9 Mauern

Die Nachricht war in der ganzen Stadt verteilt, als Svenja an jenem Nachmittag von der Uni nach Hause ging. Ihr Fahrrad hatte seine Kette wieder verloren, sie schob es durch die Straßen, und zunächst wehten nur Fetzen von Gesprächen an ihr vorbei.

»Er lag in der Unterführung. Beim Bahnhof.« – »Diese Frau draußen im Wald, war die nicht auch« – »das ist jetzt schon der Zweite« – »stell dir vor, morgens gehst du durch diese Unterführung zum Bahnhof und findest« – »nein danke«.

Im Schaufenster eines Telekom-Ladens lief ein Fernseher. Von dort sah sein Gesicht sie an, aus den Lokalnachrichten heraus. Er lächelte auf dem Foto. Es war vergilbt, alt, eingescannt, aber er lächelte. Seine grauen und weißen Haarsträhnen waren damals noch nicht so lang gewesen.

Der Zugfütterer.

Der Zugfütterer war tot, sie begriff es erst nach und nach, der freundliche Alte mit seinen kryptischen Bemerkungen und seinen Plastiktüten und seinen Pfandflaschen. Von nun an würden die Züge vergeblich zum Geländer der blauen Brücke hochsehen; niemand stand mehr dort, um sie zu verabschieden.

Was hatte der Zugfütterer gewusst?

Er war auf die gleiche Art gestorben wie Sirja, die Löwin. Weniger verborgen als im Wald, entblößter fast. Er hatte nicht lange gelegen; das Blut auf der Pappe war noch nicht ganz trocken gewesen, als sie ihn gefunden hatten. In einer Unterführung beim Bahnhof findet man dich schnell, es gehen immer genug Leute hindurch. In einer Unterführung beim Bahnhof hört dich niemand, wenn du schreist. Es gehen nie genug Leute hindurch.

Svenja ließ das Rad stehen und rannte. Sie musste Nashville finden.

Sie waren allein gewesen und doch etwas wie eine Gruppe: Sirja, die Löwin, der Junge zwischen den Zeilen, die Country-Roads-Frau, der Zugfütterer. Sirja und der Zugfütterer waren tot. Sie dachte an den Präp-Kurs und an die Muskeln des Halses, die erst später drankämen, sie dachte den Satz: Menschen zwischen den Zeilen sind nichts wert, die kann man benutzen, um ein Messer zu testen. Es war ein schrecklicher Satz, es war nicht ihre Meinung, nur ein Satz; sie knüllte ihn zusammen und warf ihn weg.

Vor der Tür im Holunder saß jemand. Es war nicht Nashville.

Es war Katleen. Sie schälte Äpfel, mit kleinen, zielsicheren Bewegungen, ohne das Messer oder die Äpfel anzusehen. Sie sah Svenja entgegen.

»Mach dir keine Sorgen«, sagte sie. »Ich komme wieder. Ich bin bei meinen Leuten.«

»Wie?«

Katleen lachte, ein wenig verächtlich. »Das soll ich dir sagen. Von ihm. Deinem Findelkind. Ich bin offenbar sein Notizblock.«

»Ich dachte, er spricht nicht mit dir?«

Katleen zuckte die Schultern. »Ich war gerade da, und er brauchte jemanden, der die Nachricht überbringt. Ihr kommt doch alle nur, wenn ihr was braucht.«

»Das ist nicht wahr, ich …«, begann Svenja und brach ab. Katleen hatte recht.

Sie nahm die Schüssel mit den geschälten Äpfeln und stand auf. »Ich habe die Nachricht abgeliefert«, meinte sie. »Jetzt kann ich ja gehen. Es ist abgekühlt.« Sie sah zum Himmel. »Gibt noch mehr Regen.«

»Katleen«, sagte Svenja unsicher. Sie hatte das Gefühl, sie müsste irgendetwas mit Katleen zusammen tun, als eine Art Dankeschön für die Botschaft. Für die Woche, in der sie bei ihr gewohnt hatte. Für das Fahrrad. Für alles. »Was … was machst du denn jetzt?«

»Apfelkuchen«, antwortete Katleen, drehte sich um und ging.

»Warte«, sagte Svenja lahm. Doch sie war froh, dass Katleen ging. Sie hatte andere Dinge zu tun.

Sie hatte ein Kind heimzuholen.

Ich bin bei meinen Leuten.

 

»Mama?«

»Svenja! Alles in Ordnung?«

»Ja, ich wollte nur … Ich wollte mich mal melden … Du hast doch gesagt, du könntest mich mal besuchen kommen.«

»Ja?« Svenjas Mutter klang sehr vorsichtig.

»Könntest du jetzt kommen? Jetzt gleich?«

»Nicht in dieser Minute. Noch arbeite ich. Aber ich kann nachher ein paar Sachen packen und einen Zug raussuchen … Svenja? Heulst du?«

»Quatsch«, sagte Svenja und zog die Nase hoch. »Es ist nur alles gerade etwas viel hier.«

»Ich packe jetzt«, sagte ihre Mutter. »Morgen früh bin ich da. Ich schicke dir eine SMS mit der genauen Ankunftszeit.«

 

Auf dem Weg zum Neckarmüller dachte Svenja, dass es natürlich nichts ändern würde. Ihre Mutter konnte ihr nicht sagen, wem das Messer gehörte, das Halsmuskeln durchtrennte. Aber sie sehnte sich danach, von ihr in die Arme genommen zu werden. Für fünf Minuten jegliche Verantwortung abzuwerfen. Und ihr alles zu erzählen.

Sie hatte die ganze Zeit über Angst gehabt, aber die Angst war vage gewesen, vermischt mit der Hoffnung, dass der Mörder längst nicht mehr in der Stadt war.

Er war da.

Jetzt wusste sie es.

Er war da, und er war noch nicht fertig mit dem, was er begonnen hatte.

