MICHAEL CADNUM

DIE SCHWARZE KATZE

VON LA GUADANA

Horror-Roman

Ins Deutsche übertragen

von Bernhard Willms

BASTEI-LUBBE

BASTEI-LUBBE-TASCHENBUCH Band 13 469

© Copyright 1992 by Michael Cadnum

All rights reserved

Deutsche Lizenzausgabe 1993 Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe GmbH & Co. Bergisch Gladbach Originaltitel: Ghostwright

Lektorat: Dr. Edgar Bracht

Titelfoto: Bastei-Archiv

Umschlaggestaltung: Quadro Grafik, Bensberg Satz: KCS GmbH, Buchholz/Hamburg

Druck und Verarbeitung:

Brodard & Taupin, La Fleche, Frankreich Printed in France

ISBN 3-404-13469-9

Erste Auflage: August 1993

Alkohol, Abenteuerreisen und schräge Einfälle – es waren wilde Jahre, die Hamilton und Timothy gemeinsam auskosteten. Und es waren die Jahre, aus denen Hamilton auch heute noch, nachdem ein Jahrzehnt verstrichen ist, seine künstlerischen Ideen schöpft: Ideen für die Musicals, mit denen er ein ständig wachsendes Publikum in den Bann zieht. Sein neuestes Werk soll den geheimnisvollen Titel ›Die schwarze Katze von La Guadana‹ tragen.

Es ist eine Hommage an den verschollenen Freund aus alten Tagen und gleichzeitig die Geschichte ihrer Trennung. Aber Timothy, der Totgeglaubte, kehrt zurück, zornig, verbittert und unberechenbar.

Er fühlt sich von Hamilton ausgebeutet, erkennt er doch in dessen Versen und Liedern seine ureigensten Ideen wieder. Als Wiedergutmachung verlangt Timothy mehr als bloß ein Honorar – er fordert das Leben des früheren Freundes, der sich bald in einen Strudel von Bedrohungen und raffinierten Täuschungsmanövern hineingezogen sieht…

Für Sherina und

mit einem besonderen Dank an meine Eltern Naomi und Robert Cadnum

Dies ist der Nachfolger des Unsichtbaren

Wallace Stevens, ›Credences of Summer‹

Eine Gestalt, so weit entfernt, daß ich sie nur erblicke, wenn ich wegschaue.

Hamilton Speke, Vorwort zu Buried Sun PROLOG

Da war Dunkelheit, und da war Licht, und das Licht unterlag.

Schatten breiteten sich aus und füllten den Raum zwischen den Zweigen. Die Luft war so kalt, daß es schmerzte; die Reste des Schnees glühten bläulich im Zwielicht.

Bald würde sie daheim sein.

Mit einem tiefen, langen Zug sog er die Luft ein und hielt sie an. Augenblicke wie diese waren das Leben. Alles andere, jedes andere Erlebnis, war Schlaf.

Zuweilen erwachen Leute, die durch einen chirurgischen Eingriff von einer Thrombose geheilt worden sind, im hohen Alter zu ihrem noch immer menschlichen Leben. Solche Menschen trauern bar aller Ignoranz, weil ihnen Jahre bewußt werden, die sie nie mehr sehen werden. Und das versetzt ihnen mitunter einen solchen Schock, daß sie eine neue Form des Schwachsinns entwickeln, einen Wahnwitz, hervorgerufen durch das Wissen, daß sie ihr Leben vergeudet haben.

Solange er das noch konnte, geheim und unentdeckt durch das Zwielicht schweben, war er noch am Leben.

Seine Füße wählten Stellen, an denen der Schnee weggeschmolzen war, und traten so sanft, so leicht auf, daß keiner seiner Schritte auch nur den geringsten Abdruck hinterließen. Er stand direkt vor dem Haus, das Ohr an den Kamin gelegt, während er ausruhte. Die Ziegel waren warm.

So warm, wie sie sein würde, wenn er sie berührte.

Er versteifte sich. Er krümmte sich zusammen und keuchte so schwer, daß es schmerzte. Ein Wagen fuhr auf dem Highway vorüber, und die Winterreifen rumpelten und knirschten durch die Nässe. Er atmete nicht, und es war fast, als spiele er toter Mann. Hier stehe ich, meine Damen und meine Herren: das absolute Nichts. Der Wagen verlangsamte seine Fahrt, ein Gefäß, angefüllt mit Licht, das die Dunkelheit attackierte. Es ist doch wohl nicht möglich, daß ich aus der Übung bin, oder etwa doch? Bestimmt sehen sie mich.

Der Wagen dort oben auf der Straße bewegte sich nicht mehr.

Er war gebannt, eingefroren, wie in einer Höhle eingeschlossen. Konnte es sein, daß sie ihn beobachteten.

Die Magie ist dahin, sagte er sich selbst. Du kannst diese Rolle nicht mehr so gut spielen wie einst. Du hast dein Gespür verloren.

Der Wagen, es war ein Jeep, bewegte sich noch immer nicht.

Sie sehen mich, dachte er keuchend. Der Motor jaulte auf.

Der ferne Jeep machte ein Geräusch, das gleichermaßen schmerzerfüllt wie wehleidig klang, und doch fuhr er nirgendwohin.

Fahr, hauchte er. Laß mich hier allein, damit ich tun kann, wozu ich hergekommen bin.

Bremslichter leuchteten auf, verlöschten, leuchteten erneut auf. Das Rattern des Motors entfernte sich, und dann war da wieder nur der Hauch des freien Landes, der Klang der entlaubten Bäume, wie sie tief und lange durchatmeten.

Er lächelte vor sich hin, die Zähne einen Augenblick lang der Kälte preisgegeben. Er zitterte wie in jenen Alpträumen, in denen er seine Schrittfolge auf der Bühne vergessen hatte und das Publikum ihn mit gespitzten Mündern ansah, bereit, jeden Augenblick zu pfeifen. Sein Atem ging unregelmäßig, und er amüsierte sich über sich selbst. Du solltest es öfter tun, spottete er über sich selbst, dann würdest du es nicht mehr als so neu empfinden.

Er hatte es seiner Schwester versprochen – nie wieder.

Aber habe nicht auch ich das Recht zu lieben? Ein jeder tut es, jeder auf seine klägliche, unvollkommene Art.

Die Frau, die hier lebte, war, so nahm er an, unlängst geschieden worden. Oder vielleicht war sie eine Frau, die sich entschieden hatte, niemals zu heiraten. Er kannte das Schema: intime Freunde, aber keinen ständigen Begleiter. Sie war eine vereinsamte, verunsicherte Kreatur. Aber das gab sie vor sich selbst nicht zu. Sie sah sich selbst als unabhängig, als eine Frau mit Karriere.

Es war Zeit.

Wochenlang war er meilenweit über die Hügel gewandert, um sie von jenseits der kahlen Bäume zu beobachten, an ihrem Fenster dem Murmeln am Telefon zu lauschen, dem Geschwätz aus dem Fernseher, dem Hauch ihrer Einsamkeit.

Er hatte sie mit ihren Liebhabern an den Wochenenden beobachtet, wie sie Arm in Arm gemeinsam zu einem Porsche oder einem Alfa Romeo gingen, der in der Auffahrt geparkt war. Er hatte sie beobachtet, wie sie mit untergeschlagenen Armen betrachtete, was zur gegebenen Jahreszeit ein Garten sein würde.

Er wußte, die besondere Bürde, die eine schöne Frau zu tragen hatte, war grausam, niederdrückend für die Seele. Und Sex – was war er oft schon anderes als ein Tauschhandel, um nett anzuschauende Männer zufriedenzustellen, auf daß die Männer sich ein wenig stark fühlen konnten, nur um einiger Spasmen des Vergnügens willen? Männer wollten besitzen.

Aber er wußte es besser.

Er kannte den besten Liebesakt, den perfekten Akt, der den Menschen gab, was sie am meisten wollten, ohne sich dessen in jedem Fall auch bewußt zu sein.

Beinahe daheim, flüsterte die Stimme. Sie ist fast zu Hause.

Er verließ das Haus und suchte sich seinen Weg durch den abtauenden Schnee. Er fand ein Versteck, das seinem Körper ideal angepaßt war.

Die Büsche zerrten an seinen Kleidern, und dann waren die Äste wieder still. Der Schnee war schlammig, durchsetzt mit Löchern, wo das Tauwasser von den Ästen getropft war. Es war nicht übermäßig kalt.

Er wußte, wie man unsichtbar blieb. Er wartete in den Büschen, den schwarzen Tannen an der Auffahrt, eins geworden mit ihnen, aufrecht wie einer der Bäume. Er liebte Bäume und fühlte sich geborgen unter den größten ihrer Art, den Meistern des Sonnenlichts und der Luft, diesen tief verwurzelten Wächtern, die nichts sahen, nichts hörten und doch wußten, wie zu heilen, zu entkräften, zu schlagen und ihrer Art die Zukunft zu sichern war.

Vorsichtig, so langsam, daß es auch nicht das allergeringste Geräusch gab, nur einen zarten Hauch in der Luft, zog er sich den Reißverschluß seiner Hose herunter. Dann lockerte er den Gürtel um ein Loch. Etwas Stählernes zitterte tief in ihm. Er war ein Meister in der Kunst des Wartens.

Scheinwerfer erhellten die lange Auffahrt. Der Schneematsch leuchtete kurz in grellem Weiß auf. Das automatische Garagentor ging knirschend in die Höhe.

Er schlüpfte ins Innere und kauerte sich hinter einen Sack mit Humuserde.

Der Sack verströmte Wärme. Das Geräusch des Wagens war laut und ließ die Luft erzittern. Und dann plötzlich schwieg die Maschine. Das Garagentor senkte sich herab, zögerte kurz und schloß sich dann mit sanftem Zittern. Die Wagentür öffnete sich, und die Luft war geschwängert vom Gestank der Auspuffgase, der verbrauchten Luft aus dem Wageninneren –

und ihrem Geruch. Der künstliche Blütenduft ihres Parfüms wehte ihn an und all die anderen Nebengerüche, die echten Gerüche: Sie war nur wenige Schritte von der Stelle entfernt, an der er wartete.

Sie trug ein Päckchen, und sie ließ die Tür zur Küche offenstehen, damit sie zum Wagen zurückkehren konnte, und die Wagentür ließ sie ebenfalls offen. Er aber erhob sich, um wie ein Rauchfetzen, eine Kreatur aus dem Nichts, hinüber auf die andere Seite zu wechseln, wobei er das Licht mied wie einen Abgrund.

Von drinnen, aus der Küche, drang das Klingen von Flaschen. Er hatte gesehen, wie sie die leeren Flaschen einmal pro Woche in den Container an der Straße hinausgetragen hatte

– vor allem importierten Wodka. Er spürte Leidenschaft in sich aufbranden, eine plötzliche Zuneigung, die sich seinen Knochen wie physische Pein mitteilte. Sie litt.

Er wußte, wie ihr Leben verlief. Es war Routine, Tag für Tag immer nur Hoffnung, eine unendliche Abfolge von Kalenderblättern, eine jede mit einem Symbol für ein besseres Morgen – einem Heim, einem Feldweg, einer Illusion. Er wußte: Jedes Vergnügen geht vorüber. Es erfreute einen Augenblick lang, eine Stunde vielleicht, doch dann lebt die Seele wieder nur aus dem Vertrauen heraus, die Freude werde erneut kommen.

Die Tür des Kühlschranks wurde geschlossen, ein leises Schmatzen, wie aus weiter Ferne. Ihr Schritt quietschte auf dem gewachsten Boden, dann wurde eine Schranktür mit einem kurzen, scharfen ›Klick‹ geschlossen. Sie kehrte wieder bis fast zur Garage zurück, aber er konnte ihre Unentschlossenheit spüren, dieses so vertraute Gefühl ganz nahe am Schmerz, das eine volle Blase verursacht und das sie veranlaßte, durch das Haus davonzueilen, bis ihre Schritte sich in Schweigen verloren.

Nur eine Berührung, eine einzige, und sie würde keinerlei Desillusionierungen mehr erfahren, keine Versuche mehr unternehmen, wiederherzustellen, was längst verloren war –

die bloße Vertrauensseligkeit der Kindheit.

Seine Hand suchte, entdeckte und verwarf ein Objekt nach dem anderen. Er benutzte stets, was gerade zugänglich war, der Schauspieler, der mit seinen Bewegungen mehr ausdrückte, als was im Script stand.

Seine Hand verschmähte die Rasenschere, die rostige Rosenschere, die Heckenschere, den schweren Schraubenzieher und den verstellbaren Schraubenschlüssel in der Werkzeugtasche. Wie es schien, hatte er recht gehabt mit seiner Vermutung, sie sei geschieden. Dies hier war das halb aufgeräumte Werkzeugsortiment eines Mannes, und die Werkbank war mit einer feinen Staubschicht überzogen, wie sie sich in einer Garage über etliche Monate hinweg immer bilden würde.

Seine Hand schloß sich über einem Handgriff. Er spürte, wie sich sein Gesicht zu einem Lächeln verzog. Ja, das war etwas, das er benutzen konnte.

Es war nicht perfekt und würde eine gewisse Kunstfertigkeit erfordern. Das liebte er: die Herausforderung. In der Tiefe des Hauses war die Wasserspülung der Toilette zu vernehmen, und ihre Schritte erklangen erneut durch das Haus und dann in der Küche.

Sie war wieder in der Garage, hielt an, zog ein Paket quer über die Autositze. Blechdosen schepperten gegeneinander.

Papier raschelte, Plastik knisterte, und dann wandte sie sich um und richtete sich gegen das Licht aus dem Haus auf und wollte schon wieder gehen, als ihr im letzten Augenblick noch einfiel, die Wagentür mit einem leichten Fußtritt zu schließen.

Er fiel schweigend über sie her, als komme er aus großer Höhe herab, ein Mann, der nicht da war, ein Schatten, irgend etwas, das achtlos durch das Halbdunkel geworfen wurde.

Sie schrie, doch seine Faust war schon in ihrem Mund und ihre Zunge nicht mehr als ein sich windendes Stück Fleisch. Er umarmte sie, ein Liebhaber, gekommen, ihre Last zu erleichtern, ihren Herzschlag zu spüren.

Nein, hauchte er in ihr, es ist ja alles gut. Ich bin wegen dir gekommen.

Der Schraubenzieher bohrte sich in ihren Schädel, genau da, wo vor so langer Zeit in der Kindheit die Fontanelle zugewachsen war, exakt am Schnittpunkt der Scheitelknochen.

Einen Augenblick lang widerstand der Knochen dem scharfen Stahl. Dann hob sich seine Faust halb in das Dämmerlicht und rammte hinunter auf den hölzernen Griff des Werkzeugs.

Dreimal hämmerte seine Faust auf den Schraubenzieher hinunter. Das blonde Haar verfärbte sich dunkel. Ein Bein schlug auf und nieder, genau in die Türfüllung hinein, und ließ das Holz splittern. Der eine Arm flog herum wie ein Windmühlenflügel, während der andere steif wie Gestein wurde und an der Schulter zu ziehen schien, als wolle er den ganzen Körper hinunterziehen.

Er hielt sie fest, streichelte sie, beruhigte sie und half ihr, auf den Boden zu sinken.

»Es ist ja alles vorbei«, keuchte er ihr ins Ohr, denn er wußte, daß sie noch hören konnte, daß die Sterbenden minutenlang zwischen Leben und Tod schweben.

Er wußte um das Vergnügen, das sie empfand, als ihr Leben durch die Öffnung in ihrem Schädeldach hinaufgesogen wurde in die Ewigkeit, während er sie, um den Augenblick perfekt zu machen, voller Zärtlichkeit entkleidete, ihr ins Ohr flüsterte, wie schön sie sei in ihrem größten Augenblick, wie sehr sie geliebt werde.

Und selbst da gab es noch keinerlei Hast. Dies war nicht die leidenschaftslose Lust eines Mannes, der nur die Schönheit beherrschen, sie verführen und bis zur Neige genießen wollte.

Die Liebe, die er ihr machte, war perfekt, bereit, ihr zu folgen, die Knie auf dem kalten Betonboden, ohne daß er es merkte, bis er vollständig in ihr versank, so weit er nur in die Passage hineingelangen konnte, jenseits derer allein er sie würde rufen können, um ihr eine gute Reise zu wünschen.

Er warf die Gummihandschuhe ins Feuer und das Präservativ dazu, das aber, feucht von seinem Samen, nicht brennen wollte und sich nur einfach zusammenkräuselte und irgendwie verschwand.

Es war ein langer, aber sehr angenehmer Weg heim unter einem Himmel, der von Wolken verdunkelt wurde. Seine Füße suchten sich Steine, um darauf zu treten, auf daß er in dem vergehenden Schnee keinerlei Spuren hinterließe.

Als er sein Apartment erreicht hatte, fand er es drinnen zu warm. Die Zimmer waren zu klein. Sie blickte ihn an, während sie unbeweglich dort stand.

»Was«, flüsterte sie, »hast du getan?«

Seine Schwester konnte zwei und zwei zusammenrechnen.

Ihr genügte ein einziger Blick, und sie wußte: Er hatte es wieder getan. Sie führte sich die Hand an die Kehle, ihre Lippen öffneten sich, und er wollte sagen, mach dir nichts daraus.

Er hatte, wie es schien, sein Leben in Apartments wie die dem hier verbracht, diesem Käfig im Norden New Yorks. Er streichelte seine Schwester über das Haar und küßte ihr die Tränen von den Wangen. Er saß immer noch neben ihr, als sie sich langsam in den Schlaf weinte, in ihre Träume, in denen sie sich von ihm zurückzog, wohl wissend, was er getan hatte, und trotzdem bereit, sich selbst etwas vorzulügen.

Endlich schlief sie ein.

Er ging ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein. Er sank auf das Sofa zurück, ein Mann, der sich wieder in eine normale Existenz zurückfallen ließ. Die Bilder zogen an ihm vorüber, ohne daß er recht hinblickte.

So saß er lange da. Bis in die Nacht hinein. Er hatte angefangen sich vorzustellen, eines Tages könnte auch sein eigenes Konterfei den Bildschirm zieren, seine eigene über Mikrophon auf Tonband gespeicherte Stimme wieder erklingen; sein Leben würde vervielfältigt, seine Toten-Existenz in neues Leben umgewandelt. Er wußte, wie man sich zu bewegen hatte, damit das Mikrophon weiter nichts als die eigene Stimme aufnahm. Er konnte schauspielern. Aber das war alles schon so lange her. Das bin ich, dachte er, ich, der Künstler, der aus dem Dunkel auftaucht, um sich zu setzen und zu beobachten – aber was? Was sehe ich mir an, während ich hier sitze und die süßen Nachwehen des Vergnügens genieße?

Er bewegte sich ein wenig. Mein Freund, dachte er. Es ist mein Freund, der sich da bewegt, ohne ein Wort zu sagen. Der Künstler suchte und fand die Fernsteuerung. Er drehte die Lautstärke auf, und die berühmte Stimme ließ die Lampe neben ihm erzittern, daß sie leise zu klirren begann. Das ist Hamilton Speke, dachte er, Hamilton Speke, der mal wieder in einer Talkshow auftrat.

Speke erschien immer wieder auf den Bildschirmen, und er verstand es, sich von seinen Gastgebern stets ins beste Licht setzen zu lassen. Spekes Gesicht strahlte an jedem Kiosk neben irgendwelchen Süßigkeiten von irgendeinem Magazin herunter. Der Künstler hatte immer vor Wut geschäumt und seinem alten Freund die meisterlich gespielte Rolle als gesunde, erfolgreiche Figur voller Leben mißgönnt. Doch der Künstler hatte keinerlei Versuch unternommen, selbst der Dunkelheit zu entfliehen. Die sich bewegenden Lippen des Bildes von Hamilton Speke regten den Künstler kaum dazu an, mehr zu empfinden als einen winzigen Hauch von Neid, eine Würze zu dem Nachglühen, das ihn noch immer besänftigte.

Doch dann hielt der Künstler den Atem an.

Er lehnte sich vor.

Er stand auf, unfähig, eine weitere Bewegung auszuführen, wie festgefroren vor Unglaube.

Nein – das konnte Speke nicht tun.

Speke sprach über ein Stück, das noch im Entstehen war, ein Stück, das nahezu vollendet war, ein Stück, von dem die sanfte Stimme seines Gastgebers sagte, es werde ›das lange erwartete Meisterstück‹ sein. Speke pflichtete ihm bei und ließ seine berühmte Andeutung eines Achselzuckens sehen, wobei er nickte und sagte: »Es dauert noch lange, bis es fertig sein wird.

Vielleicht ein Jahr oder auch zwei. Aber wenn ich damit fertig bin, denke ich, wird es mein wichtigstes Stück sein.

Wenigstens hoffe ich es.« Und das sagte er mit jener Leichtigkeit und jenem Selbstvertrauen, die gleichermaßen bescheiden und von keinerlei Zweifeln getrübt waren.

Speke begann, das Stück zu erläutern, und der Künstler spürte, wie er Zelle für Zelle langsam zu Stein wurde.

Das kann er nicht tun, schrie der Künstler in Gedanken, und das eigene unhörbare Geheul machte ihn taub für jedes Wort, das Speke hinzufügte. Speke kann diese Geschichte nicht verwenden. Diese Story gehört mir. Sie ist meine Geschichte –

die wichtigsten Tage meines Lebens. Das waren die Tage, in denen ich von einem durchschnittlichen Menschen zu der Kreatur wurde, die ich heute bin.

Meine Geschichte. Mein Leben.

Er stürzte hinaus in die Kälte.

Endlich konnte er wieder atmen. Gebäude, die er schon so oft gesehen hatte, kamen ihm jetzt wie eine Falle vor. Sein Schatten flog vor ihm her über den vor Nässe glänzenden Asphalt.

Natürlich kann er diese Story verwenden. Er kann alles tun.

Er ist Hamilton Speke, bewundert und sogar geliebt. Und er verdient die Liebe der anderen, er, ein Mann voller Farbe und Leben.

Der Künstler spürte, wie er innerlich lachte. Natürlich konnte er das Stück nicht selbst schreiben. Nein, das würde nicht gehen. Ich habe es versucht, aber die Seiten blieben jedesmal leer. Das ist meine Art von Perfektion, die Leere. Um das Stück zu schreiben, müßte ich sein wie Speke, meiner selbst ganz sicher, glücklich, wenn ich im grellen Licht der Scheinwerfer im Fernsehstudio stehe.

Der Künstler ließ sich in den gefrorenen Straßenschmutz fallen. Der Baum über ihm ließ ein leises Wispern hören, als er sich bewegte wie ein fest verwurzeltes Etwas, das versuchte, in die Höhe zu springen. Oh, welch geschickter Selbstbetrüger ich doch war, dachte der Künstler.

Speke nimmt sich, was mein ist. Und ich weiß, wie er aufzuhalten ist.

Der Künstler hatte wie ein Mann im Koma gelebt, eine menschliche Existenz im Zwielicht. Wie ein Mensch, der voll und ganz Luft war, ein Hauch von Atemluft – ein Nichts.

Speke zu hören, sein strahlendes Gesicht zu sehen, jene Art von Contenance zu erleben, die die Leute bewunderten und der sie vertrauten, das hatte alles verändert. Das gebar jenen Unmut, der die Oberfläche der Seen kräuselte und die Berge zu den Sternen emporschleuderte. Der des Künstlers war wie die Schwerkraft, wie die Sonne und der Mond.

Das kannst du nicht machen, Hamilton.

Ich weiß genau, wie ich meinen alten Freund auseinandernehmen kann, Stückchen für Stückchen. Ich weiß, welchem Frauentyp er nachstellt, ich weiß, welche Art Trost er braucht, und ich weiß um die Dinge, die ihn nachts nicht schlafen lassen.

Ich werde es dich nicht tun lassen.

Es wird Monate brauchen, aber ich habe so lange gewartet, daß mir ein wenig mehr Zeit auch nichts mehr ausmacht. Er lächelte und blickte in die mittlerweile sternenlose Nacht hinauf. Ich bin auf dem Weg zurück, versprach er dem Himmel.

Die Dunkelheit zog herauf. Dieses Mal würde sie sich holen, was ihr gehörte.

Und nichts mehr hergeben.

