith hatte eine noble Gesinnung.« Spekes Übergang zur Vergangenheitsform ließ ihn einen Augenblick lang verstummen.

Holub schien es nicht bemerkt zu haben. »Sie erinnern sich gut an ihn.«

Spekes Stimme klang rauh, als er erwiderte: »Er war ein guter Freund.«

»Vielleicht können Sie uns helfen, ihn zu verstehen.«

Speke dachte nach, was er darauf erwidern sollte. »Er hatte viele Talente. Er war Schauspieler, betrieb auch ein wenig Zauberei und hat nebenbei noch Songs geschrieben.«

Wie viel verdanke ich ihm wohl, fragte er sich selbst. Wie viel von meinem Leben gehört eigentlich Timothy Asquith?

»Ist Ihnen eigentlich bewußt«, fuhr er fort, unfähig, sich selbst am Reden zu hindern, »wie wenig wirklich bemerkenswerte Menschen es gibt – wie wenige Menschen wirklich lebendig sind?«

Vielleicht fühlte sich Holub einen Augenblick lang nicht ganz wohl in seiner Haut. Jedenfalls brauchte er ein wenig, bis er erwiderte: »Falls er Sie anrufen oder hierherkommen sollte…«

»Ich habe keine Angst vor ihm.«

»Ich sollte Ihnen das alles eigentlich gar nicht sagen, um Sie nicht zu beunruhigen.«

»Ich bin an sich kein nervöser Mensch.«

»Wir haben aber Anlaß zu der Vermutung, daß er ein mehr als nur oberflächliches Interesse an Ihnen hat. Er ist nicht einfach nur ein Fan von Ihnen oder einer Ihrer früheren Bekannten. Wir sind davon überzeugt, daß er irgendwie auf Sie fixiert ist, wenn Sie es denn genau wissen wollen. Er ist nicht einfach nur ein Spinner.«

Der Cop hatte jetzt einen deutlich ernsteren Tonfall, fand Speke. Holub war ein Mann mit einer raschen Auffassungsgabe, aber gleichzeitig auch wenig flexibel.

»Wir waren Freund…« Hamilton unterbrach sich. »Wir kannten einander gut«, setzte er schließlich noch hinzu.

»Ich sage Ihnen noch nicht die ganze Wahrheit. Ich habe schon gezögert, Ihnen das hier zu erzählen«, sagte der Detective.

Speke hätte den kleinen Mann am liebsten gepackt und aus dem Fenster geworfen. Statt dessen schlug er die Beine übereinander und versuchte, höflich, aber leicht gelangweilt auszusehen.

»Die Fragen, die wir ihm stellen wollen.«

»Erzählen Sie!« Speke hätte die Worte am liebsten herausgeschrien.

»Er wird wegen Mordes gesucht.«

Speke wußte, daß von ihm eine Antwort erwartet wurde, aber er konnte nur noch krächzen: »Was?«

»Hat ein paar Menschen im Osten auf dem Gewissen. Sehr übel. Wirklich übel. Frauen. Immer wieder Frauen. Wir haben es also mit einem geisteskranken Mörder zu tun, der in irgendeiner Weise auf Sie fixiert ist.«

Speke konnte nur noch starren.

Asquith, dachte er, das konnte nicht wahr sein. Du warst doch nie gefährlich. Höchstens für dich selbst. Ganz ruhig sagte er:

»Er sollte Ihnen leid tun.«

Holub schob die Kappe über seinen Füllhalter, ohne dabei seine Augen von Speke abzuwenden, als versuche er, diesen zu verstehen. »Ich würde ein paar Sicherheitsvorkehrungen treffen. Einen Wachdienst rund um die Uhr. Berühmte Leute sind wie Enten auf dem Nest. Ein Mann wie dieser ist unberechenbar. Er könnte hier auftauchen und eine Menge Ärger machen. Wir sind nicht ganz sicher. Aber ich habe ganz persönlich das Gefühl, daß er irgendwann hier auftauchen wird, und das könnte gefährlich werden.«

»Ich habe keine Angst.«

»Gestern abend erhielt ich ein Fax aus Elmira, New York. Er war kein normaler Geistesgestörter. Vielleicht lasse ich Ihnen eine Kopie des Berichts da.«

»Er tut mir leid«, sagte Speke, und seine Stimme klang brüchig.

Er nahm das großformatige Kuvert, ohne hineinzusehen. »Ich habe mir um derlei Dinge nie Sorgen in meinem Leben gemacht. Und Asquith ist der letzte Mensch, wegen dem ich jetzt Ängste dieser Art ausstehen würde.«

»Es ist ja nur meine persönliche Ansicht, keine offizielle Gutachter-Stellungnahme. Aber ich glaube, dieser Mann will Sie vernichten.« In Holubs Stimme lag jetzt ein drängender Unterton, der Speke stutzig machte. Aber das war auch nicht weiter ungewöhnlich. Viele Leute befleißigten sich im Umgang mit einem so berühmten Mann wie ihm betont starker Wörter, um Eindruck zu schinden.

»Das ist ein etwas starker Ausdruck, meinen Sie nicht?

›Vernichten!‹«

»Eine Menge Leute möchten sich gern einmal mit diesem Mann unterhalten.« Holubs Augen blickten hart. Er versuchte, Konversation zu machen, ohne sein Gehabe als Cop aufgeben zu müssen, die Detective-Diktion. »Er wird nicht wegen Schwarzfahren gesucht.« Er deutete auf das Kuvert. »Nun machen Sie schon. Werfen Sie einmal einen Blick auf dieses Fax.«

Speke lächelte und spürte, wie sich langsam Sympathie für diesen Cop bei ihm einstellte. In jedem Fall wollte er sich nützlich zeigen. »Das werde ich selbstverständlich tun. Und ich danke Ihnen aufrichtig für Ihren Besuch und Ihre Warnung.«

»Seien Sie vorsichtig, Mr. Speke. Dieser Mann ist sehr krank.«

15

Christopher Bell glaubte an gar nichts. Sein Leben war ein Konglomerat aus Umbrüchen, aus denen er gestärkt hervorgegangen war, und Unfällen, in die er als Reporter eher irrtümlich gestolpert war. Er hatte nicht das Gefühl, als habe er dem Schicksal für irgend etwas zu danken. Er hämmerte unentwegt Zahlen in irgendein Telefon, oder er hetzte quer über Flugplätze, um eine bestimmte Maschine noch zu erwischen.

Wie ein Tiger in seinem Käfig lief er in seiner Blockhütte auf und ab. Aus der Klimaanlage drang gereinigte, angenehm kühle Luft, und das Fernsehen lief mit abgeschaltetem Ton; CNN warf ein Bild nach dem anderen in loser Folge auf den Bildschirm, Tote, Staatsoberhäupter, farbige Landkarten, noch mehr Leichen, triefnasse Bilder von verunzierten fremden Straßen.

Ich werde nicht gehen, nahm er sich vor. Hier lauert noch eine Story, und ich werde herausfinden, um was es sich dabei handelt.

Das Frühstück war eine merkwürdige Sache gewesen mit Müsli, saftigen, köstlichen muffins und exzellentem Kaffee.

Jeder hatte jeden gemieden. Sarah hatte offenkundig schon vorher gefrühstückt, Maria ließ sich erst gar nicht sehen, und so hatte er sich zuerst einmal die Baseball-Ergebnisse zu Gemüte geführt und eine Weile gewartet in der Hoffnung, wenigstens Speke würde noch auftauchen. Aber nichts dergleichen geschah.

Ein beigefarbener Chevrolet hatte fast eine Stunde lang vor dem Rasen geparkt, und Bell hatte genug derartige Autos gesehen, um hier unschwer ein Zivilfahrzeug der Polizei zu erkennen. Vielleicht konsultierte Speke ja die Polizei in Sicherheitsfragen. Vielleicht aber auch war einer von Spekes alten Freunden bei der Polizei, und er und Speke saßen jetzt beisammen, um über irgendwelche Kriminalgeschichten zu fachsimpeln.

Ein jeder auf dem Gelände hatte sich in seine eigene Privatsphäre eingekapselt. Ein solches Verhalten hatte Christopher Bell zuletzt in den geschlossenen Abteilungen von Vacaville gesehen, dem Gefängnis für psychisch Kranke, wo ruhiggestellte Mörder und Kinderschänder Kreuzworträtsel lösten und Western-Romane lasen, während sie auf ihre Therapiestunde warteten. Jeder hier hatte etwas zu verbergen.

Bell hielt sich selbst für einen methodisch vorgehenden Menschen. Er versuchte, seine Stärken vor zufälligen Bekanntschaften geheim zu halten. Er wollte, daß die Leute ihn für oberflächlich und spontan hielten. Dabei war er in Wirklichkeit sehr sorgfältig und gewissenhaft und wußte Fehler zu vermeiden. Schon als Junge hatte er seine Schularbeiten gemacht, sobald er nach Hause kam und bevor er sich Cartoons im Fernsehen anschaute oder draußen spielen ging. Er hatte immer ein wenig mehr getan, als von ihm verlangt worden war, das Gipsmodell des Vulkans, die Muschelsammlung, das Notizbuch mit Ausschnitten über UFOs. Als im Geographie-Unterricht Südamerika an der Reihe gewesen war, hatte er die Reiseagenturen der Stadt nach Prospekten über Rio abgeklappert. Er hatte hart gearbeitet und dadurch, wie er meinte, einiges mehr gelernt als andere.

Er hatte vor allem gelernt, sich Informationen zu beschaffen.

Im Grunde seines Wesens war er ein Arbeitstier, eine Ameise, eine Biene.

Irgend etwas sagte ihm, das sei jetzt ein ungünstiger Augenblick, Sarah zu behelligen. Ab besten wäre es, er wartete ab, bis sie den ersten Schritt unternahm. Zu Maria wollte er lieber, wenigstens im Moment, ein wenig Abstand halten.

Es blieb noch Clara, die stille, schlanke Frau, die den Haushalt zu führen schien, und ein lederhäutiger Gärtner, der unter den Bäumen entlangging und einmal eine Harke, ein anderes Mal einen großen Sack auf dem Rücken trug, wie Bell durch das Fenster beobachten konnte.

Er setzte sich an seinen Laptop-Computer und schrieb ein paar Notizen nieder. »Muß unbedingt mit Sarah reden. Sie weiß alles.« Gleich darauf löschte er wieder alles bis auf die Worte »Sie weiß«.

Er wünschte sich mehr als alles andere, er könnte jetzt bei ihr sein.

An der Tür erklang ein leisen Klopfen, so zart, ja weiblich, daß Bell glatt die Sprache wegblieb, als er direkt in das runzeligen Gesicht des Gärtners blickte, kaum daß er die Tür aufgemacht hatte. »Ich störe Sie nicht gern, Mr. Bell, aber ich wollte Sie nur warnen. Es wird gleich eine Explosion geben.«

Bell war nicht leicht zu erschüttern. Er hatte Gastanks und Benzin-Tanklaster in die Luft fliegen sehen, und einmal hatte er in Mexico City erlebt, wie ein ganzes Feuerwehrkommando beim Entschärfen einer Bombe in lauter kleine rote Fetzen zerrissen worden war.

Aber etwas an dem Schweigen dieses Ortes und die eigene Ungeduld ließen die Worte des Gärtners unpassend erscheinen.

Die Worte vermittelten eine unangenehme Assoziation, die Vorahnung verheerender emotionaler Verwüstungen.

»Eine Explosion?« fragte Bell.

»Nichts Besorgniserregendes. Ich will nur den Baumstumpf mit ein wenig Dynamit in die Luft sprengen.«

Bell war so erleichtert, daß er nicht einmal etwas erwidern konnte.

Brothers hatte die fürsorgliche Freundlichkeit eines Mannes, der an einen gewissen Grad von Grausamkeit gewöhnt ist wie vielleicht ein etwas kindlicher Infanterie-Oberst. »Ich gehe rund und warne alle. Dann wird das nachher auch kein großer Schock werden.«

»Das ist so ein stilles Plätzchen hier«, sagte Bell.

»Die meisten Leute mögen das«, erwiderte Brothers in einem Tonfall, der ahnen ließ, wie wenig Freude er selbst daran hatte.

Nachdem Brothers wieder zur Tür hinausgegangen war, setzte Bell sich an seinen Computer und wartete auf die Stichflamme einer Explosion; seine Finger bewegten sich nicht.

Aber dann sprang er auf, unfähig, die Herkunft des plötzlichen elektronischen Geräusches auszumachen, das direkt neben seinem Ellenbogen erklang.

Seine Hand fiel auf das Telefon.

Es war Speke, und er klang jovial und entspannt. »Haben Sie nicht Lust herüberzukommen, damit wir endlich anfangen?«

Der gebieterische Tonfall, die absolute Selbstsicherheit, die darin zum Ausdruck kam, erinnerte Bell wieder einmal daran, wie sehr er Speke beneidete. Es war mehr als Neid – Speke hatte alles, und Bell konnte sich nicht selbst betrügen. Er war ein Mann, der auf Witz und Energie vertraute, während Speke jemand war, der sich auf etwas anderes, Dauerhafteres stützte, etwas, das ihm von Natur aus mitgegeben war. Er war ein Mann, von dem die alten Griechen gesagt hätten, er sei ein Liebling der Götter, ein Mann, der aus purem Licht geboren wurde.