 

Der Neckarmüller summte in nachmittäglicher Geschäftigkeit wie ein Bienenhaus. Man war ausgelastet, man hatte damit zu tun, Bier zu zapfen, Bier zu tragen, Bier einzugießen und, vor allem, Bier zu trinken. Svenja stellte sich einen Moment lang auf die Terrasse über dem Neckar und beobachtete, wie die Schlechtwetterfront näher zog. Sie spürte die ersten Windstöße kühl auf den Wangen und ging hinein, um auf einen Barhocker zu klettern, der seinen eigenen kleinen Tisch besaß, nahe bei der Theke. Als sie Friedel zwischen den herumwuselnden Kellnern fand, musste sie lächeln. Er passte so wenig in die Uniform der Neckarmüller-Bedienungen – weißes Hemd, grüne Schürze – wie in den Präp-Saal. Tatsächlich hatten sie ihn dazu bekommen, die Rastalocken im Nacken zu einer Art Dutt zusammenzuknoten.

Weiter vorne im Raum, an einem größeren Tisch, saß eine Handvoll Verbindungsstudenten samt alten Herren. Sie alle trugen Farben, trugen die Bänder ihres Korps schräg über der Brust. Es wirkte ein wenig, als hätten sie im Sportunterricht Mannschaften gewählt und Erkennungsbänder bekommen, ehe sie aufs Spielfeld durften. Vielleicht war Biertrinken ja ein Mannschaftssport.

Eine Weile lief ihr Gespräch an Svenja vorbei, während sie darauf wartete, Friedel abzugreifen. Doch dann war da ein Satz, der sie den Kopf heben ließ.

»… also noch einer dran glauben müssen«, sagte einer der alten Herren. »Beim Bahnhof.«

Svenja saß vollkommen reglos, ihr ganzer Körper wie ein Ohr.

»Schlechter Stil«, sagte jemand anders. »Mitten durch den Hals, ts, ts.«

Sie lachten. Es war kein böses Lachen. Aber sie lachten.

»Mal ehrlich«, sagte eine dritte Stimme, ernsthafter, »wer macht denn so was? Einem Penner die Kehle durchschneiden?«

»Irgendein Perverser.« Die Antwort zuckte die Schultern und gehörte wieder einem der alten Herren. »Irgendein Spinner. Fühlt sich allerdings nicht gut an, wenn so einer hier frei rumläuft. Man möchte glatt den Degen mitnehmen, wenn man nachts weggeht. Zu meiner Zeit war ich mal der Schnellste in der ganzen Burschenschaft.«

»Ja, im Weglaufen«, sagte ein anderer alter Herr, und der Protest ging in erneutem Gelächter unter. Gläser stießen aneinander.

»Von Samstag an kann uns der Junge hier verteidigen«, meinte einer. »Ist doch Samstag, dein erstes Duell? Dann bist du also bald kein Fuchs mehr. Werden alle groß, die Kinder.« Ein Seufzen, begleitet von mehr Gelächter. Wo hatten sie nur all das Gelächter her? Schwamm es am Grunde der Bierflaschen, klebte es an den Bändern, die sie trugen?

»Danach gehen wir natürlich feiern, was?«

»Mal sehen, wie ich drauf bin, wenn sie mich wieder zusammengeflickt haben«, sagte eine jüngere Stimme, die sich ganz offenbar bemühte, das gleiche tiefe, sorgenfreie Lachen im Hintergrund abzuspielen. Die Stimme gehörte Nils.

»Was darf ich der Dame bringen?«

Svenja fuhr herum. Vor ihr stand Friedel und grinste. »Touristen empfehlen wir gerne das Selbstgebraute. Das haben schon Hölderlin und Goethe hier getrunken. Allerdings gibt es Hinweise darauf, dass die an dem Haus beim Markt angebrachte Inschrift Hier kotzte Goethe im Zusammenhang damit steht.« Sein Grinsen wurde zu Feinstaub und fiel ab, und er wischte es mit einer Handbewegung vom Tisch. Darunter trug er etwas wie Besorgnis.

»Alles in Ordnung mit dir?«

»Nein«, sagte sie leise. »Bring mir irgendwas, was weiß ich, ein Bier … Hast du Zeit?«

Er schüttelte den Kopf. »Schicht bis elf. Ich müsste mir irgendwas ausdenken … krank werden …«

»Nein. Hast du das mitgekriegt, mit dem Penner in der Bahnhofsunterführung?«

»Penner?«

»Ja. Es ist wieder einer umgebracht worden. Alle reden darüber … Nashville hätte gesagt, es war einer von seinen Leuten. So ein Alter, mit langem grauweißem Haar. Er hat Pfandflaschen gesammelt, am Anlagensee hinter den Schulen … Verstehst du, was das bedeutet?«

Friedel nickte sehr langsam. Aber sie war nicht sicher, ob er wirklich verstand. Er sah müde aus und ziemlich verkatert, obwohl der Morgen lange vorbei war. Sie streckte einen Arm aus, fuhr vorsichtig mit einem Finger seine Augenringe nach. »Friedel? Was hast du gestern Abend noch gemacht?«

»Kater Carlo hat mich mitgeschleift zu einer Party …« Er zuckte die Schultern. »Irgendwann nachts bin ich in dem schrägen Garten gelandet, bei meinen Großeltern. Ich schlafe manchmal bei denen … Ich wäre bei dir geblieben, das weißt du. Du hast mich nach Hause geschickt. Also.«

Sie sah ihn mit seiner grünen Neckarmüller-Schürze hinter der Theke verschwinden, während Nils an dem großen Tisch irgendetwas erzählte. Die anderen lachten. Trinksprüche wurden in die Bierluft geworfen wie Bälle.

»Du hättest auch zu uns kommen sollen, Gunnar«, sagte eine ältere Stimme, gutmütig und sonor. »Warum bist du nie eingetreten?«

Gunnar? Wie viele Leute gab es in Tübingen, die Gunnar hießen?

»Zu wenig Zeit.« Nur einen. Und dies war seine Stimme. Gunnar Holzen. »Du weißt, ich habe immer gearbeitet nebenbei …«

»Und er trinkt nur Kaffee«, sagte jemand anders. »Ich weiß nicht, ob die Auswahl an Kaffeesorten im Verbindungshaus groß genug ist.«

Svenja drehte sich langsam um und sah zu dem großen Tisch hinüber. Es dauerte, bis sie Gunnar zwischen der sorgenfreien Zuversicht der Farbenträger fand. Er saß zwischen zwei alten Herren. Der eine, silberhaarig, mit dem Gesicht eines betagten Dachses, sprach mit ihm wie mit einem Kind.