ERSTER TEIL

KÖNIG DES LICHTES

1

Da war ein Feuer.

Er konnte es nicht sehen, wie er da im vollen, fast blendenden Licht des Sommers stand, aber er konnte es riechen.

Hamilton Speke stand still, blinzelte in die helle Sonne und dachte nein.

Nein, alles andere, nur kein Feuer.

Das Land rings um ihn war wie aus reinem Sonnenlicht geschnitzt – goldenes Getreide, vertrocknender Hafer, der in der Hitze flimmerte. Die Hitze war trocken, jeder Atemzug wie die Aufnahme heilender Strahlen, der Triumph der Dürre eines kalifornischen Sommers, den Speke immer sehr zu schätzen gewußt hatte.

Der Geruch von Rauch hielt an, aber Hamilton versuchte, ihn vor sich selbst zu leugnen. Auf dieser Seite des Sees hatte es seit Jahren nicht mehr gebrannt. Früher einmal hatte es hier ein Feuer gegeben, ein schlimmes Feuer. Aber bestimmt würde das Glück andauern.

Er wanderte einen Wildwechsel am Rande des Anwesens entlang, wie er es fast jeden Tag tat, um Telefon und Telefax und allem anderen zu entgehen, das das Tagesgeschäft eines Mannes mit einem großen Namen ausmachte. Er war gern hier in den Hügeln. Vor einigen Jahren schon hatte er Live Oak gekauft, weil er sich noch nie irgendwo so sehr zu Hause gefühlt hatte und weil er das Land und seine Tiere liebte wie sein eigenes Leben.

Und jetzt hing der beißende Gestank von Rauch in der Luft.

Der Geruch eines ungewissen Giftes im leichten Wind. Es ließ ihn den Schritt verhalten, als hätte eine Stimme vom Himmel seinen Namen gerufen.

Plötzlich verflüchtigte sich der Geruch. Hamilton bewegte sich nicht. Ein weit entferntes schmerzerfülltes Singen; Habichte oder vielleicht auch Geier umkreisten die goldenen Spitzen der Hügel am Horizont. Die Hügel schienen auf den seewärts gelegenen Hängen und den Schründen und Abgründen der Canons wie von den großen Eichen gezackt.

Hamilton Speke atmete tief ein und behielt die Luft in den Lungen, während er den Himmel absuchte.

Da, siehst du, sagte er zu sich selbst. Er kämpfte darum, sich selbst davon zu überzeugen. Alles ist in Ordnung. Nirgendwo gibt es ein Feuer.

Schweiß brach ihm aus. Ein Irrtum war ausgeschlossen. Es gab Rauch, unsichtbar zwar, aber real. Der Wind frischte auf, legte sich wieder und erhob sich erneut. Es kann nicht sein, sagte sich Hamilton, während er begann, in die Richtung des Geruchs zu laufen, und seine Hände waren zu Fäusten geballt.

Die Flammen schlugen entlang des Ufers hoch, und der Rauch verdunkelte, was immer sich dahinter abspielen mochte.

Der grüne Feuerwehrwagen des County stand quer auf dem Hang, und hinter dem Rauch eilten geschäftig mehrere Gestalten hin und her. Weiße Staubschleier, die von jenseits des Löschzuges kamen, legten sich auf den Rauch. In dieser Trockenheit, dieser Hitze mit all dem dürren Getreide war ein Feuer tödlich.

Speke versuchte, sich selbst zu beruhigen. Er war dankbar –

die Anwesenheit der County-Feuerwehr bedeutete, daß alles unter Kontrolle war. Er eilte weiter, um zu helfen, froh darüber, hier zu sein, begierig, mit in den Kampf einzugreifen.

Und dann verstand er voll und ganz, was vorging.

Er mußte schnell sein.

Unter dem Wagen hatte sich eine schwarz verbrannte Stelle ausgebreitet, ein Reifen barst mit lautem Knall, gefolgt vom Pfeifen der entweichenden Luft. Die Flammen erfaßten den Wagen, das Feuer tanzte in die Fahrerkabine hinein, färbte das Dach von innen zuerst weiß und dann gleich darauf schwarz.

Speke stürzte sich ins Fahrerhaus und fand einen Spaten. Er sprang wieder herunter und warf sich in die Flammen. Wut hatte ihn noch immer beflügelt. Er erstickte die Flammen, als er sich durch sie hindurchschaufelte, er tötete sie und hatte das seltsame Gefühl, inmitten eines Krieges zu sein, sich einer Herausforderung stellen zu müssen.

Und zur gleichen Zeit empfand er Furcht, entsetzliche Furcht.

Seine Fußsohlen wurden heiß, als er die Flammen austrat. Er rief die Männer an, die halb hinter den überall ziehenden Rauchschwaden verborgen waren, die jeden Atemzug zur Qual werden ließen. Dann war der Rauch verflogen, die Luft wieder klar, und das Sonnenlicht ergoß sich hell über die Szene, als ein Windstoß daherfegte.

Er wandte sich um, als ein neuer heißer Windstoß an seiner Kleidung zerrte. Die Explosion schien sich zuerst in den Boden bohren zu wollen, doch dann wurde der Wagen zur Seite weggekippt, und sofort breitete sich der Feuerball nach allen Seiten aus und verspritzte brennendes Benzin, das die Flammen immer weiter trug.

Speke hatte einen schmalen Pfad durch die Flammen geschlagen, aber niemand traf Anstalten, dem Inferno zu entfliehen. Er rief sie an, aber das Prasseln des Feuers war zu laut. Die Feuerwehrleute waren benommen, hatten die Zähne zusammengebissen und kämpften noch immer. Sie waren umgeben von Flammen, schaufelten weiter ohne Hektik und schwitzten gewaltig unter ihren gelben Schutzhelmen. Der Feuerring schloß sich um sie. Funken waren in den Rücken der Feuerwehrleute geflogen, und die auffrischende Brise hatte die Flammen aufs neue angefacht. Die Männer waren auf einer rechteckigen Fläche eingeschlossen, die immer kleiner wurde, so daß sie bereits Rücken an Rücken kämpften. Wieder rief Hamilton sie an. Es waren nur vier Männer, und sie waren noch jung; in ihren Augen stand der Schock geschrieben, als sie Speke entdeckten.

Sie blickten ihn an, als suchten sie nach einem, der sie führte.

Er hob seinen Spaten. »Kommt schon!« rief er ihnen zu.

Er winkte sie zu der rauchenden Schneise, die er in die Flammen geschlagen hatte. Der Rauch drang ihm in die Augen, daß ihm die Tränen übers Gesicht liefen, und er konnte kaum noch atmen. Die Hitze war so groß, daß er schon fürchtete, eine gewaltige Thermik werde ihn gleich in den Himmel hinauftragen.

Es war, wie wenn man in einem Traum läuft, in einem Alptraum, wenn die Seele sich daran erinnert, was es heißt, ohne Kraft zu sein. Speke und die Männer rings um ihn entkamen der Hitze um keinen Schritt. Die Füße wirbelten Asche und Staub auf und schienen doch nirgendwohin zu gelangen. Die Männer rannten, und Zeit bedeutete nichts; ihre Körper waren ausgelaugt.

Und dann waren sie wieder frei, der Wagen nur noch ein Gefäß angefüllt mit goldener Hitze, die Türen waren aufgesprungen, die grüne Farbe schmolz und gab den blanken Stahl frei.

Endlich waren sie außerhalb des Feuerrings, und die Männer taten, was zu tun sie gelernt hatten. Sie schnitten eine Schneise rund um den Brandherd, sie arbeiteten hart, aber mit schweren Gliedern, die Spannung war weg, der Kampf nur noch Arbeit, nicht länger mehr Kampf ums Überleben.

Einer der Feuerwehrleute lehnte sich an einen Baum und schob sich ein Hosenbein in die Höhe. Seine Wade war verbrannt, und er zog eine Grimasse, als man ihm Desinfektionslösung in die Wunde sprühte. Ein anderer Feuerwehrmann lag auf der Erde, und seine Augen zwinkerten, als er reinen Sauerstoff durch die Maske einatmete.

Ein schweres Löschfahrzeug fuhr die Straße entlang, das gelbe Signallicht rotierte. Ein Schlauch wurde ausgerollt, und Wasser ergoß sich auf den ausgedörrten Boden und bekämpfte das Feuer.

»Mr. Speke hat uns das Leben gerettet«, sagte einer der jungen Feuerwehrleute, und er sagte es, als habe er etwas besonders Erfreuliches, ja, Lustiges mitzuteilen. Es klang ein wenig wie ein Scherz, aber es war die Wahrheit. Sie ließen eine Flasche Gatorade die Runde machen und schüttelten Hamilton die Hand, einer nach dem anderen.

Das Feuer hatte schon genug getötet, damals, vor zehn Jahren, kurz bevor Speke Live Oak erworben hatte. Ein Rancher war verschwunden, als er unterwegs zu einer Anhöhe gewesen war, von wo aus er das Feuer hatte beobachten wollen, und als sie ihn Tage später fanden, war er eine verkohlte, grinsende Puppe gewesen. Dies war jedenfalls die Beschreibung, die Mr. Brothers, Spekes Gärtner, gegeben hatte, und das war kein Mann, dem Übertreibungen lagen.

»Sie müssen unbedingt meinen Helm signieren, Mr. Speke«, sagte einer, und er reichte Speke einen Helm und einen schwarzen Filzschreiber. Hamilton wollte im ersten Augenblick nur das weiße Kinnband signieren statt den ganzen Helm, als die aufmunternde Stimme sagte: »Nein, signieren Sie den ganzen Helm, quer von einer Seite zur anderen.«

Er signierte mit noch etwas ungelenker, aber mutiger Hand, und sein Name wurde verformt von den Rillen, die von der Spitze des Plastikhelms nach allen Seiten liefen, trotz seiner Handschrift, von der ihm ein Graphologe vor Jahren einmal gesagt hatte, es sei die Handschrift eines Mannes, der gleichermaßen optimistisch und glücklich sei, eines Mannes, der an das Leben glaube und doch gleichzeitig vor bestimmten Dingen sehr viel Angst habe.

Das Drängen der Feuerwehrleute schmeichelte ihm und berührte ihn auch irgendwie seltsam, aber er empfand ihren Wunsch keineswegs als absonderlich. Er kannte die Macht eines Namens. »Signieren Sie meinen Frühstücksbeutel, Mr.

Speke«, bat einer ihn, und dann setzte er noch auf eine Art hinzu, die ihn anrührte: »Schreiben Sie doch bitte ›für Ellen‹.«

Speke schrieb die Worte, während er auf dem verkohlten, heißen Gras stand, aus dem noch immer Rauch aufstieg, kleine weiße Wölkchen wie Federn, die in die Hitze hinaufstiegen. Er war das ehrerbietige Lächeln von Fremden gewohnt. Er war ein großer Mann, und er hatte, wie er nur zu genau wußte, Aussehen und Haltung eines Mannes, der sich vom Herkömmlichen unterschied. Und er wußte, daß er mit seinem Lächeln, das fast jeden Monat auf den Titelseiten der Magazine zu sehen war, für diese braven Leute hier wie das blühende Leben selbst aussehen mußte.

Als er in dieser Nacht wach wurde, fand er Maria neben sich, und er ließ seine Hand über ihre Hüfte gleiten. Sie bewegte sich leicht und drängte halb wach ihren Rücken gegen ihn. Es war eine Frage, ob er noch Liebe machen wolle, oder vielleicht war es auch nur eine Geste, um ihn zu beruhigen, denn sie wußte ja, daß er unter Alpträumen litt. Er fühlte, daß sie ihn ganz genau kannte, und doch blieb sie ihm immer noch ein wenig fremd, eine Frau, die er liebte, ohne ihre Vergangenheit wirklich zu kennen, selbst jetzt noch, da sie schon seit Monaten verheiratet waren. Aber in einer Hinsicht war es auch gut so: Es blieb das Versprechen zu künftigen Entdeckungen.

Er würde langsam in ihr Leben hineinwachsen wie ein Mann, der einen neuen Dialekt lernt.

Aber die Erinnerung an das Feuer hielt ihn wach. Er hatte sich eine perfekte Welt gewünscht, eine Welt, die er gegen die Erosion durch die Zivilisation schützen konnte. Vielleicht, schalt er sich selbst, wollte er eine Welt errichten, die nicht sterben konnte.

»Der berühmte Drehbuchautor Hamilton Speke hat heute nachmittag eigenhändig das Leben von fünf Feuerwehrleuten gerettet, die…« Er hatte sich diese oder ähnliche Worte immer wieder in den Abendnachrichten des Fernsehens angehört, bevor er es endlich geschafft hatte, den Apparat auszuschalten.

Und jetzt lag dieser heroische Speke hier wach und amüsierte sich über die eigene Ängstlichkeit. Ein schöner Held bin ich, dachte er, ein Held, der hier wach im Dunkeln liegt und an nichts anderes denken kann als daran, wie furchtbar es sein müßte, das alles zu verlieren.

Wenn ich dieses Haus verlöre, wenn ich Maria verlöre – ich glaube, ich könnte es nicht ertragen.

Aber es ist ja alles in Ordnung, beruhigte er sich selbst. Das Feuer ist doch aus.

Oder etwa nicht?

2

Es war der Morgen nach dem Feuer.

Er ließ Maria schlafen und küßte sie nur ganz zart auf das Ohrläppchen. Sie bewegte sich ein wenig, lächelte im Schlaf, wurde aber nicht wach. Sie schlief mehr als irgend jemand, den er kannte. Er hatte immer gedacht, zuviel zu schlafen sei ein Anzeichen von Depressionen oder der klassischen Melancholie. Aber Maria schien weniger deprimiert als vielmehr mitgenommen von den Alltäglichkeiten rings um sie herum. Er fand sie nur um so reizender wegen dieser ihres kleinen Geheimnisses, dieser katzenhaften Fähigkeit, jederzeit zu schlummern.

Er wußte, daß sie wie er selbst auch unter Alpträumen litt, obwohl er deren Natur nicht kannte. Manchmal tröstete er sie, wenn sie begannen, und versicherte ihr, alles sei bestens. Sie kämpfte im Schlaf und versuchte, mit ganz kleinen Tritten, wie es viele Leute tun, davonzulaufen. Sie sprach auch im Schlaf, stieß Warnrufe aus oder stellte ängstliche Fragen, wenn er ihren Tonfall richtig deutete. Doch nie konnte er verstehen, was sie genau sagte, und er fühlte sich schuldbewußt, weil er versuchte, ihre Ängste und Aggressionen, die sich in ihren Träumen ausdrückten, Stück für Stück zusammenzusetzen.

Jetzt stand Sarah in der Zufahrt zu ihrem Landhaus und trocknete sich das Haar mit einem weißen Handtuch. Hamilton winkte ihr zu, und sie erwiderte seinen Gruß mit einem Lächeln so hell wie der Sonnenschein.

Die Luft war jetzt am frühen Morgen noch frisch, und der Morgendunst hatte gerade erst begonnen, sich ein wenig zu lichten. Er wanderte den Wildwechsel entlang, bis er den scharfen Dunst verbrannten Grases in der Nase verspürte, den Geruch erst kürzlich verlöschten Feuers.

Da waren noch immer die Spuren des Feuerwehrautos und die der Feuerwehrmänner zu sehen. Und hier, wo das verkohlte Gras schon einen silbrigen Schimmer angenommen hatte, war die Stelle, wo er seine Autogramme auf die Helme geschrieben hatte.

Na also, sagte er zu sich selbst, das Feuer ist doch aus. Was hatte ihn nur so unsicher sein lassen, daß er sich in solcher Hast die Kleider übergeworfen hatte? Sicher, mitunter erwacht ein solches Feuer nach ein paar Stunden von selbst aufs neue.

Aber hier war doch alles zu totaler Schwärze verbrannt.

Auf seinem Weg zurück blieb er an dem Mauseloch stehen, holte einen Salzcracker aus der Hemdentasche und kniete sich nieder, um ihn in der Faust zu zerbröseln. Morgen, so wußte er, würde von dem Cracker nichts mehr übrig sein, und obwohl Brothers, der Gärtner, sicher über ihn gelacht hätte, verließ Hamilton das Refugium der Maus in dem schönen Bewußtsein, etwas absolut Unbedeutendes und doch gleichzeitig Gutes, ja Notwendiges getan zu haben.

Er spürte Gelassenheit, als er wieder an seinem Schreibtisch saß. Er starrte auf den leeren Bildschirm seines Computers, und die Gelassenheit begann dahinzuschwinden.

Wie lange würde dieser Zustand noch andauern, daß er nicht fähig war, sein Drehbuch zu schreiben? Es war jetzt acht Monate oder sogar noch mehr her, seit er unter den heißen Scheinwerfern in jenem Fernsehstudio gesessen und seine Zuversicht bekundet hatte, sein Werk werde gut vorankommen. »Es handelt von Mexiko und dem Urwald und davon, etwas zu entdecken, von dessen Existenz niemand etwas ahnt. Es geht in dem Stück um die Entschlüsselung eines Geheimnisses.« Er hatte rundum Optimismus ausgestrahlt und ohne auf das rote Licht der Kamera zu achten hinzugesetzt:

»Und es handelt von zwei jungen Männern, die darüber streiten, was sie mit dieser Entdeckung beginnen sollen.«

»Wie wird das Stück heißen?« hatte der Talkmaster mit einem Lächeln wie bei einer Zahnpasta-Reklame gefragt und mit denselben Lippen, die das Wort ›Meisterstück‹ kreiert hatten.

»Die schwarze Katze von La Guadana.« Speke hatte zurückgegrinst, aber die Wahrheit hatte er nicht gesagt, daß nämlich das Stück noch genau dort stand, wo es schon immer war – nirgendwo. Er hatte seine Lüge sogar noch bekräftigt, während ihn der Duft seines Deodorants umwehte. »Vielleicht in einem oder zwei Jahren«, hatte er sich selbst mit dem glücklichen breiten Lächeln eines Schulkindes sagen hören.

Ein Jahr oder zwei, stöhnte er jetzt wieder unhörbar vor sich hin. Er hatte noch nicht eine einzige Szene geschrieben. Aber wenn er ganz ehrlich zu sich selbst sein wollte, mußte er sich schon eingestehen, daß er gestern sehr wohl eine Zeile geschrieben hatte, diese aber wieder und immer wieder, um sie dann gleich wieder zu löschen.

An seinem Ellenbogen sah er einen Brief seines Produzenten, buttergelbes Büttenpapier mit elegantem Prägedruck.

»Schicken Sie uns irgendwas. Einen Akt oder zwei. Irgendwas.

Das Vorgeplänkel kann sich nicht über Jahre hinziehen. Wir müßten am besten gestern mit der Produktion beginnen.« Da lag noch ein anderer Brief, einer von seinem Agenten aus L. A.

geschrieben auf so teurem Papier, daß es nicht einmal knisterte. Sie mußten schon Angebote bekannter Schauspieler ablehnen, die die japanische Fassung synchronisieren wollten.

In ihm lebte eine Story, und es war eine Story, die er nicht beginnen konnte. Die Dialoge waren tot, die Charaktere entschwunden und doch immer noch präsent. Er fuhr sich mit den Händen durchs Haar. Er schloß die Augen und hätte sicher zu beten begonnen, hätte er nicht auch die Fähigkeit dazu schon vor langer, langer Zeit verloren.

Erfreut wandte er sich um, als er Sarahs Schritte hinter sich vernahm, und war begeistert über das, was sie im Arm trug, die Neuauflage der CD Stripsearch, das Musical, das gekürzt worden war und dadurch gewonnen hatte, wie er zugeben mußte, auch wenn die Besetzung nicht zu verbessern gewesen war. Die beste männliche Stimme, die mit der stärksten Aussagekraft, war erst vor einigen Wochen gestorben, und seine Familie hätte nie und nimmer zugegeben, daß er an AIDS gestorben war. Die anderen Stimmen hatten sich anderen Triumphen verpflichtet – oder auch anderen Rückschlägen. Speke hatte sein Einverständnis erklärt, Dutzende Exemplare aus dieser Neuauflage für eine Auktion zu signieren, deren Reinerlös für das örtliche Hospital vorgesehen war.

Ein Bild von ihm, nicht größer als eine Briefmarke, befand sich direkt neben den übergroßen Lettern, mit denen sein Name auf den Covern stand – zumindest kam ihm die Schrift so riesengroß vor, wie hingebrüllt: HAMILTON SPEKE. Und daneben das winzige Bildchen, auf dem er im übrigen jünger aussah. Trotzdem kein schlechtes Bild, dachte er so intensiv, daß er selbst nicht sicher war, ob er es nicht laut gesagt hatte.

Um sich zu vergewissern, blickte er auf und sah Sarah ins Gesicht, um vielleicht zu ergründen, was sie dachte.

Sie war die beste Managerin in dem Geschäft, eine Frau, die geboren schien, Bataillone zu kommandieren oder eine ganze Industrie zu lenken. Unerschütterliche Sarah. Immer gelassen, immer ruhig. Ohne sie hätte er auch nicht einen einzigen seiner Tage zu organisieren gewußt. Und an diesem Morgen war sie wie eigentlich immer, professionell bis hin zu dem Umstand, daß sie im vorhinein erriet, was er brauchte, als sie den dicken schwarzen Filzstift vom Schreibtisch nahm, die Kappe abschraubte und ihm den Stift hinhielt, wobei sich der Geruch von Tinte im ganzen Raum ausbreitete.

»Du siehst genauso aus«, sagte sie. Sie hatte eine bemerkenswerte Stimme, tief und beruhigend, und doch war es auch gleichzeitig eine Stimme, die es gewohnt war zu kommandieren.

»Wie kannst du das nach einem Blick auf ein Bildchen sagen, das nicht größer ist als ein Mikrochip?«

»Ich kenne das Gesicht«, sagte sie.

»Meinst du, ich sollte vielleicht eine Widmung draufschreiben, wenn ich es signiere? Vielleicht so eine Art Gruß oder so was?«

»Du sagst doch immer, die Texte sollen für sich selbst sprechen.«

Es war fast wie eine Beichte, als er übergangslos sagte: »Ich kann es nicht.«

Ich kann nicht einmal daran denken, was ich über meinen Namenszug schreiben soll. Ich habe Tausende von Autogrammkarten signiert – in Restaurants, Flughäfen, auf der Via Appia und auf der Spitze des Eiffelturms, irgendwo hingekauert, frierend und fast erdrückt von Menschenmassen.

Nie habe ich auch nur einen Augenblick lang gezögert, aber jetzt bedeutet jedes einzelne Wort eine ungeheure Anstrengung.

»Ich kann Leuten, die ich nie richtig kennenlernen werde, keine Artigkeiten sagen«, hörte er sich selbst in der Hoffnung äußern, sie werde ihm beipflichten.

Aber Sarah war froh, ihm widersprechen zu können, wenn er Unrecht hatte. »Darin bist du im Gegenteil sehr gut. Das tust du doch die ganze Zeit. Ich könnte es nicht, aber ich könnte auch kein Drehbuch schreiben.«

»Bist du denn überhaupt sicher, daß Tinte dieser Art auf den Plastikhüllen schreibt?«

»Es ist dieselbe, die wir immer benutzen.«

»Ein- oder zweimal hat es aber nicht geklappt, und die Tinte ist verlaufen. Das hat ausgesehen, als hätte man versucht, auf Löschpapier zu schreiben.«

»Es wird funktionieren.« Sie wandte sich wieder zur Tür.

»Du mußt es nur versuchen.«

Er begann zu schreiben und ertappte sich dabei, wie er mit Druckbuchstaben, die ihm überraschend gut gelangen, den Satz eines der Darsteller niederschrieb, jenes, der die Flasche geworfen hatte. Es war ein Satz, den er einer Hemingway-Biographie entnommen hatte, etwas, das der junge Hemingway gesagt hatte, um seinen Eltern oder sich selbst zu imponieren.

»Vor nichts Angst.«

Das machte sich gut, fand er. Die Druckbuchstaben erinnerten ihn stark an die ungelenke Handwerker-Schrift seines Vaters. Er hatte darüber schon früher nachgedacht –

wenn ich älter werde, werde ich mehr und mehr sein wie er.

Er unterzeichnete mit seinem Namen.