Und was bin ich, fragte Bell sich unwillkürlich. Ich bin einer, der schon froh ist, seinen Namen in einer Unterzeile zu lesen.

Ich bin ein Mann, der etwas beweisen muß, der Frauen und Freunde erst gewinnen, der um alles und jedes kämpfen muß.

Das nicht näher gekennzeichnete Fahrzeug war verschwunden. Das war bezeichnend für Live Oak.

Bell eilte zum Haupthaus.

Der Himmel war von einem tiefen, dunklen Blau. Aber Bell traute dem Frieden nicht. Da sollte doch noch, erinnerte er sich, eine Explosion erfolgen.

»Wo möchten Sie denn beginnen?« fragte Speke. »Bei meinen ersten Erinnerungen? Ich könnte mir denken, jemanden nach seinen allerersten Erinnerungen zu fragen, könnte ein guter Einstieg in die Beschreibung seines Lebens sein, meinen Sie nicht?«

Er trug ein grünes Seidenhemd und sah ein wenig müde aus.

Er bot Bell eine Schale mit Schokoladentörtchen an. Sie waren noch warm.

In der Luft hing der Geruch von Scotch, und Speke saß nicht auf seinem normalen Schreibmaschinenstuhl, sondern hatte es sich in dem Sessel bequem gemacht, in dem tags zuvor noch Maria gesessen hatte.

»Ich habe das Gefühl«, begann Bell, »meine Anwesenheit hier ist manchen Leuten nicht so ganz recht.«

Seltsam genug, er fand sich plötzlich hinter dem Schreibtisch wieder. Er kam sich deplaziert vor, wie ein Angestellter hinter dem Schreibtisch seines Chefs, als er seinen Kassettenrecorder einschaltete.

»Maria ist ein wenig launisch«, erwiderte Speke. »Wollen Sie fortfahren, an der Biographie zu arbeiten?«

Vor dem zweiten Halbsatz hatte Speke eine winzige Pause gemacht, genau diesen winzigen nur psychologisch zu deutenden Augenblick, der es für Bell absolut klar machte, daß Speke alles andere als unglücklich gewesen wäre, wenn er morgen eine Verabredung in – sagen wir – Washington gehabt hätte. »Ich bin gern behilflich«, sagte Speke.

Er glaubt, wenn ich diesen Auftrag nicht erfülle, werde ich wieder zu Glücksspiel und Drogen zurückkehren. Bell spürte etwas wie Schuldbewußtsein angesichts der eigenen Hintergedanken. Speke war ein guter Mensch. »Dieses Buch ist sehr wichtig für mich«, sagte er.

»Mein Leben.« Speke sagte es mit einem hintergründigen Lächeln, und Bell wußte im Moment nicht, ob er sich auf das Buch bezog oder etwas sehr viel Umfangreicheres und auch Unangenehmeres.

Er konnte seine Meinung von einem Augenblick auf den anderen ändern, konstatierte Bell. Er könnte durchaus im nächsten Augenblick sagen, er bedaure sehr, aber es wäre wohl besser, wenn er, Bell, nächsten Monat oder nächstes Jahr wiederkomme.

»Mein erste eigene Erinnerung«, sagte er, »ist, wie ich meinem Vater beim Rasenmähen zugesehen habe.«

»Hatte er einen Handmäher oder einen Motormäher?« fragte Speke.

»Handmäher. Die Messer hat er immer selbst mit einer Feile geschärft.«

»Wirklich? Er hat die Messer selbst geschärft?«

Speke führte einen Finger an die Lippen. »Ein sorgsamer Mann.«

Fast hätte Bell erwidert: »Genau wie sein Sohn.«

»Ich liebe den Geruch frisch geschnittenen Grases«, sagte Speke. »Brothers hat einen Mähtraktor, und da vermischt sich dieser Geruch leider mit den Benzindämpfen. Aber die Rasenflächen hier sind so groß…«

»Es ist ein wunderschöner Rasen.«

»Er wird übrigens den Baumstumpf sprengen«, sagte Speke.

Bell erzählte, er sei bereits gewarnt worden.

»Ich wollte, er hätte ihn gleich gesprengt. Ich weiß ja nicht, wie es Ihnen geht, aber ich habe ein ganz flaues Gefühl im Magen, hier zu sitzen und darauf zu warten, daß etwas explodiert.«

Bell gestand, daß er auch ein wenig nervös war.

»Ich hatte übrigens gerade Besuch von der Polizei«, sagte Speke.

»Das dachte ich mir schon.«

»Noch ein guter Beobachter mehr«, sagte Speke.

»Nichts Ernstes, hoffe ich.«

»Was könnte hier draußen an einem so herrlichen Ort wohl ernst sein? Sagen Sie mir: Hat er Ihnen nicht gesagt, wie lange es noch bis zu der Explosion dauert?«

»Nicht genau.«

»Nicht den allerkleinsten Hinweis?«

Bell lächelte und hob die Schultern.

»Ich wollte, er hätte niemandem etwas gesagt. Jetzt sitze ich hier und warte auf den großen Knall. Das kann ja noch den ganzen Tag so weitergehen. Ich kann überhaupt nicht mehr still sitzen.«

Bell spürte, wie auch er zitterte.

»Ich bin ein Wrack. Ich kann mich kaum richtig erinnern, was ich heute morgen alles getan habe, wieviel weniger dann an das, was in meiner frühesten Kindheit war.«

Beide lauschten schweigend.

Schließlich hielt Speke es nicht mehr aus. »Ich kann nicht mehr denken, ich bin ohne alle Hoffnung«, brach es aus ihm heraus, und dazu trommelte er mit den Fingerspitzen auf der Armlehne seines Stuhls herum.

»Es sieht aus, als hätten Sie eine Blase in der Handfläche«, sagte Bell, »sicher noch von Ihrem Kampf mit dem Baumstumpf.«

Speke schloß die Fäuste. »Ich habe nicht halb soviel Muskelkater, wie ich nach dieser Anstrengung erwartet hätte.«

Bell warnte sich selbst: Stell weiter deine Fragen. Speke konnte sich jeden Augenblick entschließen, das Gespräch abzubrechen und definitiv keine weiteren Gespräche mehr zu führen. »Lesen Sie mitunter auch andere Drehbücher und Theaterstücke?«

Ein rascher Themenwechsel zahlte sich oft aus. Aber Speke lächelte nur und meinte: »Natürlich. Es gibt so viele Talente auf dieser Welt. Ich hasse Leute, die nur Drehbücher lesen, die den Tod zum Inhalt haben.« Irgend etwas ließ ihn abbrechen.

Vielleicht war es die Vorahnung von Brothers’ Dynamit, die beide in Richtung des Fensters schauen ließ.

»Die Dinge hier entwickeln sich zunehmend negativ.« Speke senkte die Stimme, als wolle er beichten. »Kleinigkeiten. Ich wollte mir ein Video ansehen. Es steckt schon seit Tagen im Recorder. Und auf einmal kann ich es nicht mehr finden.«

»Jemand wird es herausgenommen haben«, erwiderte Bell.

Nur nicht süffisant klingen, warnte er sich selbst.

»Sie glauben, ich erwartete von Ihnen, daß Sie mich so gewissermaßen wieder aufbauen. Bitte, tun Sie’s nicht. Bitte.

Seien wir doch ehrlich. Mein Gott, es gefällt mir überhaupt nicht, hier drinnen zu sitzen. Ich habe das Gefühl, als wenn mir die Decke auf den Kopf fallen würde.«

Bell nickte verständnisvoll, als Speke fortfuhr: »Haben heutzutage nicht die meisten Leute – die meisten erfolgreichen Leute – eine Leibwache?«

Es war etwas Jungenhaftes an Spekes Bedürfnis, das zu wissen, an dem Verlangen, seinen Rat zu hören, das Bell seltsam anrührte. »Vielleicht«, schlug er vor, »sollten wir nach draußen gehen.«

Als sie im Sonnenlicht standen, drängte Speke vorwärts, als könnten jeden Augenblick die Einzelteile des Baumstumpfs auf sie herunterregnen.

»Normalerweise bin ich nicht so nervös«, sagte er und blieb kurz stehen, damit Bell zu ihm aufschließen konnte.

»Normalerweise nicht. Ich war immer ein Bündel von widerstreitenden Gefühlen, natürlich.«

Bell fiel auf, daß viele Leute das Wort ›natürlich‹ benutzten, um eine Information zu bekräftigen, die an sich alles andere als

›natürlich‹ war. »Ich kenne dieses Gefühl«, erwiderte er.

»Ha!! Sie kennen diesen Zustand mit Sicherheit nicht, in dem ich damals war.« Speke sagte die Worte mit einem Unterton, der fast schon so etwas wie Stolz ausdrückte. »Ich war ein Wrack.« Er wirbelte herum, als wolle er Bell am Kragen packen. »Wissen Sie, was ich zu gern wüßte? Ich wüßte gern, ob Brothers ein Mann mit kriminellen Absichten ist oder was sonst? Erzählt jedem, da stehe eine Explosion bevor. ›Hey Leute, ich werde da ein größeres Ding in die Luft jagen.‹ Und dann – nichts. Ich hätte Lust, ihm den Hals umzudrehen.«

Speke legte beide Hände trichterförmig an den Mund und rief: »Brothers – jag das Ding hoch!«

Sie lauschten beide, aber es erfolgte keine Antwort. Nur das Singen der Vögel war zu hören.

»Was ist dieser Brothers eigentlich für ein Mensch?« fragte Bell.

»Ich halte das nicht mehr aus«, sagte Speke und wirbelte wieder herum, bis er direkt vor Bell stand. »Halten Sie das aus?«

Bell schickte sich an, etwas zu sagen wie – es geht einem ein bißchen auf die Nerven.

»Ich glaube, ich verliere noch den Verstand.« Speke sagte es sehr langsam, um dann plötzlich hinzuzufügen: »Er hat einen Menschen getötet. Brothers. In Korea.«

Sie betraten ein Blockhaus, das aussah wie eines der größeren Gerätehäuser. Drinnen befanden sich ein paar Bodybuilding

Geräte, einige altertümliche Hanteln und ein Spiegel, der über einer Ringer-Matte die ganze Länge der Wand einnahm.

»Ich wette, Sie halten mich noch immer für ein Wrack.«

Speke nahm ein Springseil von einem Haken. Seine Füße waren schnell und das Seil schwirrte wie ein weißer Blitz durch die Luft.

»Dann denken Sie also nicht«, sagte Speke schließlich schwer atmend und ließ das Seil fallen, »dann denken Sie also nicht, ich sei eine Ruine von einem Mann. Aber ich fühle mich wie eine. Wollen Sie wissen, wie theatralisch krank ich mich fühlte, als ich hörte, Sie würden hierherkommen? Ich wußte nicht, wo ich mich lassen sollte. Das war das Problem – ich wußte nicht, welche Version von mir Sie am ehesten sehen wollten. Den herzlichen Speke. Den philosophischen Speke.

Speke, den Athleten.«

Er trat mit dem Fuß gegen etwas, das aussah wie zwei aneinandergebundene Teddybären. Bell fing sie auf.

»Speke als harten Burschen. Ziehen Sie sie an.«

Das war nicht mehr Bells normale Befragungstechnik, aber er hatte einmal eine Geschichte über das olympische Boxen geschrieben und in diesem Zusammenhang auch ein paar Runden mit dem Bronzemedaillen-Gewinner im Halbschwergewicht im Ring gestanden, ohne sich allzu ungeschickt anzustellen. »Ich habe ein wenig auf dem College geboxt«, sagte er. »Mittelgewicht. Heute bin ich eher im Leichtschwergewicht.« Speke versteifte sich. »Was war das?«

»Ich habe nichts gehört.«

»Keine Explosion?«

Bell schüttelte bedauernd den Kopf.

»Lassen Sie uns boxen«, sagte Speke.

Er war ganz offensichtlich einer von den Menschen, die immer etwas zu tun haben müssen, in jedem Augenblick. Bell war solchen Menschen gegenüber stets sehr mißtrauisch gewesen. Er wollte keine Haken und Geraden mit diesem großen agilen, nervösen Genius austauschen. Er haßte den Klang der eigenen Stimme. »Wenn Sie darauf bestehen, dann meinetwegen. Aber sehr interessiert bin ich daran nicht.«

Bell hatte das ganz deutliche Empfinden, als würde Speke ihn gegebenenfalls bedenkenlos ko. schlagen.

Ein dumpfer Knall.

Kein besonders starkes Geräusch. Ein metallisches Wummern, gedämpft durch die Erde, ohne Resonanz. Ein flaches, tiefes Geräusch, das beiden wieder und wieder durch den Kopf ging.

War es das? fragte sich Bell.

Sie bewegten sich nicht. Speke hielt den Kopf geneigt, und er sah aus wie ein Sparringspartner, der gerade einen Aufwärtshaken hatte hinnehmen müssen. Seine Blicke trafen sich mit denen Bells.

Er flüsterte: »Das war es.«

Bell wagte wieder zu atmen. Ohne es zu merken, hatte er die Luft angehalten.