»Junge, das Leben besteht nicht nur aus Arbeit«, sagte er. »Man muss sich auch mal ein bisschen Spaß gönnen. Du vereinsamst uns noch in deiner Hütte am Fluss.« Er winkte Friedel und zeigte auf die Kaffeetasse vor Gunnar. »Könnten Sie die gegen ein Bier austauschen?«

»Ich glaube, um mich braucht sich niemand Sorgen zu machen«, sagte Gunnar, freundlich, aber bestimmt. Die ewige Müdigkeit lag auf ihm wie ein Mantel, Svenja konnte sie sehen, und er straffte die Schultern, um sie abzuschütteln. »Und ich möchte kein Bier, danke. Ich muss heute Nacht noch was für meine Doktorarbeit tun. Von selber schreibt sie sich nicht fertig.«

Der Silberdachs ließ sein Glas gegen das von Nils klirren – Nils, der so viel jünger war als Gunnar und sich dort in der Gesellschaft am Tisch so viel wohler fühlte, man sah es deutlich. »Wem gehört die Zukunft?«, fragte der Silberdachs. »Die Zukunft gehört denen, die sie nicht allzu ernst nehmen.«

»Vielleicht grillen wir demnächst mal wieder, oben, bei den Roßwiesen«, sagte Nils. »Grillen und Caipi, und überreden dich, mitzukommen. Es gibt ja Zeichen und Wunder.«

»Und hoffentlich Kaffee«, sagte Gunnar.

Er sah in seine leere Tasse, als liefe dort eine Filmszene ab. Eine Filmszene, die ihm nicht gefiel. Dann blickte er auf und versuchte, höflich zu lächeln. Aber Svenja sah, wie schwer es ihm fiel. Warum war er hier? Was tat Gunnar Holzen am Tisch der Burschen?

»Svenja?«, sagte Friedel hinter ihr. »Dein Bier?«

»Ich glaube, ich habe es mir anders überlegt«, sagte Svenja. »Kann ich stattdessen einen Kaffee haben?«

»Sonst geht’s dir gut?« Friedel schüttelte den Kopf. Er blieb einen Moment lang neben ihr stehen und schien darauf zu warten, dass sie noch etwas sagte – dass das angefangene Gespräch von vorher weiterging. Aber es gab nichts mehr zu sagen. Es gab nur noch zu sehen und zu hören.

Sie sah, wie Friedel wenig später ein Bierglas vor Gunnar stellte. Sie hörte die ganze Gesellschaft in einem tiefen Singsang verlangen: »Aaaaus-trinken!«

Gunnar hob das Glas und stand auf. Und im selben Moment wurde klar, warum er hier war. Der Grund trat hinter den alten Silberdachs und hatte dunkle Locken und Mandelaugen.

»Papa?«, fragte der Grund. »Was soll das?«

Der Silberdachs zuckte mit den Schultern und zog Julietta mit einem Arm an sich. »Ich versuche nur, meinem Schwiegersohn in spe den Ernst des Lebens auszureden.«

»Also prost!«, sagte Gunnar. »Auf diejenigen hier, die sich ihren Lebensunterhalt verdienen müssen, statt ihn zu erben.« Damit drehte er das Glas ganz langsam um. Das Bier ergoss sich schäumend gelb auf die Tischplatte, spritzte nach allen Seiten. Der Anzugärmel von Juliettas Vater wurde nass, Juliettas helles Sommerkleid wurde nass, die ganze fröhliche Stimmung wurde nass.

Einen Moment lang war es sehr still.

Julietta starrte Gunnar an. Alle starrten Gunnar an. Gunnars Gesicht war leer.

»Aber … du erbst ihn doch, deinen Lebensunterhalt«, sagte Nils in die Stille. »Ich dachte, du heiratest demnächst. Du heiratest Geld.«

»Sieht nicht so aus«, sagte Gunnar, ging zu Nils hinüber und stellte das leere Bierglas mit einem Knall vor ihn.

»Sieht … nicht so aus?«, fragte Julietta, unsicher.

»Sieht nicht so aus«, wiederholte Gunnar, »als würde ich Geld heiraten. Ich heirate eine Person.«

Er streckte die Hand nach Julietta aus, und sie nahm sie. So verließen sie den Tisch der Burschen, so verließen sie den Neckarmüller: Hand in Hand, mit Bierflecken in den Kleidern. Der Silberdachs sah ihnen lange nach.

Svenja atmete langsam aus und merkte, dass sie zuvor die Luft angehalten hatte. Sie rutschte von ihrem hohen Hocker. Nein, dachte sie, Gunnar würde nicht vereinsamen in seiner Hütte am Fluss. Aber wo war die Hütte am Fluss? Sie war zu neugierig, um den beiden nicht nachzugehen.

Eine Sekunde lang hatte sie gedacht, er würde Julietta doch nicht heiraten. Und Julietta hatte es auch gedacht, sie war sich sicher.

Vor dem Neckarmüller versperrten tausend kreuz und quer abgestellte Fahrräder den Weg. Rechts der Kreuzung winkte die Bubble-Tea-Fahne vor dem Dönerladen, sorglos, bunt, kommerziell. Svenja folgte Gunnar und Julietta über die Straße und schaffte es mal wieder, sich beinahe überfahren zu lassen. Die beiden gingen jetzt Arm in Arm am Neckar entlang. Gunnar trat mit dem Fuß nach kleinen Steinen, während er redete, und Julietta kickte einen der Steine weiter. Sie waren gar nicht so perfekt, dachte Svenja. Sie waren Menschen, die ärgerlich wurden und Biergläser auskippten und Augenringe hatten und Hände nacheinander ausstreckten.

Sie sind so schön.

Sie wanderten am Turm vorbei, die Mauer entlang, auf der die Leute wieder saßen wie Vögel auf der Stange. Dort, ein wenig abseits von den anderen, saßen drei Menschen, die sie kannte. Drei Menschen, die sie eigentlich hatte suchen wollen. Verdammt, sie hatte es über Gunnar beinahe vergessen. Der Junge zwischen den Zeilen, die Country-Roads-Frau und, zwischen ihnen, Nashville.