Er war gerade dabei, seine letzte Signatur zu vollenden, als Sarahs Stimme über das Sprechgerät an sein Ohr drang. »Ich habe hier einen höchst seltsamen Telefonanruf«, sagte sie.

Er wollte schon wie gewöhnlich sagen, der Anrufer solle sagen, worum es gehe, er werde zurückrufen.

Aber Sarah würde niemals einen ›seltsamen‹ Telefonanruf erwähnen. Er starrte auf die kleine Sprechmuschel der Gegensprechanlage. Irgend etwas an ihrem Tonfall hatte ihn aufmerksam werden lassen. »Wer ist es denn?«

Sie schien sein Zögern vorausgeahnt zu haben, denn mit fragendem Unterton in der Stimme erwiderte sie: »Er sagt, er sei ein alter Freund.«

Als sie seinen Namen nannte, sank er zurück, unfähig, sich auch nur zu bewegen. Das konnte nicht wahr sein. Es war unmöglich. Er dachte: Bestimmt habe ich nicht richtig gehört.

Bestimmt hat sie den Namen falsch verstanden.

Seine Hand tastete sich zum Telefon vor und blieb dort liegen. Er konnte ihr nicht mehr befehlen, den Hörer abzunehmen. Er konnte nur einfach hinsehen, auf seine Hand, die Gegensprechanlage, die Briefe auf dem Tisch, als könne er sich auf einmal nicht mehr erinnern, wer er überhaupt war.

Sarah fragte ihn, was sie tun solle, und er konnte die Zunge nicht zu einer Antwort in Bewegung setzen.

Natürlich nicht.

Er schaute auf seine Hand wie ein Mann, der aus einem Traum erwachte und Mühe hat, zu einem Bild zusammenzufügen, was er sah. Was er fühlte, war jenseits aller Emotionen, aber wenn es noch irgendein Gefühl außer Schock und Zweifel in ihm gab, dann war es Freude.

Doch ganz plötzlich gewann der Unglaube die Oberhand. Das ist ein dummer Streich, dachte er – ein makabrer Witz.

Niemand kann aus dem Tod zurückkehren.

3

Selbst als er die vertraute Stimme aus der Muschel kommen hörte, die genauso klang, wie Asquiths Stimme klingen mußte, dachte Speke: Das kann er nicht sein.

Er spürte diesen Anflug von Unglaube, der ihn auch dann jedesmal überkam, wenn ihm jemand ein Foto von einem UFO

zeigte oder vom Schneemenschen oder dem Ungeheuer von Loch Ness. Im Grunde war er überzeugt, und doch war ihm, als stimme da etwas nicht, etwas, für das er keinen Namen wußte.

Das mußte ein Trick sein. Doch wer war dann, fragte er sich, dieser Magier? Die Stimme klang trocken, ironisch. So könnte sie in der Tat klingen, wenn die Toten sich entschlössen, irgendwelche Leute am Telefon anzurufen und Grüße aus jenem anderen Land auszurichten. So würde der lebende Asquith, er selbst, klingen. »Natürlich bin ich am Leben«, sagte die Stimme als Erwiderung auf Spekes Erstaunen.

»Du bist verschwunden«, sagte Speke mit einer Stimme kurz vor dem Versagen, einer Stimme, die nicht fähig war, die Last seines Unglaubens zu tragen.

»Ich war beschäftigt.«

Das mußte einfach Asquith sein. Niemand sonst konnte so klingen. »Beschäftigt«, echote Speke voller Verwunderung in dem Versuch, den tieferen Sinn hinter solch einem einfachen, alltäglichen Wort zu erahnen. Was immer Asquith auch mit seiner Zeit angefangen haben mochte, Hamilton konnte sich nicht vorstellen, daß ›beschäftigt‹ hierfür die richtige Umschreibung sein sollte. »Ich habe versucht, dich ausfindig zu machen.« Er lachte und setzte hinzu: »Natürlich, ich weiß ja, du bist ein Genie, wenn es darum geht, spurlos zu verschwinden.«

»Da hast du recht«, erwiderte Asquith. »Ich bin schwer zu finden.«

Da war ein Schweigen um Asquiths Worte, vergleichbar dem bleichen Schimmer von Kalbfleisch. Es lag an der sorgsam gewählten Artikulation, jener theatralischen Präzision, wo jedes Wort wie der Stich eines Florettfechters sitzt. Aber da war auch noch etwas anderes, ein Gefühl, als seien die Worte mehr aus einer Seele denn aus einer normalen menschlichen Existenz geboren. Asquiths Worte mußten erst aus einer höheren Denkungsart in die gemeine, alltägliche Sprache übersetzt werden. Asquith benutzte die Worte mit einer gewissen Arroganz, ja Verachtung, als wolle er sagen: So muß ich klingen, um verstanden zu werden.

»Ich will dich erst gar nicht mit der Frage langweilen, wo du gewesen bist«, scherzte Speke. Inzwischen war er überzeugt: Asquith war wieder da.

Vor Jahren hatte er bei der Suche nach Asquith zwei verschiedene Detektiv-Agenturen eingeschaltet. Und das waren keine Dilettanten gewesen, sondern Profis, wie sie von Banken angeheuert wurden oder von Filmgesellschaften, die sich für den Lebenswandel ihrer Stars interessierten. Die Privatdetektive hatten Asquiths Spur bis in vier Erste-Hilfe-Stationen verfolgt, aber jedesmal war Asquith kurz vor ihrem Auftauchen wieder verschwunden. Einer der Detektive, eine Frau, die für die teuersten – und gerissensten – Anwälte von Los Angeles arbeitete, hatte Speke rundheraus erklärt: »Er ist entweder tot oder liegt im Sterben, und selbst wenn Sie ihn ausfindig machen sollten, hätte er einen schweren Gehirnschaden. In Philadelphia war er einmal so betrunken, daß er bereits einen Herzstillstand hatte. Leute wie er sind nicht gebaut, lange durchzuhalten.«

Warum sagte Asquith nichts? Aber natürlich, dachte Speke, Asquith hatte sich stets in Schweigen gehüllt, fast wie in eine zweite Lage Kleider, eine Aura aus Bedächtigkeit und Verschlossenheit. Er war so schweigsam, wie man sich einen Violinvirtuosen vorstellen konnte, der sich auf sein Spiel vorbereitete.

Speke stand da und hätte vor Begeisterung fast den Hörer aus der Hand verloren. Mit jedem Augenblick, der verstrich, nahm seine Verblüffung zu. »Wo hast du gesteckt? Großer Gott – die ganze Zeit. Ich habe einer Menge Leute ein Vermögen bezahlt, um dich ausfindig zu machen. Aber du bist vor Jahren spurlos von der Bildfläche verschwunden.«

Er merkte bald, daß er die Unterhaltung allein bestritt, und er spürte, wie glücklich er war, endlich wieder mit jemandem reden zu können, den er so lange Jahre nicht gesehen hatte.

»Erinnerst du dich noch an die Frau, mit der ich seinerzeit in Atherton ein Techtelmechtel hatte? Ihr Mann hatte damals einen Detektiv angeheuert, der uns auf Schritt und Tritt verfolgte und am Ende mit weiter nichts da stand als einem unscharfen Foto, aufgenommen mit einem Teleobjektiv, auf dem außer ihr nichts zu sehen war, außer daß sie auf der Ocean Avenue in Carmel den Arm um irgendeinen Mann gelegt hatte.« Er unterbrach sich. Er begann aufs neue, plauderte –

Asquith hatte immer wieder dieselbe Wirkung auf ihn; er ließ ihn übereifrig werden in dem Versuch, sowohl Asquith zu imponieren wie auch mit ihm in ein gemeinsames Lachen über die ganze Welt auszubrechen. Er nahm sich ein wenig zusammen und sagte aus vollem Herzen: »Es ist schön, wieder mal von dir zu hören.«

»Wirklich?« Dieser überlegene, überhebliche Tonfall ließ einen ersten leichten Schatten auf Spekes Seele fallen.

»Natürlich«, bekräftigte er, und lachte eine Spur zu laut.

»Du klingst«, sagte Asquith gedankenvoll, »glücklich.«

Natürlich bin ich glücklich, hätte Speke beinahe gesagt.

Warum sollte ich schließlich auch nicht glücklich sein. Alle Leute sollten glücklich sein.

Aber da war etwas Eisiges in der Art und Weise, wie Asquith es sagte, und dies ließ Speke für den Augenblick verstummen.

Asquith klang hinreichend gesund. Sie waren beide erst neununddreißig, aber Asquith war derjenige gewesen, der bis zur Morgenröte durchtrank und nach einer Nacht voller Tequila in der Bar in Cozumel noch die Tropensonne einem Feuerball gleich über dem Horizont aufgehen sah. Schön, sie hatten beide anständig gekippt, aber Asquith hatte von dem Zeug gelebt und Meskalin geschluckt. Asquith war derjenige gewesen, der entdeckt hatte, wie wenig Schlaf der Mensch brauchte, wenn er sich der Hilfe von Amphetaminen versicherte, und wie blau der Himmel sein konnte, wenn man Meskalin konsumierte wie andere Leute Popcorn. Asquith hatte wild gelebt, drei Autos in einem Jahr zu Bruch gefahren, und öfter mit dem Gewehr um sich geschossen, wobei einmal bei einem alkoholumnebelten Sonnenaufgang die Rückwand der Anrichte in tausend Stücke zerborsten war.

Speke war der Anständige, der Ordentliche von beiden gewesen, der, der auch einmal eine halb verhungerte Katze bei sich aufnahm oder etwas für die Armen spendete. Asquith verstand sich eher auf die Kunst, für sich allein zu bleiben, sich unbemerkt von einer Party zu verabschieden. Er hatte die Kunst beherrscht, mit seinem Schweigen beredter als mit tausend Worten kundzutun, was er von all den geschwätzigen, aufgeblasenen Leuten rings um ihn herum hielt. Asquith war nie in der herkömmlichen Weise liebenswürdig gewesen. Aber er war gewitzt, schlagfertig und voller Ideen, und das allein zählte für Speke.

»Ich dachte«, durchschnitt Asquiths Stimme das Schweigen,

»ich könnte mal auf einen Sprung vorbeikommen, um dich zu besuchen.«

Speke spürte einen leichten Schauder durch alle Glieder rinnen. Die gerahmten Manuskripte an den Wänden schienen zu glühen. Er hatte angefangen zu glauben, daß die Vergangenheit ausgelöscht sei, die altvertrauten Gesichter zu nichts zerronnen. Er hätte dem Leben vertrauen sollen, dem Schicksal oder was sonst immer das Leben formen mochte.

Asquith wieder einmal zu sehen, das bedeutete mehr als die Wiederbelebung einer alten Freundschaft. Es mußte bedeuten, einem Teil des eigenen Ichs wieder zu begegnen, einem Teil, den er unwiederbringlich verloren geglaubt hatte.

»Ich dachte, ich komme mal vorbei, und wir reden über Geschäfte«, sagte Asquith.

Und dann, inmitten all seiner Freude, kam Speke der Hauch eines Zweifels an. Da war das Telefon, und in seinem Ohr war das Geräusch von Asquiths Atem. Was, fragte er sich, könnte daran falsch sein?

»Morgen«, sagte Asquith.

Speke wand sich auf der Suche nach einer Ausrede. »Morgen geht’s nicht. Das ist ein ganz verrückter Tag. Jeder andere Tag, nur nicht morgen.«

Was nur hatte ihn veranlaßt, nach so langer Zeit wieder anzurufen? Asquith las mit Sicherheit nicht das People-Magazin, und bestimmt war er auch nicht in eine seiner Lesungen hereingeplatzt. Vielleicht eine der Talkshows, oder die Oscar-Nominierung, aber die lag schon Monate zurück. In der letzten Zeit war er so oft auf den Titelseiten der Zeitungen und Zeitschriften erschienen, daß es ausgeschlossen war, sich vorzustellen, was genau diese Stimme aus der Vergangenheit aufmerksam gemacht haben könnte. Sicher, sagte Speke sich selbst, will er mir nur zu Stripsearch gratulieren – zuerst der Literaturpreis und dann der Film. Oder vielleicht zu Flash, das seit zwei Jahren ununterbrochen alle Rekorde in New York wie in London brach.

»Morgen wird ausgezeichnet passen«, wiederholte Asquith, und Speke konnte vor seinem geistigen Auge sehen, wie er bei diesen Worten lächelte.

Morgen war ein Tag voller Termine, der Terminkalender voller hingekritzelter Namen und Uhrzeiten. Aber Asquith würde er noch irgendwo einschieben müssen. Die trockene Stimme war fordernd und bestimmt. Speke kannte die Art seines alten Freundes. Asquith wollte, daß er, Hamilton, sich unsicher fühlte. Es war Absicht.

Doch Spekes Glaube an sich selbst, an sein Glück, an das Leben ganz allgemein, war, jedenfalls für den Augenblick, unerschütterlich. Es mußte schön sein, Asquith wiederzusehen.

Aber morgen – das würde problematisch werden. Morgen war der Tag, an dem der Mann kommen sollte, der seine Biographie schreiben würde, ein Mann, der seiner ohnehin schon erstaunlichen Karriere weiteren Auftrieb geben konnte.

Die Publizität, die Bell einem geben konnte, konnte man nicht kaufen, und der Mann hatte von sich aus beschlossen, ohne von irgend jemandem dazu gedrängt worden zu sein, Speke zum Gegenstand seines nächsten Buches zu machen. Noch nicht ganz Vierzig und schon unsterblich!

Er hatte Dr. Murchison, dem Leiter der Abteilung Film in Stanford, versprochen, Bell diesen Gefallen zu tun. Welch angenehmer Gefallen – einen so berühmten Biographen die eigene Biographie schreiben zu lassen! Aber Bell steckte in Schwierigkeiten, hatte man Speke erzählt, denn er verspielte den größten Teil seiner Tantiemen, und für den Rest kaufte er auf den Straßen Kokain. Speke mußte Bell helfen – er bewunderte diesen Mann und mochte ihn nicht enttäuschen.

Was war Asquith heute eigentlich für ein Mensch? Speke überfiel die übliche Ungewißheit: Wie sehe ich aus? Wie wird er aussehen? Was, wenn sich sein Geschmack in allem geändert hatte und wir nichts mehr haben, worüber wir reden könnten?

Speke rühmte sich gern eines weltoffenen Geistes, seiner großen Flexibilität. Er war nicht mehr der heißblütige Speke vergangener Tage. Heute war er ruhiger geworden – und erfolgreich. Ein Mann mit besten Umgangsformen und Geschmack in allen Dingen. Es gab keinerlei Zweifel: Er war berühmt – und wohlhabend. Das alles aber hatte er sich auch hart erarbeitet. Einst war er der ungestümste, der ungeduldigste Mensch unter der Sonne gewesen, überall bekannt für seine stets blank liegenden Nerven und seine alkoholischen Exzesse.

Aber das war vorbei. Nach wie vor liebte er das Leben, aber heute war er in sich gefestigt und steckte voller Energien. Er war ein neuer Mensch geworden.

Seine Texte bewegten etwas bei den Menschen. Sie brachten die Leute auf die Beine, zum Applaudieren. Er bekam Briefe, in denen zu lesen stand, seine Songs hätten Menschen aus ihren Depressionen gerissen und ihnen neuen Lebensmut gegeben. Er war Hamilton Speke, ein Mann, der mitgeholfen hatte, dieser Welt neues Leben einzuhauchen, und er war glücklich, wieder einmal von seinem alten Freund, seinem alten Partner, zu hören.

»Ich weiß, wie ich dich finde«, sagte Asquith.

»Aber dann ganz früh«, hörte Speke sich selbst mit einer Stimme sagen, die klar und ungebrochen schien, auch wenn Asquith das leichte Kratzen nicht überhören würde, dieses Zittern.

Er freute sich bei dem Gedanken, Asquith nun bald wiederzusehen, aber gleichzeitig beschloß er, Vorsicht walten zu lassen. Er konnte etwas wie Bedrohung spüren, etwas Kaltes und Schweres, irgend etwas aus der Vergangenheit. Er versuchte, die Unsicherheit abzuschütteln, aber sie wollte nicht weichen.

Asquith wartete und ließ das Schweigen weiter bedrohlich anwachsen.

Aber ich bleibe höflich, versicherte Speke sich noch einmal selbst. Klang er etwa nicht höflich? Er hätte diese Unterredung aufzeichnen sollen, damit er das Band wieder abspielen und sich vergewissern konnte, auch wirklich höflich geklungen zu haben. Es war ihm wichtig, nicht wie der ungehobelte Klotz zu klingen, der er einst gewesen war – vor der Therapie und der kleinen Reise, die einen weiseren Mann aus ihm gemacht hatten. Vor Maria.

Aber noch immer war Asquith der einzige Mensch auf dieser Welt, der ihn wirklich verstand, der wußte, was er liebte und was er fürchtete. Asquith kannte seinen Geschmack in bezug auf Frauen, auf Wein und auf Musik. Asquith kannte ihn wie kein anderer.

»Ich kenne den Weg«, sagte Asquith. In seiner Stimme klang ein Vibrieren mit, als er hinzusetzte: »Ich habe dein Haus im Fernsehen gesehen.«

Und dann war er weg. Zurück blieb nichts als das elektronische Schweigen und jenes andere, innere Schweigen, das sich aus einem Wust von Gefühlen nährte.

Speke ballte die Faust und starrte auf sie hinunter.

Asquith würde nicht herkommen, um einen alten Freund zu besuchen. Er würde nicht auf ein Bier oder zwei und zu einem Schwätzchen über die alten Zeiten kommen.

Asquith wollte irgend etwas.

4

Er war wach, und es war noch immer dunkel.

Gerade hatte er wieder den Alptraum gehabt, den alten Traum, von dem er geglaubt hatte, er sei für immer begraben und vergessen.

Es war grotesk, dachte er. Ausgerechnet in der Nacht, in der er wirklich einmal einen guten Schlaf nötig gehabt hätte. Es war schlimm gewesen, schlimm genug, um sich wieder nach den mit Tequila und Seconal durchzechten Nächten zurückzusehnen. Ein schwerer Tag lag vor ihm. Asquith würde kommen. Bell würde kommen. Und Scamp würde kommen –

fast hätte er es schon wieder vergessen. Scamp wollte Fotos für ein Fernseh-Special machen.

Schweißgebadet setzte er sich auf.

Neben ihm lag Maria in der Dunkelheit und schlief noch immer, aber auch sie zuckte zusammen. Sie flüsterte etwas im Schlaf, und er konnte nicht verstehen, was sie sagte. Sie hustete und sprach wieder. Sie warnte jemanden oder bat ihn um irgend etwas. Ein einzelnes Wort konnte er verstehen: nein.

Dann konnte er einen ganzen Satz verstehen, ein geflüstertes Flehen: »Tu mir nicht weh.«

Großer Gott – wem würde es wohl einfallen, einer so hinreißend schönen Frau weh zu tun? Er wußte so wenig von der Gefährtin seiner letzten Monate. Wer hatte sie in der Vergangenheit leiden lassen? Wer immer es gewesen sein mochte, er verspürte nicht übel Lust, ihn umzubringen.

Hamilton Speke brauchte Maria wie den Sauerstoff.

Seine eigene Kindheit war geradezu erschreckend normal verlaufen. So voller Sonne und so folgerichtig mit der Zeitung zum Frühstück und dem Schreien und Jaulen der Katzen unter dem Fenster. Ein liebevoller, aber immer etwas distanziert wirkender Vater, ein gewitzter und verschlossener Bruder: eine Kindheit. Aber waren die Menschen denn nicht wirklich nett gewesen? Die Nachbarn hatten immer guten Tag gesagt, während sie Hundedreck wegbrachten oder ihre Ledersofas in der Zufahrt ihrer Häuser reinigten. Seine Kindheit war behütet gewesen und voller normaler Geheimnisse.

Ein schreckliches Erlebnis allerdings hatte er nicht vergessen: Ein Mann war auf dem Rasen vor seinem Haus gestorben. Er war gerade dabei gewesen, den Rasen zu sprengen, als er plötzlich blau anlief, geradezu unglaublich blau, und dann zusammenbrach. Hamilton hatte, gerade erst fünf Jahre alt, auf dem Weg zum Bus gesehen, wie die Ambulanz mit heulenden Sirenen die Straße heraufkam. Die Laken auf der Trage waren im gleißenden Sonnenlicht so weiß gewesen, so sauber und hübsch anzusehen. Selbst noch als erwachsener Mann hatte Speke Alpträume gehabt, in denen dieser unglaublich blaue Mann den Kopf nach ihm umwandte, ihm direkt ins Gesicht sah und dann langsam, zitternd und bebend, wieder auf die Füße zu kommen trachtete, um auf ihn zuzugehen.

Dieses Bemühen war der Punkt, an dem die Alpträume stets endeten. Der blaue Mann schaffte es nie, wirklich auf die Füße zu kommen. Es schien fast, als würden selbst Spekes Träume von seinem Gespür für das, was real war, und das, was unmöglich war, wie von einem unsichtbaren Agitator gesteuert. Einer seiner Therapeuten hatte sich an der Phrase

›Prinzip Realität‹ geradezu berauscht und sich sehr angetan gezeigt von Hamiltons Sinn für das, was real war. »Das findet man«, hatte der Therapeut begeistert konstatiert, »selten bei Menschen mit einer solch starken Imagination, wie Sie sie besitzen.« Asquith hatte ihn immer mit seinen ›Träumen vom blauen Mann‹ aufgezogen und gleichzeitig eingestanden, er selbst träume nie.

Die Erinnerung an den Traum war sehr lebendig, aber sie hatte diese quecksilbrige Eigenschaft, die es unmöglich schienen ließ, ihn wirklich zu erfassen und ihn im Bewußtsein festzuhalten. Hamilton erinnerte sich deutlich an das Glitzern des blechernen Schlauchverschlusses, eines jener Endstücke an einem Gartenschlauch, die dazu dienen, einen feinen Nebel oder aber einen scharfen Wasserstrahl zu erzeugen. Der Traum hatte einen sauren Nachgeschmack, einen Lichtblitz, der ihn winseln machte.

Er scheute sich, eine Bewegung zu machen.

Nein, steh noch nicht auf, sagte er sich selbst. Bleib hier bei Maria und starre weiter in die totale Dunkelheit. Dann kannst du zumindest ihren Atem hören – als Trost.

Warum nur mußte Asquith sich unter all den Tagen unter der Sonne ausgerechnet den heutigen für seinen Besuch bei ihm aussuchen?

Es war, als habe der Mann sich gedacht: Welcher Tag könnte wohl der unpassendste sein, um aus meinem Grab zu steigen?

Und irgendwie, indem er ein Gespür für gewisse Momente nutzte, das nur ein Verrückter wie er haben konnte, hatte Asquith den absolut unpassendsten Tag ausgesucht und es geschafft, ihn so zu verwirren, daß Speke gar nicht erst auf den Gedanken gekommen war, ihn etwa auf einen Tag in der nächsten Woche oder in eine andere Stadt im nächsten Monat zu bestellen.

Speke legte seine Hand auf Marias Hüfte. Ihre zierliche Gestalt entzückte ihn jedesmal wieder aufs neue. Er würde alles tun, um sie zu beschützen und ihr Vertrauen in ihn zu bewahren.

Eines Tages würde er ihr auch sagen, welchen Kosenamen er insgeheim für sie bereit hielt. Es war ein alberner Name, aber er drückte aus, wie er über sie dachte: meine kleine weiße Maus. Höchst verwirrend: Ein Mann des Wortes sollte in der Lage sein, sich eine bessere Bezeichnung auszudenken, und deshalb hatte er sie auch bisher für sich behalten.

Ihr brünettes Schamhaar kontrastierte so vorteilhaft mit ihrer Haut, daß es fast überirdisch aussah. Der Gedanke an sie erregte ihn jetzt nicht mehr als bis zu dem Wunsch, auf immer und alle Zeiten einfach nur neben ihr zu liegen wie in diesem Augenblick. Warum nur lag er hier und dachte an sie wie an jemanden, von dem er längst getrennt war? Aber sie hatte so eine Art an sich, als gehöre sie nicht so sehr nicht zu dieser Welt, sondern als gehöre sie überhaupt keiner Welt an, ein Geschöpf, das haushoch über den Alltäglichkeiten stand. Es war leicht, sich Maria so vorzustellen, als könne er sie nur in seiner Erinnerung sehen, als ob sie für lange Zeit abwesend sei.