»Das«, flüsterte Speke, »das war der blöde Stumpf.«

Sie lachten. Sobald einer damit aufhörte, fing der andere wieder an, und sie lachten immer lauter.

Es war wundervoll, so laut zu lachen, und danach streunten sie gemeinsam durch die Hitze zum Büro. Speke verschwand und kehrte kurz darauf mit einer Flasche Scotch zurück.

Bells Minikassettenrecorder in seiner Jackentasche war abgelaufen, und er drehte die Kassette herum. Er wußte es selbst nicht – aber vielleicht war ja irgendwo zwischen dem Warten auf die Explosion und ihrem gemeinsamen Lachanfall genau der Satz gefallen, eine Bemerkung nur, die Aufschluß über Spekes Seele gab.

Überall lagen Holzsplitter herum, und an der Stelle, die einst das Herz eines riesigen Baumes gewesen war, gähnte jetzt nur noch ein großes, tiefes Loch. Dunkle Erde voller kleiner Holzstückchen war in alle Richtungen davongeflogen, eine Nova der Zerstörung.

Speke hob die Hände vor das Gesicht. »Nein!!« stöhnte er.

Er kletterte auf den obersten Rand des Humus-Kraters. Er schaute, als könne er nicht glauben, was er sah. Dann schüttelte er sich und versuchte ein Lachen. »Ich wußte, er würde verschwinden, Bell, aber – ihn so dahingehen zu sehen, so plötzlich…«

Bell war drauf und dran, einen kleinen Vortrag über die Gewalt des Dynamits zu halten. Was hatte dieser Mann schließlich erwartet? Doch als er dann den Mund öffnete, bedachte er sich doch eines anderen und beschloß, lieber gar nichts zu sagen.

In Spekes Augen standen Tränen. »Das habe ich nicht gewußt«, sagte er, »daß ich das so empfinden würde.«

16

Die Sterne standen so eng beieinander, daß es nicht wunder genommen hätte, wenn sie auch noch Töne produziert und sogar ihren speziellen Duft, einen trockenen, sterilen Hauch, hernieder gesandt hätten. Bell saß auf der Veranda seines Blockhauses, die Füße auf den Eingangsstufen, und hörte sich das heutige Interview noch einmal an.

Eine Fähigkeit, die die Menschen hatten, beeindruckte ihn mehr als alle anderen. Das war die Fähigkeit, die Persönlichkeit eines anderen zu erkennen, den man nur im Fragment sah, als eine Gestalt, die um eine Ecke huschte, als Schnipsel eines Schnappschusses. Wir wissen, wen wir gesehen haben, und zur gleichen Zeit wissen wir, wer ein Fremder ist.

Also, überlegte sich Bell, müßte ich doch eigentlich auf dem richtigen Weg zur Erkenntnis der Persönlichkeit Hamilton Spekes sein. Und doch – ich bin es nicht. Er lauschte aufmerksam. Auf der ersten Kassette des Recorders machte Speke sich Gedanken um die Explosion, die noch immer nicht stattgefunden hatte. »Ich bin ohne alle Hoffnung.« Er antwortete nicht auf Bells Kommentar zu der Blase in seiner Hand. »Ich hasse Leute, die nur Drehbücher lesen, die den Tod zum Inhalt haben«, sagte seine Stimme.

Mit ein wenig intensiver Arbeit – was einer seiner Verleger einmal das ›Herangehen mit Hammer und Zange‹ genannt hatte – würde man einfach alles verstehen, glaubte Bell. Gib mir eine Stunde mit diesem Dossier, eine halbe Stunde mit einer Ausschriftung des Interviews, und ich werde den Mann verstehen, hinter dem ich her bin.

Speke verblüffte ihn. Aber da war noch etwas anderes, etwas, das vor sich selbst zuzugeben er sich schämte.

Speke war, auf eine subtile Weise, die einfach nicht zu beschreiben, erschreckend.

Er hörte Sarah schon, bevor er sie sah, und er verwechselte sie nicht einen Augenblick lang mit Maria. Vorsichtig ging sie durch das feuchte Gras, als bahne sie sich ihren Weg entlang eines schmalen Steges über einem Abgrund. Sie entsprach so genau der Vision, die Bell jetzt brauchte, daß er nicht reden konnte. Im Licht der Veranda waren ihre Augen kühl, und sie schienen wie zuvor schon in ihn hineinzusehen und ihn besser zu verstehen, als er sich selbst verstand. Sie studierte ihn und trat doch nicht näher, als liege um sein Blockhaus ein magischer Zirkel.

»Ich denke, wir sollten einmal miteinander reden«, sagte Sarah schließlich.

Sie kam zu ihm die Stufen hinauf, und während sie sprach, heilten ihre Worte und ihr Tonfall irgend etwas in ihm.

Er war nicht überrascht. Er hatte von allem Anfang an gewußt, daß sie die Antworten kannte. Aber es war mehr als das. Wo Speke zerrissen war, war sie gelassen. Ihr Friede forderte ihn heraus. Speke war unfähig gewesen, die Geschichte seines Lebens anders als zerrissen zu erzählen, eine Aneinanderreihung von Anekdoten. Sarah setzte sich zu ihm auf die Stufen und erzählte Bell, sie habe ihr Leben diesem Mann und seiner Karriere geweiht.

Sie faßte ihr Leben so kurz und bündig zusammen, daß es schon an einen Akt von Vergewaltigung grenzte. »Ich hatte kein anderes Ziel als die Veröffentlichung dieser Stücke und dieser Musicals, weil ich an sie geglaubt habe. Und obwohl ich gern reiste und auch immer mal wieder einen Liebhaber hatte, bedeutete mir doch das Werk von Hamilton Speke alles.«

Warum nur, dachte Bell, klang alles, was sie sagte, so, als sei es vor langer Zeit gewesen?

»Mitunter fliegt eine Eule über das Haus«, sagte Sarah nach einem kurzen Schweigen, das Bell nicht brechen mochte. »Sie verursacht ein wundervolles Geräusch, fast wie ein Manuskript, das durch die Dunkelheit fällt.«

Wie von der Welt abgeschlossen ihr Leben doch geworden war, dachte Bell, wie viele Jahre mochte sie wohl damit zugebracht haben, den Ruhm des Hamilton Speke zu begründen.

»Er ist nicht das, was Sie erwartet hatten«, sagte sie nach einem langen Schweigen.

»Ich weiß eigentlich gar nicht, was ich erwartet hatte.«

»Sie sind enttäuscht.«

»Nein, ich kann in aller Aufrichtigkeit sagen, daß ich nicht enttäuscht bin. Dabei fällt mir auf, wie oft in diesen letzten Tagen die Worte ›ehrlich‹ oder ›aufrichtig‹ gebraucht werden.

Ich bin ganz konfus.«

»Das ganze Leben ist Konfusion. Ich will jetzt nicht philosophisch werden. Aber, Christopher.« Sie unterbrach sich.

Es geschah zum erstenmal, daß sie seinen Vornamen benutzte, und es schien, als wolle sie die Wirkung dieser Vertraulichkeit abwarten.

Sie sprach lange Zeit nicht weiter, und Bell dachte sich, sie überlege, ob sie ihm nicht vorschlagen sollte, wieder zu gehen und in ein paar Wochen wiederzukommen – oder vielleicht gar das ganze Projekt mit diesem Buch aufzugeben.

Die bittere Stimme tief in ihm, die Stimme seiner tieferen Einsicht, flüsterte: Hier möchte dich jeder am liebsten wieder los sein.

Als sie wieder das Wort ergriff, sagte sie: »Ich hoffe, Sie wissen, daß man auch dann noch an jemanden glauben kann, wenn man schon seine Schwächen gesehen hat.«

Bell war überrascht. Er hatte erwartet, eventuell über die Nachteile des Umgangs mit einem Genie zu diskutieren, über all die Geschichten und Geschichtchen, die er schon kannte.

Trinkgelage, Temperamentsausbrüche, wilde Nächte, die Jagden auf junge Mädchen quer durch die Wälder. Details dieser Art rundeten das Bild eines Menschen ab.

»Die Polizei war heute morgen hier«, sagte sie.

»Ich weiß.« Schön langsam voran, sagte er sich selbst. Er lauschte auf die Geräusche der Nacht: Wind – und über den Köpfen ein Flügelpaar. »Wissen Sie, warum?«

»Ich bin nicht sicher.«

»Aber Sie können es sich denken?«

»Ich mag keine Spekulationen.«

Sarah liebte die Nächte hier draußen in Live Oak. Sie war dankbar für sein Schweigen. Sie stand kurz davor, eine Entscheidung zu treffen, die ihr Leben verändern würde.

»Mein Vater war bei der Polizei«, sagte sie. »Ein Detective.

Sein Spezialgebiet waren Fälschungen. Sein Beruf brachte es mit sich, daß ich viel mit meiner Mutter allein war. Aber ich habe viel an ihn denken müssen, und selbst seine Abwesenheit hatte noch Gewicht.« War es fair, diesen Mann, den sie erst so kurz kannte, als eine Art Beichtvater zu mißbrauchen?

Aber nachdem sie einmal so weit gegangen war, fuhr sie nun auch fort: »Es war ein Leben an zwei Orten gleichzeitig. Da, wo ich wirklich war, bei meiner Mutter mit ihrem Nähzeug, wo ich beim Bügeln half, während meine Seele und die meiner Mutter irgendwo da draußen bei meinem Vater waren.«

Sie spürte, daß er ihr zuhörte, und sein Schweigen ermunterte sie, drängte sie sogar, weiterzumachen. »Ich lernte sehr früh, mit mir allein zu sein, für mich allein zu arbeiten und für mich allein zu sorgen. Ich war zu stolz, als Tochter eines Cops ins Leben zu treten. Auch nicht eines guten Cops wie er einer war.

Ein tüchtiger, freundlicher Mann. Er wurde in einer Bar ermordet.« Selbst noch nach all diesen Jahren fiel ihr diese Feststellung schwer. »Er war auf der Suche nach einem Verdächtigen. Sein Partner bewachte unterdessen den Hinterausgang. Sie waren davon ausgegangen, daß der Verdächtige zu fliehen versuchen würde. Aber statt dessen erschlug er meinen Vater mit dem Stiel einer Axt.« Wieder wurden ihr die Worte zu schwer.

Bell legte die Hand über ihre.

Sie zwang sich fortzufahren. »Er wurde einmal seitlich am Kopf getroffen. Seine Pension reichte, daß ich das College absolvieren konnte, aber nicht für ein Universitätsstudium. Ich wollte etwas aus mir machen, und das tat ich auch. Ich eröffnete ein Schreibbüro. Sagen Sie es nur, wenn ich Sie langweile. Ich klinge, als sei ich sehr hart, aber das bin ich nicht. Ich bin es müde, eine Geschichte zu erzählen, und niemand hört zu. Keine sehr unterhaltsame Geschichte, nicht wahr, aber es ist mein Leben. Langweilig, oder?«

»Faszinierend.«

»Aber das müssen Sie wohl sagen, nicht wahr? Das ist Ihr Handicap. Sie müssen die Leute zum Reden bringen wie ein Priester oder ein Psychiater.«

»Er brachte Ihnen Manuskripte zum Abschreiben, und Sie haben sie für ihn geschrieben, womit dann für Sie beide eine Karriere begann.«

»Das hier würde ihm nicht gefallen, verstehen Sie – daß wir miteinander reden. Dem früheren Ham wäre es sicher egal.

Aber der Hamilton Speke der letzten beiden Tage würde es sehr unpassend finden.« Sie blickte hinauf zu den Sternen und fuhr dann fort: »Aber ich bin doch eine echte Tochter eines Cops. Er zeigte mir gern gefälschte Banknoten, die er konfisziert hatte und die als Beweismittel würden herhalten müssen. ›Sieh dir diesen Mist an‹, sagte er dann wohl zu mir,

›diesen Mist und diesen Betrug.‹ Haben Sie schon einmal eine gefälschte Banknote gesehen?«

»Nicht daß ich wüßte.«

»Es ist etwas Unheimliches um das Falschgeld.

Normalerweise sieht es richtig schön aus, wenn man es zum erstenmal sieht. Aber dann sieht man noch einmal hin, und irgend etwas ist immer falsch. Die Farbe ist anders, oder die Linien in Franklins Gesicht sind zu dick oder sonst etwas, und das kommt einem dann unheimlich vor. Das ist nicht echt, denkt man, nicht das echte Ding. Und man fühlt innerlich einen Schauder.«

Irgendwo in der Dunkelheit verursachte irgendein Tier einen Laut, einen Warnruf vielleicht oder einen Ruf der Freude. Sie fuhr fort: »Ham macht keinen Sinn für Sie, habe ich recht?«

»In gewissem Sinne…«

Eine Weile sagte sie nichts mehr. »In ein paar Jahren werden Sie vielleicht einen Fernsehfilm über Ham und mich machen.