Der Junge zwischen den Zeilen hielt ein paar Plastiktüten auf dem Schoß. Nashville hatte die Arme um Sirjas Akkordeon gelegt, und so sahen sie auf den Fluss hinab, den ewig strömenden, bedeutungsvollen und bedeutungslosen Fluss.

Gunnar und Julietta, Arm in Arm, verschwanden in der Abendbläue.

Svenja trat näher an die Mauer.

»Nashville?«

Er erschrak für einen Moment, drehte sich dann um und lächelte. Svenja setzte sich neben ihn; die Country-Roads-Frau rückte ein Stück, um ihr Platz zu machen.

»So«, sagte sie mit ihrer vergangenen, aufgerauchten Stimme. »Du bist das. Seine Flamme.«

»Nancy, sei still«, sagte Nashville.

Nancy musterte Svenja mit zusammengekniffenen Augen. Ihr Gesicht war so verbraucht wie ihre Stimme, hager, vorgealtert.

»Also dann«, sagte der Junge zwischen den Zeilen. »Lassen wir ihn gehen. In Indien kippen sie die Asche der Toten ins Wasser. Wir haben keine Asche.« Er griff in die erste Tüte, holte eine leere Flasche heraus und ließ sie in den Fluss fallen.

»Hey, spinnst du?«, rief Nancy. »Da ist Pfand drauf! Deshalb hat er sie doch gesammelt!«

Der Junge zwischen den Zeilen ließ die zweite Flasche fallen. »Aber auf Typen wie uns ist kein Pfand«, sagte er. »Hast du mal versucht, einen leeren Körper zurückzugeben?«

Sie warfen den Rest der Flaschen gemeinsam ins Wasser, sie ließen sie frei wie einen Schwarm Schmetterlinge, und der Neckar nahm sie mit, fort, fort wie die Züge. Irgendwann, irgendwo weit von hier, würde das Meer sie zu glitzernden Sandkörnern zermahlen.

»Ich habe ihn gefunden«, sagte der Junge zwischen den Zeilen leise zu Svenja. »Er wollte unbedingt alleine schlafen. Der Idiot. Ich habe ihm gesagt, dass wir zusammenbleiben müssen, nachts. Er hat mich ausgelacht.«

»War er dabei?«, fragte Svenja. »War der Zugfütterer in der Nacht am Österberg dabei, Nashville? Hat er etwas gesehen?«

»Nein«, sagte Nashville.

»Aber geredet hat er immer gern«, sagte Nancy. »Mochte geheimnisvolle Sätze. Dem trau ich das zu, wenn den einer gefragt hat, ob er den Mörder von der Löwin kennt, der hat Ja gesagt. Vielleicht war’s das, was ihn den Kopf gekostet hat. Musste sich immer wichtigmachen. Wie die Ohnmachtsanfälle, die er gekriegt hat, auch so ’n Ding von ihm. Umfallen da, wo viele Leute sind. Kamen immer gleich ’n paar Medizinstudenten angelaufen. Beine hoch! Was trinken! Sollen wir die Sanis rufen? Die Sanis, die sind schon gar nicht mehr gekommen. Der hatte ja nie was.«

»Auch kein Herz«, sagte Nashville. »Das hat er in einem Zug wegfahren lassen, hat er mir erzählt. Es sollte bei irgendwem ankommen. Aber jemand hat auf der nächsten Brücke gestanden und den Zug vergiftet, und da ist er entgleist, und das Herz ist zerquetscht worden. Einmal hab ich mein Ohr an seine Brust gelegt, da war es ganz still.«

»Ohne Herz kannst du tausend Jahre alt werden«, sagte der Junge zwischen den Zeilen. »Nichts verkalkt, nichts bleibt stehen. Aber mit einem so tiefen Schnitt im Hals …«

»Wer war das?«, flüsterte Svenja.

»Ich hatte gehofft«, sagte der Junge zwischen den Zeilen, »du könntest uns das sagen.«

Nancy fing an, Country Roads zu spielen, und der Junge zwischen den Zeilen begann zu singen.

Country Roads, take him home

to the place he belongs.

West Virginia, Mountain Mama,

take him home, country roads.

Nashville spielte die Melodie auf dem Akkordeon mit.

Svenja spürte die Blicke der anderen Leute. Man darf keine leeren Flaschen in den Neckar werfen, sagten die Blicke tadelnd, und was soll das Gesinge? Sie fiel mit in das Lied ein und fühlte, wie Nashville sich ganz leicht an sie lehnte. Und dann sagte Nancy: »Fuck, jetzt muss ich heulen. Der kommt ja nicht wieder. Ich hab ihn scheißlange gekannt, ein ganzes halbes Scheißleben.«

Sie sangen weiter, und da sang noch jemand, hinter ihnen.

Svenja drehte sich um. Es waren die Helden aus dem Haus Nummer drei: Friedel, Thierry und Kater Carlo. Sie kletterten auf die Mauer, als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt. Kater Carlos Bass trug die Worte, spanisch akzentuiert, weit über das Wasser des Neckars.

Schließlich warf der Junge zwischen den Zeilen die letzte Flasche. Danach ließ er die Tüten hinabsegeln, lange geliebte, viel benutzte Plastiktüten. Mehr hatte der Zugfütterer nicht besessen. Die Pappe, auf der er geschlafen hatte, hatte die Polizei mitgenommen. Sie sahen schweigend zu, wie der gesamte Besitz eines Lebens mit der langsamen Strömung davontrieb.

»Friedel?«, fragte Svenja schließlich. »Ich dachte, du hast Schicht bis elf?«

Friedel zuckte die Schultern. »Bin doch krank geworden. Ergab sich so.«

»Wir wollten ihn besuchen in seinem Meckermüller«, sagte Thierry. »Aber er hat gesagt, wir müssen los und nach dir sehen, er macht sich Sorgen.«

»Er hat nicht aber gesagt, dass wir auf ein Beerdigung gehen«, fügte Kater Carlo entschuldigend hinzu. »Sonst hätte ich angezogen eine schwarze Sache.«

Die letzte weiße Tüte verschwand unter der Brücke, es war, als winkte sie noch einmal.