Vorsichtig krabbelte er aus dem Bett, um ihren Schlaf nicht zu stören. Er würde wie der frisch ausgegossene Inhalt einer Mülltonne aussehen, wenn erst die Kameras liefen. Scamp würde seinen Schminkkoffer auspacken, und Bell würde die Säcke unter seinen Augen als Hinweis darauf interpretieren, ein verkommenes Genie vor sich zu haben.

Er hatte sich ohnehin schon immer gefragt, wie er wohl als alter Mann aussehen werde. Würde er zu einem jener schweren, massigen Männer werden? Oder würde er sich zu einem hageren, knochigen Mann auswachsen, einem von jenen alten Knaben, die nur aus Haut und Knochen bestanden? Heute würde er vielleicht anfangen, es herauszufinden.

Er starrte auf die Karaffe mit dem Scotch, aber er griff nicht danach. In den alten Zeiten hatte er seinen Tagesablauf stets mit einem Schluck aus der Flasche begonnen, Rotwein und eine Scheibe Brot.

Er hatte davon geträumt, einst jemanden zu finden, der seine Biographie schreiben werde, jemanden, dem er die Geschichte seines Lebens erzählen könnte. Da gab es so unendlich vieles zu erzählen, und so unendlich vieles, das beschönigt werden müßte. Er wollte einen guten Biographen, einen, der es verstand, alles in eine gute Geschichte umzusetzen.

Ein solcher Mann würde nun endlich kommen. Er würde ihn von einem bekannten Stückeschreiber, dessen Konterfei neben Süßigkeiten und Knabbereien von jedem Regal lachte, zu einem – ja, zu was eigentlich? – machen.

Zu einem neuen Oscar Wilde? Aber doch nicht mit meinem platten Witz. Zu einem modernen Doctor Johnson? Kaum, mein Herr, dafür hätte ich nicht die Gewandtheit der Sprache.

Vielleicht konnte er ihn eine Art John Huston verkörpern lassen, jeder Zoll eine Mischung aus Charme und Bärbeißigkeit, oder würde er ihm Boxhandschuhe überstreifen, um aus ihm einen Abklatsch von Hemingway und Mailer zu machen?

Hamilton Speke mußte vorgeben, irgend etwas zu sein – oder irgend jemand. Nur ganz er selbst sein, ohne etwas darstellen zu wollen? Wer war er dann noch?

Großer Gott im Himmel, wo waren nur die Beta-Blocker, die die Quacksalber ihm in jenen Zeiten verabreicht hatten, als er noch Speke, das Wrack, gewesen war? Er riß die Schreibtischschublade auf und wühlte sich durch entsprechende Bücher von Zürich bis Mailand, von sämtlichen Städten dieser Erde, und er hatte seit Monaten nicht mehr geraucht.

Die Jahre vor Maria waren wild gewesen. An verschiedene Einzelheiten konnte er sich sogar kaum noch erinnern. Diese Jahre hatten nebulöse Bilder in ihm zurückgelassen: zwei Telefone etwa, die gleichzeitig klingelten und ihn bestürmten, First Cut nicht umzuschreiben.

Sowohl der Song, der dem Album seinen Namen gegeben hatte, als auch das Album selbst müßten ›unbedingt überarbeitet werden‹. Überarbeiten hatten sie gesagt und zurückziehen gemeint. Dieses Ansinnen zurückzuweisen hatte sich als Volltreffer erwiesen, denn sowohl First Cut Reprise wie auch Big Bucks waren bis an die Spitze der Hitlisten geschnellt. Sein Bruder hatte Exemplare davon sogar in einer Allee in Moskau entdeckt in einer, wie er es genannt hatte,

›ziemlich verkommenen Schmugglerkneipe‹. Das sei halt der Schwarze Markt im Sozialismus, hatte sein Bruder hinzugefügt.

Er hatte einen Ruf gehabt als ein zwar professioneller, aber auch unbeherrschter Patron, vor allem am Telefon. Aber wer würde wohl nicht unfreundlich reagieren, wenn er tagein, tagaus mit Leuten telefonierte, die nicht einmal ihren Namen nannten und die alle dasselbe sagten: »Hören Sie, Hamilton, wir haben da ein Problem mit den zerbrochenen Flaschen im zweiten Akt. Die Gewerkschaft ist dagegen, weil sie meint, die Verletzungsgefahr für die Schauspieler sei zu groß – ich meine, wenn wir richtiges Glas nehmen. Da gibt es doch diese Glasimitationen aus Zucker – « Und die ganze Zeit grübelte er, wunderte sich und schäumte innerlich vor Wut, um schließlich in einem Tonfall, den er selbst für den konziliantesten auf Erden hielt, einen Tonfall wie direkt aus Mutter Teresas Sonntagsschule, dazwischenzufragen, während ihm eine andere Stimme aus dem zweiten Telefon ins Ohr plärrte: »Nun sagen Sie schon, wer ist denn dran?« Aber es kam wie ein Donnern, nicht im geringsten sanft und mild, und es gab eine lange und sehr verwirrende Unterhaltung, in der sich dann herausstellte, daß Speke ausgerechnet der wichtigsten und einflußreichsten Persönlichkeiten der ganzen Ostküste die obszönsten Worte an den Kopf geworfen hatte. Und dann nahmen sie am Ende doch leere original Smirnoff-Flaschen.

Das Stück lief noch immer in acht größeren Städten. Die Leute waren hingerissen.

Ohne Sarah hätte er sich in Rauch aufgelöst. Unendlich viele Male hatte sie sich in seine Telefonate eingeschaltet und sie für ihn zu Ende geführt, wobei sie dann mit ihrer warmen, honigsüßen Stimme wieder ins Lot brachte, was Speke um ein Haar zerstört hätte.

In dieser schlimmsten aller Morgendämmerungen konnte er auch nicht eine einzige Pille finden. Ein Aspirin. Eines. Und sonst gar nichts.

Ich werde Asquith ganz kurz abfertigen. Ihm sagen, wie großartig er aussieht, ihn ins Vorzimmer führen, und…

Irgendwo im Haus erklang gedämpftes Stampfen. Sicher war Clara schon auf den Beinen, machte sich im Haus zu schaffen und knetete jetzt den Teig für ihre muffins mit Blaubeeren. Das Leben konnte in Wirklichkeit gar keine Schrecken bereit halten, sagte er sich, wenn eine gute Frau muffins buk.

Es würde großartig werden, dieses Wiedersehen mit Asquith.

Sie würden ein angeregtes und anregendes Gespräch führen, aber das würde draußen in seinem Außenbüro stattfinden, weitab vom Haus.

Zuerst einmal mußte er herausfinden, was Asquith von ihm wollte, bevor er den Mann in diese Mauern einließ, bevor er den alten Freund in sein Allerheiligstes führte, in die Welt, die er sich zu bewahren gedachte.

5

Asquith kam spät.

Natürlich. Es paßte zu ihm, murmelte Speke vor sich hin. Er will mich so lange auf die Folter spannen, wie es gerade geht.

Warum sollte er pünktlich sein, wenn er unsere Verabredung doch genausogut bis ins Unendliche hinauszögern kann?

Hie und da hörte er Geräusche aus Sarahs Büro, die typischen Geräusche eines Arbeitstages in einem Büro, das Schrillen des Telefons, das Rattern irgendeines Druckers, Geräusche, die seine Karriere weiter förderten, ohne daß er dafür auch nur eine Hand zu rühren brauchte.

Die Geräusche klangen seltsam verfälscht, weit gedämpft, so als würde er sie gar nicht wirklich hören, sondern nur imaginieren.

Speke durchstreifte das große Haus, durchmaß mit langen Schritten die Bibliothek, starrte den Piranhafisch aus Edelstahl an, der nicht so sehr mörderisch als viel eher gefangen aussah.

Er ordnete seine große Sammlung alter Blues-Platten alphabetisch neu, und während er sie noch durchwühlte, entdeckte er die inzwischen zu einem begehrten Sammlerstück gewordene Blind-Willie-McTell- LP, von der er immer als sicher angenommen hatte, ein Gast habe sie ihm anläßlich eines seiner Drogen- und Alkohol-Marathons während seiner Vor-Maria-Zeit geklaut.

Er machte sich einen Drink zurecht und trank das Glas in einem Zug aus, ohne zuvor zu kosten, und die ganze Zeit spürte er es tief drinnen in seinem Magen rumoren und knistern, und er wußte, dies war der Beginn eines neuen Krebsgeschwürs.

Das konnte nicht wunder nehmen. Der Körper bekam zu spüren, was Spekes Leben ausmachte: hart arbeiten. Das Ergebnis war ein Loch im Magen, ein Krater im Leben eines Menschen.

Clara war in der Küche und sortierte Küchenrezepte neben einer alten Schreibmaschine. Die Luft war erfüllt vom Duft frisch gebackenen Brotes. Eine noch immer schöne Frau mit einer grauen Strähne im Haar, die ihm freundlich zulächelte.

Ihre Familie lebte seit dem achtzehnten Jahrhundert in diesen Hügeln, und Clara gehörte nicht zu jenen Leuten, mit denen man unbedingt reden mußte, um sich ihrer Gegenwart bewußt zu sein. Eine Garbe frischen Basilikums stand in einer Vase neben der Spüle. Speke sah, daß Clara Rezepte auf der Schreibmaschine niederschrieb. Er hatte ihr immer gesagt, sie solle doch einmal ein Kochbuch schreiben, und jedesmal hatte sie gelächelt und gesagt, sie könne sich an alles erinnern, was sie wissen müsse. Und doch steckte jetzt hier diese Karte mit der Überschrift ›Spinatauflauf‹ in der Schreibmaschine. Es gehörte zu seinen Lieblingsgerichten, ein Arrangement aus frischem Blattspinat, Pistazien, blanchierten Mandeln, Rum und etlichen anderen Ingredienzien, die Clara immer ihr

›Geheimrezept‹ nannte. Es kam schon fast einem Sakrileg gleich, einer Frau ihre Geheimrezepte entreißen zu wollen.

Also entschuldigte er sich für sein Eindringen, aber Clara sagte: »Ich habe mich entschlossen, ein Heft voller Rezepte zu schreiben.«

»Ein Buch müssen Sie schreiben, ein richtiges Kochbuch. Ich bringe Sie in alle meine Talkshows damit.«

Sie blickte auf ihre Hände hinunter und lächelte versonnen vor sich hin. »Ich hasse diesen Gedanken.« Nach kurzem Nachdenken setzte sie dann, ernsthafter werdend, hinzu: »Ich habe wirklich daran gedacht, Ihren Rat zu befolgen und meine Rezepte zu Papier zu bringen.«

»Was niedergeschrieben wurde, scheint länger zu leben«, erwiderte er. Ihm fielen selten die richtigen Worte ein, wenn er mit Clara sprach. Sie schien immer guter Dinge und sich trotz ihrer zur Schau getragenen Zurückhaltung jederzeit all dessen bewußt zu sein, was zu wissen ihr wichtig war.

Sie vermied es, ihm in die Augen zu sehen, und lächelte weiter auf ihre Notizen hinunter. »Der Zeitpunkt schien mir jetzt günstig dafür«, sagte sie.

Er wäre noch so gern ein wenig in der Küche geblieben, diesem sonnendurchfluteten Raum, aber es trieb ihn aus dem Haus. Zuweilen glaubte er, er könne vermittels einer geheimen Magie den Ablauf der Dinge beeinflussen. Manchmal dachte er an jemanden, und wenn er dann zum Telefon ging, rief der Betreffende just in diesem Augenblick an. Zugegeben, das passierte kaum einmal, doch wenn es sich auch nur ein- oder zweimal wiederholte, reichte das schon, um sich zu fühlen, als habe man mehr Gewalt über die Unsichtbaren als alle anderen.

Und dann – der Augenblick hätte nicht besser gewählt sein können – als er gerade das Vertrauen in die eigenen Kräfte über Bord geworfen hatte, kam Asquith.

Die Sonne spiegelte sich in einem Helm, und seine schlanke Gestalt, die gerade von einer Kawasaki glitt, schien Speke zunächst die Gestalt eines Fremden zu sein. Zu agil, zu jung, hätte Speke beinahe gedacht. Und doch – dies war eine athletische Figur, die sich mit den biegsamen Hüften eines Schwimmers bewegte oder wie jemand, der gewohnt war, stundenlang Handball zu spielen.

Und diese Geste, mit der er den Helm vom sandfarbenen Haar nahm – was nur stimmte daran nicht? Fast noch im selben Moment wurde es Hamilton klar: Der alte Asquith hätte niemals einen Helm getragen.

Daß hier ein Motorrad abgestellt wurde, würde mit Sicherheit Marias Aufmerksamkeit erregen. Vielleicht würde sie Fragen stellen. Wer war der große Mann mit dem Motorrad?

Asquith wirkte größer als früher, und obwohl schlank wie immer, hager, wie man es vielleicht von einem Langstreckenläufer erwarten würde, war sein Händedruck noch immer fest. Ein Händedruck – selbst das war eine Überraschung. Asquith hatte die Leute stets nur mit einem Blick begrüßt und ihnen, wenn sie Glück hatten, eine Zigarette angeboten.

Und es war wundervoll – doch, das war es wirklich. Seinen Freund dort mit dem angedeuteten Lächeln stehen zu sehen, mit seinen wachen Augen, das war mehr als nur Freude. Speke hätte tanzen mögen, zum Himmel jubilieren. Es war Wirklichkeit – Asquith lebte!

Asquith musterte ihn einen Augenblick und sagte dann mit einem Anflug von Humor: »Da bin ich, auferstanden von den Toten.«

Speke umarmte ihn, und er konnte in Asquiths hagerer Gestalt eine Kraft spüren, eine Spannkraft aller Sehnen, die ihn denken ließ, Asquith müsse auf ewig in diesem Zustand bleiben. Irgendwie brachte er es fertig, ein paar Liebenswürdigkeiten zu stammeln, während Asquith das Motorrad über die dicken, vorstehenden Wurzeln hinweg unter eine der in vollem Laub stehenden Eichen schob.

Asquith schnitt ihm mit ruhiger, gelassenen klingender Stimme das Wort ab und berichtete ihm von einem Unfall, den er auf der Landstraße erlitten hatte. »Und neben dem Tor zu deiner Zufahrt lag ein totes Tier, direkt an der Straße«, schloß er, »ein Karnickel.«

Das paßte zu ihm, dachte Speke, irgend etwas Gewaltsames zu erwähnen, etwas, das mit dem Tod zu tun hatte.

Er hatte etwas vergessen, das mit Asquith zu tun hatte, etwas, das alle seine mitternächtlichen Spritztouren zum Drogenkauf auf der Market Street überschattet hatte. Asquith hatte immer die freie Natur gesucht und es in seiner wilden Zeit damals in Oregon genossen, nahe dem Crater Lake zu kampieren. Dieser Mann war also nicht nur am Leben, er war auch gesund. Speke leckte sich die Lippen und schüttelte die Finger, um etwas wie Gefühl in seinen Körper zurückzuholen. Er fühlte sich taub, unwirklich.

Asquith ließ den Helm am Motorrad hängen, und ohne diesen Schutz war er schon eher der alte Asquith, angetan nur mit einem fadenscheinigen Hemd und zerschlissenen Jeans.

Er hatte einen Gang, den Speke auf der Stelle wiedererkannte. Sorgfältig setzte er jeden Schritt, als bemühe er sich, möglichst keine Fußspuren zu hinterlassen. Er hatte eine ausgesprochen athletische Art, die Arme schwingen und die Hüften entspannt, aber doch mit einem Hauch innerer Anspannung kreisen zu lassen.

Großer Gott, dachte Speke, der Mensch ändert sich wirklich nicht sehr im Laufe seines Lebens.

Er geleitete Speke in sein Außenbüro. Es war ein separates, ein wenig abgelegenes Landhaus, ideal für ein Gespräch unter vier Augen. Ausgestattet mit Bar und Musikanlage, vermittelte es dem Besucher das Gefühl, als besuche er den Hausherrn in seinem privaten Reich. Richtig war vielmehr, daß Speke das, was in gewisser Weise sein persönliches Oval Office war, so gut wie nie nutzte. Es war ein Vorzeige-Büro, wenn auch nicht gerade eine Attrappe, denn von Zeit zu Zeit kam er immer mal hierher, um vielleicht einen Vertrag zu studieren, und vor Jahren hatte er sich einmal hier mit einer Flasche Ouzo vergraben.

Aber mit seinen aschgrauen Paneelen und der in Leder gebundenen Gesamtausgabe der Werke Goethes sah es aus wie die Fluchtburg eines großen Geistes und gleichzeitig wie ein Ort zum Arbeiten, mit Schreibtisch und Telefon. Ein großer Kamin aus grünem Marmor nahm die ganze

gegenüberliegende Wand ein. Auf dem Sims stand einsam eine Bronzestatue der Pallas Athene. Nur einem geübten Auge fiel auf, daß der Schürhaken noch nie benutzt worden war. Die Abdeckhaube mit dem Sims war eine nähere Betrachtung wert.

Die Ecken sprangen so markant vor, daß Speke sich an ihnen mehr als einmal den Kopf gestoßen hatte. Der Konstrukteur war unbekannt, und Speke hatte beschlossen, in den Spitzen aus grünem Stein die Strahlen einer stilisierten Sonne zu sehen, die die Ecken der Abdeckhaube trugen.

Asquith blickte sich in gespielter Bewunderung um. Oder war sie echt? Sicher erkannte er den gerahmten Brief an der Wand, eine Nachricht Hemingways an Charles Scribner, als authentisch. Und der Degas hinter dem Tisch an der Wand, ganz in Sepia- und Grautönen gehalten, hätte den Asquith vergangener Tage in langes meditatives Schweigen verfallen lassen. Es gab andere Dinge hier, Dinge, die Speke seinem Besucher vielleicht hätte zeigen können. Selbst der eingebaute Schrank barg seine eigenen Schätze, nie benutztes Tauwerk, von Hand in Schottland gefertigt, und ein Meßtischblatt seines Anwesens, eingerollt in eine lederüberzogene Kiste so groß wie ein Mann.

Asquith sank auf das Ledersofa. Seine Augen waren hell und klar, und sein Teint war gebräunt.

Asquith war stets ein Individuum voller Geheimnisse gewesen. Speke hatte nie irgendwelche Einzelheiten aus Asquiths Kindheit und Jugend oder von seiner Familie erfahren. Vielleicht, dachte, Speke, ist das hier nicht real, nicht der wirkliche Asquith. Aber direkt da, wo der Ärmel seines Hemdes endete, war die Narbe zu sehen, die er sich vor Jahren bei seinen Ausflügen in die Grant Street eingehandelt hatte.

Ein Schweigen, das Asquith ohne Zweifel genoß und das Speke wie Nadelstiche ganz tief drinnen empfand. Asquith studierte ihn mit dem Ausdruck eines Mannes auf dem Gesicht, der sich einen alten Film im Fernsehen anschaut, heiß und innig geliebt, aber doch schon ein wenig überholt.

Speke deutete auf die Karaffe mit dem Whisky; Asquith schüttelte den Kopf. Aber die Zeit der unverbindlichen Begrüßungsrituale war vorüber. Es wurde Zeit für den ersten Akt, erste Szene.

»Du siehst gut aus«, sagte Speke.

Asquith verschloß einen Augenblick lang die Augen vor dem, was ihm wohl wie Flatterhaftigkeit vorgekommen sein mochte.

»Du hältst mich geheim«, sagte er, und nachdem er sein letztes Wort ›geheim‹ eine Zeitlang hatte im Raum zittern lassen, setzte er hinzu; »so daß niemand wissen wird, daß ich hier war.«

Also sind wir schon mittendrin. Das zumindest war der Asquith, den er kannte, die schneidende Stimme, der stets wache Geist, der sich hinter einer Maske aus scheinbarer Gleichgültigkeit versteckte. War auch sein Tonfall unfreundlich, so war er doch vertraut, und Speke war dankbar für die Rückkehr zum Gewohnten, weil er zum einen sein Freund war und weil Speke im übrigen wußte, daß er am Ende mit seinem Besucher würde umzugehen wissen.

»Wir können später zum Lunch hinauf ins Haus gehen, wenn du willst.«

»Du benutzt dieses Büro sonst nicht.«

»Warum sagst du das?«

»Dafür ist es nicht annähernd unordentlich genug.«

»Ich habe mich sehr geändert.« Speke bemühte sich um ein seiner Überzeugung nach entwaffnendes Lächeln. »Ich bin heute geduldiger. Weniger unordentlich…«

»Du bist der personifizierte Erfolg!« Asquith sagte es, ohne auch nur den Kopf zu bewegen.

Speke senkte die Augen. Er würde sehr vorsichtig sein müssen. Asquith war intelligent. Ich weiß es, sagte Speke leise zu sich selbst. Aber er meinte etwas anderes: höchst intelligent, sehr viel listiger, als er selbst je sein würde.

»Ich bin ja so glücklich, dich wiederzusehen«, sagte Speke.

»Aber ich will aufrichtig mit dir sein.« Er zitterte und spürte, wie ihm der kalte Schweiß ausbrach, worüber er sich sehr wundert. »Ich glaube, dein bevorstehender Besuch hat mich nur ein wenig nervös gemacht.«

»Du warst schon immer ein Nervenbündel. Die Leute glauben, du seist ein Mann der Tat, zu allem bereif. Aber ich weiß es besser.«

»Ich glaube, ich weiß, was du willst«, sagte Speke. Vergiß die Präludien, dachte er. Laß uns reden.

»Du dachtest, ich sei tot«, sagte Asquith, eine versteckte Erwiderung auf Spekes Feststellung und doch sehr viel mehr als nur eine Antwort.

»Ich hielt es für sehr gut möglich.«

»Möglich«, sagte Asquith, als mißfalle ihm allein schon der Klang dieses Wortes. »Du hast gedacht, irgend etwas – « er vollführte eine Geste, als wolle er Speke frische Luft zufächeln, » – habe mich davongetragen.«

»Das Leben ist verwirrend. Ich weiß nie, was ich zu erwarten habe. Und ich habe mit allen Mitteln versucht, dich ausfindig zu machen.«

Asquith lächelte.

»Wenn du Geld brauchst, Timothy – ich würde dich bestimmt nicht enttäuschen. Du brauchst doch sicher Geld, oder?« Das war reichlich unverblümt, aber Speke dachte sich, er könne diesen Punkt weniger peinlich machen, wenn er ihn von vornherein klärte.

Asquith antwortete nicht sofort. Er schien erheitert. »Werd nicht albern!«

Speke verschränkte die Finger und kaute auf der Unterlippe.

Dies hier würde nicht so einfach werden. Große Überraschung.

»Was führt dich dann hierhin?«

»Ich wollte dir ein Kompliment machen.«

»Wie nett von dir.« Sei vorsichtig, sagte er sich selbst. »Von welcher Art?«

Asquith schloß in einem stillen Lachen die Augen. »Du mußt entschuldigen, aber ich kann mich einer gewissen Heiterkeit nicht erwehren. Du glaubst, ich sei hergekommen, weil ich dich um Geld bitten wollte?«

»Es wäre aus deiner Sicht nicht mehr als verständlich, von mir eine Art Entschädigung dafür zu verlangen, daß du mir –

sprechen wir’s doch offen aus – so viel Inspiration gewesen bist.«

»Eine Inspiration?«

»Allein in deiner Nähe zu sein, war schon anregend. Wenn ich nach einer Formulierung für einen Song suchte oder eine Dialogstelle, dann brauchte ich immer nur an etwas zu denken, das du irgendwann gesagt hast, oder etwas, das du einmal getan hast.«

»Dann hast du mich also als hilfreich empfunden«, sagte Asquith, halb Frage, halb Feststellung.

»Natürlich.«

»Und nun glaubst du, ich sei zurückgekommen, um meinen Anteil an deinem Erfolg einzufordern – meine mir zustehende Entlohnung?«

»Ich weiß nicht, wieviel ich dir momentan – von Rechts wegen schulde…«

Asquith studierte Speke mit einem kleinen Lächeln.