Aber die Wahrheit ist ein bißchen flach. Wir waren nie ein Liebespaar. Ich wußte sofort, er war ein Riesentalent. Als ich Stripsearch abschrieb, hatte ich Tränen in den Augen. Bevor er es überarbeitet hatte, war es vielleicht sogar noch besser, wirklich. Das Skript war das Werk eines Mannes, der die Wahrheit über die Menschen wußte, vielleicht sogar zu gut kannte, um wie ein normaler Mensch zu funktionieren. Ein jeder mit solchen Einsichten müßte eigentlich irgendwann etwas Gewalttätiges tun, oder etwas Selbstzerstörerisches. Das Leben selbst könnte zur Krise werden für den, der so tief empfindet.«

»Speke – Ham – macht eigentlich auf mich nicht den Eindruck, als neige er zur Selbstzerstörung: Dafür hat er zuviel Temperament, glaube ich.«

»Früher war er noch schlimmer.« Sie lachte kurz auf.

»Manchmal war es wirklich nicht leicht mit ihm.«

»Aber hier ist irgend etwas ungesagt.«

»Was unausgesprochen ist, ist dies: Es wäre besser gewesen, wenn Sie nie hierhergekommen wären. Aber nun sind Sie einmal da. Jetzt ist es zu spät. Der Prozeß ist in Gang gekommen.«

»Ich kann gehen. Nein, das meine ich wirklich. Ich kann das Buch bis in die Unendlichkeit hinein aufschieben – «

Sie legte ihm den Finger über die Lippen. Um ihn zum Schweigen zu bringen, aber auch, um ihm etwas zu sagen.

Als sie wieder sprach, lag ein leises Zittern in ihrer Stimme, das sie selbst bei sich noch nie vernommen hatte. »Ham ist ein Mann, wie Sie nie wieder einem begegnen werden. Kürzlich ist irgend etwas geschehen. Etwas sehr Schlimmes.«

»Und Sie sind nicht sicher, worum es sich handelt?«

»Ich hatte immer gedacht, dies sei eine Fluchtburg, ein Hafen, ein Hain der Glückseligen.«

»Ich denke, das ist es wohl auch.«

»Sie strahlen Vertrauenswürdigkeit aus. Ich wußte nicht, ob ich Ihnen trauen konnte«, sagte sie sanft. »Ich weiß es noch immer nicht. Ich habe einen Punkt in meinem Leben erreicht, wo ich nichts mehr weiß. Ich weiß nicht, ob – du ein guter Mensch bist oder ein Schwächling, noch woran du glaubst oder was du haßt. Ich gehe ein Risiko ein. Aber es ist Zeit.«

Er berührte ihr Gesicht in dem Licht, das seltsam von den Hügeln und den Sternen auf das Land fiel und in der Luft rings um sie herum zu spielen schien.

Drinnen, in der Stille des Blockhauses, erwiesen seine Hände sich als fest, zärtlich und wissend zugleich, als er sie entkleidete, so als kennten sie beide sich schon seit Urzeiten, seit Jahrhunderten, seit zum erstenmal das Licht auf die Erde kam.

17

Selbst als er träumte, er sei dabei, jemanden zu ermorden, wußte er, daß es die Wahrheit war. Diesmal war es nicht einfach nur ein Alptraum. Es war die Wahrheit. Es war das Wissen, das in ihm pochte wie ein neues, häßliches Herz, ein beschädigtes, pumpendes Organ. Die Wahrheit pulste durch seinen Körper, und sein Blut geriet zu kaltem Eisen.

Er hatte getötet.

Maria schlief neben ihm. Ihr Atem hob und senkte sich, gleichmäßig, langsam. Sie war stark und unbeeindruckt von dem, was sie beide getan hatten.

Aber ihr Vertrauen half ihm jetzt nicht. Sie schlief.

Was für ein Mensch war diese Frau? fragte er sich. Wie kann sie so ruhig bleiben? Sie schien sich selbst vollständig von der Wirklichkeit abgewandt zu haben wie eine erfahrene Gefängnisinsassin, eine Frau, die ihre Grenzen ganz genau kannte.

Er stieg aus dem Bett. Er brauchte eine Pille, aber irgend etwas war mit den Schlaftabletten im Haus passiert. Sie waren alle weg, vollständig. Er war sicher gewesen, noch ein paar alte Valium-Tabletten irgendwo zu haben, so alt, daß sie womöglich schon zerfallen waren, aber heute nachmittag hatte er sich durch jeden Medizinschrank im Haus gewühlt und nur Alka Seltzer und ein paar Antihistamin-Tabletten gefunden.

Bevor er ins Bett gegangen war, hatte er das Fax aus dem großen Umschlag zur Hand genommen, das Holub, der Detective, ihm dagelassen hatte. Zu seiner großen Erleichterung hatte nichts Besonderes darin gestanden.

Greulich, aber nicht bemerkenswert, vor allem, wenn man nicht glaubte, was man las. Das Fax war ein schlecht getippter Report über eine Reihe von Morden, der deutlich erkennbar aus der Feder eines Detectives stammte. Speke mochte nichts über Gewalttätigkeiten lesen, deshalb hatte er den Report auch nur hastig überflogen. Vergewaltigung, Blut. Das war genau das, was er am meisten haßte. Es war schon schlimm genug, daß derart scheußliche Dinge passierten. Wunden von mehreren Zentimetern Tiefe, scharfe Gegenstände. Er mochte kein Blut, und außerdem glaubte er einfach nicht, daß Asquith zu so etwas fähig sein könnte. Irgendein Mörder hatte über einen Zeitraum von mehreren Jahren einige unglückliche Frauen geradezu bestialisch hingeschlachtet. Eine der Frauen war mit einem spitzen Gegenstand umgebracht worden, der ihr direkt durch das Schädeldach getrieben worden war. Das war zu schrecklich, um überhaupt daran zu denken. Das hatte nichts mit Asquith zu tun, war Speke überzeugt, und er hatte noch nicht alle Seiten gelesen.

Nachdem er sich ein Hemd übergestreift hatte und in die Pantoffeln geschlüpft war, verließ er das Schlafzimmer. Er vergaß alle Ratschläge seiner Ärzte. Es war Zeit für einen Scotch. Scotch und Fernsehen. Die beiden Eckpunkte seines Lebens, seine bevorzugten Drogen. Sie würden ihm durch die Nacht helfen.

Der Piranha schlief, sein beilförmiger Körper trieb regungslos durch das riesige Aquarium. Das Aquarium vollführte ein leises Gurgeln, das Speke zu anderer Zeit als beruhigend empfunden hätte.

Er verharrte außerhalb seines Büros und lauschte. Dies war der einzige Raum im Haus, den er wirklich als seinen ansah, und doch war es der Raum gewesen, der Asquiths Blick gesehen hatte. Er floh das Büro und machte eine Lampe im Fernsehzimmer an.

Dann blieb er stehen, unfähig, seinen Augen zu trauen.

Die Kassette war verschwunden gewesen, kein Zweifel. Er war darüber sehr frustriert gewesen. Aber hier war sie wieder, genau da, wo sie zu sein hatte. Er mußte sie in die Hand nehmen, sie schütteln, das Etikett in dem spärlichen Licht lesen, um glauben zu können, daß seine Kassette wieder da war. Es war Kurosawas Seven Samurais, ein Film, den er vor Jahren in San Francisco gesehen hatte. Er hatte ihn, um genau zu sein, zusammen mit Asquith gesehen, der sich eine halbe Flasche Tequila in die Fanta geschüttet und dazu ein paar große rote Seconal geschluckt hatte und Stunden, bevor die marodierenden Briganten sich in ihr letztes Schwert stürzten, eingeschlafen war.

Das Band war verschwunden gewesen. Aber jetzt war es wieder an genau dem Platz, wo es tagelang gelegen und darauf gewartet hatte, von ihm abgespielt zu werden.

Er hatte dieses Band erst vor ein paar Wochen bestellt, aber jetzt kam ihm der Nachmittag, an dem er deswegen mit dem Videoverleih in North Hollywood telefoniert hatte, wie eine weit zurückliegende Epoche, ein Moment aus dem Devon vor, als noch Drachen die Erde bevölkerten. Es war ein Tag gewesen, an dem sein Geist noch unbelastet genug gewesen war, um an Sachen wie alte Filme zu denken.

Er trank Scotch, leerte die Flasche, und als die scharfe Flüssigkeit zur Neige gegangen war – lange dauerte es nicht – , nahm er die leere Flasche mit sich auf das Sofa, als habe er eine Vorahnung, er könne sie vielleicht noch als handliche Waffe brauchen.

Wo wäre ich wohl, fragte er sich, als er das Band aus der Hülle holte, ohne Fernsehen? Stell dir einmal Walter Raleigh vor, gefangen im Tower von London, und ohne Fernsehen.

Er schob Teil 1 in den Videorecorder und setzte sich auf dem Sofa zurecht. Ich, Hamilton Speke, habe vor, hier die ganze Nacht mit meinem Schwert zur Seite zu sitzen. Ich werde standhaft sein wie ein Samurai und an nichts anderes denken.

An gar nichts.

Der Bildschirm flirrte und flackerte. Statische Störungen gesellten sich dazu. Speke faltete die Hände. Das fehlerhafte Band erhellte den Raum mit fahlen grauen Blitzen.

Als er es sah, merkte er zuerst gar nicht, was er da sah.

Natürlich war das kein Gesicht. Natürlich war das kein unscharf gezeichnetes Gesicht, was sich da langsam aus dem Streifen und Flecken auf dem Bildschirm herausschälte.

Natürlich war es nicht Asquiths Gesicht.

Es starrte ihn an.

Asquiths Gesicht starrte ihn an, und selbst als Hamilton mit den Augen zwinkerte und sich nach vorn beugte und den Kopf schüttelte – das Gesicht blieb.

Hör auf mich anzustarren! schrie sein Geist.

Und dann war es verschwunden.

Jetzt ist es wieder weg, sagte er sich. Sieh nur – alles ist in bester Ordnung. Das Gesicht ist wieder weg.

Er war wach. Dies war kein Traum. Das wußte er nur zu gut.

Er hob die Flasche und hielt sie wie eine Keule, während er sich im Zimmer umsah. Wo würde Asquith noch alles erscheinen?

Er langte nach der Fernbedienung und spulte das Band zurück.

Da, sagte er sich, das ist gar nichts. Nur eine Störung im Band, sonst nichts. Kein Grund zur Aufregung.

Er hielt den Atem an. Das Phantom war da, aber so schwach, daß man es fast nicht erkennen konnte. Speke drückte die Pausentaste, und das Gesicht schien aus lauter Schatten, grauen Streifen und Pünktchen zusammengesetzt. Jemand anderer hätte es vielleicht gar nicht erkannt.

Aber es war da. Asquith war da.

Speke zwang sich, besonnen zu bleiben. Er spürte noch immer die Verspannungen vom Ausheben des Grabes in den Schultern und Schenkeln. Er balancierte die Flasche abwägend in der Hand. Er faßte den Flaschenhals und schleuderte die Flasche Asquith mitten ins Gesicht.

Es gab einen lauten Knall, und der Widerschein des Fernsehers im Zimmer erlosch. Alles wurde übergangslos schwarz. Das Schweigen war nicht total – es blieb ein elektronisches Summen zurück. Der Gestank von verbranntem Plastik und geschmolzenem Metall zog zu der Stelle herüber, wo er auf Händen und Knien abwartete. Von den Wänden strahlte diffuses Licht zurück. Glasscherben glitzerten auf dem Fußboden.

Er kroch – so leise wie nur möglich.

Beweg dich nicht. Tu keinen Schritt. Was ist das da in dem Becken mit dem Piranha?

Nichts. Da ist nichts.

Maria war wach und saß aufrecht im Bett.

»Ich ziehe mir nur gerade etwas an«, flüsterte Speke.

»Was ist denn los, Ham?«

»Ich konnte nicht schlafen.« Er knöpfte sich das Hemd zu und zog den Reißverschluß der Hose in die Höhe.

»Ich habe ein Geräusch gehört.«

»Kein Geräusch.« Er stieg in seine Stiefel. »Eine absolut ruhige Nacht.«

»Was ist denn los? Hier stimmt doch etwas nicht. Das kann ich fühlen.«

»Gar nichts ist los. Willst du das vielleicht auch noch schriftlich von mir?«

So hatte er noch nie mit ihr geredet. »Tut mir leid, Maria.

Bitte verzeih mir. Ich wollte dich nicht anschnauzen.«

»Du hast ihn doch nicht etwa wieder gesehen?«

»Tut mir leid, Maria.«

»Also doch.« Ihr Tonfall war entschieden.

Speke erwiderte nichts.

Sie eilte hinter ihm entlang, ein Hauch von Neglige mit leichtem Schritt.

Er hielt die Hand aus, um sie aufzuhalten, aber sie war schon gegangen.

In seinem Büro hatte er sie eingeholt. Sie schaltete das Licht ein, rannte zum Fenster und riß es auf.

Der Geruch der feuchten Erde, vermischt mit den typischen Gerüchen der Nacht, drang von draußen herein.

»Da ist doch nichts«, sagte sie. »Wie ich dir gesagt habe, Ham. Das passiert alles nur in deiner Phantasie.«

»Ich habe nie behauptet, ich hätte ihn draußen gesehen.«

»Wo denn sonst? Ham, nun erzähl doch. Was geht hier vor?«

Ihre Stimme klang nicht überrascht, nicht einmal besorgt. Als hätte sie das alles hier schon einmal durchgemacht.