Da stieß Friedel sich ab und ließ sich von der Mauer fallen. »Warte!«, rief Thierry und ließ sich ebenfalls fallen, und Kater Carlo sagte: »Er muss gerettet werden, natürlich«, und folgte ihm.

Die sanfte Strömung trug die drei mit sich, in den Abend hinein.

Svenja schüttelte den Kopf über die Chaoten.

Dann sprang sie ihnen nach.

Als sie hochkam, landete Nashville neben ihr. Er ruderte wild mit den Armen, erreichte Svenja und klammerte sich an ihre Schultern. Auf der Mauer blieben nur Nancy und der Junge zwischen den Zeilen zurück, in der Mitte das Akkordeon, das Nashville sich sicher später wiederholen würde.

Sie schwamm den anderen nach, flussabwärts, mit einem Löwenkind auf dem Rücken.

Wohin wollen wir? Friedel? Kater Carlo? Thierry? Wohin?

Aber es war unwichtig.

 

Das Wehr fing sie auf. Die Flaschen und die Tüten würden das Meer also nie sehen, sie würden im Gitter vor dem Wehr hängen bleiben. Jenseits des Gitters fiel der Fluss über eine breite Betonstufe in die Tiefe. Das Häuschen mit dem Stellwerk, das mitten auf der schmalen Wehrbrücke stand, sah die Schwimmer mit strengen Augen an. Macht, dass ihr rauskommt, sagte es. Hier endet die Abendromantik, dieses Wehr funktioniert mit schwäbischer Gründlichkeit und kann keine Leute gebrauchen, die darin hängen bleiben wie Plastiktüten. Da ist das Ufer.

»Kommt!«, rief Friedel und schwamm voran, auf die Böschung zu.

»Ich glaube, langsam erwürgst du mich«, sagte Svenja und reckte ihren Hals, um Nashvilles Krallenhänden zu entkommen. »Pass auf, wir tauchen, ja? Wir tauchen bis da vorne und sind Räuberfische und greifen Friedel unter Wasser an.«

»Okay«, sagte Nashville.

Es war kindisch und albern, aber manchmal muss man auf Beerdigungen kindisch und albern sein, weil man sonst die Traurigkeit nicht aushält. Svenja schwamm voraus durchs trübe, grüngraue Unterwasserlicht. Als sie am Ufer wieder auftauchte, war Friedel schon dabei, den Hang hinaufzuklettern. Kater Carlo und Thierry tauchten sich gegenseitig unter und benahmen sich ebenfalls albern und kindisch. Aber wo war Nashville?

Kein zerzauster Kopf schwamm hinter Svenja. Kein Kinderarm winkte.

Und dann sah sie ihn hochkommen, ein Stück flussabwärts. Er schlug mit den Armen um sich, ging wieder unter – und endlich begriff Svenja.

Nashville konnte nicht schwimmen.

»Idiot«, flüsterte sie und hechtete los.

Sie erreichte ihn Sekunden später, legte einen Arm um ihn und schleppte ihn ab, und die ganze Zeit über formten ihre Lippen weiter das Wort IDIOT.

Friedel zog sie an Land.

»Warum hast du das gemacht?«, fragte Svenja ärgerlich und sah Nashville an, der erschöpft neben ihr lag.

»Warum bist du in den verdammten Fluss gesprungen, wenn du überhaupt nicht schwimmen kannst? Warum hast du ›okay‹ gesagt? Warum hast du mich losgelassen?!«

Nashville spuckte einen Schwall Wasser aus und zuckte die Schultern. Dann zeigte er auf den Fluss.

Dort schienen Thierry und Kater Carlo miteinander zu kämpfen. Nein, Kater Carlo versuchte, Thierry abzuschleppen, so wie sie Nashville abgeschleppt hatte.

»Ach, du Scheibe«, sagte Friedel. »Ist das heute der Tag der Beinahe-Ertrunkenen?«

Sie sahen zu, wie Kater Carlo Thierry den Hang hochtrug. Er legte ihn ins Gras, ließ sich auf die Knie fallen und schüttelte ihn.

»Mist!«, schrie er. »Ich glaube, hatte er ein Krampf in den Fuß … ist er plötzlich einfach untergegangen!«

Thierry rührte sich nicht. Sein androgynes Gesicht war bleich wie das einer Puppe.

»Mist!«, schrie Kater Carlo noch einmal und gab Thierry eine verzweifelte Ohrfeigte, die nichts bewirkte. »Wir müssen tun etwas! Er hat geschluckt zu viele Wasser!«

Es ging alles so schnell, dass Svenja nicht reagieren konnte: Nashville, der Kampf im Wasser, Kater Carlos Panik, das Bild von Thierrys lebloser, nasser Puppengestalt im Gras.

»Luft«, sagte Friedel, unsicher. »Er braucht … Luft?«

Da nickte Kater Carlo und beugte sich über Thierry, um ihm seinen Atem in die Lungen zu blasen.

In Svenjas Kopf tauchte das Wort »Zweihelfermethode« auf. Jemand Zweites musste die Herzdruckmassage machen. Sie rappelte sich hoch, noch immer wirr vor Schreck, und stolperte einen Schritt auf die beiden zu. Nashville hielt sie am Arm fest, er war mit ihr aufgestanden.

»Schau doch«, sagte er leise.

Und Svenja schaute.

Sie sah Thierrys Hände erwachen und sich in Kater Carlos Haar festkrallen.

Sie sah das Erstaunen durch Kater Carlos Körper rieseln. Er kniete noch immer, aber er kniete nicht mehr, um zu retten. Nein, das war keine Atemspende mehr. Es war ein Kuss.

Ein sehr langer und hungriger Kuss.

Als die beiden sich kurz trennten, um Luft zu holen, sagte Kater Carlo: »Ich dachte, du … aber …«

»Sch, sch«, flüsterte Thierry und legte einen Finger auf Kater Carlos Mund. »Dass man aber auch erst ertrinken muss, damit das endlich mal passiert. War gar nicht so leicht … Und die Ohrfeige, die kriegst du noch zurück.«

Kater Carlo schüttelte den Kopf. Flusswasser fiel aus seinem Haar wie Regen.