»Aber ich werde mit dir teilen, was ich habe, Timothy. Aus alter Freundschaft. Ich werde dich irgendwie etablieren. Wenn du ein Haus willst, Swimmingpool, Personal – dann wirst du es bekommen.«

»Du verstehst überhaupt nichts, nicht wahr?« sagte Asquith.

»Ich schulde dir eigentlich gar nichts, Timothy.«

»Das ist richtig. Du hast mich am Leben erhalten, als ich wirklich gänzlich ohne Bewußtsein war. Hast mir mein Aspirin verabreicht, mir das Erbrochene aus den Laken gewischt. Und dafür danke ich dir.«

»Wenn du noch immer ärztliche Hilfe brauchst, Timothy, würde ich mich glücklich schätzen, sie dir zu vermitteln.«

»Und du weißt auch schon, wie, nicht wahr?«

»Erzähl schon. Ich will tun, was in meiner Macht steht. Was immer vernünftig scheint.«

»Es geht nicht um Geld, Ham. Es handelt sich nicht um etwas, das sich dadurch bereinigen ließe, daß du von einem deiner goldenen Füller die Kappe abschraubst und einen Scheck ausschreibst.«

»Ich will nur fair sein – «

»Die Jahre sind vergangen, und ich war zu krank, seelisch krank, um mich an die Texte auch nur zu erinnern. Und als ich dich im Newsweek sah, hat mich das nicht im mindesten gestört oder auch nur interessiert. Aber vor kurzem mußte ich mit ansehen, daß du mir den unsterblichen Teil meines Selbst gestohlen hast – mein Leben. Ich war nicht nur die Inspiration für deine Theaterstücke. Ich habe dir nicht nur die Ideen für deine Songs gegeben. Ich habe dir alles gegeben. Alles ohne Ausnahme.«

Das alles kam in ruhigem Ton über seine Lippen, wobei Asquiths Blicke durch den Raum wanderten, als könnten sie durch die Regale und die Wandverkleidung des Büros hindurch Orte sehen, die er in der Realität nie besuchen würde.

»Du warst im Fernsehen«, fuhr Asquith fort, »in einem so dick aufgetragenen Make-up, daß du nicht einmal schwitzen konntest, und hast von der schwarzen Katze gesprochen, meiner Katze, von der, die ich gefunden habe. Du hast dir mit der dir eigenen Art von Rechtfertigung das Recht auf alle anderen Geschichten genommen. Aber diese Story, Hamilton, ist meine.«

»Ich verstehe dich nicht«, sagte Speke.

»Wirklich nicht?«

Wieder einmal brachte Speke keinen Ton heraus.

»Ich will alles. Alles, was du geworden bist.«

»Das kannst du nicht im Ernst meinen, Timothy. Ich habe hart gearbeitet. Ich habe Jahre über den Vorarbeiten zugebracht. Ich werde dir Genugtuung verschaffen. Mein Presseagent wird noch heute eine Pressemitteilung herausgeben. Ich werde der Welt alles über unsere Freundschaft erzählen. Ich möchte es, Timothy – wirklich.«

Asquith betrachtete ihn, ohne etwas zu erwidern.

Speke faßte sich wieder und fuhr fort: »Aber du wirst mir das Skript zu diesem Stück nicht wegnehmen. Du wirst mir nicht die Songs wegnehmen oder die anderen Stücke. Sie sind mein Werk. Du hast die Geschichten gelebt und erlebt, aber ich habe sie niedergeschrieben, und sie gehören mir.«

Asquith schlug die Beine übereinander.

Speke lehnte sich vor. »Du hast nicht ein einziges Wort geschrieben. Du hast ja nie schreiben können, ohne daß ich über dir gelehnt stand, dir Kaffee einschenkte und die Worte buchstabierte, deren Schreibweise du nicht kanntest.«

Asquith änderte seinen Tonfall. Er begann, mit der Routine des engagierten Erzählers zu reden. Er fing an, die Geschichte zu erzählen, begann mit dem einleitenden Dialog, wie der kräftigere, muskulöse junge Mann zu krank gewesen war, den Marsch durch den Dschungel fortzusetzen, und wie der Inder sich umgedreht und gesagt hatte: »Wenn es Ihnen so schlechtgeht, kehren wir wieder um.« Er erzählte von dem dünnen, ironisch klingenden Mann, der dem Inder gedroht hatte; die nachfolgende Szene, als Speke mit offenem Mund dagesessen hatte, unfähig, auch nur noch ein einziges Wort zu sagen.

Er erzählte die Geschichte mit der Katze.

»Nein!« rief Speke schließlich. »So hat es sich nicht abgespielt. Das kannst du dieser Geschichte nicht antun, Timothy. Das stimmt doch nicht! Das sind doch alles Lügen!«

Speke unterbrach sich, um seiner Stimme wieder mächtig zu werden. »Ich werde dir helfen, Timothy. In jeder mir nur möglichen Weise. Aber ich will dieses Skript. Ich werde nicht zulassen, daß du die Geschichte in dieser Weise verfälschst.

Das ist das bedeutsamste Stück meiner Karriere als Bühnenautor, und ganz nebenbei – es ist mein Leben, mein tatsächliches Leben, jenes, das ich gelebt habe. Und was die vorhergehenden Stücke angeht: Ich war derjenige, der sie zum Leben erweckt hat. Du warst nicht hier. Du warst gegangen.«

Speke sprang auf die Füße und ging unruhig auf und ab. »Ich habe die Manuskripte wie Sauerbier angeboten. Ich habe die Theaterstücke und Drehbücher begleitet von dem Tag an, als sie weiter nichts waren als ein Haufen beschriebenes Schreibmaschinenpapier irgendwo in einem Schrank, bis hin zu den Nächten, in denen sie zu großen Worten im Rampenlicht wurden. Sie zu schreiben war nichts! Gar nichts!

Das war der leichtere Teil, der, der Spaß gemacht hat. Das war reine Freude! Der ganze Rest und alles, was zu tun du gar nicht den Schneid gehabt hättest, die Beharrlichkeit, das alles aus dem Kasten mit den Notizzetteln zu holen und ins öffentliche Bewußtsein zu rücken – das habe ich getan! Ich war es! Ich habe diese Stücke zum Leben erweckt, und du – wo warst du?

Ich habe die Songs ins Radio gebracht, Timothy. Das alles war mein Werk.«

»Ich werde meine alte Freundin bei der UPI* anrufen. Du erinnerst dich bestimmt an Jessica Moe. Sie wird mir glauben.«

»Jessica! Sie kennt die Wahrheit. Sie weiß, wie krank du bist.« Das war schonungslos – eine schlechte Wortwahl. Aber Jessica würde – natürlich – Asquith glauben. Jessica gehörte zu denen, die stets bereit waren, das Schlechteste zu glauben. Sie war die Musikkritikerin des Chronicle gewesen und hatte mehr als einmal ein Taxi für Speke und Asquith rufen müssen. Zur Zeit hielt sie sich in New York auf. »Aus alter Freundschaft bin ich einverstanden, dich zu beteiligen – aber stehlen kannst du mir nichts.«

Speke spürte etwas wie einen schweren, kalten Stein im Magen. Vielleicht stimmt es. Vielleicht habe ich alle diese Stücke gestohlen. Vielleicht war ich bei ihnen allen nicht einmal eine Art Co-Autor.

Vielleicht gehören sie wirklich vollständig ihm. Ist das möglich?

Asquith erhob sich ebenfalls, völlig geräuschlos. »Es gehört mir, Hamilton. Alles. Und alles, was du geworden bist.«

Speke verlor die Kontrolle über seinen Atem, seinen Herzschlag. Die Farben im Zimmer begannen zu wabern.

Asquith hielt das Telefon in der Hand und fing an, einzelne Zahlen einzutippen.

»Sie wird mir glauben«, sagte Asquith, »wenn ich ihr erzähle, daß in Wirklichkeit ich sämtliche Stücke geschrieben habe –

und die Songs dazu.«

»Aber das ist nicht wahr!«

»Es ist dir immer nur ums Geld gegangen, oder etwa nicht, Hamilton? Etwas anderes zählte nicht. Prinzipien, Leidenschaft, Wahrheit – die Wahrheit galt dir nie mehr als Einwickelpapier.«

* United Press International (Presseagentur) Speke griff nach der Telefonschnur und riß sie aus der Wand.

Er mußte zweimal energisch an ihr zerren, bis das beigefarbene Kabel endlich durch die Luft schwirrte.

»Ja, ich sehe schon, wie sehr du dich von Speke, dem Dieb, zu Speke, dem reichen Dieb, gewandelt hast. Ich war ein Narr, hierherzukommen.«

Speke hetzte zur Tür und blockierte sie mit seinem Körper.

»Wer weiß, daß du hier bist?«

»Niemand, glaube ich. Ich trompete mein Leben nicht in die Welt hinaus. Das ist das Problem. Ich habe jahrelang wie ein Mistkäfer im Untergrund gelebt. Ich will nur, was mein ist. Ich will meinen Anteil am hellen Licht des Tages. Mir ist klar, wie hart du gearbeitet hast, Ham, und ich biete dir meine Glückwünsche an.«

»Du wirst nicht gehen, du wirst mir nicht mein Leben stehlen.«

Asquith lachte. »Ich werde durch das Fenster verschwinden.

Erinnerst du dich noch, daß ich jedesmal die Polizei gerufen habe, wenn du zu randalieren angefangen hattest? Du hast mir immer Angst eingejagt, Ham, aber ich habe mich ebenfalls geändert.«

»Bleib vom Fenster weg.«

»Ich wollte es auf die freundschaftliche Art erledigen. Ich war drauf und dran, ihnen zu erzählen, daß wir bei einigen von deinen Stücken zusammengearbeitet haben. Und das wäre ja beinahe sogar die Wahrheit gewesen. Die ganze schmutzige Sprache, dein Hang zu Obszönitäten, all diese gekonnten Hinweise auf Fellatio, sie standen nicht in deinen Entwürfen.«

»Setz dich.«

Asquith lächelte. In einem Ton, als antworte er auf eine wenig liebenswürdige Bemerkung, sagte er: »Ich habe keine Angst vor dir.«

Wenn er in diesem Augenblick zum Sofa zurückgekehrt wäre oder zu dem Degas hinübergegangen wäre, um ihn näher in Augenschein zu nehmen – wenn er irgend etwas getan hätte, um Speke Zeit und Gelegenheit zu geben, seine Phantasiebilder unter Kontrolle zu bringen und ein paarmal tief Luft zu holen, alles wäre anders gekommen.

Aber Asquith ging zum Fenster.

Er riß es auf, beide nach außen gehenden Flügel des Doppelfensters. Er setzte einen Stiefel auf den Sims, lehnte sich ein wenig zurück, um sich besser ins Tageslicht emporziehen zu können, und Speke faßte ihn an einem Arm.

Er riß Asquith herum – schleuderte ihn zurück – hart.

Er warf ihn ins Zimmer zurück. Asquith war ein Leichtgewicht und nicht schwer herumzuschleudern, und sein hagerer Körper drehte sich wie eine Spindel, bevor er an die gegenüberliegende Wand krachte.

Aber es war nicht die Wand. Es war die scharf vorspringende Kante der verschnörkelten Kaminabdeckung. Es gab ein häßliches Klatschen, als Asquith dagegen flog, ähnlich wie wenn zwei Hände zusammengeschlagen werden, und eine lange Zeit danach passierte überhaupt nichts. Asquith wurde blaß und regte sich nicht, während Speke kaum zu atmen wagte.

Asquiths Lippen wurden blau.

Es ist alles in Ordnung, sagte Speke sich selbst. Es ist alles in Ordnung. Es ist nicht so schlimm wie es aussieht. Alles wird wieder in Ordnung kommen.

Speke trat langsam näher. Er öffnete den Mund, unfähig zu sprechen.

»Es tut mir leid«, flüsterte Speke. Dann, lauter: »Es tut mir leid, Timothy.«

Asquith verharrte regungslos, die Beine steif ausgestreckt, und starrte ihn an. Seine Hände gingen an die Kehle, und er ließ ein gurgelndes Geräusch, ein mühsames Keuchen hören, während sich seine Lippen mit einem häßlichen Rot überzogen.

Speke wollte sagen: Du bist in Ordnung. Hör schon auf. Sag was.

Asquith verdrehte sich ganz merkwürdig und schob eine Hand nach hinten, als wollte er einen bestimmten Punkt seines Rückgrats erreichen, wobei er keuchte und stöhnte. Speke hätte beinahe laut geheult, aber noch immer brachte er keinen Ton hervor. Nein! Das war alles ein Mißverständnis!

Asquith sank auf alle viere und spuckte Blut!

Speke langte nach dem toten Telefon, und dann war auf einmal überall Blut, ein See, der ständig größer wurde, während Asquith inmitten einer ständig sich ausdehnenden scharlachroten Lache nach Atem rang.

Und kollabierte, mit dem Gesicht nach unten, wobei eines seiner Beine zuckte.

6

Nein, heulte eine Stimme tief in seinem Innern.

Er wird wieder in Ordnung kommen.

Speke huschte hinüber zu seinem Freund und blieb dann abrupt stehen, zu ängstlich, ihn zu berühren, unfähig, auch nur noch einen einzigen weiteren Schritt zu tun. An der Kante der Kaminabdeckung war Blut, und Blut fand sich auch auf Asquiths Rücken, da, wo er gegen die Abdeckung gefallen war. Der Körper hörte auf zu zucken, und es war so offenkundig, was das zu bedeuten hatte, daß Speke nichts anderes zu tun wußte, als die Hände vors Gesicht zu halten.

Er schloß die Augen, und ihm war, als werde er zu Stein.

Alles wird wieder gut werden. Es gibt doch gar kein Problem.

Kopf hoch – und mach die Augen auf.

Schau eine ganze Minute lang hin, wenn du dazu fähig bist.

Zähl bis drei. Bis vier. Dann – schau hin.

Als er wieder hinsah, war alles genau wie zuvor. Der Körper zu seinen Füßen lag dort in einer Haltung, die kein lebender Körper hätte aushalten können, der eine Arm mit der Handfläche nach oben abgewinkelt, der Kopf zur Seite weggedreht. Ein säuerlicher Gestank drang ihm in die Nase, und unterhalb der Gürtellinie breitete sich glitzernde Nässe aus.

Das Zimmer um ihn herum schien zu verschwinden, sich aufzulösen. Speke fror auf einmal entsetzlich, und er war unfähig, etwas anderes zu sehen als den noch immer größer werdenden aufdringlich roten Fleck. Er betete, und es war ein Gebet ohne Worte, schweigend wie ein Schrei aus tiefster Seele.

Er langte nach dem Telefon, aber das war tot, und so schleuderte er es an die Wand. Und dann vernahm er ein Geräusch, das ihm das Innerste nach außen kehren wollte und ihn die Augen schließen ließ. Nein! Das nicht – alles andere, aber das nicht.

Es war Marias Stimme. »Ham? Bist du da drinnen? Ist alles in Ordnung?«

Bitte, bitte, lieber Gott, alles andere, aber das nicht! Warum nur konnte er die Zeit nicht rückwärts drehen – nur fünf Minuten? Mehr wäre ja nicht vonnöten gewesen – fünf Minuten. Seine Beine waren wie Blei, und der Atem ging in schweren Stößen. Er fing an zu zittern, in einer absurden, unkontrollierbaren Weise, als er auf Maria zustolperte.

Laß sie das hier nicht sehen, betete er.

»Was ist denn?« Sie konnte es noch nicht sehen. »Mein Gott, Ham, was ist denn nur los?« Er schüttelte den Kopf, und es sollte heißen: Laß mich allein! Geh weg. Jetzt.

»Ich habe Schreie gehört«, sagte sie.

Sie hielt ein Aquarell in der Hand, das Ähnlichkeit mit einer gelben Granate hatte, und Speke konnte ihr nur die Arme entgegenstrecken und hauchen: Komm nicht hier herein. Sieh nicht hin.

Sie ließ die Zeichnung fallen und schlug die Hände vors Gesicht. Ihre Augen weiteten sich, als sie auf unsicheren Beinen, aber wie magisch angezogen auf den See aus Blut zuging.

Sieh nicht hin, schrie seine Seele. Maria, bitte sieh nicht hin!

Sie wurde zur Statue, als sie mit bleichem Gesicht hinunter schaute, als kämpfe sie mit sich, anzuerkennen, was doch dort direkt vor ihren Augen lag.

Speke fühlte sich, als schmelze er dahin. Oh, könnte er doch wieder ein kleiner Junge sein mit naiver Vorstellung von dem, was das Leben im Kern ist. Sonne und Fahrräder. Und ganz kleine, einfache Sünden, Zigaretten aus Automaten ziehen etwa. Das alles war jetzt in ein anderes Universum entschwunden.

Maria kniete nieder und war gleich darauf wieder auf den Beinen. Ihre Lippen teilten sich, und als sie sprach, war ihre Stimme fast nicht zu hören, doch Speke konnte sie verstehen.

Er verstand sie nur zu gut.

»Er ist tot!« flüsterte sie.

Einen Augenblick lang wollte ihn so etwas wie ein Lachen erschüttern. Natürlich ist er tot. Habe ich dir nie von diesem meinem kleinen Hobby erzählt? Ich metzele in meinem Büro Leute nieder.

Dann war der Reiz zu lachen wie weggeblasen und wurde durch etwas Kaltes, Schweres ersetzt. Er ahnte ihre Gedanken voraus. Das Telefon funktioniert nicht, wollte Speke sagen. Ich habe es aus der Wand gerissen, dann habe ich es durch die Luft gewirbelt und anschließend an die Wand geschmettert.

Zitternd kniete sie nieder und untersuchte die vielfarbigen Kabel, die aus dem Telefon hervorlugten, dann blickte sie zu Speke auf, als bitte sie ihn, ihr doch zu erzählen, was sich zugetragen hatte, ihr zu sagen, das hier sei nicht, wonach es aussehe: Du, Hamilton, hast dafür gesorgt, daß die Leitung tot ist.

Es gibt nur noch eines zu tun. Ruf die Polizei, befahl er sich selbst. Lauf zum Haus und…

Er konnte kein Glied rühren.

Es war ein Unfall, versuchte er sich einzureden. Nichts weiter als ein einfacher Unfall. Die Polizei würde es auch so sehen.

Ein Besucher, der Streit angefangen hatte. Die Leute können einem manchmal ja so auf die Nerven gehen. Ein jeder von uns verliert schon mal die Selbstbeherrschung, Mr. Speke.

Ein Wettstreit beim Armdrücken ist außer Kontrolle geraten.

Wir hatten unseren alten Lieblingssport noch einmal ausprobieren wollen. Wir haben immer beide davon geträumt, einmal Stuntmen zu werden. Wir hatten eine geschäftliche Besprechung, und dabei hat sich Mr. Asquith selbst gegen die Kaminhaube geschleudert.

Es wurde Zeit, das zu praktizieren, was er seit je so gut konnte. Es wurde Zeit, mit sich selbst ehrlich umzugehen. Er hatte Asquith am Arm gefaßt und ihn so energisch herumgerissen, wie er gerade konnte. Und außerdem: Erst gestern noch hatte er daran gedacht, einmal etwas wie das hier zu tun. Er hatte es von langer Hand geplant. Er konnte das ängstliche Gefühl im Magen nicht vergessen, und das alles kehrte jetzt mit Macht zurück. Im Hinterkopf hatte er schon immer vorgehabt, genau das zu tun. Gib es schon vor dir selbst zu, Speke. Gib es zu – du wolltest genau das schon seit langem tun.

Das Zimmer schwankte zur einen Seite, dann zur anderen. Er spürte, wie seine Beine irgendwohin verschwanden, wie sein Kopf sich vom Hals löste. Mord. So würde es aussehen, und das war es auch. Er hatte jemanden ermordet. Genau so und nicht anders.

Er erprobte das Wort aufs neue. Mord.

»Was hast du getan?« flüsterte Maria. »Ham, sag mir, was hast du getan?«

Sie würde ihm nie vergeben. Es war ein Akt der Selbstverteidigung, wollte er ihr vorlügen. Er war ein gefährlicher Mensch, dieser Asquith. Ein Schwarzgürtel in jeder Kampfsportart, die Menschen je erfunden hatten. Er hätte mich beinahe umgebracht, aber ich habe ihn besiegt. Es war ein brutaler Kampf. Er griff mich an – mit…

Sie las in seinen Augen, und sie las sehr deutlich und klar.

Sie schüttelte den Kopf, aber es war nicht mehr als ein Schaudern. Nein, sagten ihre Augen. Es ist zu spät.

Sarahs Stimme erklang in diesem Moment deutlich vernehmbar aus der Gegensprechanlage. »Mr. Bell trifft gerade ein«, sagte sie.

Bell! Es gab ja auch noch eine Welt außerhalb dieser Mauern, ein ganzes Universum voller Leute und Ereignisse… Irgendwo öffnete vielleicht genau in diesem Augenblick jemand einen Brief, las eine Zeitung, schaltete einen Fernseher an.

Erstaunlicherweise funktionierte seine Stimme. »Ich komme gleich«, sagte diese Stimme und formulierte eine ihrer Bedeutung entkleidete Phrase, die Hamilton schon so unendlich viele Male verwendet hatte, daß sie fast normal und in ihrer Normalität beinahe obszön klang. Wie konnte er bloß etwas derart Banales sagen, während er gleichzeitig auf so viel Blut hinunterstarrte? Sag es Sarah, befahl er sich selbst. Sie soll die Polizei anrufen. Aber der Gedanke, es Sarah zu sagen, ließ ihn sich innerlich Zusammenkrampfen.

»Ich tue alles für dich, was du willst«, sagte Maria.

Um was hätte er sie wohl bitten können?

Er langte über den Tisch hinüber und stellte die Gegensprechanlage ab. Geh kein unnötiges Risiko ein, sagte er sich selbst.

Und schon im nächsten Augenblick forderte er sich auf: Warum denn nicht? Warum nicht jedem erzählen, was sich hier zugetragen hatte?

Sag ihr, sie solle die Polizei anrufen. Sag ihr, sie soll zum Haus laufen und die Polizei anrufen.

»Alles«, sagte sie. »Ham, ich will dir helfen. Sag mir, was ich tun soll.«

Sie weinte bei diesen Worten, sie zitterte, und Speke hätte sie so gern in die Arme genommen, die Arme, die gerade einen Menschen getötet hatten.

Die Polizei holen. Alles andere wäre verrückt. Alles andere wäre falsch. Er hatte ein Verbrechen begangen, eine Sünde.

Er hatte Maria schützen wollen. Er hatte alles Häßliche von ihr fernhalten wollten. Er hatte sie von aller Unbill erlösen wollen, die sie in ihrem Leben bisher hatte erdulden müssen.

»Wir müssen das hier geheimhalten«, sagte sie.

Er konnte die Worte nicht formen. Er mußte erst Luft holen.

»Was meinst du damit?«

»Ich könnte es nicht ertragen, Ham.« Er hielt sie umfangen, und sie zitterte. »Die Polizei, alle die Fragen, die Kameras –

ich wäre nicht stark genug dafür.«

Nein, sagte er sich selbst, sie ist nicht die Stärkste. Er blickte auf sie hinab, und er wußte, was sie ihm mit ihren Augen sagen wollte: Wenn er die Polizei rief und wenn dann die Welt mit ihren Stiefeln über sie hinwegtrampelte, dann würde sie ihn verlassen.

Er hätte alles ertragen, nur das nicht.

»Ich werde dir helfen«, sagte sie, und ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Ich werde dir sagen, was wir jetzt tun.«

Es war ganz einfach, als sie ihm erzählte, welche Schritte nun zu unternehmen seien. Der Plan war einfach, aber perfekt.

Einen Augenblick lang, als er auf den toten Körper zurückblickte, wollte ihm schwarz vor den Augen werden, aber er riß sich zusammen, und als er sprach und anfing, seine Entscheidungen zu treffen, fand er es selbst erstaunlich, wie schnell sein Geist sich wieder zu klären begann. »Es wird alles wieder gut werden.« Er senkte die Stimme und zwang sich die Worte ab, »wir werden davonkommen.«

In dem Augenblick, da er es sagte, wußte er, daß es die Wahrheit war.