»Es ist doch gut, Maria. Alles ist in bester Ordnung. Sehe ich aus, als wenn ich aufgeregt wäre?«

»Du versuchst, ruhig zu scheinen, aber – ja. Du bist aufgeregt.«

»Also gut, ich bin aufgeregt. Das gebe ich zu. Aber mir wird es gleich wieder bessergehen.«

»Ham – ich mache mir Sorgen deinetwegen.«

Er hielt sie in seinen Armen, und sie zitterte. »Es gibt keinen Grund, sich Sorgen zu machen.«

»Ham, ich mache mir Sorgen, was das alles aus dir und mit dir macht.«

»Was sollte das sein? Meinen Schlaf zu stören? Mich ein wenig ruhelos zu machen? Das wird vorbeigehen. Alles wird wieder gut werden.«

Er schaltete das Licht aus, und die Dunkelheit ließ sie sich einander in die Arme sinken.

»Ich werde ein bißchen Spazierengehen«, sagte er.

Sie versteifte sich, und zum erstenmal schien sie wirklich besorgt. »Bleib hier, Ham«, flüsterte sie, aber er stellte sich vor, er höre eine andere Botschaft hinter ihren Worten: Ja, geh hinaus und vergewissere dich, daß wir alle hier sicher sind.

Er sprang durch das offenstehende Fenster direkt hinaus auf den Rasen. Es ging ein ganz leichter Wind, er raschelte in den Zweigen, ein Klang, als saugten übergroße Lungen betont langsam Sauerstoff ein und entließen ihn dann genauso langsam wieder.

Bei jedem Schritt wußte er genau, was er tat. Er schritt voran wie jemand, der zu einer festen Verabredung unterwegs ist, zu einer Aussprache. Es war ein kurzer Weg, nicht mehr als ein Mitternachtsspaziergang, und doch einer von einer Welt in eine andere.

Es war ein cleverer Scherz gewesen: Leg das Gesicht des toten Mannes auf das Videoband. Das wird Ham einen Schock versetzen.

Wer aber würde so etwas tun?

Warum kann ich nicht einfach die Augen schließen und wieder ein Kind sein? Warum kann ich nicht einfach ein paar Tage in der Zeitrechnung zurückgehen, zu einem Zeitpunkt, wo von alledem noch nichts geschehen war? Bisher hatte er das Außenbüro gemieden.

Er hatte Angst, als er den Knauf drehte und die Tür nach innen schwang. Ihm war kalt bis auf die Knochen, weil ihm bewußt wurde, das er etwas Gefährliches tat.

Eine Formulierung schoß ihm durch den Kopf: der eigene Geist, der sein Spielchen mit mir treibt. Er glaubte nicht an Geister, und doch mußte er wie jeder rational denkende Mensch zugeben, daß die Welt ein seltsamer Ort war, an dem alles möglich schien.

Wie unschuldig das Außenbüro doch aussah! Hier an der Wand lehnte Marias Aquarell, diese Collage aus Gelb und Grün, in der Speke gern so etwas wie eine Handgranate sah.

Dabei war es – er sah es erst jetzt – das Bild einer Ananas; nicht gerade eines ihrer besten Bilder.

Die Kaminhaube schimmerte im Licht, und der Stein glühte in einem überirdischen Grün. Speke zwang sich, die Ecke der Abdeckhaube zu berühren. Hier, sagte er leise zu sich selbst, und seine Hände zitterten. Hier war es geschehen.

Er wußte, wenn er den Stein selbst berührte, würde er damit die Luftgeister wecken.

Da war ein Schritt, ein Flüstern, das Geräusch, wie ein Fuß auf ein welkes Blatt trat. Oder war es etwa der Klang des eigenen geflüsterten Namens? Gewiß doch, das war es, diese nur hingehauchte Silbe.

»Ham.«

Asquith stand da, bleich im Licht, das vom Haupthaus herüberstrahlte.

Und starrte Speke mit seinen glitzernden Augen an.

18

Sie hatte ihm so vieles zu erzählen. Und doch schien ihr alles zu entschlüpfen, und es zählte nichts mehr außer ihnen beiden, wie sie da in der Dunkelheit beieinander lagen.

Das Versteckspielen als kleines Kind hatte sehr dem geähnelt, was Sarah jetzt durchlebte, als sie das Gesicht in gärendes Blätterwerk vergrub und so tat, als sei sie eine Tote unter lauter hingeschlachteten Körpern, um den Suchtrupps zu entgehen, die alles andere als spielen wollten, Jägern, die das Buschwerk abklopften auf der Suche nach Opfern.

Vielleicht hatte sie ein Geräusch geweckt. Ein Ruf, dachte sie, oder eine Stimme in ihrem Traum. Das war schwer zu sagen.

Sie hielt den Atem an, aber sie konnte weiter nichts hören als den Schlag des eigenen Herzens. Wie friedvoll doch alles war, während sie abwechselnd in den Schlaf hinein und wieder heraus glitt. Es konnte mit Sicherheit nichts Böses auf sie lauern, nirgendwo auf dieser Welt.

Sie lauschte, aber da war nur das Geräusch des Windes in den Bäumen über dem Blockhaus. Das Geräusch mußte sie wohl nur in ihren Gedanken gehört haben, den Schrei, der sie hatte erstarren lassen.

Sich Hals über Kopf in eine Affäre zu stürzen, war sonst nicht ihre Art. Aber sie fragte nicht danach, was sie tat. Ihr Vater hätte es verstanden: Christopher Bell war ein Mann, mit dem man reden konnte. Es war Zeit, ihm alles zu erzählen. Sie rüttelte an seiner Schulter. Es war vollkommen dunkel bis auf einen leichten grauen Schimmer rings um den Vorhang. Ein Vogel ließ sein einsames Lied erklingen.

Sie knipste die Nachttischlampe an und blinzelte in die plötzliche Helligkeit hinein. »Chris, ich muß mit dir reden.«

»Sarah.« Als spräche er den Namen im Traum.

»Ich muß mit dir reden. Wach auf!«

Er lächelte verschlafen. »Ich mag aber nicht aufwachen.«

»Wir gehen in meine Wohnung. Ich werde uns Kaffee machen, und dann können wir reden. Ich möchte dir ein paar Dinge zeigen.«

Er setzte sich, plötzlich hellwach, im Bett auf. »Was ist denn?

Sarah – stimmt etwas nicht?«

»Ja. Aber jetzt weiß ich, was ich tun muß.«

Sein ganzer Körper straffte sich. »Was ist passiert?«

Sie lachte. »Es ist kein akuter Notfall.«

Er schien es ebenfalls zu spüren. In der Luft lag ein kühler Hauch, ein Vorahnung von Unheil. Hatte es nicht vorhin da draußen in der Nacht einen Laut gegeben?

Er drückte ihre Hand. »Du hast mich erschreckt«, sagte er, um dann hinzuzufügen: »Ich muß wohl geträumt haben.«

Einen Augenblick lang konnte sie nicht sprechen. Zu viele Gefühle durchzogen sie: Dankbarkeit, Leidenschaft, Verantwortungsbewußtsein. Sie hatte immer daran geglaubt, sie sei Hamilton Speke in besonderer Weise verpflichtet. Sie fühlte es jetzt wieder – Loyalität Speke gegenüber, aber gleichermaßen Loyalität der Wahrheit gegenüber. »Ich habe so vieles zu erzählen.«

Er strich ihr über das Haar. »Du bist die hinreißendste Frau, der ich je begegnet bin.«

Wie unglaublich gut er aussah, zerzaust und verschlafen. Und wie schlimm mußte sie selbst aussehen, fragte sie sich selbst, doch was machte das schon?

Sie kroch aus dem Bett und zog sich im ungewissen Dämmerlicht an, wobei sie in ihre Kleider schlüpfte wie eine Schauspielerin, die eine ihr gewohnte Rolle spielte. Kurz darauf hatte sich auch Christopher angekleidet.

Sie stapften über den vom Tau feuchten Rasen hinüber zu ihrem Bungalow, der im dunklen Dämmerlicht dalag. In der Luft hing der Geruch von Salbei, staubtrockenem Roggen und wildem Hafer.

Das Licht in der Küche war an sich gedämpft, aber jetzt im ersten Augenblick doch ein wenig zu hell. »Glaub nur nicht, ich hätte dich nur hierhergebracht, um dir Kaffee zu kochen.

Ich glaube nicht daran, daß ich Männer mit meinen Kochkünsten beeindrucken könnte.« Er lächelte, und dieses Lächeln stieg tief aus seinem Innern auf und verklärte sein Gesicht und seine Augen. »Du kannst mich auf viel mehr Arten beeindrucken als dadurch.«

Einen Moment wurden ihr die Knie schwach. Sie mußte zur Seite sehen.

Sie bemühte sich um ihren einem Erwachsenen am meisten adäquaten Tonfall. »Es widerstrebt mir, dir etwas so Ernstes zu erzählen«, begann sie.

»Nimm dir ruhig Zeit.«

»Zuerst möchte ich dir etwas zu lesen geben. Nur eine maschinegeschriebene Seite.«

Sie fand das Blatt in einem Umschlag in ihrem Schlafzimmer und eilte damit zurück ins Licht.

»Eine zweizeilig ausgedruckte Seite«, stellte Chris fest.

»Dialog. Und einige… Regieanweisungen?« Er blickte sie fragend an und las dann einen Augenblick lang.

Als er fertig war, legte er das Blatt mit der beschriebenen Seite nach unten auf den Tisch.

Die Worte wollten ihr kaum über die Lippen kommen, aber sie zwang sie sich ab. »Das ist Hams jüngstes Werk.«

Er antwortete nicht. Er glättete das Papier vor ihm mit einer Handbewegung, wie man Feuchtigkeit von einer Glasscheibe wischen würde. »Es heißt, er arbeite an etwas, das mit einer Reise nach Mexiko zu tun hat. Die Leute reden seit Jahren von nichts anderem. Die schwarze Katze…«

»Er arbeitet wieder und immer wieder an derselben Szene.

Zwei junge Männer sind im Urwald verschollen. Ham ändert die Regieanweisungen wieder und immer wieder, die Farbe des Lichts, die Geräusche hinter der Bühne, mal sind es Wellen, dann wieder Papageien. Er tilgt aus, schreibt neu, redigiert noch einmal und vergißt, was er geschrieben hat. Den Klang der Brandung, was die Männer anhaben. Er schreibt es wieder und immer wieder, und jedesmal ein klein wenig anders.«

»Das Stück geht noch nicht der Vollendung entgegen?«

Sie wandte sich der Kaffeemaschine zu und schenkte ein.

Dann fragte sie: »Wie trinkst du den Kaffee?«

»Ich weiß nicht. Eine schwere Entscheidung. Wie soll ich eine solche Frage so früh am Morgen schon beantworten können?«

Sie schüttete ein wenig Milch hinein und reichte ihm die Tasse.

Dann senkte sie die Augen. »Ich glaube, das Stück existiert überhaupt noch nicht.«

»Er kommt nicht weiter. Das gibt’s bei Stückeschreibern schon mal – bei Biographen übrigens auch.«

»Irgend etwas stimmt nicht mit Ham.« Jetzt war endlich der Zeitpunkt gekommen, und nun konnte sie nicht fortfahren.

Er wartete.

»Als ich zum erstenmal seine frühen Stücke gelesen hatte, wußte ich, daß sie großartig waren, und ich bewunderte Ham, weil er fähig war, solche Stücke zu schreiben.«

Sie kämpfte das nervöse Flattern in ihrer Brust nieder.

Trotzdem wartete sie noch ein wenig, bevor sie fortfuhr: »Und er hat mich persönlich nie enttäuscht. Er ist großzügig, spontan. Er liebt das Leben. Ich bewundere ihn, Chris. Sehr sogar.«

»Aber in diesen Tagen stimmt etwas nicht mit ihm«, vermutete Bell.

Wie wahr, dachte sie. Es stimmte einiges nicht mit ihm. Die nächsten Worte schockierten sie. Sie konnte sie kaum über die Lippen bringen. Schließlich flüsterte sie: »Ich fange an, mich zu fragen, wie viele von den alten Stücken er wirklich selbst geschrieben hat.«

Bell kniff die Augen zusammen.