»Du … du bist ein … ein …« Er hob die Arme, hilflos, kein Wort war schlimm genug. »Warum bist du nicht vor eine Jahr ertrunken? Warum hast du gewartet so lange, du Hund?«

»Das Jahr war eine Menge Spaß«, sagte Thierry und zog Kater Carlo wieder zu sich hinunter, zu einem zweiten Ganzkörperkuss. Svenja sah sie auf dem Gras herumrollen, bis Thierrys schlanke Gestalt oben lag, sie sah das Taschenmesser hinten in seinem Gürtel stecken, und sie dachte wieder, dass nichts zusammenpasste an Thierry. Und dass er, was Wadenkrämpfe betraf, ein wirklich guter Schauspieler war.

Friedel seufzte. »Wo die Liebe hinfällt«, sagte er und klang dabei ein wenig, als wäre er die Großmutter mit dem schrägen Garten.

Svenja sagte nichts.

Nashville stand noch immer neben ihr und hielt ihren Arm fest, und sie spürte das Schlagen seines Herzens durch seine Handfläche. Ein Herz, das nicht mit einem vergifteten Zug entgleist war. Aber vielleicht lief die EKG-Linie umgekehrt.

»Svenja, du willst das nicht hören«, flüsterte Friedel, »aber ich l…«

»Sch, sch«, sagte sie, und in diesem Moment fing es an zu regnen.

»Es regnet eine Menge in diesem Sommer, was?«, sagte Svenja. »Zeit, nach Hause zu gehen.«

 

Sie träumte von Flaschen und Tüten. Sie hörte den Wecker nicht. Das Handy weckte sie um neun Uhr.

»Guten Morgen«, sagte ihre Mutter. »Du hast meine SMS nicht bekommen, nehme ich an. Macht nichts. Ich stehe hier am Bahnhof. Sag mir nur, wie ich zu dir finde.«

Svenja schüttelte die Tüten und Flaschen aus ihrem Kopf. »Nein, warte. Ich bin gleich da.«

Sie fand Nashville in keinem der Schränke. Sie würde ihn später suchen. Sie schlüpfte in eines ihrer zu weiten Männerhemden, stieg in ihre Jeans und rannte. Verdammt, dachte sie, denn das Fahrrad stand noch immer vor dem Telekom-Laden und hatte noch immer eine abgesprungene Kette. Es grüßte sie sonnengelb und leicht verschlafen, als sie an ihm vorbeikam. Es hatte nicht nur eine abgesprungene Kette. Es besaß auch keine Klingel, kein Licht und keine Katzenaugen mehr.

Svenja hetzte weiter zum Bahnhof, dessen Eingang von noch mehr halb toten Fahrrädern verborgen wurde. Ihre Mutter saß auf den Stufen. Sie sah ein wenig verloren aus, wie sie da wartete, den Koffer neben sich, die Arme um die Knie geschlungen wie ein kleines Mädchen. Sie rauchte. Svenja hatte sie nie rauchen sehen. Vielleicht hing es mit ihrem Vater zusammen, der nicht mehr da war und der immer zu viel geraucht hatte, vielleicht musste sie ihm jetzt nicht mehr zeigen, dass das nicht nötig war. Sie lächelte, als sie Svenja sah, drückte die Zigarette aus und verstaute sie ordentlich in der Packung.

»Svenja!«

»Mama.«

Sie umarmten sich, und Svenja spürte den weichen Stoff ihres Seidenschals an der Wange, sauber und kühl. Die Menschen, die sie in letzter Zeit umarmt hatte, hatten sich ganz anders angefühlt: zerzaust, bartstoppelkratzig – oder mager und zerbrechlich. Staubige Hemden, verregnete T-Shirts voller Walderde, Jacken, getränkt mit dem Geruch nach Bier.

All diese Menschen hatten Geschichten zu erzählen gehabt, hatten Svenja gedrängt zuzuhören, hatten gewollt, dass sie etwas tat. Der kühle saubere Stoff, an den sie sich jetzt schmiegte, wollte nichts.

»Wir könnten im Pfauen frühstücken«, sagte Svenja. »Da kann man schön draußen an der Straße sitzen. Es ist überhaupt, wenn es nicht regnet, eine Stadt der Draußensitzer.«

»Du siehst müde aus«, sagte ihre Mutter. »Aber sonst noch so wie immer. Ich hatte schon befürchtet, du wärst jemand anders geworden.«

Svenja lachte. »Ich glaube, keiner wird im Studium jemand anders. Man wird nur mehr man selbst.«

»Sehr philosophisch.«

»Ja«, sagte Svenja. »Aber ich lebe auch mit einem Philosophen zusammen. Er ist neun. Oder dreizehn. Nein, nicht da lang. Nicht durch die Unterführung.«

Sie sah das verwirrte Gesicht ihrer Mutter. »Aber hier steht: Zur Innenstadt. Neun?«

Svenja starrte in das schwarze Maul der Unterführung. Sie war nicht lang, innen mit Graffiti verziert, nur eine Unterführung.

»Okay«, sagte sie. »Wir gehen da lang. Es ist natürlich der kürzeste Weg. Aber du musst mich an die Hand nehmen.«

»Und du musst mir ein paar Sachen erklären«, sagte ihre Mutter.

 

Die Stelle, wo sie den Zugfütterer gefunden hatten, war nicht mehr abgesperrt.

Alles in der Unterführung war gleich duster, gleich dreckig und gleichgültig. Man sah überhaupt nicht, wo er gelegen hatte.

Svenja ließ die Hand ihrer Mutter erst auf der anderen Seite der Unterführung los. Der Anlagensee lag pennerfrei im Morgenlicht. Die Kastanien blühten. Die langen flachen Betonbauten der Schulen erstreckten sich neben den Wiesen wie große, sonnige Steine. Vor ihnen standen Gruppen von älteren Schülern herum, redeten und rauchten.

»Also?«, fragte Svenjas Mutter vorsichtig.