7

Es war ganz einfach: Bevor sie auch nur das geringste unternahmen, mußte die Leiche versteckt werden.

Es wurde langsam heiß im Außenbüro. Noch nie war es hier so stickig gewesen, und jeden einzelnen Atemzug empfand Hamilton ein wenig schmerzhafter als den vorangegangenen.

Seine Lungen zogen sich zu zwei schmerzerfüllten Punkten zusammen, und das Zimmer um ihn herum wurde zunehmend grau.

Die Hitze ließ den Gestank intensiver werden, jeder Atemzug war eine Fahne von Urin und wie der stille Schrei des Blutes.

Speke begann zu schluchzen, und endlich fand er die Kraft, zum Fenster zu staksen und die gläsernen Flügel aufzustoßen, um die frischere, die reinere Hitze des Tages ins Zimmer zu lassen.

Dahinter lag sein Grund und Boden, das steinerne Meer, dem er den Körper seines Freundes übergeben würde. Vor Hamiltons Augen verschwamm alles, die Wurzeln der Bäume und die heruntergefallenen Eicheln, das trockene Laub und das in den Zweigen flirrende Sonnenlicht. Seine Handflächen waren feucht. Diese Hand… Er starrte in seine Handflächen.

Diese Hand hatte Asquiths Arm gepackt und –

»Wer?« fragte sie. »Wer war das?«

Die Frage hallte in ihm nach. Ach ja, wollte er sagen, das, Maria, das ist die Frage der Stunde. »Ein alter Freund.« Das stimmte. Asquith war ein alter Freund gewesen. Dieser Gedanke war tödlich, und Hamilton mußte mehrmals tief Luft holen, um nicht ohnmächtig zusammenzusinken.

»Hm«, begann sie. Und als sie dann wieder zu Atem kam:

»Laß nicht zu, daß man dich mir wegnimmt.«

Wie viele andere Männer auch hatte Speke sich oft gefragt, wie er wohl unter starkem Druck handeln würde. Er war nie durch Kriegswirren auf die Probe gestellt worden, und die rein physischen Krisen, die das Leben anderer betroffen hatten –

Unfälle, Krankheiten, körperliche Behinderungen – er hatte sie einfach ausgeblendet. Seine Charakterstärke war durch die unabweisbaren Forderungen seiner Karriere auf die Probe gestellt worden, aber jetzt hatte er die schlimmste aller Herausforderungen durchzustehen, und plötzlich empfand er diese als willkommene Gelegenheit, sich selbst und Maria zu beweisen, daß er ihr gewachsen war.

Er hatte getötet, und er würde damit fertig werden. So einfach war das. Er würde triumphieren. Er würde etwas gemein haben mit dem Helden, dem Löwen, dem Adler. Er würde zu einem Menschen werden, der an sich selbst glaubte. Nie wieder würde es auch nur den Schatten eines Selbstzweifels geben. Er würde die Wahrheit über sich selbst wissen, und andere Männer würden ihm dies anmerken. (Speke hat sich geändert, würde einer dem anderen zuflüstern. Er ist härter geworden, kälter. Man kann es in seinen Augen sehen.)

»Maria, hör mir zu. Hörst du mir zu?«

»Ja, Ham, ich höre.« Ihre Stimme war die Stimme eines Menschen, der bis ins Innerste geschockt war.

»Tu jetzt genau, was ich dir sage. Wir haben keine Zeit zu verlieren.«

Um es milde auszudrücken. Bell war bereits eingetroffen, und Scamp mit seinen Kameras und einem Aufnahmeteam befand sich auf dem Weg hierher. Bell könnte hierbleiben, aber Scamp mußte wieder gehen. Hamilton würde sich eine Entschuldigung überlegen. Heute würde er in keine Videokamera grinsen.

Er wandte Maria das Gesicht zu und versuchte ihr mit seinem Blick Mut zu mache. Sie schien ihm antworten zu wollen, aber im Augenblick konnte sie nicht sprechen. Er spürte, wie die alte Kraft in seine Beine zurückkehrte, als er neben ihr stand.

(Er ist irgendwie seltsam schneidig in diesen Tagen – einfach nicht mehr derselbe Mann.)

»Wir müssen zusammenarbeiten«, sagte er und faßte Maria an der Schulter, und die Stärke des eigenen Gefühls ließ ihn sich trunken fühlen, dumm und tierisch.

Ihre Augen flehten ihn an: Was du auch tust, tu es schnell!

»Hol eine Schaufel aus der Garage.« Sie schien ihn nicht zu hören. »Jetzt!«

Sie rannte aus dem Haus.

Seine Lungen pumpten schwer. Allein mit seinem Triumph, konnte Speke jetzt den Anblick nicht mehr ertragen. Aber er zwang sich hinzusehen. Das hier hatte er getan. Damit würde er von nun an leben müssen.

Er riß den Teppich vor dem Kamin weg, ein burgunderfarbenes Stück aus reiner Wolle, das er einst als Kapitalanlage erworben hatte, gewebt von Frauen, hatte man ihm gesagt, in einem kleinen Dorf, lange bevor man sich Fernsehen auch nur vorstellen konnte, in einem Dorf, das vom Tabakanbau und Honig lebte.

Hastig rollte er den Körper in den Teppich ein, wobei er peinlich darauf achtete, ihn nicht öfter anzuschauen, als unbedingt nötig war; und doch sah er die tödliche blutverschmierte Wunde in geradezu aufdringlicher Deutlichkeit. Und zu seinem eigenen Entsetzen ertappte Hamilton sich schließlich dabei, wie er den eingerollten Körper umarmte und laut den Namen des Freundes rief, wohl wissend, daß sein Geist von nun an nie mehr ganz gesund sein würde.

Der Leichnam ließ ein gurgelndes Stöhnen hören, eine gehauchte Silbe, als unter seiner Umarmung Luft aus den Lungen entwich. Hamilton ließ ihn fallen, stand einen Augenblick unbeweglich da, ließ sich neben den Leichnam zu Boden sinken, rüttelte ihn und rief Asquiths Namen.

Maria war plötzlich neben Hamilton, zerrte an ihm, versuchte, ihn fortzureißen und ihm die Schaufel in die Hand zu drücken.

»Schnell«, flüsterte sie.

Er ging auf staksigen Beinen zum Fenster. Sie war gewitzt.

Sie wußte, was getan werden mußte. Wir werden ein Team sein, dachte er.

Es tat gut, wieder an der frischen Luft zu sein. Er grub mit dem Spaten und stieß ihn mit aller Kraft in den Boden, um die Wurzeln der Bäume zu durchtrennen. Der Geruch nach frischer Erde war wie Medizin. Die Erde würde ihm helfen.

Gerade mal eine Stunde von San Francisco entfernt, war dieses Anwesen ein Refugium, ein Geheimort jenseits der Welt der Autos und der Neuigkeiten. Hamilton hatte die Bäume hier stets geliebt, und das Haus auch. Er hatte das Gestrüpp entfernt, und einmal hatte er sich dabei eine Verletzung und eine solche Menge giftigen Saftes zugefügt, daß ihm der Arzt eine Cortison-Spritze hatte geben müssen.

Ihm war schwindelig, so schnell rasten die Gedanken durch seinen Kopf, aber er konnte nichts dagegen unternehmen. So unwahrscheinlich es auch schien, er wußte ohne jeden Anflug von Zweifel, daß das Anwesen ihm helfen würde. Reine Natur, dieses unerkannte Gut unter den Gütern, würde ihm helfen.

Das war verrückt, er wußte es, aber er ertappte sich dabei, wie er sich ins Gedächtnis zurückrief, daß er Geld für die Rettung der Delphine gespendet und Briefe an den Senat geschrieben hatte mit der flehentlichen Bitte, etwas gegen Tierversuche zu unternehmen. Stets hatte er sich für die Wale eingesetzt. Er würde Vegetarier werden. War es etwa Verrücktheit, daran zu denken, daß sich sein ganzes Leben ändern würde? Dies alles war ein großer Segen. Es war die Chance, weiter zu wachsen.

An welchen Kreuzweg seines Lebens war er jetzt bloß gelangt?

(Er war stets sehr von sich überzeugt gewesen, aber jetzt hat er eine echte, eine wirkliche Präsenz, würden die Leute sagen.

Ich frage mich, was eigentlich geschehen ist, das ihn so stark gemacht hat.) Er schüttelte sich. Was würde Sarah solange mit Bell anstellen? Der Biograph würde ungeduldig werden, vielleicht sogar mißtrauisch. Dies war die gefährlichste aller denkbaren Situationen: ein berufsmäßiger Reporter, ein Mann, der für seinen Blick für die Details berühmt war, keine zwei Minuten Fußweg von einem Leichnam entfernt.

Speke war in bester physischer Verfassung, und er war in der Lage, schnell zu arbeiten. Aber das Erdreich war hart und voller Steine und sich windender Wurzeln. Harter Wurzeln, widerstandsfähiger Stricke, die der Spaten nicht zu durchtrennen vermochte. Die Steine schrammten und kreischten am Blatt des Spatens. Saft- und kraftstrotzende Kabel aus Holz schlangen sich um den Stahl, und Hamilton hatte noch mehr Mühe damit, den Spaten wieder aus dem Boden zu ziehen, als damit, ihn erneut ins Erdreich zu stoßen.

Welch erbärmliches Werkzeug dies doch war. Ganz offenbar war es vom Vorbesitzer oder dessen Gärtner in der Garage zurückgelassen worden. Speke hatte seinen eigenen Gärtner.

Er könnte drüben anrufen und Brothers fragen, ob er irgendwo einen besseren Spaten habe, aber Brothers war ein weiser Mann, und ein neugieriger dazu.

Seine Handflächen schmerzten. Er bekam langsam Blasen. Er lehnte sich auf den Spaten und atmete schwer. Ihm blieb nicht viel Zeit. Er mußte jetzt hinaufgehen, um sich mit Bell zu treffen, irgendeine Entschuldigung finden, damit er später wieder hierherkommen und seine Arbeit vollenden konnte. Das konnte er nicht tun, wenn die Kameras ihren Weg schon hierhergefunden hatten. Diese Wiesel folgten einem doch überallhin.

Wer hätte je gedacht, daß normales Erdreich so hart sein könnte? Es war eine gute Stelle, sicher – ein würdiger Ort für ein Grab. Es war nahe genug am Außenbüro, um Coyoten davon abzuhalten, den Leichnam auszubuddeln, nicht weit von dem Fenster entfernt, durch das Asquith zu verschwinden versucht hatte. Hamilton kratzte sich den feuchten Bart. Maria war schon bei der Arbeit, das Blut mit einem Lappen aufzuwischen. Gott, Blut war ein hartnäckiges Zeug. Einen Moment lang verspürte er Brechreiz.

Aber Maria war hart. Sie erwies sich als wahrlich erstaunliche Frau, seine kleine weiße Maus. Wieder einmal traf ihn die Erkenntnis hart, daß er sie im Grunde gar nicht kannte.

Er half ihr, den Leichnam in den Wandschrank zu schleifen, wo er zu einem weiteren Objekt in seinem Vorratslager neben unbenutzten Fliegenklatschen und selten verwendeten Landkarten und Atlanten wurde.

»Ich mach’ später weiter. Jetzt muß ich hinüberrennen, um mich mit Bell zu treffen.« Seine Stimme klang heiser. »Ich muß mich beeilen.«

»Mach dir keine Gedanken, Ham. Ich mach’ inzwischen hier alles sauber.«

Sie meinte das Blut. Sie würde das Blut aufwischen. Einen Augenblick lang liebte er sie zu sehr, um reden zu können.

»Wie sehe ich aus?« fragte er. »Sehe ich einigermaßen ordentlich aus?«

»Du siehst gut aus.«

Eigentlich müßte er besser als gut aussehen. Er müßte perfekt aussehen, um einen Mann wie Christopher Bell hinters Licht führen zu können.

Er eilte durch das Sonnenlicht und sagte sich immer wieder, es gebe keine Hoffnung mehr. Wie konnte er nur versuchen, sich selbst zu betrügen, und sei es auch nur für eine Sekunde?

Konnte man es nicht sogar riechen, sogar hier im hellen Sonnenschein? Roch nicht die ganze Luft nach Blut, dunklem, salzigem Blut wie nach abgestandenem Meerwasser?

ZWEITER TEIL

EIN ERSTER SCHNITT

8

Christopher Bell kurbelte das Fenster seines Fiat-Autos herunter und ließ die vom Geruch der ausgedörrten Hügel geschwängerte Luft durch sein Haar streichen. Bald würde er am Ziel sein, und er lachte, weil er mit sich selbst äußerst zufrieden war.

Bell hatte gelesen, man könne die Einfahrt selbst dann noch verpassen, wenn man genau wußte, wo man nach ihr Ausschau halten müsse. Das Haus sollte gleichermaßen massiv wie unauffällig sein. Er hatte gehört, es habe Wanderer gegeben, die daran vorbeigekommen seien, ohne es überhaupt zu bemerken. Das Haus war wie ein Vexierbild inmitten überhängender Basaltfelsen und uralter Eichen. Es kam ihm vor wie die Fluchtburg, nach der er selbst seit Jahren suchte.

Hamilton Speke erschien ihm als ein ebenso farbiger wie wagemutiger Mann, ein Mann, der das Leben liebte.

Aber Bell war professioneller Journalist. Sollte Speke sich als Gigant mit Fehlern erweisen, dann würde es ihm ein Vergnügen sein, eine Attacke gegen sein erfolgreiches Bühnenschaffen zu reiten. Ihm machte das nichts weiter aus.

Außerdem würde ein kleiner Skandal sich immer verkaufsfördernd auf sein Buch auswirken.

Murchison, der wohl am stärksten beachtete Kenner der Filmszene in der Bay Area, hatte ein wenig gelogen, um Spekes Aufmerksamkeit und Sympathie für Bell zu gewinnen.

»Ich werde ihn anrufen und ganz nebenbei etwas von Kokain und ein paar Trips zuviel nach Reno erwähnen. Speke kann einem Krüppel einfach nichts abschlagen.«

Bell hatte protestiert, kurz, aber nicht sehr scharf. Er hatte gerade einen Vertrag über ein Buch von Murchison vermittelt, und Murchison schuldete ihm mindestens einen größeren Gefallen. Bell war ein wenig in Sorge gewesen, Speke könne zu beschäftigt sein, um sich mit ihm zu treffen, und die Lüge hatte daher ihren Sinn.

Er mochte die Frische hier draußen. Das Land breitete sich wie ein Teppich unter dem blauen Himmel aus. Dies war bestes Landleben, die trockene Sonne eines kalifornischen Sommers über goldenen Feldern und darüber ein Falke, der von seinem Horst oben in den Hügeln kam.

Auf diesen Tag hatte er seit Monaten gewartet. Er hatte schon Hunderte von Aufträgen teils erduldet, teils voller Freude erledigt, doch dies hier war eine Aufgabe, die er sich auf Grund seines Erfolges selbst hatte aussuchen dürfen, und er war entschlossen, jede Minute davon zu genießen.

Er gehörte zu den Männern, die ihre Arbeit lieben. Das Olivier-Buch war ein wahr gewordener Traum. Christopher hatte alle Kneipen im Westend auf der Suche nach einer Chance durchstöbert, einen der alten Schauspieler interviewen zu können. Dann war das TV-Buch gekommen, von dem Tausende von Exemplaren verkauft worden waren. Er mußte zugeben, daß die Recherchen für dieses Buch gegen Ende zur wahren Plage geworden waren. Er war von Natur aus ein agiler Mann.

Aber gerade mit Hilfe solcher Bücher hatte seine Karriere den richtigen Schwung bekommen. Er besaß sogar ein Dankschreiben von Olivier persönlich, einer der letzten Briefe, die der große Mann noch selbst geschrieben hatte und in dem dieser sich für Christophers heitere, wenn auch nicht immer ganz wirklichkeitsgetreue Sicht seines Lebens bedankte.

Christopher Bell hatte sich vom einfachen Journalisten emporgearbeitet. In seinen ersten Jahren als Reporter war er gelegentlich sogar in Schießereien geraten. Er hatte über paramilitärische Razzien auf Marihuana-Feldern berichtet, von Hinterwäldler-Bauern, die sich plötzlich mit automatischen Gewehren bewaffnet hatten. Bei einer Schießerei in East Oakland war er in einen wahren Kugelhagel geraten, und anläßlich eines Bandenkrieges von Alkoholschmugglern hatte eine Kugel sein linkes Ohr nur knapp verfehlt. Noch heute klingelte ihm leise das Ohr, sobald er daran auch nur dachte.

Schießereien auf dem Bildschirm beunruhigten ihn nicht, wenn sie auch seine Aufmerksamkeit erregten. Er interessierte sich mehr für die Einzelheiten am Rande – was die Beteiligten anhatten, wie das Wetter war, welche Wagen die Bankräuber gerammt hatten, bevor sie gegen einen Betonmischer donnerten. Irgendwo zwischen Sir Lawrence und Backlot war Bell zu einem berufsmäßigen Biographen geworden. Später hatten Talkshows unterbleiben und ein Sekretariat errichtet werden müssen, um seine immer umfangreichere Post bewältigen zu können und Bell die Möglichkeit zu geben sich weiter mit neuen Projekten zu befassen.

Viele Leute verlangten danach – und das wunderte ihn – daß Bell ihr Leben ›aufarbeitetet‹, genau wie die Damen der englischen Aristokratie Wert darauf legten, daß Gainsborough und Reynolds ihr Lächeln und ihre Morgengewänder in Silber und Rosa für die Nachwelt verewigten. Bell hatte sich vorgenommen, nur über solche Leute zu schreiben, die er bewunderte, Menschen, die die Welt lebenswerter machten –

und Hamilton Speke war ein solcher Mensch.

Hoch über der Straße zog ein Geier seine Kreise. Christopher Bell schaltete einen Gang zurück, um einen Kleintransporter zu überholen. Dies würde der Beginn eines neuen Lebens werden. Dies war ein Buch, das er genießen würde, die Geschichte eines Mannes, der ohne Zweifel ein Genie genannt zu werden verdiente. Sollte es sich erweisen, daß Speke ein Blender war, ein Mann, der seiner Reputation nicht gerecht wurde, dann war es auch gut. Er konnte dabei nur gewinnen. In jedem Falle hatte er ein Leben zu beschreiben, das sich würde verkaufen lassen.

Bell kurbelte das Fenster wieder hoch. Zwei gelbe Lastwagen schoben sich die Straßenböschung hinauf. Blauer Rauch legte sich über die zweispurige Landstraße. Flammen züngelten an der Flanke eines Hügels hinauf, und Forstarbeiter kämpften mit Schaufeln gegen das Feuer an. Es ähnelte sehr stark jenem Feuer, das Speke erst kürzlich zu bekämpfen geholfen hatte, erinnerte sich Bell. Aber dieses Feuer sah nicht danach aus, als könnte es zu einer echten Bedrohung werden. Die Flammen schlugen nicht sonderlich hoch.

Er beeilte sich, durch den Rauch zu gelangen, und fuhr danach eher noch schneller. Eine kleine Feuersbrunst, beruhigte er sich selbst. Aber es war eigentlich nicht die Jahreszeit für ein solches Feuer. In einer Stunde war es sicherlich gelöscht.

Seit er sich in New York von Stripsearch hatte begeistern lassen, hatte er sich gewünscht, Speke einmal persönlich kennenzulernen. Dieser Mann ließ die englische Sprache knallen wie eine Peitsche. Dieser Mann verstand sich auf seine Charaktere. Das Schweigen des einen Darstellers, während der andere sprach, war nicht einfach nur ein Zeitabschnitt, in dem der andere daherplapperte. Das Schweigen beschützte und unterstützte den Dialog, und manchmal erhellte es ihn sogar –

so wie Stille während einer Symphonie dem Celloklang Raum gibt.

Er hatte bereits ein paar Einzelheiten aus Spekes Leben recherchiert. Jessica Moe, eine alte Freundin aus früheren Journalistentagen, hatte ihn mit einer willkürlich zusammengestellten Auswahl von Aufnahmen aus den Crystal Sound Studios versehen, von denen sie in ihrer trockenen Art gemeint hatte, sie lohnten vielleicht das Reinhören. Gestern waren die Bänder aus New York eingetroffen, und bis jetzt hatte Christopher sich noch nicht die Zeit genommen, sie sich einmal anzuhören. Er hatte eine gute Entschuldigung: Warum sich diese Aufnahmen anhören, wenn man doch den Mann selbst treffen würde?

Das Anwesen war von einem Zaun aus spitzen Eisenpfählen umgeben. Das Tor wurde von zwei Pfeilern aus blauem Stein gehalten. Es war nicht verschlossen. »Wir schließen es nie«, hatte Spekes Managerin, eine Frau mit einer temperamentvollen Stimme, am Telefon gesagt. »Mr. Speke hält das für unangebracht.« Bell hatte auch über Sarah Warren eine Menge gehört und schon erwogen, auch über sie einmal einen Artikel zu schreiben, doch dann wurde ihm bewußt, daß er eigentlich gar nichts über sie wußte und auch keine Ahnung hatte, wo man etwas über sie in Erfahrung bringen könnte.

Gleich neben dem Tor lag ein totes Tier, dessen tote Augen direkt in den Himmel starrten.

Christopher Bell wollte diesen Augenblick genießen, sein erstes Eintreffen auf Live Oak. Daher ließ er den Fiat betont langsam über den kiesbestreuten Weg rollen. Riesige Eichen, hie und da mit Moos bewachsen, überschatteten den Weg. Das Knirschen der Kieselsteine klang hart, und Bell fürchtete schon, die Stille des Ortes zu entweihen; als würden die herrlichen Bäume beim ersten lauten Geräusch wieder verschwinden, etwa beim Schlagen einer Autotür oder dem Ruf einer menschlichen Stimme. Der Fahrweg mochte an die drei oder vier Meilen lang sein. Er war steinig und gewunden.

Wie so viele andere Auffahrten zu ähnlichen Anwesen im Westen war er betont ungepflegt, vielleicht um dem Bewohner das Gefühl zu vermitteln, er lebe in der Wildnis. Die Straße war zugleich kurz und unendlich lang, während Bell auf ihr entlangfuhr, war ihm, als würden alle Orte, die er schon besucht, alle Menschen, die er einmal gekannt hatte, langsam hinter ihm verschwinden.

Und dann erblickte er es.

Er hielt den Wagen an.

Es sah grandioser aus, als es im Fernsehen gewirkt hatte, und dabei machte das Fernsehen so oft aus kleinen Hütten großartige Paläste. Hier handelte es sich im wahrsten Sinne des Wortes um ein nobles Haus. Bell hatte den Artikel im Architectural Digest in der vorigen Woche aufmerksam gelesen, aber trotzdem war er jetzt beeindruckt. Errichtet 1910

von einem Eisenbahnmagnaten, der sich ins Privatleben zurückgezogen hatte, war es erst vor wenigen Jahren an Speke verkauft worden. Es verfügte über ein halbes Dutzend Terrassen, einen Wintergarten und, wie der Artikel weiter erwähnt hatte, ›genügend Giebel, um es wirken zu lassen, als stecke es voller aufregender Geheimnisse‹.

Langsam fuhr er näher an das Haus heran. Dann stoppte er den Motor und atmete tief durch. Er würde seinen Aktenkoffer im Auto zurücklassen. Er wollte diese Erfahrung unbelastet machen. Er war darauf eingestellt, durch diesen Mann tiefe Einsichten in das Leben selbst zu gewinnen, und daher wollte er seine erste Begegnung mit ihm ohne alles Beiwerk erleben.

Er spürte die Nervosität in seinem Magen; schnell strich er sich noch einmal durch die Haare und wunderte sich über sich selbst, daß er so wenig selbstbewußt war. Immerhin hatte er Mörder interviewt. Und Staatsoberhäupter. Er eilte die Steinstufen empor.

Die Eingangstür öffnete sich, noch bevor er überhaupt geklopft hatte, und er biß sich auf die Lippen. Sie mußten gesehen haben, wie er sich nervös durch die Haare gefahren war. Er rang sich ein Lächeln ab und eilte weiter durch die Hitze des Nachmittags.