»Ich habe mir jahrelang diese Frage nicht gestellt. Aber dann fiel mir auf, daß alle diese Stücke auf demselben billigen Schreibmaschinenpapier aus irgendeinem Billigladen und mit demselben Farbband geschrieben worden waren, und alle sahen aus und fühlten sich an wie Manuskripte, die zur selben Zeit geschrieben wurden. Aber das war nur ein leiser Anflug von Zweifel… mehr ein zarter Hinweis.«

Einst hatte sie gedacht, sie werde niemals in der Lage sein, diesen Verdacht in Worte zu fassen. Aber in den letzten Tagen hatte sich alles grundlegend verändert. Noch immer wählte sie die Worte sorgsam. »Wirklich überzeugt war ich aber, als er mir Sachen zeigte, die er zu schreiben begonnen hatte, Sachen, die er in den letzten ein oder zwei Jahren in Angriff genommen hatte, nachdem all die Original-Manuskripte verbraucht waren.«

Bell blickte auf das mit der beschriebenen Seite nach unten auf dem Tisch liegende Blatt Papier. »Und das ist ein Beispiel seiner jüngsten Arbeit.« Er schürzte die Lippen. »Das ist doch gut geschrieben. Was willst du also?«

»Ich habe mir ja selbst auch immer gesagt, ich irre mich, und ich habe meine Zweifel ja auch immer unterdrücken können.«

»Hat Speke denn nie geargwöhnt, daß du… « Er suchte nach dem richtigen Wort. »… daß du mißtrauisch warst?«

»Ham ist für mich so bedeutend.« Sie war selbst überrascht, wie unsicher ihre Stimme bei diesen Worten klang. »Mich interessiert im Grunde genommen nicht, wer diese Stücke geschrieben hat. Ist es denn wirklich wichtig? Ich fürchte, daß der Mann, Hamilton Speke, in Schwierigkeiten steckt, und daß er meine Hilfe braucht.«

»Er muß die Stücke geschrieben haben.« Bell sah sich in der Küche um, als müsse er sich davon überzeugen, daß der Raum noch immer da war. »Du unterstellst da eine Art Betrug.«

»Nein, ich unterstelle einfach nur, daß wir in Wirklichkeit nichts über Hams kreatives Leben wissen. Wir wissen nicht, wo die Stücke herkamen und warum keine mehr gekommen sind.«

»Was du da unterstellst, ist ungeheuerlich.«

»Du mißverstehst mich…«

»Wer sollte die Stücke denn geschrieben haben, wenn nicht Speke?«

Einen Augenblick lang war sie still. So viel Wahrheit auf einmal versetzte sie in Erstaunen. Ihre Bekenntnisse müßten doch die Farbe des Lichts verändern oder die der Wände, aber der Morgen graute kontinuierlich immer weiter.

»Wer also hat sie geschrieben?« Er streckte die Hand aus und berührte ihren Arm. »Sarah, wer war der Autor?«

»Ich kam immer mehr zu der Überzeugung, er müsse in der Vergangenheit einen Ghostwrighter gehabt haben.« Da war es: das Wort, das sie so lange für sich behalten hatte. »Aber ich wußte nicht, wer das gewesen sein könnte.« Sie wartete einen Augenblick, bis sie sicher sein konnte, daß er anfing, ihr zu glauben. »Aber ich habe Berichte, die fünfzehn Jahre zurückreichen, und ein Name, der erst kürzlich wieder fiel, machte mich stutzig.«

Sie zögerte, ihn auch nur einen Moment lang zu verlassen.

Als sie ihr Schlafzimmer erreichte, war es dunkel und still. Das Bett bot einen aufgeräumten, unbenutzten Anblick. Es war nicht Zeuge irgendeiner Leidenschaft gewesen. Sie zog eine Schublade auf und legte das Blatt Papier, jene neueste Bemühung Spekes, zurück in die Dunkelheit.

Dann eilte sie wieder in Bells Gesellschaft wie ein Kind, das Angst vor der Dunkelheit hat.

Jetzt nur keinen Rückzieher machen, sagte sie sich selbst.

Mach weiter. »Es ist jemand hier. Auf dem Anwesen – ganz im verborgenen.«

Er war durch und durch Nachrichtenjäger, ein Mann, der eine Neuigkeit förmlich in sich aufsaugte. »Du meinst, hier versteckt sich jemand auf dem Grundstück?«

Sie konnte nicht einmal nicken. Ihre Stimme klang rauh. »Ich denke, ja. Ich bin nicht sicher – aber ich meine, er sei immer noch hier.«

Bell lehnte sich vor, und seine Augen suchten die ihren. Er sah geschockt drein, fasziniert.

»Es gibt einen Namen aus Hams Vergangenheit, aber ich hatte ihn total vergessen. Ich habe an diesen Mann nie als an etwas anderes gedacht denn als eine Gestalt aus ein paar wilden Erzählungen aus Hams frühen Tagen. Dieser Mann –

Timothy Asquith.« Sie unterbrach sich, als beschwöre dieser Name das Böse selbst herauf. »Dieser Mann hat angerufen, und Ham war einverstanden, sich am Morgen mit ihm zu treffen, kurz bevor du hier eingetroffen bist. Asquith ist auch angekommen, aber er ist nie weggefahren.«

Sein Gesichtsausdruck sagte: Bist du sicher?

»Er kam auf einem Motorrad«, fuhr sie fort, »aber er ist nicht darauf weggefahren. Ich habe danach gesucht, aber nirgends etwas davon gesehen. Es war rot, wie ein glänzender Lippenstift, und leicht zu erkennen. Es ist gut versteckt. Ich glaube, es wurde beerdigt.«

»Beerdigt?«

»Ich sah Ham im Wald, wie er letzte Hand an etwas anlegte, das wie ein Grab aussah. Ja, so muß man es wohl nennen. Ein Grab für ein Motorrad.«

Bell schüttelte, verwundert oder ungläubig, den Kopf.

»Für mich ergibt das alles Sinn: Speke braucht wieder einmal seinen Ghostwrighter, aber er muß ihn geheimhalten, weil er so stolz ist. Und außerdem hat er einen Ruf zu verteidigen.

Asquith ist noch immer hier, irgendwo auf dem Grundstück.«

Bell starrte in seine Kaffeetasse und blickte ihr dann in die Augen. »Ist das möglich? Kann sich hier wirklich jemand verstecken, vielleicht im Wald?«

»Speke ist leer. Er hat keine Ideen mehr. Er ist verzweifelt.«

Bell schüttelte den Kopf. »Er würde doch Asquith nicht gegen dessen Willen…«

»Das meine ich auch nicht.«

Bell ließ ein Seufzen hören, einen Laut männlicher Unsicherheit.

»Du glaubst mir nicht«, sagte Sarah, als sie wieder einen Ton hervorbringen konnte. Ihre Hoffnung wurde zu einem Rauchkringel.

»Das Problem ist viel ernster.« Er legte seine Hand über ihre.

»Ich beginne – und ich beginne erst – zu glauben, daß du recht haben könntest.«

Sie lehnte sich vor, als fürchtete sie, er könne sie nicht verstehen. »Ich glaube, Asquith ist da draußen.«

Er biß sich auf die Lippen, um die Frage nicht zu stellen, die er nicht über die Lippen zu bringen wußte.

»Versteckt. Asquith ist irgendwo in den Wäldern da draußen«, sagte sie, »und er beobachtet uns. Und irgendwie hat er Macht über Ham, eine gefährliche Macht.«

»Vielleicht ist er zurückgekommen, um die alte Partnerschaft Wiederaufleben zu lassen.«

»Ich glaube nicht, daß seine Anwesenheit hier einen so unschuldigen Grund hat.«

»Ich brauche etwas wie einen Beweis.« Er hatte Mühe, es höflich zu formulieren. »Du mußt zugeben, daß in allem eine große Portion reinen Verdachts steckt.«

»Mein Vater war ein Cop. Ich weiß, was ein Verdacht ist.

Zugegeben, ich habe keinen Beweis. Aber ich glaube, Asquith ist hier, um Unheil anzurichten. Und er hat es nicht nur auf Ham abgesehen, sondern vielleicht auf uns alle hier.«

19

Speke konnte keinen Schritt tun, nur bleiben, wo er war, unfähig, auch nur ein Geräusch zu machen.

Asquith stand jenseits den Fensters und rührte sich nicht.

Das Fleisch des Gesichts hatte die Farbe des elektrischen Lichts, das darauf fiel, und die Oberfläche der Haut war voller Blasen und Risse, ersten Anzeichen beginnender Verwesung.

Oder was war es sonst? Die Erscheinung hielt sich selbst zurück, genau in den Grenzen, die ihr das Licht setzte. Sollte denn ein Geist nicht irgendwie transparent aussehen? Speke zwang sich zu atmen, während er lauschte, beobachtete und sich die Fähigkeiten einer Eule oder einer Katze wünschte. Das war ein schlechter Zeitpunkt, um einen Fehler zu machen.

Lausche, befahl er sich selbst. Was ist das dort draußen für ein Wesen? Dort draußen – im schwachen Licht, das vom Haupthaus herüberscheint.

War nicht das Erwachsensein eine Überraschung, seine Widersprüchlichkeiten, die noch immer irgendwo lauernde Kindlichkeit in der eigenen Natur, der paradoxe Unsinn, der da Erfolg hieß? Warum sollte dann nicht auch ein Geist allen Erwartungen widersprechen?

»Asquith«, flüsterte er.

Das Schweigen war auch eine Antwort.

»Was willst du?«

Die Gestalt war weiter nichts als eine Verunreinigung der Luft, ein Fleck in der ansonsten totalen Dunkelheit. Die Erscheinung war fast wie jemand, der gar nicht da war.

Aber er war da, und mehr noch – da war ein Geräusch gewesen, ein Rascheln wie von Gras, das von einem Fuß niedergetreten wird. Verlier die Selbstkontrolle nicht, befahl Speke seinen zitternden Armen und Beinen. Bleib ganz ruhig.

Starre einfach zurück.

Sie war auf jeden Fall genau wie der lebende Asquith, eine menschliche Präsenz, kaum beleuchtet vom Widerschein des schwachen Lichts aus dem Haupthaus. Da war ein Schattenspiel, das der Linie von Schultern und Armen glich, und das Glitzern von Augen in den Schatten. Die spektrale Figur trat zurück und ging davon wie ein lebender Mensch. Sie verschmolz aufs neue mit der Schwärze der Nacht.

Asquith war gegangen.

»Komm zurück«, sagte Speke mit leiser Stimme.

Das machte es nur schlimmer. Es war schlimm genug, eine Halluzination zu haben. Es war Wahnsinn, sie auch noch anzusprechen, und er redete ja nicht nur, nein, er schrie. »Ich kann nichts für das, was passiert ist. Ich wollte dich nicht umbringen.«

Dann unterbrach er sich selbst. Er schwitzte, und die seltsamsten Empfindungen trieben ihn vorwärts.

Er stolperte, gelangte irgendwie ans Fenster und riß es auf.

Aber als er auf den Lichtfleck schaute, der aus dem Zimmer auf den Boden draußen fiel, sah er lediglich den eigenen Schatten und ein paar verschwommene Zweige.

Es war hoffnungslos. Der Boden hier war derselbe Stein wie immer. Er kniete nieder und suchte im schwachen Licht, während er darauf gefaßt war, daß jeden Augenblick eine tote Hand auf seine Schulter niederfallen konnte. Die Hand wäre kalt, das wußte er. Vielleicht sogar kalt und feucht.

Dies war das Grab, in der Dunkelheit kaum auszumachen, eine lose Ansammlung von Steinen in der Nacht. Dies war das Licht aus dem Fenster. Dies – er streckte die Hand aus – war der zerborstene Stein der Erde hier, Fragmente, die ihn daran erinnerten, daß die Erde durch eine Explosion entstanden war, eine ganze Serie von Explosionen, Feuer und Sturm.

Doch zumindest war der Stein real. Er gab ihm die Gewißheit zurück, daß die Welt real und er wach war, aber er bemerkte auch noch etwas anderes.

Asquith, flüsterte er. Und er lachte.

Weil es lustig war – er hatte gerade nach Fußabdrücken Ausschau gehalten. Er hatte sich gerade eine Hand vorgestellt, körperlich, mit Fleisch und Knochen. Und das deshalb, weil er nicht hatte glauben können, daß die Erscheinung ein Geist gewesen war.

Er glaubte es nicht. Er hatte es nie geglaubt, sagte er sich selbst. Nicht wirklich.

Er war kein Kind mehr. Er hatte von Zeit zu Zeit noch immer Alpträume. Ein erwachender, sich reckender und streckender Körper konnte ihn stören, sogar ängstigen, eigentlich alles, nur nicht überzeugen. Es war nicht wirklich, nicht real. Alles würde sich als in bester Ordnung befindlich erweisen. Er verfügte noch immer über die angeborene Intelligenz. Er würde nicht zulassen, daß schiere Furcht aus ihm ein feiges Tier machen würde. Er hatte seinen Stolz. Mach dir keine Sorgen. Alles wird gut werden.

»Ich kenne dich, Asquith«, zischte er.

Kein Laut antwortete ihm. Natürlich nicht. Was hatte er anderes erwartet? Ein Echo etwa? Du wirst beobachtet. Handle besonnen. Er schloß das Fenster, löschte das Licht und sagte sich, jetzt müsse er sich Zeit nehmen. Er atmete tief durch, als die Tür hinter ihm ins Schloß fiel und er dem Weg zum Hügel hinauf folgte.

Es war wirklich keine große Aktion. Er war innerlich ganz ruhig. Es war eine sonderbare, angespannte Art der Ruhe.

Warum nur verging die Nacht so langsam? Die Sterne waren noch lebendig, die Finsternis undurchdringlich, abgesehen von dem Bergkamm, der sich im Osten bereits grau zu färben begonnen hatte. Ein Grau wie von Spülwasser, das Grau des Granits.

Er würde seinen Verstand gebrauchen. Speke lachte. Es war ein rauhes Grunzen, ein Klang, wie ihn auch sein Garagentor machte. Die Dunkelheit hatte die abgestandene Hitze des vergangenen Tages bewahrt. Hamilton fummelte in der Garage auf der Suche nach einem Lichtschalter herum und fand nur Spinnweben.