»Ich … später.«

Bei einer der Schülergruppen, ein paar Jungen von vielleicht vierzehn Jahren, stand eine kleine Gestalt mit zerzausten Haaren, die ihnen etwas hinhielt. Svenja begriff erst mit kurzer Verzögerung, was es war: einzelne Zigaretten. Geld wechselte Hände, Münzen verschwanden in der Tasche der kleinen, zerzausten Gestalt. Nashville.

Er vertickte ihre Zigaretten an Schüler, dachte Svenja.

Vermutlich mit einem geringen Aufpreis für die Umgehung des Alterslimits … Kein schlechtes Geschäft.

Etwas in ihr wollte über die Wiese rennen, ihn am Handgelenk packen. Spinnst du? Du klaust meine Zigaretten, um sie an Kinder zu verkaufen, die nur ein paar Jahre älter sind als du? Weißt du, was Zigaretten mit Kinderlungen tun? Und weißt du, wie wenig Geld mir bleibt, wenn ich dich durchfüttere und einkleide und die Miete zahle? Schön, die zweihundert Euro gibt es noch, als Notreserve, aber …

Sie rannte nicht. Sie blieb stehen, sah ihn an – seinen Rücken in dem zu weiten T-Shirt, seine dünnen Beine in der zu großen Hose. Und sie sah die Schüler an. Älter, größer, schwerer als Nashville und dennoch … kindlicher. Sie versuchten, erwachsen und gefährlich zu wirken, verwegen. Doch ihre nichtssagenden Gesichter waren die von Zwiebackreklame. Die Markenaufdrucke auf ihren Pullovern gaben ihnen das Selbstbewusstsein, auf Nashville hinabzusehen.

Sie sah, dass sie sich über seine Preise ärgerten. Einer baute sich vor Nashville auf und machte eine drohende Gebärde, doch Nashville blieb ganz ruhig stehen und starrte ihn nur an. Und der größere Junge zahlte.

Einen Moment lang fühlte Svenja etwas Stolz. Dieser kleine Gauner.

»Der hat es drauf«, flüsterte sie lächelnd.

Svenja sah, wie er einem von ihnen etwas aus der Jackentasche zog, ohne dass der es merkte: einen Fahrradschlüssel an einem langen Band. Er sah ihn sich kurz an und steckte ihn zurück. Wäre es Geld gewesen, dachte sie, hätte er es dann behalten?

»Komm«, sagte Svenja und merkte, dass ein breites Grinsen sich auf ihr Gesicht gemogelt hatte. »Gehen wir einen Milchkaffee finden. Dann erzähle ich dir … eine sehr seltsame Geschichte.«

Die Tische des Pfauen waren alle besetzt. Sie landeten ein paar Meter weiter, am Ende der Straße, im Hirschen, und weil dort auch alle Straßentische besetzt waren, landeten sie drinnen.

Es war erstaunlich: Die Anwesenheit von Svenjas Mutter schien die Stadt zu verändern. Auch hier war alles sauber, hell und freundlich. Leise Musik perlte die Wände entlang, das Geschirr war nicht ganz regelmäßig und sehr handgemacht, oder fußgemacht, schwer zu sagen.

Sie bestellten ein Frühstück, das aus tausend kleinen bunten Dingen auf einem großen Teller bestand, und Svenja musste an Kater Carlo und Thierry denken und an ihre Methode, Frühstücke zu teilen.

»Also«, begann sie schließlich. »Es ist so. Mir ist ein Kind zugelaufen. Sag jetzt nichts, hör nur zu, ja? Er ist neun Jahre alt, oder vielleicht dreizehn. Er kann inzwischen seinen Namen schreiben und die Wörter HASE und VIEL und NASS. Er spielt Akkordeon, und seine Mutter ist tot. Ich bin jetzt seine Mutter.« Sie lauschte dem letzten Satz eine Weile nach. »Nein, das ist nicht wahr. Ich weiß nicht, was ich für ihn bin. Er tut so vieles verkehrt herum … und sieht so vieles verkehrt herum. Man kann eigentlich nie sicher sein, wie er die Dinge wirklich sieht.«

Ihre Mutter sah sie lange an. »Ich sage nichts«, meinte sie schließlich. Wartend.

Da begann Svenja noch einmal, und diesmal begann sie von vorne, und sie erzählte die ganze Geschichte. Es war gut, zu erzählen, und es gab nur zwei Dinge, die sie ausließ: zwei tiefe Schnitte.

In ihrer Erzählung waren Sirja, die Löwin, und der Zugfütterer beide ihre eigenen Tode gestorben. Woran man eben so stirbt, zwischen den Zeilen. Es gab keinen Mörder.

»Nashville«, sagte ihre Mutter schließlich, als müsste sie das Wort auf der Zunge schmecken. »Das ist alles sehr … ungewöhnlich.«

Und Svenja dachte, sie würde jetzt sagen, dass das alles nicht ging, dass sie Nashville abgeben musste. Ihre Mutter legte eine Hand auf Svenjas Hand.

»Das, was du da tust …«

»Ich weiß, es ist verkehrt, aber …«

»Nein.« Svenjas Mutter sah erstaunt aus. »Es ist bewundernswert! Aber es ist auch unheimlich anstrengend. Und ich weiß nicht, ob … ob du das auf die Dauer schaffen wirst. Kinder sind … schwieriger, als man denkt.«

Da lachte Svenja. »Glaub mir«, sagte sie, »neben diesem Kind ist jedes andere einfach.« Sie fühlte sich unsagbar erleichtert; es war, als hätte eine höhere Autorität sie von einer Schuld freigesprochen, die sie die ganze Zeit mit sich herumgetragen hatte.