»Ich hatte damit gerechnet, daß Sie pünktlich sein würden«, sagte sie, »und schon sind Sie hier – pünktlich auf die Minute.«

Bell mußte irgend etwas Passendes erwidert haben, denn Sarah Warren stellte sich vor.

Er war wie benommen beim Anblick der dunklen Eichentäfelung und dem Monet – den beiden Monets, Bilder einer mohnbewachsenen Hügellandschaft, eines Sees und weit entfernter Schiffe. Die Stille im Haus war absolut, als habe sie alle anderen Geräusche in sich aufgesogen und nur einen lastenden, reinen Frieden zurückgelassen.

Er hatte erwartet, in Sarah Warren so etwas wie eine Feindin vorzufinden, vielleicht auch jemanden, der ständig in Verteidigungshaltung gegen die schlechten Angewohnheiten ihres Arbeitgebers war, wie immer diese auch aussehen mochten. Das wäre natürlich gewesen, und Bell war bereit, das zu respektieren. Was er allerdings nicht erwartet hatte, das war die freundliche Art, mit der sie ihre Rolle als Hausherrin spielte.

»Ich habe mich darauf gefreut, Sie kennenzulernen«, sagte er.

»Mit Sicherheit nicht. Sie haben absolut keinerlei Interesse daran, Ihre kostbare Zeit mit mir zu verschwenden. Übrigens, ich fand Ihr Buch über Olivier recht gut. Sie sind wahrscheinlich der einzige Kritiker, den ich gelesen habe, der seinen Hamlet versteht.«

Bell stellte überrascht fest, daß er rot wurde, und stammelte ein paar Dankesworte.

»Mr. Speke wird in wenigen Minuten hier sein. Er hat mich gebeten, Sie in sein Büro zu führen, falls er sich verspäten sollte.

In sein wirkliches Büro, nicht in das, in das er seine Besucher für gewöhnlich führt, wenn es sich um ein Interview handelt.«

Man schmeichelte ihm wieder, das wußte Bell. Aber es tat seine Wirkung. Dies war eine Frau, die durchaus in der Lage gewesen wäre, auch eine große Organisation zu leiten, und so, wie das Gerücht ging, hatte sie bereits hochdotierte Stellungen ausgeschlagen, um bleiben zu können, wo sie war. Sie wußte in der Tat einfach alles. Das konnte er der Art, wie sie lächelte, ohne weiteres entnehmen. Mit ihrer professionellen Freundlichkeit brachte sie ihn zum Schweigen und bedeutete ihm gleichzeitig, daß er von ihr nichts würde erfahren können.

»Ich gehe davon aus«, sagte sie in ihrem unverbindlichen Tonfall, »daß Sie bereits mehr als genug über dieses Haus hier wissen.«

»Es ist faszinierend.«

»Der erste Besitzer hat sich selbst erschossen. Den oberen Teil seines Kopfes fand man, verzeihen Sie, daß ich das erwähne, unter einer Pappel. Das war während des Ersten Weltkriegs. Es hatte wohl mit einer unheilbaren Krankheit zu tun – oder mit dem Krieg. Ich erwähne es auch nur, weil manche Leute immer wieder zu glauben scheinen, dieses Haus sei so eine Art kulturelles Disneyland. Aber es ist realer Wohnsitz und hat das wirkliche Leben gesehen.«

»Heißt das nicht aber, daß dieses Haus verwunschen ist?«

scherzte Bell.

»Das würde ich nicht sagen, Mr. Bell.«

Er bemühte sich, mit dieser Frau, die einen solch energischen Schritt hatte, auf gleicher Höhe zu bleiben, weil er ihr zu gern noch einmal in die Augen gesehen hätte. Er wollte noch einmal ihren direkten, ruhigen Blick auf sich spüren.

»Wenn ich zunächst vielleicht ein wenig Zeit mit Ihnen verbringen dürfte, Miss Warren…«

Sie blickte ihn an, als wolle sie ihm mitteilen, daß er sie auch mit Vornamen hätte anreden können.

»Ich wundere mich ein wenig über das Fehlen jeglicher Sicherheitsvorkehrungen hier«, hörte er sich selbst sagen, und dabei war das doch das letzte, was ihn ernsthaft interessiert hätte. Was er in Wirklichkeit zu gern gewußt hätte, war, warum die Luft hier in Live Oak so viel mehr Sauerstoff hatte als anderswo. Er hätte gern gewußt, welcher der Räume in diesem weitläufigen Gebäude Spekes bevorzugtes Zimmer war, und er hätte zu gern gewußt, wie ein Mann solch eine attraktive Frau als Managerin engagieren konnte, ohne sich in sie zu verlieben.

Sie traten ins Büro. Hier arbeitete Speke. Ein dunkel gebeizter Schreibtisch, möglicherweise aus Mahagoni. Das Fenster bot einen wunderschönen Ausblick auf grünes Gras und Fuchsien.

Bell wollte möglichst ihr gegenüber sitzen und ihrer Stimme lauschen. Aber Sarah hatte das Gehabe einer vielbeschäftigten Persönlichkeit, die großzügig mit ihrer Zeit umging. Sie bot ihm erst einmal Kaffee, Tee oder etwas Stärkeres an.

Er bat um eine Tasse schwarzen Kaffees. »Wie war das mit meinen Kommentaren zu Hamlet…«

Eine Braue ging einen kleinen Moment lang in die Höhe, so als habe sie genau begriffen, daß er nur darauf aus war, sie zu neuerlichen Komplimenten zu verleiten. Doch ihr schien es Vergnügen zu bereiten, ihm diesen Gefallen zu tun. »Sie wußten, daß Olivier einen Fehler gemacht hat, um das Stück ein wenig zu kürzen.«

»Rosencrantz und Guildenstern?«

»Es schadet dem Stück, wenn man sie einfach ausstreicht«, sagte sie. »Ich glaube, da haben Sie recht.«

»Aber das Stück ist doch im ganzen zu lang, oder?«

Sie lächelte, als verbiete es ihr ihre gute Erziehung, ihm zu sagen, wie dämlich er doch sei.

»Natürlich«, versuchte er sich zu rechtfertigen, »natürlich ist eine solche Einschätzung Ausfluß unserer eigenen Unzulänglichkeit, unseres Mangels an Ausdauer, still zu sitzen.

Nicht ein Problem des Stückes.«

Als eine weißbeschürzte Frau mit einem Tablett hereinkam, starrte Bell auf die Tasse, als habe er noch nie zuvor diese besondere Art einer schwarzen Flüssigkeit gesehen.

»Es ist schrecklich von mir, Ihnen von diesem Selbstmord zu erzählen. Das habe ich zuvor noch nie getan, jedenfalls nicht einem Gast gegenüber, der uns zum erstenmal besucht. Aus irgendeinem Grunde, ich weiß auch nicht genau, warum, wollte ich Sie einfach nur schockieren.«

»Der obere Teil eines menschlichen Schädels auf einem Rasen ist ohne Zweifel ein scheußliches Detail, das muß ich zugeben. Hat dieses Haus vielleicht eine Geschichte der Gewalt, ich meine, über dieses eine schreckliche Ereignis hinaus?«

Sie antwortete indirekt. »Dies ist kein vom Unglück verfolgter Ort. Der Erbauer nahm sein unglückliches Geschick mit sich ins Grab. Der arme Mann! Er muß sehr verzweifelt gewesen sein.« Wieder fand ihr Blick Bells Augen.

»Ich denke, es gibt hier doch irgendwelche Sicherheitsvorkehrungen.«

»Wachpersonal oder dergleichen? Es besteht laut Mr. Speke keine Notwendigkeit für einen Wachdienst. Das Anwesen liegt so weit abseits, und ein zufällig vorüberziehender Wanderer kann in unmittelbarer Nähe des Hauses vorbeikommen, ohne es auch nur zu bemerken. Die Bäume entziehen es allen Blicken.«

Sarah Warren war eine schlanke Frau, gut gebaut, gekleidet in einen grauen Sweater und ohne jedes Make-up. Ihre Stimme war sanft, aber so geschäftsmäßig, daß Bell sich nicht traute, sie zu unterbrechen, aus Furcht, er könne ihre kostbare Zeit stehlen. Wie konnte ein Mann auch nur ein einziges Wort schreiben, wenn er ständig in der Gesellschaft einer solchen Frau war?

Ihre Augen trieben ihn in die dümmste Frage, die ihm angesichts der Umstände nur einfallen konnte. Es war unvermeidlich. Seine Aufregung, seine Begeisterung, in Spekes Büro zu sitzen, hatten ihn total verwirrt, und der Anblick dieser Frau in Grau, dieser brillanten Gesprächspartnerin, machten jeden Versuch, anders zu klingen als ein Flegel, schon im Ansatz zunichte.

»Er hat in letzter Zeit nicht mehr sehr viel geschrieben, nicht wahr?«

Schreckliche Frage, sagte er sich selbst. Schrecklich plump.

Ihr Lächeln sagte ihm alles: Ich werde dir überhaupt nichts von Bedeutung erzählen. »Mr. Speke spricht nicht über Werke, an denen er noch arbeitet. Nicht über seine Stücke, nicht über seine Musik. Das behält er alles für sich.«

»Die Frage war dumm.«

»Es ist Ihr Beruf«, sagte sie. »Aber ich weiß auch so, was Sie denken. Sie glauben, ich kenne den ganzen schlüpfrigen Tratsch, aber Sie sind davon überzeugt, daß ich nicht darüber reden werde.«

»Möchten Sie es denn?«

Sie lachte. »Ihnen allen möglichen Tratsch auftischen?« Es erstaunte ihn selbst – aber er wurde schon wieder rot.

»Ich weiß nichts von Interesse. Jedenfalls nichts, das Ihnen helfen könnte, Bücher zu verkaufen. Aber ich will gern versuchen, in jeder mir möglichen Weise hilfreich zu sein.«

Wie würde er sie heute abend beschreiben, wenn er seine Notizen machte? Als stille Schönheit? Er spürte, wie er angestrengt lauschte und darauf wartete, was sie als nächstes sagen werde.

Aber sie lächelte nur und sagte: »Wenn sich Mr. Speke einmal verspätet, dann kann es sogar recht spät werden.«

Er war dankbar für den Kaffee, denn der gab ihm etwas zu tun für die seiner Meinung nach viel zu plumpen Hände, die er da am Ende seiner Arme hatte.

»Auf diesen Augenblick hat er sich schon lange gefreut«, sagte sie, und da begriff Bell, daß etwas nicht stimmte.

Sarah drückte auf einen Knopf auf dem Tischchen neben ihr und lauschte, als werde die Luft selbst irgendeine Meldung machen. Und nur den Bruchteil einer Sekunde schien es, als sei sie von etwas gefangengenommen, das nach Ärger aussah.

Bell war ein erfahrener Reporter, ein Mann, der Generäle und Politiker interviewt hatte und vom Papst an einem windigen Nachmittag in Monterey in Privataudienz empfangen worden war. Er verfügte über eine Fähigkeit, die ein Verleger einmal so umschrieben hatte: ›Er hat die Fähigkeit, zwischen den Lügen zu lesen.‹

Sarah wollte Zeit schinden. Er ging davon aus, daß sie Speke schon über die Sprechanlage Bescheid gegeben hatte, als er, Bell seinen Wagen unter der gigantischen Eiche vor dem Haus abgestellt hatte. Irgend etwas stimmte nicht. Vielleicht hatte die Sprechanlage nicht funktioniert, vielleicht war Speke gerade mitten in der Niederschrift eines Dialogs.

Diese winzige Spur von Verunsicherung war nur schwer auszumachen unter Sarahs Stewardessen-Lächeln und ihren kühl wirkenden Augen. Aber sie war unzufrieden. Sie wußte nicht, warum Speke sich zu diesem für ihn so wichtigen Termin verspätete. Sie sprang für ihn in die Bresche mit einer Schilderung des ausgezeichnet bestückten Weinkellers, »den Sie unbedingt sehen sollten – obwohl es dort außer Kerzen keinerlei Licht * gibt. Mr. Speke würde eine Taschenlampe nicht erlauben. Ihr Schein zerstöre die Jungfräulichkeit der Luft dort unten, sagt er.«

»Sie sind von allem Anfang an bei Mr. Speke in Diensten, so an die fünfzehn…«

»Vierzehn Jahre«, sagte sie.

»Wann erledigt er den Großteil seiner Arbeit?« Was er in Wirklichkeit gern gewußt hätte, war etwas anderes: Lebst du auch hier? Was würdest du sonst tun, wenn du nicht den Terminplan dieses großen Mannes organisieren würdest? Und was ist das eigentlich, das dich so ruhig und gelassen lächeln läßt? Ein solches Lächeln konnte doch eigentlich nur heißen, daß es da etwas gab, das ihr Sorgen machte.

Er hätte weiter zu gern gewußt: Wie wirke ich auf dich? Er sah nicht schlecht aus, und wenn seine athletische Figur und seine schlichte Kleidung schon so manchen dazu gebracht hatte, ihn zu unterschätzen, so war es genau das, was er beabsichtigte. Heute trug er eine Krawatte und eine Hose aus bestem englischen Tuch, aber Sarah gehörte nicht zu jenen, die sich von Äußerlichkeiten blenden ließen. Sie sah in ihn hinein, und was sie dort sah, ließ sie, aus welchem Grund auch immer, innehalten – und sich entschuldigen. »Ich würde Mr. Speke gern noch einmal an seine Verabredung erinnern.«

Sie bot ihm ein in Leder gebundenes Notizbuch an. »Mr.

Speke hält diese Dinge sehr hoch«, sagte sie dazu, »Briefe von George Bernard Shaw an alle möglichen Leute, von Charlie Chaplin bis zu John Dos Passos.«

Sie ließ ihn allein, aber er öffnete das Buch mit den in Gold gestanzten Initialen GBS nicht.

Er lehnte sich in seinem Stuhl vor und lauschte.

Er hörte nichts. Herrschte hier wirklich totales Schweigen?

9

Als Hamilton Speke in den Raum trat, war es eine echte Überraschung.

Er war ein massiger Mann, breitschultrig und mit einem Lächeln, von dem Bell vermutete, es müsse wohl über Jahre hinweg vor dem Spiegel eingeübt worden sein. Er war gut anzusehen auf eine ausgesprochen rauhbeinige Weise, ein Mann des Geistes in der Kluft eines Waldläufers. Bells geübte Augen nahmen die Jeans in sich auf, echte Levis, die maßgefertigten Stiefel, das offenstehende Hemd, das viel zu gut saß, um nicht maßgeschneidert zu sein. Die Kleider waren abgewetzt und zerknittert, bequem zu tragen und attraktiv. Auf den Stiefeln lag Staub, und Speke machte ganz den Eindruck, als komme er gerade von der Jagd nach Hause.

Das war ein ganzer Mann, und er hatte echte Ausstrahlung. In einer Welt der Enttäuschungen wirkte Speke größer als auf den Fotografien, und er schien mit sich und der Welt zufrieden.

Erst danach, nach dem Händeschütteln und nachdem sie sich beide in bequeme Sessel gesetzt hatten, fiel Bell auf, wie kalt Spekes Hand gewesen war, als er sie gerade gedrückt hatte.

Nach den ersten Augenblicken wich der Eindruck strotzender Gesundheit, und Speke blickte unsicher drein. Es war, als sehe man einem Schauspieler zu, der den Faden zu verlieren beginnt.

Seine Bühnenpräsenz begann dahinzusiechen wie bei einem alten oder schlecht disponierten Mimen, der nur noch genug Energie in sich spürt, um seinen einen Satz zu sagen und dann zu verschwinden. Ein Durchschnittsreporter hätte es kaum bemerkt. Ein weniger aufmerksamer Gast hätte sich von der betonten Herzlichkeit Spekes täuschen lassen.

Aber Bell sah mehr.

Speke kämpfte darum, seine wachsende Nervosität zu kontrollieren, aber seine Nasenflügel bebten, und die Schultern hoben und senkten sich ständig. Selbst unter der Klimaanlage begann er noch zu schwitzen. So etwas hatte Bell früher schon beobachten können, bei Alkohol-Händlern und Zigaretten-Großhändlern, die vor hohe Gerichte zitiert worden waren, um zu beschwören, daß sie nichts mit der Mafia zu tun hatten.

Im Geiste ging er die Liste möglicher Gründe durch.

Eheprobleme? Bell selbst war nie verheiratet gewesen, obwohl er mehrmals nahe davorgestanden hatte. Es war genau jene Form von Krieg, die die Ehe als eine unfehlbare Methode erscheinen ließ, jede Freundschaft zwischen einem Mann und einer Frau zu zerstören. Genausogut aber war es denkbar, daß Speke Schmerzen hatte, Rückenprobleme vielleicht oder Krebs.

Bell wollte das Interview nicht gleich unter einem bösen Stern beginnen. Sie tauschten Artigkeiten aus. Wie kommt es eigentlich, daß die Leute immer zuerst übers Wetter reden?

Wenn es ein entsprechendes Thema gab, das einen am ehesten an Schrecken, Erdbeben, Hautkrebs und die Unendlichkeit jenseits des eigenen Ichs erinnerte, dann das Wetter.

»Wenn dies heute für Sie nicht der richtige Tag ist«, sagte Bell, um die Schilderung einer berühmten fünfhundert Jahre alten Eiche zu unterbrechen.

Speke lachte kurz und trocken. Es klang wie ein Bellen.

»Nicht der richtige Tag? Wovon reden Sie? Dies ist ein großartiger Tag.«

Bells Neugier wuchs zu echter Bewunderung. Der Mann litt physische oder psychische Pein und blieb unverzagt. »Das ist schön. Aber ich hasse jede Hast. Und vor allem übe ich nur ungern Druck aus.«

»Bell, ich bin ja so froh, daß Sie hier sind. So froh. Auf diesen Tag habe ich mich seit Monaten gefreut. Sie haben sich mit Sarah unterhalten, nicht wahr? Großer Gott, welch eine Frau! Sie verfügt über einen Geist, für den man sie im Pentagon bewundern würde. Ein Dynamo. Ein General. Sie kennt alle Geheimnisse, Bell.« Speke lachte. »Aber sie würde nie reden.« Ein erneutes Lachen, begleitet diesmal von einem Augenzwinkern.

Bell lachte ebenfalls. Aber die ganze Zeit mußte er denken: Vielleicht bin ich der Grund seiner Unsicherheit.

Vielleicht trägt er diese ganze erzwungene Herzlichkeit nur meinetwegen zur Schau. Ich bin eine Enttäuschung. Speke war robust, voller Leben. Seine Art, ihn ohne Umschweife nur mit dem Familiennamen anzureden, ließ Bell sich überfordert fühlen. Wie hätte er seinerseits Speke einfach nur ›Speke‹

nennen können? Aber ›Mr. Speke‹ – das schien ihm ebensowenig passend.

Er fühlte sich minderwertig. Das hatte er nicht erwartet, und dann wurde ihm bewußt, daß alle seine Erwartungen und die Monate der Vorbereitung ihn zu einem Punkt geführt hatten, wo der wirkliche, leibhaftige Mensch nur noch einschüchternd auf ihn wirken konnte. Er war sonst nicht leicht zu beeindrucken. War nicht selbst der Papst ein Mensch wie jeder andere gewesen?

Speke würde sich als der große Mann erweisen, den Bell seit je in ihm zu finden erwartet hatte, aber er würde sich am Ende auch wieder nur als ein Mensch unter Menschen erweisen.

Gewiß, jeder, der ein Musikalbum wie First Cut und ein Bühnenstück wie Stripsearch schreiben konnte, und das in ein und demselben Leben, mußte einfach ein erstaunliches Individuum sein. Aber das war doch kein Grund, sich ständig zu räuspern wie ein kleiner Junge im Büro des Schuldirektors.

»Ich hatte einen anstrengenden Morgen«, sagte Speke und reckte sich, ein Mann, der sich sehr darum bemühte, den Anschein zu erwecken, als sei er mit sich selbst im Frieden.

»Mußte ein paar Wege freiräumen.«

»Sie hassen jede Form von Untätigkeit«, vermutete Bell.

Speke zögerte einen Augenblick länger mit der Antwort, als nötig gewesen wäre. »Ich habe Buschwerk beiseite geräumt.«

Nein, er hatte keine Eheprobleme. Er mußte körperliche Schmerzen verspüren, dachte Bell. Speke leidet Schmerzen, und trotzdem bemüht er sich, mich wie zu Hause fühlen zu lassen. Er murmelte etwas von ›wieder zusammenpacken‹, aber Speke unterbrach ihn.

»Ich werde absolut ehrlich sein – ich möchte, daß Sie das von allem Anfang an wissen.«

»Das ist schön«, erwiderte Bell und bemühte sich um ein ähnlich strahlendes Lächeln.

»In jeder Hinsicht ehrlich.«

Bell lächelte so angestrengt, daß er nicht einmal etwas erwidern konnte.

»Sie werden alles erfahren«, sagte Speke, »alles, was Sie wissen müssen. Ich werde so aufrichtig mit Ihnen sein wie mit mir selbst.«

»Das ist wundervoll«, sagte Bell und fürchtete schon, ein wenig verkrampft zu wirken. Keiner von denen, die er bisher interviewt hatte, hatte so sehr darauf gepocht, ehrlich zu sein.

»Es gibt da etwas, das mich beunruhigt«, fuhr Speke fort. »Es hat wohl keinen Zweck, einem Mann wie Ihnen etwas verheimlichen zu wollen.« Er setzte sein gewinnendstes Lächeln auf und fügte hinzu: »Wir werden Besuch bekommen.«

»Besuch?«

»Ein Filmteam. Ich wollte, die Leute kämen heute nicht.«

»Verstehe«, sagte Bell. Entspanne dich, sagte er sich selbst, tu so, als hättest du vor dem heutigen Tag wenigstens schon einmal in deinem Leben Englisch gesprochen.

»Sie machen eine Serie für PBS. Hier am Ort. Heute nachmittag. Ich hoffe, Sie sind nicht allzusehr enttäuscht.«

»Ich hatte schon von allem Anfang an den Eindruck, als sei der Tag heute nicht besonders günstig gewählt.«

»Dies ist kein Tag wie alle anderen.« Wieder bot er sein berühmtes Speke-Lächeln. »Einer von diesen Tagen, die man am liebsten streichen würde.«

Dieser Mann tat alles, um es ihm angenehm zu machen, und Bell fühlte, wie er ein ganzes Stück kleiner wurde. Er wäre gern zu einem langen Spaziergang aufgebrochen, um Stunden später noch einmal von vorn zu beginnen, einen neuen Auftritt zu haben, frisch und unbelastet.

Wie konnte er jemanden interviewen, der ihm so sehr das Gefühl der Unterlegenheit vermittelte?

Speke spürte, was hinter Bells Stirn vorging. »Ich stecke mitten in etwas ganz Neuem«, sagte er und lehnte sich etwas vor. »Ausgerechnet heute, jetzt – da. In just dieser Minute.« Er deutete mit dem Zeigefinger auf die Stirn.

»Das ist ja wundervoll«, sagte Bell. Du klingst wie ein Einfaltspinsel, sagte er zu sich selbst.

Es war in der Tat wundervoll, und es erklärte so vieles. Speke war mitten in der Arbeit an etwas Neuem. Er versuchte, alles Störende abzuwimmeln, um seine Frustrationen loszuwerden.

Es könnte das neue Stück sein, auf das die ganze Welt wartete.

Es könnte sich auch um Musik handeln. Bell blickte zur Seite und ärgerte sich, diesen großen Geist von seiner Arbeit abgehalten zu haben. Speke hatte also nicht mit irgendwelchen Beziehungsproblemen oder körperlichen Schmerzen zu kämpfen.

»Wenn ich Ihnen daher beim Essen leider keine Gesellschaft leisten kann«, sagte er, »so bitte ich Sie, mich entschuldigen zu wollen.«

»Aber natürlich. Verzeihen Sie. Es war sehr freundlich von Ihnen, überhaupt hergekommen zu sein, um mit mir zu reden…«

»Es ist ein guter Tag, Bell«, sagte Speke und erhob sich.

»Wir werden ein großartiges Team bilden.«

»Sicher«, sagte Bell, aber da war Speke nach einem weiteren festen Händedruck bereits gegangen.