Er umfaßte den vertrauten Stiel, wandte sich um und trat wieder hinaus in die vertraute Dunkelheit. Der Spaten in seiner Hand war wie ein alter Freund. Guter, alter Spaten, dachte Speke, meine bevorzugte Waffe.

Er verstand, warum Beowolfs Mannen ihren Schwertern Namen gegeben hatten. Es war richtig: Man konnte mit dem Stahl reden, der einem das Leben rettete. Man konnte mit ihm reden, wie ein Autofahrer mit seinem schnellen Wagen sprach, dem er auch ein Eigenleben zugestand.

Wir haben eine Arbeit zu erledigen, hauchte er.

Noch war es zu dunkel. Er brauchte Tageslicht. Er wollte den Spaten in seiner Hand unter dem Sonnenlicht spüren, und was er mehr als alles andere wollte, war die Wahrheit. Und er wußte genau, wie sie zu finden war.

Er würde das Grab öffnen, um zu sehen, was unter diesen Steinen lag, falls dort überhaupt etwas zu finden war.

20

Bell und Sarah erlebten das Morgengrauen gemeinsam. Von Zeit zu Zeit stellte Christopher eine Frage zu dem Verhältnis Spekes zu diesem Schauspieler oder jenem Regisseur, aber immer wieder kehrte er zu einem Thema zurück, das ihn mehr und mehr verwirrte: Warum nur hatte Speke so wenig Sinn für Sicherheitsmaßnahmen? »In diesen Tagen berühmt zu sein«, sagte Bell, »heißt, ein potentielles Mordopfer zu sein.«

Sarah genoß es, auf seine Fragen zu antworten, aber noch mehr genoß sie das innerliche Schweigen, das sich immer einstellt, wenn man sich zu etwas bekannt hat. Bell genoß andererseits ein ganz anderes Gefühl.

Er befand sich insgeheim in einer wahren Ekstase. Das hier schien sich zu einer höchst anregenden Story zu entwickeln, dachte er. Ein Skandal – er würde Hamilton Speke total bloßstellen können.

Er nippte von seinem langsam kalt werdenden Kaffee und bemühte sich, Sarah seine Zufriedenheit nicht spüren zu lassen.

Er versuchte, gequält dreinzuschauen, besorgt. Er stellte Fragen: Welche Kräuter zog sich Clara eigentlich in ihrem Gärtchen? Hatte es unter den hier wild lebenden Tieren schon einmal einen Fall von Tollwut gegeben? Und die ganze Zeit sehnte er sich danach, seinen Verleger anrufen zu können, um ihm die erstaunlichste Biographie anzukündigen, die je über eine Persönlichkeit der Zeitgeschichte verfaßt worden war.

Falls dies alles der Wahrheit entsprach. Das war der springende Punkt. Das war der Punkt, an dem ihm sein an methodisches Vorgehen gewohnter Geist eine etwas langsamere Gangart abnötigte. Wenn er ein Buch dieser Art zu schreiben gedachte, das wußte er, dann war es unumgänglich, daß er hieb- und stichfeste Beweise in Händen hielt.

Wie, so fragte Bell sich, soll ich wohl das Thema

›Ghostwriter‹ in einer Unterhaltung mit Speke zur Sprache bringen? Indem ich anfange, über Geister zu reden? Vielleicht war aber auch die unverblümteste Frage der beste Weg. Sagen Sie mir, Ham, welche Worte haben Sie denn nun wirklich selbst geschrieben? Na los doch – unterstreichen Sie sie einmal. Das würde nicht lange gutgehen.

War das der Wind da über ihnen auf dem Dach des Blockhauses? Für einen Ort des Schweigens, ein Heiligtum, gab es auf Live Oak zu viele Augenblicke der Störung. Alle Wege waren verschlungen, und jedes Schweigen schien bestimmt, von einem Flüstern gestört zu werden, einem Rascheln in der Dunkelheit. Die ganze Liegenschaft war irgendwie verzaubert, aber etwas wie Solidität in Bell wehrte sich noch gegen diese Einsicht. Er schätzte es, wenn sich die Dinge irgendwie zusammenfügten. Er hielt dafür, die Tatsachen in Ordnung und die Hemden frisch gebügelt zu haben. Er liebte die Frische des gesunden Menschenverstands.

Es war Zeit, wenigstens vorübergehend umzukehren, zurück zur realen Welt, der Welt jenseits dieses Anwesens mit seinen ineinander verfilzten Bäumen.

Clara zog Thymian, sagte Sarah, und Basilikum und Tomaten, die die dicken grünen Würmer anlockten, die Clara dann tötete, wobei sie die zärtlichsten spanischen Lieder sang.

Die Tollwut, erklärte Sarah, sei noch nicht ganz verschwunden, und vornehmlich Fledermäuse und Stinktiere würden von ihr noch gelegentlich heimgesucht, aber bei größeren Tieren sei, so habe sie gehört, seit mehr als zehn Jahren im ganzen San-Mateo-County kein einziger Fall mehr festgestellt worden.

Der kalte Kaffee spiegelte Christopher Bells Gesicht wider, eine dunkle, verzerrte Karikatur. Sarah kehrte von sich aus zu dem Thema zurück, das ihn innerlich zittern ließ. »Es ist nicht so einfach, wie es auf den ersten Augenblick scheint«, sagte er.

»Wir brauchen Beweise.« Natürlich wollte er ihr damit bedeuten, sie solle ihm diese Beweise verschaffen. Er setzte hinzu: »Du kennst Speke besser als ich.«

»Er braucht unsere Hilfe.«

»Ich brauche mehr Beweise.« Ihm war bewußt, wie brutal das klang. Bell schob die Tasse beiseite. »Was weißt du über Maria?«

Sarah dachte über seine Frage nach. Sie rief sich die Daten ihres Lebens in Gedächtnis zurück, und so schwieg sie.

»Ich habe kein gutes Gefühl«, sagte Bell.

Maria goß gerade die Kapuzinerkresse, als er und Sarah von ihrem Blockhaus herunterkamen. Wie weißes Feuer sprühte das Wasser im Morgenlicht aus der Gießkanne und vertrieb den Staub. Ein Geruch von Erde lag in der Luft und der Duft wilder Blumen.

Wie süß, dachte Sarah bei sich. Maria machte niemals so banale Dinge wie Blumen gießen. Sie schloß sich entweder mit ihren Aquarellfarben ein oder saß da und hörte sich über Kopfhörer Kassetten an. Dieses Arrangement, in dem eigentlich nur noch ein Häubchen auf dem Kopf fehlte, um alles wie ein Bild von Renoir aussehen zu lassen, hatte sie nur für Bell getroffen, vermutete Sarah. Eine plötzliche Eingebung von der Art, die eigentlich nie falsch sein kann, sagte ihr: Maria bedeutet Kummer.

Es geschah selten, daß man eine Vorstellung von dem bekam, was Maria im Augenblick wollte. Maria lächelte. Es war kein freundliches Lächeln und auch keines zur Begrüßung. Es war ein Lächeln, das weiter nichts sagte als: Bin ich nicht niedlich?

Sarah wünschte ihr einen guten Morgen, und Bell machte eine freundliche Bemerkung über die Gießkanne. Es war eine große, grüne Gießkanne aus Blech mit einer Tülle, die die Kresse zwar großflächig, aber, wie Sarah vermutete, wirkungslos besprenkelte.

»Ich glaube nicht, daß sie antiquarischen Wert hat«, sagte Maria lächelnd. »Sie ist nur etwas für jemanden, der einmal ein bißchen allein sein möchte.«

»Und warum benutzen Sie nicht den Schlauch?« fragte Sarah.

In der Tat, die Kanne war schon leer.

Maria ignorierte die Frage und sagte statt dessen: »Wie ich sehe, sind Sie beide dabei, sich näher kennenzulernen.«

»Sarah ist mir mit verschiedenem Hintergrundmaterial behilflich«, erläuterte Bell so galant, wie es geboten schien.

»Ham sagte, er wüßte schon alles«, erwiderte Maria.

»Oh, kaum«, begann Sarah.

»Ham hat den Eindruck«, sagte Maria, »daß Sarah der führende Kopf hinter seiner Karriere ist.«

»Da könnte er recht haben«, fand Bell.

»Sarah, wir beide müssen uns bald einmal unterhalten«, sagte Maria bei dem Versuch, den letzten Tropfen aus der Kanne zu schütten. Die Kanne machte ein leises metallisches Geräusch, ein hohles Rumpeln, das aus einem so kleinen Gehäuse erstaunlich laut klang. »Ja wirklich, ich meine, wir sollten bald einmal zu einem längeren Gespräch zusammenkommen. Wir haben wohl beide einiges zu lange totgeschwiegen.«

»Aber gerade im Moment«, schaltete sich Bell mit einem Seitenblick auf Sarah ein, »hatten wir beide uns vorgenommen, heute den ganzen Tag frei zu nehmen.«

Sarah war überrascht. Sie hatte einen solchen Plan nicht erwähnt. Was konnte Christopher nur im Sinn haben?

»Aber vielleicht«, ergänzte er, »ist sie ja auch zu beschäftigt.«

»Ich denke, das ist eine wunderbare Idee«, sagte Maria. »Die arme Sarah verbringt alle ihre Tage in diesem engen Büro. Für sie müßte es doch sehr reizvoll sein, einmal einen Tag weit weg von hier zu verbringen. Manchmal sind ihre Augen richtig rot, weil sie ständig auf diesen Computer starrt. Es ist ja so freundlich von Ihnen, Mr. Bell, einen solchen Vorschlag zu machen.«

Die Strahlen der Sonne waren so scharf wie Rasiermesser.

»Wie lange war ich eigentlich nicht mehr weg…« Sarah unterbrach sich. Es gab keinen Grund, Chris wissen zu lassen, welch spartanisches Leben sie hier zuletzt geführt hatte.

Sicher, da hatte es die Affäre mit dem Fotografen gegeben und die wenn auch kurzen, so doch sehr romantischen Intermezzi im St.-Francis-Hotel in der Stadt. Und davor die Reisen nach Paris, jeweils ein Aufenthalt von fünf Tagen, zu kurz, zu hektisch, denn immer mußte sie wieder möglichst schnell zurück, um sich um Spekes Post zu kümmern.

Maria war sichtlich begeistert, daß Sarah sich den Tag freinehmen wollte. »Bleiben Sie ruhig drei oder vier Tage fort, wenn Sie möchten, Sarah. Ich meine, Sie sollten sich auch einmal um das eigene Wohl kümmern.«

»Großer Himmel«, hörte Sarah sich sagen, »das klingt ja fast, als wollten Sie mich los sein.«

Maria lachte. »Ich meine, es wäre eine willkommene Chance für ein bißchen Spaß.«

»Spaß.« Sarah genoß das Wort förmlich. Was für ein kindliches, leeres Wort das doch war mit einem Beigeschmack von Luftballons und billigem Plastikspielzeug. In der Tat –

Spaß.

Und doch, dachte sie, einige Stunden noch mit Chris allein könnten so vieles in ihr aufweichen wie unter dem Einfluß von Champagner. »Um meiner Gesundheit willen«, erwiderte sie mit ihrem süßesten Lächeln.

»Sie fangen an, Fehler zu machen, wenn Sie müde sind«, sagte Maria. Es blieb ungesagt, aber es war so lebendig wie die Wassertröpfchen auf den Blättern der Kresse. Maria würde bekommen, was sie haben wollte. Dieser plötzliche Wechsel im emotionalen Klima erschreckte Sarah, aber hier war jede Logik sinnlos.

Geh nicht, sagte eine innere Stimme zu ihr. Bleib hier.

Liefere Ham nicht dieser Frau aus. Woher nur war dieser Gedanke gekommen? Maria war, soweit Sarah das beurteilen konnte, eine ehrliche und treue Ehefrau. Sie liebte Ham, sicher.

Und Speke würde zu ihr halten, egal was Maria sagen mochte.

Außerdem gab es da noch dieses törichte Wort: Spaß. Es könnte, alles in allem, in der Tat noch Spaß bedeuten, ein wenig Zeit mit Chris allein zu verbringen.

Christopher nahm ihre Hand, als sie allein waren, und ihre Schuhe quietschten auf dem vom Tau noch feuchten Gras. Der Schatten der Pappeln lag über ihnen beiden. »Ich glaube, wir werden beide sehr viel klarer denken können, wenn wir erst weit von diesem Ort entfernt sind.«

Das war sicherlich richtig. Sie freute sich, daß er es ebenfalls so empfand. Aber sie erwiderte nichts.

»Ich sollte hierbleiben«, sagte sie, aber ihre Stimme klang wenig überzeugend.

Es war einer jener Augenblicke, die alles verändern. Was immer er als nächstes sagen würde, es würde ihr Leben verändern, in der einen Richtung oder einer anderen.

»Bitte komm mit«, sagte er.

Genau die richtigen Worte.

»Es gibt da etwas, das ich herausfinden muß«, setzte er hinzu,

»und ich möchte gern, daß du dabei bist.«

Da waren sie, ein Mann und eine Frau mit einem gemeinsamen Geheimnis, und genauso verhielten sie sich auch; sie redeten so miteinander, daß ein Spion, hätte er sie aus der Ferne mit einem Richtmikrophon belauschen wollen, weiter nichts als unverbindliches Geplauder vernommen hätte.

