06

Sie lag nicht mehr auf hartem Stein, sondern auf einer weichen, nachgiebigen Unterlage, in einem abgedunkelten Zimmer. Im Nebenraum konnte sie murmelnde Stimmen ausmachen.

Sie lag zusammengerollt, die Beine angezogen, ihren gesunden Arm schützend um sich geschlungen, als hätte sie im Schlaf gespürt, wie ihr Federkleid sich auflöste. Sie war splitternackt. Was bedeutete, die Sonne musste inzwischen aufgegangen sein. Bei Tag reichte die Magie nicht aus, die Federn des Vogels in Kleidung zu verwandeln.

Einen Augenblick wünschte sie sich, einfach in die Bewusstlosigkeit zurückzusinken. Doch dann wäre sie den Schergen noch hilfloser ausgeliefert. Ergeben öffnete Madeleine die Augen ganz und stellte sich ihrem Schicksal.

Sie erblickte ein luxuriöses Hotelzimmer. Alles war in Cremetönen gehalten, mit goldenen Akzenten. Die Stimmen wurden deutlicher. Ein Mann und eine Frau.

»Sie brauchen das kleine Schlafzimmer nicht aufzuräumen. Das geht in Ordnung. Hier, das ist für Sie.«

Die Frauenstimme bedankte sich überschwänglich. Schwere Schritte näherten sich der Tür. Madeleine ignorierte die Schmerzen in ihrem Arm. Panisch zerrte sie an der Bettdecke, auf der sie lag, kroch darunter und zog sie über sich.

Ein schmaler Lichtstreifen drang zur Tür herein, wurde breiter. Geblendet und voller Furcht starrte sie der dunklen Silhouette entgegen und schlang die Decke noch fester um sich.

»Guten Morgen, Madeleine«, sagte Armand.

 

Madeleine saß im Bett, die flauschige Zudecke bis zum Kinn hochgezogen. Armand lehnte neben der Tür an der Wand. Sie war erleichtert, dass er nicht näher kam.

»Wie hast du mich gefunden?«

»Ich bin dir gefolgt.«

Ihr vorwurfsvoller Blick prallte an ihm ab. Ohne sein Eingreifen wäre sie jetzt tot oder auf dem Weg zu Bastien.

»Was hast du mit ihnen gemacht?«

»Sie können niemandem mehr schaden.« Seine Stimme klang eisig, seine Miene wirkte verschlossen.

»Du hast sie getötet?«, hakte sie vorsichtig nach.

Armand schwieg. Ein leichter Schauder überlief sie.

Keiner von Bastiens Lakaien hatte Mitleid verdient. Sie wusste, welche Art von Männern Bastien in seinen Diensten bevorzugte. Aber die Kälte, die Armand ausstrahlte, machte ihr zu schaffen. Sie schien nicht seinem Wesen zu entsprechen.

Woher willst du das wissen, schalt sie sich.

Diese Situation passte allzu perfekt zu ihren Schwächen. Nach allem, was sie wusste, mochte Armand keinen Deut besser sein, als ihr Exliebhaber. Er tötete kaltblütig diejenigen, die seiner Rache im Weg waren. In ihrem hartnäckigen Opferkomplex wollte sie unbedingt einen edlen Retter in ihm sehen. Aber die Chancen standen gut, dass sie damit ebenso falsch lag wie damals bei Bastien.

Ich muss einen klaren Kopf behalten, redete sie sich zu. Auf keinen Fall durfte sie sich in irgendwelche Gefühlsduseleien verstricken!

»In absehbarer Zeit werde ich de Villefort entgegentreten«, antwortete Armand schließlich. »Je mehr seiner Lakaien ich ausschalten kann, umso besser.« Finster kniff er die Augen zusammen. »Außerdem waren sie zu stark. Ich hätte sie nicht einsperren oder gefangen halten können. Sie wären jetzt schon hinter uns her.«

Uns, hat er gesagt! Die Stimme kam leise und hoffnungsvoll aus ihrem Bauch. Sie befahl ihr zu schweigen.

»Ist das deswegen passiert?« Madeleine fasste in ihre zerzausten Locken. Sein Haar und seine Augen waren tatsächlich eine Nuance dunkler als in ihrer Erinnerung. »Weil du ... getötet hast?«

Armand gab ein abgehacktes Lachen von sich. »Ich vergesse immer, welche kindlichen Vorstellungen ihr Christen von den höheren Sphären habt. Wir sitzen nicht auf den Wolken und spielen Harfe! Wie der Name es sagt, sind die meisten Angehörigen der himmlischen Heerscharen Krieger. Es ist nicht das erste Mal, dass ich Feinde getötet habe. Der Kampf hat mich Energie gekostet. Deshalb werde ich dunkler.«

Madeleine wählte ihre Worte mit Bedacht. Auf ihrer ablehnende Haltung zu bestehen war unmöglich geworden. Außerdem konnte sie nicht in ihre Wohnung zurückkehren. Nicht einmal, um ein paar persönliche Dinge zu holen. Wie Bastiens Schergen das fertigbrachten, hatte sie nie herausgefunden. Aber sobald es ihnen gelang, sie aufzuspüren, war ihr Unterschlupf auch nicht mehr sicher.

Madeleine riss sich zusammen. Auf keinen Fall wollte sie Armand wissen lassen, wie verloren sie sich fühlte, oder welche wirren Gefühle und Gedanken er in ihr auslöste. Schon gar nicht, während sie in nichts als eine Decke gehüllt vor ihm hockte.

Dass er sie hierher getragen haben musste, erschein ihr peinlich genug. Sie hoffte nur, dass ihr Federkleid sich erst später aufgelöst hatte.

»Ich würde dir gerne helfen, aber - wenn mein Vater Nachforschungen angestellt hat, dann hat er das nie erwähnt.« Sie kniff konzentriert die Augen zusammen. »Er ist kurz vor dem Überfall nach Hause gekommen. Vielleicht hat er meiner Mutter anvertraut, wo er war.« Sie zuckte die Schultern. »Tatsächlich glaube ich, nicht einmal sie wusste, was genau er tat.«

»Du hast selbst gesagt, dass deine Erinnerung an die Zeit vor der Wandlung nicht besonders gut ist«, ermahnte er sie. »Es gibt einen Weg, das zu ändern.«

»Was willst du mit mir machen?«

Er trat näher, ergriff ihre ängstlich gestikulierendende Hand. »Nichts was dir schadet! Aber ich muss es wissen.«

Er suchte ihren Blick, damit sie die Wahrheit in seinen Augen erkennen konnte. Sie glaubte in der tiefen Bläue zu versinken. Wenn sie ablehnte, würden ihre Wege sich endgültig trennen, davon war sie überzeugt.

»Was soll ich tun?«

»Mich zu einer Freundin begleiten.«

Deine Freundin? Sie schluckte die Worte hinunter. »Wer ist sie?«, fragte sie stattdessen.

»Eine Hexe.« Er sah ihre Reaktion. »Eine weiße Hexe! Sie hat die Macht, dir zu helfen, dich zu erinnern. Falls es eine Erinnerung gibt.«