Die ganze Unterhaltung, fand Bell, war ein wenig sprunghaft und krampfhaft gewesen. Das ganze Lächeln und die seltsame Fröhlichkeit. Und dann so alleingelassen zu werden, in Spekes Büro…

Irgend etwas habe ich falsch gemacht, sagte er sich selbst. Ich habe den falschen Eindruck gemacht. Spekes Fröhlichkeit war unecht gewesen, und ich habe nichts getan, um ihn sich wohler fühlen zu lassen.

Auf Zehenspitzen ging Christopher Bell in die Halle hinaus und fühlte sich wie ein Dieb. Dann mußte er über seinen eigenen Scherz lächeln. Er fühlte sich als genau das, was er war: als Journalist. Als professioneller Spion.

Beim Essen lernte Bell dann auch Maria kennen. Sie war fast noch schöner als auf den Fotografien, aber sie redete nie, außer, als es galt zuzustimmen, daß Jäger, die auf harmlose Tiere schossen, selbst erschossen werden sollten. Sie aß nicht viel von ihrer Wachtel.

Diese blasse Frau machte nicht den Eindruck, als könne sie zu einem solchen Tornado werden, daß sie Speke aus der Fassung bringen könnte. Also mußte es Spekes Arbeit sein, die ihn so mitgenommen hatte, dachte Bell. Während des ganzen Mittagessens, bei jedem Schluck Wein und jedem Schluck Espresso, sah Sarah in Christophers Richtung. Sie senkte den Blick auch nicht, wenn ihre Augen sich mit seinen trafen, und dann lächelte sie jedesmal, als teilten sie beide ein verschwörerisches Geheimnis.

Bell ertappte sich bei dem Gedanken, daß Speke nicht die einzige verwirrende Person hier war. Ich sollte über diese Frau schreiben. Was geht da hinter ihrer Stirn vor? Hatte sie gelegentlich einen Liebhaber? Was könnte sie mir über Hamilton Speke erzählen? Und – was könnte sie mir über sich selbst erzählen?

Die Damen mußten es gewohnt sein, mit Speke zu speisen –

sie vermißten jetzt seine Gesellschaft. Bell versuchte, angenehm zu plaudern, und ganz offenkundig stießen seine Geschichtchen über Filmstars und Skandale auch auf ein gewisses Interesse. Ein jeder war gutgelaunt. Grauenhaft gutgelaunt.

Der Schlüssel, so nahm er an, war Sarah. Er würde sie beiseite nehmen und ihr vorschlagen, daß er nicht in das Gästehaus einziehen werde. Er konnte wieder zurückfahren und in ein paar Tagen noch einmal kommen. Er wohnte in Beverly, nahe der Campus-Bibliothek, und es würde ihm nichts ausmachen, in ein paar Tagen, ein paar Wochen noch einmal über die Bay hierher zu fahren. Speke mußte an etwas wirklich Großem schreiben. Er durfte den Künstler nicht aus seiner Arbeit reißen.

Der Gedanke an Sarah überfiel ihn mit Macht. Er wünschte sich Gelegenheit zu einem neuerlichen Gespräch mit ihr. Er wollte ihre kühlen Augen auf den seinen spüren. Er hatte schon einmal so für eine Frau empfunden, aber um Sarah lag etwas wie eine geheimnisvolle Kraft.

Sie wußte um viele Dinge. Sie wußte Sachen über Speke und über die Welt. Und, das fühlte er, sie wußte Dinge über ihn, Christopher, ohne ihn auch nur danach zu fragen. Sie gehörte zu den Menschen, denen nichts entging.

Und Bell fühlte sich so unsicher wie schon seit Jahren nicht mehr.

Spekes Hand hatte sich bei ihrem Händedruck kalt angefühlt.

Und Bell erinnerte sich wieder, wann er schon einmal einen so kalten Händedruck verspürt hatte: Als Teenager hatte er am Begräbnis eines Freundes teilgenommen. Ein Aneurysma hatte dem Leben des jungen Tennisstars ein Ende gesetzt, und mit dem Wagemut des Teenagers hatte er die Hand des Freundes im Sarg berührt, und sie war kalt gewesen, kälter als kalt, unbeweglich und starr.

Genauso kalt war Spekes Hand gewesen.

Sarah kehrte in ihr Büro zurück. Es war ein kleines Geviert mit einer Tür nach draußen, durch die sie oft den Spatzen und den immer zutraulicher werdenden Eichhörnchen Brotkrümel hinwarf.

Sie nahm eine Schachtel Salzstangen, öffnete die Tür und machte schnalzende Laute. Fünf Spatzen schwirrten heran und ließen sich im Gras nieder, obwohl es Nachmittag war und die meisten von ihnen noch Augenblicke zuvor geschlafen haben mußten. Sarah zerrieb die Cracker in der Hand und verteilte die Krümel wie der Landmann das Saatgut.

Der Lunch war schrecklich gewesen. Maria war stets schwer zu durchschauen, charmant zu Männern und distanziert Frauen gegenüber. Bell, der Mann, der Spekes Memoiren schreiben sollte, hatte Augen, die zuviel sahen. Aber der Umstand, einen solch aufmerksamen Beobachter am Tisch zu haben, ließ ihr wieder bewußt werden, was ihr am meisten fehlte.

Unter all dem Luxus, den Antiquitäten und Kunstgegenständen mußte es ein jeder erkennen, der ein bißchen tiefer sah. Zugegeben, heute war es besonders offenkundig gewesen. Maria war wie immer mit den Gedanken weit weg und Sarah selbst distanziert. Aber dieser eine Tag war nicht das Problem. Es war stets irgend etwas nicht in Ordnung. Nicht in Ordnung mit Maria, und lange, bevor sie und Speke sich kennengelernt hatten, mit dem Haus. Es war nicht verhext. Natürlich nicht – welch unsinniger Gedanke! Es war einfach kein Gebäude, in dem das Leben pulsierte.

Konnte sie es sich gestatten, noch einen unerfreulichen Gedanken mehr zu denken? Mit Speke stimmte irgend etwas nicht, und gerade heute war es mal wieder besonders schlimm.

Sie liebte diesen Mann. Sie waren nie liiert gewesen, aber er war so vital, so jungenhaft und konnte sich so geradezu enthusiastisch für alle möglichen Dinge begeistern – sei es eine Erstausgabe von Tarzan on the Apes oder ein neues Videospiel. Aber sie hatte sich immer über ihn gewundert, vom ersten Tag an, als sie das fleckige Manuskript für ihn abzuschreiben begonnen hatte, aus dem dann Stripsearch geworden war. Während der Nächte, in denen er nach Parties betrunken diskutierte und stritt, hatte sie ihr einfaches Leben in ihrem Nebenhaus geführt und das Dasein einer von allem abgeschnittenen Frau genossen, obwohl sie jünger war als Speke. Sie war mit Spekes Karriere verheiratet. Sein Erfolg war der ihre. Doch hatte sie stets vermutet, in diesem Garten Eden müsse es auch Schlangen geben. Aber sie hatte einfach keinen Gedanken daran verschwendet.

Sie verstand die Grenzen Spekes und hatte auch die Anwesenheit Marias in den letzten Monaten hingenommen.

Sie wußte, was sie Speke zu tun bitten konnte und was sie besser selbst erledigte.

Aber sie wußte mehr als das. Sie wußte, es gab ein Geheimnis in Spekes Leben, eines, das mit seinem Beruf zusammenhing, und obwohl sie die genaue Natur dieses Geheimnisses nie in Worte zu kleiden gewußt hatte, begriff sie doch, daß es etwas mit seinem alten Kollegen Timothy Asquith zu tun haben mußte.

Gestern hatte ihr die fremde dünne Stimme am Telefon gesagt, daß Ham mit Sicherheit ein paar alte Erinnerungen auffrischen wollte. Er hatte ihr seinen Namen genannt, und sie hatte sich an ihn erinnert.

Sie hatte Speke nie zuvor so nervös gesehen wie an diesem Morgen. Und als er von seinem Außenbüro zurückgekehrt war, hatte er sie auf eine Weise angelächelt, daß sie auf der Stelle gewußt hatte, es mußte etwas Schreckliches passiert sein. Er war grau im Gesicht gewesen, die Augen starr geradeaus gerichtet, und sein Atem war schwer gegangen. Und die Art, wie er das alles zu vertuschen versucht hatte, hatte alles nur noch schlimmer gemacht. Nicht, daß er etwa ungeschickt gewesen wäre. Ihr war es so vorgekommen, als sei es ihm gelungen, sein Trauma, ganz gleich, welcher Art es sein mochte, vor Bell zu verheimlichen. Maria war gleichfalls bleich, und doch war sie in der Lage gewesen, das Mittagessen mit einer gewissen Gelassenheit hinter sich zu bringen, so als sei sie entschlossen, sich vor Sarah zu beweisen. Sie hatte nicht gern in Sarahs Richtung geblickt und sie mehr als einmal angesprochen, ohne sie dabei auch anzusehen. Sarah hatte immer Eifersucht vermutet. Aber es gab natürlich keinen Grund zur Eifersucht für sie. Sarah hatte kein erotisches Interesse an Speke. Ihr Interesse an ihm ging sehr viel tiefer und gründete auf absoluter Loyalität.

Aber zum erstenmal wurde Sarah bewußt, daß es sich bei Maria um eine Frau handelte, die kaum zu durchschauen war.

Viele Frauen – vielleicht sogar die meisten – würden Speke attraktiv finden. Armer Ham, er war so voller Leben. Daher machte Marias Begeisterung für ihren Mann auch Sinn. Sicher, er hatte auch viel Geld, aber da war noch etwas anderes um Marias Interesse an dem Mann, den sie geheiratet hatte, und das machte Sarah Sorgen.

Heute allerdings war ein Tag, der sich von allen anderen unterschied. Was bisher ein Haushalt der eigenartigen Stille gewesen war, war nun zu einem Haushalt der Unsicherheit, der Ungewißheit geworden. Irgend etwas war in dem Außenbüro vorgefallen, und Maria war entschlossen, dem Blick des Biographienschreibers in demselben Maße standzuhalten wie Speke.

Bell würde sich alles zusammenreimen. Früher oder später würde er jedes Geheimnis dieser ganzen Liegenschaft lüften.

Sarah konnte ihn hinsichtlich der eigenen Person sicher täuschen. Sie war, das mußte sie vor sich selbst zugeben, zu allem fähig. Aber für Speke galt das nicht, und Maria – aber Maria wußte womöglich gar nichts.

Aber was gab es denn da zu wissen? Es war etwas Eigenartiges um Spekes Karriere. Und Asquith, der irgend etwas mit den Anfängen von Spekes schriftstellerischer Tätigkeit zu tun hatte, war noch hier, hier in Live Oak. Sarah hatte das Motorrad ankommen hören, aber sie hatte nicht gehört, daß es wieder weggefahren wäre.

Der Gedanke, diesen seltsamen Mann hier zu haben, ließ sie innerlich frieren. Sie wußte auch nicht, warum. Vielleicht würde er in einem der kleinen Gästehäuser bleiben. Vielleicht brauchte sie ihm dann nicht allzuoft zu begegnen.

Sie entdeckte, daß sie ganz froh über Bells Anwesenheit hier war. Wovor nur hatte sie Angst? Richtige, physische Angst.

Als schicke sich jemand an, ihr weh zu tun.

Sie starrte in die Ferne, zu ihren Füßen die Spatzen. Ein weiterer Eichelhäher gesellte sich zu ihnen, aber sie nahm ihn kaum zur Kenntnis.

Sie legte sich die Hand an die Kehle. Sie konnte niemanden sehen. Und doch – als sie wieder wegsah, war ihr, als habe sie einen Schatten bemerkt, einen Schatten mit Armen und Beinen

– drüben unter den Bäumen. Sie sah noch einmal hin, aber es war eine jener Gestalten gewesen, die nur in dem Augenblick sichtbar werden, in dem man wegschaut, wie ein Geräusch, das man erst vernimmt, wenn es schon wieder verstummt.

Ihr war kalt, und ihr Herz hämmerte.

Bestimmt würde sie im nächsten Augenblick schon wieder über sich lachen können. Die kleinen Nebengebäude lagen halb im Sonnenlicht, halb im Schatten. Dies war seit je ein Ort der Zuflucht gewesen. Er war es noch immer mit seinen von den Flechten grauen Zweigen. Es waren trockene Flechten und das zu geisterhaften Fäden verdorrte Moos, das sie miteinander verband.

Aber der Ort hatte sich gewandelt. Sie konnte ihr Gefühl nicht beschreiben und versuchte, die Angst nicht zur Kenntnis zu nehmen, die von ihr Besitz zu ergreifen begonnen hatte, wie sie dort stand, die eine Hand an der Tür.

Sie konnte förmlich spüren: Sie wurde beobachtet. Doch im selben Augenblick wußte sie, daß keine Kreatur aus dem Gewirr von Licht und Schatten herüberschaute. Der Schatten war der Stumpf eines Baumes, den sie schon viele Male zuvor gesehen hatte, und keineswegs nur ein Schatten: der Stumpf einer vom Sturm geknickten roten Eiche gleich hinter dem ersten Unterholz.

Manchmal, so hatte ihr Vater ihr einmal gesagt, kannst du nicht einmal das glauben, was du siehst. Er hatte es sehr feierlich gesagt, fast schon ein wenig traurig.

Als kleines Mädchen hatte sie oft in ihrem Bett gelegen und den gemurmelten Gesprächen ihrer Eltern gelauscht, während die Verzierungen an der Decke vom Flurlicht her erleuchtet wurden. In dem dünnen Streifen elektrischen Lichts dort oben hatte sie dann Gesichter gesehen, Gesichter, die die Stirn runzelten und Grimassen in den Furchen und Vertiefungen der Deckenverzierungen schnitten. Sie hatte geglaubt, diese Begabung habe sie längst verloren, diese Fähigkeit, Dinge zu sehen, die nicht da waren.

Jetzt hätte sie am liebsten über sich selbst gelacht. Sie war eine gestandene Frau und machte sich Gedanken wegen nichts.

Alles im Himmel und auf Erden war in Ordnung, versicherte sie sich selbst. Es gab keinerlei Grund, sich wegen irgend etwas Sorgen zu machen.

Die Sonne schien hell vom Himmel herunter und lag auf ihrer Schulter wie eine schwere, warme Hand.

Als sie wieder in ihr Büro schlüpfte, achtete sie sorgsam darauf, nicht noch einmal zum Wald zurückzuschauen.

10

Es war heiß, und rings um ihn stieg der Staub auf.

Spekes Lungen füllten sich mit diesem Staub, seine Augen brannten. Jeder Schlag mit der Hacke, jedes Einstechen mit dem Spaten war eine hörbare Vergewaltigung der Erde. Die Sonne war zu einem bösen Stern geworden, ein weißes Loch aus schierem Licht von solcher Intensität, daß es bereits ein physisch spürbares Gewicht bekam.

Er versicherte sich noch einmal selbst: Niemand konnte ihn hier graben sehen. Seine Arbeit hier blieb unentdeckt, die Bäume standen dicht genug. Und doch fühlte er sich nicht rundum sicher. Der Spaten machte jedesmal, wenn er die Erde aufriß, ein metallisches Geräusch.

Was wäre, wenn Mr. Brothers auf diesem komischen kleinen grünen Traktor auftauchte, mit dem er immer rund um das ganze Anwesen fuhr, und dann dachte: Ich kann Mr. Speke doch nicht ganz allein ein Loch ausheben lassen.

Er stieß den Spaten in die Erde, und der Klang des stählernen Blattes hallte im ganzen Spatenstiel wider. Er keuchte. Dies war schmutzige Arbeit, die Hose war schon voller Staub und Dreck, genau wie die Arme auch, und der unablässig rinnende Schweiß ließ alles zu Schlamm werden. Er keuchte und stöhnte, während er mit der Sonne und der heißen Luft kämpfte. Der Boden hier bestand aus einer Mischung aus Ton und Tuffstein, durchzogen von Wurzeln aller Art.

Schließlich hatte er ein Loch ausgehoben, eine Art Krater, von annähernd passender Größe. Was immer du jetzt tust, ermahnte er sich selbst, denk nicht drüber nach. Mach nicht einmal die kleinste Pause, um daran zu denken, was du getan hast. Tilge es einfach aus deinem Kopf.

Maria kam keuchend den Abhang herauf und flüsterte: »Sie sind da!«

Mit ›sie‹ meinte sie Scamp und sein Team. Fernsehen. Die Augen der Welt. Fein. Wundervoll. Laßt uns doch mal schnell Hamilton Speke aufnehmen, wie er gerade einen der Länge nach aufgerollten Teppich mit etwas Schwerem darin vergräbt, etwas, das in der Mitte gurgelnde Geräusche von sich gibt und zusammenklappt wie ein toter Körper.

Speke zog den zusammengerollten Teppich heran, und dieser bog sich in der Mitte durch, und wenn man in die Röhre hineinschaute, dann konnte man von oben her auf Asquiths Kopf sehen. Hamilton keuchte und bleckte die Zähne. Asquith war erstaunlich schwer.

Der Körper fiel in das Grab – denn genau das war es letztendlich ja wohl: ein Grab. Aber Speke hatte sich verrechnet. Das Loch war nicht groß genug.

Verdammte Schmeißfliegen, die ihn stachen und um sein Gesicht herum schwirrten.

Er knetete den Teppich samt Inhalt. Der Teppich hatte Quasten und Troddel, die nicht hineinpassen wollten, obwohl der Körper – er haßte es, in dieser Weise von ihm zu denken –

sich ganz leicht verbiegen ließ, wenn er nur entsprechend darauf herumtrampelte.

Was tat er da? Dies war ein heiliges Ding, eine verstorbene menschliche Entität, und er stopfte sie in ein Erdloch wie einen großen Haufen Kacke. Er begann zu zittern.

Gott vergib mir.

Er arbeitete weiter mit dem Spaten, und endlich hatte er dann wirklich etwas zuwege gebracht, worin ein Leichnam liegen konnte.

Selbstbeherrschung, sagte Speke sich selbst. Er würde sich auf gar keinen Fall übergeben. Egal, was kam, das war einfach eine Frage des Willens.

Denk an etwas Erfreuliches, befahl er sich selbst.

Erdreich über den Körper zu werfen erwies sich als recht schwierig. Flache, hübsche Steine schienen liebevoller zu sein, wenn sie schön über den Teppich verteilt wurden. Mit ein paar schwereren Brocken darüber. Und dann etwas Erde und darüber noch mehr Steine, denn Speke hatte einmal ein paar arme tote Vögel begraben, und dann hatte sie eine Katze oder vielleicht auch ein Stinktier wieder ausgegraben. Aber niemand sollte Asquith ausgraben können!

Ein Schweißtröpfchen brannte ihm in den Augen. Das hier dauerte ja hundert Jahre. Scamp würde fluchen und wie ein Tiger im Käfig auf und ab rennen, wobei Speke sich schon ausmalte, wie Scamp sich zähneknirschend immer nachteiligere Aufnahmen als Rache dafür, daß er hatte warten müssen, ausdachte.

»Ich erledige den Rest«, sagte Maria, die plötzlich an seiner Seite auftauchte.

»Ich bin fast fertig«, keuchte Speke, während er einen schweren Stein heranschleppte, um ihn an seinen vorgesehenen Ort zu plazieren.

»Du hast keine Zeit mehr«, zischte sie. »Beeil dich.«

Dies war eine starke Frau, stellte er bei sich fest. Zum sicher tausendsten Mal wurde ihm bewußt, wie wenig er Maria doch in Wirklichkeit kannte. Er liebte sie mehr denn je, jetzt, wo er wieder einmal sah, wie sehr sie ihm ergeben und wie verläßlich sie war.

Es hatte alles in allem ja nicht sehr lange gedauert. Das Blut war überall weggewischt. Speke nahm sich einen Augenblick Zeit, sich endgültig zu vergewissern. Kein Blut an der Abdeckhaube. Die bronzene Athene blickte aus weisen, klaren Augen ins Zimmer. Der Boden leer, wo das Kienholz für den Kamin gelegen hatte, als der Teppich entfernt worden war, doch der Teppich versah jetzt eine ehrenvolle Aufgabe. Er war ein hinreichendes Äquivalent für einen teuren Sarg.

Speke selbst fühlte sich prächtig. Einfach großartig.

Abgesehen vom Rasen seines Pulses. Doch das würde sich geben. Irgend etwas glänzte durch die Büsche herüber, etwas Metallisches, Großes – fast wie ein Insekt.

Das Motorrad! Die Kawasaki hatte er ganz vergessen. Sie glitzerte dort in den Büschen wie ein echtes Skelett. Ein exotisches Skelett, ein Todesroß – aber er hatte keine Zeit, es jetzt auch noch zu begraben.

Irgend jemand würde es sehen. Dort war auch der Helm, der direkt in seine Richtung schaute, ein Phantom wie ein enthaupteter Kopf, der ihn von der Sitzbank des Motorrades aus beobachtete.

Schwer atmend eilte Speke den Hang hinauf, um sich mit den Filmleuten zu treffen, die sich um einen Lastwagen versammelt hatten und Zigaretten rauchten.

Scamp stand im Schatten und unterhielt sich mit Sarah. Er stieß einen lauten Ruf aus und lief mit ausgestreckten Armen auf Speke zu. Sie sahen sich neugierig an wie zwei Liebende, die sich seit Dekaden zum erstenmal wiedersehen. Dann umarmte Scamp Speke, als wolle er ihm sämtliche Rippen brechen, und trat dann einen Schritt zurück.

»Mr. Staub. He, nehmt die Gelegenheit wahr, euch einmal einen Mann des Wortes von oben bis unten anzusehen, der voller Staub ist.« Er kniff Speke leicht in die Wange und schüttelte das Fleisch, eine Geste, die Speke besonders mißfiel.

»Pflanzt draußen auf dem Feld Bohnen, Mais und Erdnüsse.

Wir könnten dich gut aufnehmen, wie du einen Canon aushebst.«

Eine Minikamera richtete sich auf Spekes Gesicht. »Das ist heute nicht gerade ein günstiger Tag«, begann Speke.

»Es ist ein wundervoller Tag!«

»Wenn ihr vielleicht ein andermal wiederkommen könntet.

Vielleicht nächste Woche oder so…«

»Morgen bin ich in Mailand. Mein Film über das Straßenkabarett bekommt einen Preis. Das ist eine große Ehre für mich.« Scamp hob die Schultern. Er war ein großer Mann, noch größer und schwerer als Speke, und älter, mit leicht angegrautem Haar, einem Schnurrbart und einem Akzent, der eine amüsante Mischung aus Deutsch, Italienisch und reinstem Brooklyn-Amerikanisch war. Speke durchzuckte kurz der Gedanke, er müsse wohl eine Mischung aus einem Heidelberg-Studenten und Bugs Bunny sein. »Wenn ich dich also heute nicht filme, kommst du nicht mehr ins nächste Special.« Noch ein Achselzucken und dann ein Zwinkern.

»Vielleicht in ein paar Wochen…«, begann Speke. Scamp kniff ihn erneut in die Wange. »Und du willst doch in die Specials, Ham. Die Leute betteln darum, da mal reinzukommen, und wir sagen ihnen – nein, um in die Specials zu kommen, müßtest du so groß sein wie Hamilton Speke.«

Speke fühlte, wie sich seine Faust unwillkürlich ballte und er sich um festen Stand bemühte. Doch dann merkte er, daß die Kamera alles einfing, jede Bewegung, jedes Wort, jedes Zähneknirschen.

»Ein Mann der Erde!« rief Scamp. »Wir könnten dich aufnehmen, wie du schwere Felsbrocken bewegst…«

Scamp erblickte Bell, der, die Hände in den Taschen, dahergeschlendert kam. »Der Biographien-Schreiber und sein Objekt diskutieren das zu beschreibende Leben. Sie konferieren über die Fragen von Leben und Tod. Großer Gott, nun steht doch nicht einfach so da herum. Konferiert miteinander. Na, nun kommt schon, das ist Journalismus pur, um Himmels willen.«

»Ich habe gegraben«, sagte Speke schwach und hoffte, niemand werde ihn hören. »Ich habe einen Baumstumpf ausgegraben.«

»Einen Baumstumpf!«

Die Schwarze Katze Von La Guadana: Horror-Roman ; ["Ein Meisterwerk Des Poetischen Horrors"]
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