»In der Stadt wird es kühl sein«, sagte sie.

»Ja, um diese Jahreszeit ist es das für gewöhnlich in der Tat«, erwiderte er hoffnungsvoll.

»Ich werde einen Sweater mitnehmen.«

»Ich stelle es mir schön vor, in der Stadt essen zu gehen. Und dann gibt es dort einige Örtlichkeiten, die wir besuchen sollten.«

»Du machst mich neugierig.«

Sie waren wieder drinnen, und das Ambiente des Hauses ließ sie die Notwendigkeit spüren, so wenig wie nur möglich zu sagen. Jetzt waren sie Liebende, und das nicht nur, weil sie in der vergangenen Nacht Bett und Lust geteilt hatten.

Clara mußte es gespürt haben. Sie wünschte ihnen einen guten Morgen, und dann sagte sie, sie habe extra für sie beide ganz besondere muffins gemacht. »Kornmuffins mit etwas mehr als von jenem Brombeerbusch«, sagte sie, »von draußen, von den Felsen.«

Und dann wandte sich Clara, die schon vor langer Zeit die Unauffälligkeit selbst zu ihrem Wesenszug gemacht zu haben schien wie keine andere Frau auf Erden, an der Tür noch einmal um. »Maria hat auf Sie beide gewartet«, sagte sie.

Einen Augenblick lang sprach sie nicht weiter, als lausche sie einem weit entfernten Schritt. »Draußen bei den Blumen und Kräutern«, setzte sie dann hinzu.

Diese Information war kaum eine Überraschung, dachte Sarah, und doch war sie Clara dankbar. Sie setzte sich mit Bell an den Tisch und breitete die Serviette aus. Sarah hatte ein Gefühl, das sie beunruhigte: Nach all diesen Jahren kannte sie Clara immer noch nicht besonders gut. Sie war eine von jenen stillen Personen, die einen Raum beim Betreten wie beim Verlassen von Grund auf verändern.

Der Raum wurde kleiner, nur um ein geringes. Clara hatte ihn verlassen, und Maria trat mit einem breiten Lächeln ein wie jemand, der durch die Lüfte zu schweben versteht. In der Hand trug sie eine große weiße Rose, eine fleischige Blüte am Ende eines schwarzen Drahtes.

21

Speke stand über das Grab gebeugt.

Mach weiter, befahl er sich selbst.

Fang an zu graben.

Trotz der frühen Stunde war es schon sehr heiß. Die Luft war trocken und rein wie ein frisch bezogenes Bett, gleichermaßen steril wie neues Leben versprechend. Noch schreckte Speke zurück vor dem, was zu tun er sich vorgenommen hatte. Und doch, da gab es einen Zwang zur Entscheidung. Er hatte keine andere Wahl.

Der Spaten arbeitete wie von allein. Das stählerne Blatt stieß mit metallischem Ton auf den ersten Stein. Speke warf den Stein beiseite. Noch ein Spatenstich, ein lauter Ton, der ihn innehalten ließ. Sie werden mich hören, dachte er. Arbeite leise, oder ein jeder hier wird Bescheid wissen.

Er räumte zunächst die größeren Steine beiseite und dann den Kies. Er beförderte einen Erdklumpen nach dem anderen aus dem Bereich des eigenen Schattens hinaus. Staub erhob sich in die Luft und blieb hängen.

Ein Dutzend Stimmen schnatterten in Hamiltons Kopf, Warnungen, Zusicherungen. Die Erinnerungen an die gemeinsam mit Asquith verbrachten Zeiten waren glasklar, lebendig und um vieles realer als die Jahre danach.

Nacht für Nacht war Asquith kurz vor der Verzweiflung gewesen, er hatte sich die Haare gerauft und geschworen, er brauche unbedingt einen Drink. Und Speke hatte ihm dann immer ein paar Fingerbreit Southern Comfort eingeschenkt und ihn angefleht, sein Leben nicht einfach wegzuwerfen:

»Wir brauchen Menschen wie dich. Ist dir denn nicht bewußt, wie langweilig die meisten Menschen sind?«

»Ich langweile mich«, hatte Asquith dann gestöhnt. Oder:

»Das ist alles so stupide.« Oder: »Ich kann unmöglich weiter wach bleiben, um herauszufinden, wer ich eigentlich bin. Das wäre absolute und totale Zeitverschwendung.« Er hatte in dem lange eingeübten theatralischen Unterton eines Berufsschauspielers gesprochen, der aus seiner Melancholie oder seinem Lebensüberdruß eine Tragödie zu machen verstand.

»Du mußt an die Zukunft glauben«, hatte Speke dann erwidert. »Du mußt vor allem an dich selbst glauben.« Immer wieder hatte er derart triviale Ermutigungen ausgesprochen und auch daran geglaubt, an seine Jugend und seinen Enthusiasmus. Er hatte sich geehrt gefühlt, der Gefährte einer so großen Seele sein zu dürfen.

Einer vibrierenden Seele, aber gewiß keiner einfach strukturierten. Ein Ballett konnte Asquith zu Tränen rühren, und die eher unbeabsichtigte Unhöflichkeit eines Kellners konnte ihn eine ganze Woche lang vor Wut kochen lassen.

Asquith hatte eine ganz charakteristische Art des Zuhörens gehabt, die Augen geschlossen, den Kopf gegen die Wand gelehnt, während er heftig an seiner Zigarette sog. Und eine charakteristische Art, eine zweifelhafte Ansicht nur mit einem Blick zu beantworten. Gelegentlich hatte er für sie beide Kaffee gemacht oder Speke ein Bier eingeschenkt, und eine solche ›häusliche‹ Geste hatte Speke immer ganz eigenartig berührt.

Tu es nicht, sagte er sich selbst. Du weißt, was du finden wirst.

Ich muß Gewißheit haben. Ich muß absolut sicher sein können, was hier vorgeht. Weil ich nicht an Geister glaube. Ich glaube nicht, daß Asquiths Geist hier in den Wäldern umgeht.

Ich glaube, Asquith ist noch am Leben.

Ich weiß, daß er es ist. Alles, was ich tun muß, ist, weiter zu graben, und dann werde ich den Beweis haben.

Er wußte sehr bald, daß er sich irrte.

Der Geruch war übler, als er erwartet hatte, ein Gestank wie ein Aufschrei. Der Geruch ließ ihn keuchen, und mehr als einmal hätte Hamilton beinahe den Spaten fallen lassen.

Er ist hier. Hamilton Speke würgte einen Augenblick lang. Er ist im Grab. Ich habe mich getäuscht. Mein Geist hat keine Spielchen mit mir getrieben. Asquith ist in den Teppich eingerollt, und er ist dabei zu verwesen.

Speke würgte. Dieser Gestank sagt, was Sache ist. Es ist nicht nötig, weiter zu graben.

Er ließ den Spaten fallen. Der Teppich war ein Schatten unter dem noch verbleibenden Rest von Erde. Deck ihn zu, sagte er zu sich selbst. Deck alles zu, und begib dich zurück in das Ödland deines Lebens.

Aber etwas in ihm stritt mit ihm, die alte, rastlose Courage, die ihm in der Vergangenheit so viel Ärger eingetragen hatte.

Rief da nicht Maria nach ihm? Um Gottes willen, sie wird doch nicht hier erscheinen.

Nimm den Spaten auf und beende deine Arbeit!

Was meinst du damit, die Arbeit beenden. Ich bin fertig. Es ist alles vorüber.

Öffne den Teppich und wickle die Leiche aus! Du mußt ganz sicher sein.

Das kann ich nicht. Ich brauche einen Drink. Es liegt ein übler Geruch in der Luft. Jeder Atemzug füllt meine Lungen mit einem Gestank, den ich nie mehr vergessen werde, so alt ich auch werden mag. Der Hauch des Todes – meine Lungen sind voll damit.

Ein schwarzes Etwas flog durch die Bläue wie eine Beschädigung seiner Vision, ein kohlschwarzer Fleck in seinem Auge.

Komm zum Ende. Sieh dir den Leichnam an.

Ich bin ein menschliches Wesen. Er war mein Freund. Ein Blick in sein verrottendes Gesicht wird mich vernichten.

Maria rief in der Tat nach ihm. Oder vielleicht war es nur eine Halluzination – Hamilton konnte es nicht mit letzter Sicherheit sagen.

Der schwarze Fleck strich näher heran, ein Paar schwarzer Schwingen, schmutzig-weiß abgesetzt. Die graziösen Halbkreise setzten sich fort, während das Flügelpaar über die Wipfel der Eichen hin strich und Speke ihm nachblickte. Ein weiteres Paar gesellte sich hinzu – hoch oben. Im Flug der denkbar anmutigste Vogel, warf der Geier seinen Schatten über die Steine.

Das war ganz gewiß Marias Stimme. Sie war noch weit entfernt, aber unverkennbar.

Maria kam näher. Wenn sie das sieht – und riecht – , wird sie erschüttert sein. Sie wird die Geier sehen. Sie schreiben es ja schon in den Himmel, weithin sichtbar für jedes Getier: ein toter Mann. Sie schreien es hinaus: Seht nur, was Speke getan hat. Er beugte sich gerade zu dem Spaten nieder, als er ganz unerwartet einen Geier aus einer anderen Richtung herangleiten sah, den nackten Kopf mit dem ledernen Knopf auf dem Schädel gierig vorgereckt.

Die Stimme des Vogels war ein Grunzen, ein Krächzen wie von einem uralten Balken in einer uralten Zimmerdecke. Der große Vogel war bestimmt, die Toten aufzuessen, auch ohne Gesang. Aber welchen Gesang haben denn wir, dachte Speke, wir, die wir die Toten bestatten?

Komm zum Ende, Speke. Wirf einen Blick auf den Leichnam, Speke. Hör auf, deine Zeit zu vergeuden, Speke.

Wertloser Blödmann Speke. Pathetischer Killer. Los, hol dir einen Drink. Hol dir die Flasche. Betrink dich, und dann kannst du Asquith einen französischen Kuß geben.

Es gibt derlei nicht.

Warum nicht?

Als Geist. Da gibt’s so was nicht.

Er hatte etwas meisterhaft verdrängt. Aber jetzt konnte er es nicht mehr leugnen: Er war kurz davor, absolut jeden Bissen von sich zu geben, den er je gegessen hatte. Jeden einzelnen Löffel Erdbeerjoghurt. Jeden rosa Shrimp in allen nur erdenklichen Soßen. Alles war auf dem Weg zurück. Auch der letzte Krümel aus der Chipstüte.

Er war derjenige gewesen, der nie seekrank gewesen war, nicht einmal auf der Fähre von Yucatan nach Cozumel, diesem schlingernden, stampfenden Gebilde aus Holz und Rost. Nein, er hatte alles bei sich behalten. Aber jetzt – das hier war anders.

Ich muß eine Pause einlegen. Ich werde wiederkommen –

nach einer kleinen Pause. Halbzeit für die erschöpften Athleten, eine kleine Verschnaufpause. Liebe Festversammelte, meine sehr verehrten Damen und Herren, die Bar ist zu Ihrer Erfrischung geöffnet. Die Tänzer benötigen eine kurze Erholungspause.

Er lernte einen Gedanken kennen, der ihm nie zuvor gekommen war. Nicht an jenen langen verschwitzten Vormittagen in Mexiko. Nicht nach einer der wilden Parties hier auf diesem Gelände. Er dachte: Am besten wäre es, ich wäre tot.

Die kraftvollen, fremdartigen Silben formten sich fast unwillkürlich auf seinen Lippen: Selbstmord. Dies war keine Anwandlung eines sturzbetrunkenen Jünglings oder einer morbiden Phantasie. Die Idee des Selbstmords, der Blitz von Sicherheit und Endgültigkeit, der sie begleitete, war ihm fremd.

Glücklicherweise fiel die Empfindung wieder von ihm ab, doch danach fühlte er sich geschwächt. Schwächer im Geist, als er sich in seinem ganzen Leben gefühlt hatte. Nur eine kurze Weile, dachte er, als er sich zwang, sich wieder den augenblicklichen Geschäften zuzuwenden, nur eine kurze Weile, und ich werde Asquith aus dem Grab holen. Ich werde ihn anschauen und so zu hundert Prozent sicher sein, daß er tot ist. Aber nicht jetzt.

Finde heraus, wo Maria ist. Stell sicher, daß sie nicht in der Nähe ist und dich hier womöglich überrascht. In seinem Kopf erklang das Geschnattere eines Zeremonienmeisters: Wir werden gleich zurück sein, gehen Sie also nicht weg.

Die schwarzen Schwingen hoch oben verursachten ein unglaublich feines Schwirren, das Knistern von Federn, als die Vögel sich im Gleichgewicht hielten, um nicht auf ihn herabzufallen.

Die Schwarze Katze Von La Guadana: Horror-Roman ; ["Ein Meisterwerk Des Poetischen Horrors"]
titlepage.xhtml
jacket.xhtml
index_split_000.html
index_split_001.html
index_split_002.html
index_split_003.html
index_split_004.html