»Ich kann dir nicht mal erklären, warum ich ihn mag«, flüsterte sie und lächelte in ihre leere Kaffeetasse. »Er ist nicht kindlich oder niedlich, nichts. Er wäscht sich jetzt regelmäßig, ansonsten sieht er immer noch vollkommen verwahrlost aus. Es ist ein Wunder, dass seine Zähne einigermaßen heil sind. Ich habe gar nicht erst versucht, ihn mit einem Kamm bekannt zu machen. Und er starrt dich mit diesem Blick an, ich weiß nicht … einem Blick wie die Dunkelheit, wenn sie am tiefsten ist und man sich danach sehnt, ein Licht anzumachen.«

Ihre Mutter schob den Teller von sich weg und sah Svenja einen Moment lang an. »Wir sollten jetzt zu deiner Wohnung gehen«, sagte sie dann. »Ich würde ihn sehr gerne kennenlernen.«

 

Svenja sah ihn gleich, als sie den Jakobusplatz betraten. Sie hatte gedacht, er würde frühestens abends auftauchen. Sie hatte noch zwei Pflichtveranstaltungen. Der Plan war gewesen, ihrer Mutter die Wohnung zu zeigen, sie dann mit einem Taxi in ihr Hotel zu schicken und sie zum Abendessen wiederzutreffen.

Aber dort saß er, vor dem Holunder. Saß in der Sonne und sah ihnen über den Platz entgegen. Seine verfilzten Haare fielen über die Hand, auf die er das Kinn gestützt hatte. Seine dunklen Augen blickten ein wenig misstrauisch, wie immer. Als er Svenja sah, glitt ein halbes Lächeln über seine schmalen Lippen.

»Mein Gott«, sagte Svenjas Mutter. »Was für ein hübscher Junge.«

 

Nashville stand auf, als sie bei ihm ankamen.

»Das ist meine Mutter«, sagte Svenja.

Nashville schwieg.

Sie stiegen zu dritt die dustere, steile Innentreppe hinauf.

»Sie besucht mich, aber sie wohnt im Hotel«, sagte Svenja.

Nashville schwieg.

»Ich muss gleich noch mal los«, sagte Svenja im Flur. »Zur Uni. Ich bin erst um sechs Uhr abends wieder hier …«

Nashville schwieg.

Svenja führte ihre Mutter durch sämtliche Räume und zeigte ihr alles mit merkwürdigem Besitzerstolz. Das ist mein Bett. Das ist mein Küchentisch. Das ist mein Kühlschrank. Das ist mein Leben. Nashville lehnte schweigend im Türrahmen der Küche und beobachtete sie. Svenja erwartete, dass jeden Moment etwas geschah – dass er davonrannte, unters Bett kroch, aus dem Fenster aufs Dach kletterte. Doch er stand nur da.

Als alles gezeigt und erklärt war, fuhr Svenjas Mutter mit einer Hand über die Wand.

»Es sieht so frisch gestrichen aus.«

»Ja«, sagte Nashville und verließ seinen Platz im Türrahmen, um zu ihr hinüberzugehen. »Ich habe geholfen. Es sind drei Schichten. Weiß ist eine schwierige Farbe, Schwarz wäre viel einfacher gewesen, das ist immer so. Nächte und Wälder sind schwarz, Schatten auch, weiß ist gar nichts, nur der Schnee, aber der ist so kalt, dass man innendrin doch wieder ganz schwarz wird. Wenn Svenja jetzt weg ist, kann ich Ihnen die Stadt zeigen. Ohne Schwarz-Weiß. Heute ist gutes Wetter, da ist sie in Farbe.«

»Die Stadt zeigen? In Farbe?«, fragte Svenjas Mutter mit einem Anflug von Erstaunen. Dann hielt sie Nashville ihren Arm hin, als wäre er ein altmodischer Kavalier, der sie führen würde. »Es wäre mir ein Vergnügen.«

Svenja schüttelte den Kopf. »Ich glaube …«

»Geh du zu deinen Seminaren«, sagte ihre Mutter und lächelte. »Ich denke, wir kommen klar.«

Svenja schluckte.

Sie ging noch einmal ins Schlafzimmer, um sich einen Pullover zu holen, schloss die Tür und setzte sich aufs Bett. Alles war in Ordnung. Nashville sprach mit ihrer Mutter, und ihre Mutter sprach mit Nashville, und natürlich kamen sie klar. Sie nahm die Verantwortung ab wie einen zu engen, schmerzenden Helm. Dann band sie ihre Schuhe neu, deren Leinenstoff heute gelber strahlte als sonst, froh und unbeschwert.

Als sie dabei war, die zweite Schleife nachzuziehen, sah sie das Glänzen unter dem Bett. Ganz hinten, in einer Ecke. Sie zog das Bett von der Wand weg und griff in die Ritze dahinter. Ihre Finger ertasteten kaltes Metall.

Was sie hervorzog, war ein Messer. Ein Taschenmesser mit einem hölzernen Griff, ähnlich dem von Thierry. Da war noch ein zweites Messer, ein nagelneues stählernes Fleischmesser, an dem noch das Preisschild klebte. Kartoffel- und Messerladen Kornhausgasse, 76 Euro 50.

Svenja wurde heiß. Zigaretten aus ihrer Tasche zu klauen, war das eine. Stahlmesser in einem Geschäft zu klauen, war etwas ganz anderes. Sie fand noch ein drittes Messer, und dieses erkannte sie. Es gehörte in Katleens Küche. Es war das erste Stück einer abstrusen Sammlung. Andere Kinder sammelten Darth-Vader-Figuren, Nashville sammelte Messer.

»Aber wozu?«, flüsterte sie. »Was willst du damit?«

Sie legte ihren Fund an den alten Platz zurück und rückte das Bett wieder an die Wand. Ihr war leicht übel.

Nashville und ihre Mutter standen noch immer in der Küche und unterhielten sich.

»Ich … gehe jetzt«, sagte Svenja leise. »Nashville? Kann ich vorher kurz allein mit dir sprechen?«

Als er ihr in den Flur folgte, wirkte er schuldbewusst. So sehr, dass er ihr beinahe leidtat.

»Hör mal«, begann sie. »Du hast da etwas mitgehen lassen …«

»Die Zigaretten.«

Nein, dachte Svenja, sie meinte nicht die Zigaretten. Aber es war viel bequemer, mit ihm über Zigaretten zu sprechen als über die Sammlung unter dem Bett. Sie würden ein andermal über die Sammlung reden.

»Ja«, sagte sie leise. »Du vertickst meine Zigaretten an die Schüler beim Anlagenpark.«

Er griff in die Hosentasche, suchte eine Weile und streckte ihr schließlich eine Kinderhand voller Münzen hin.

»Dafür kannst du neue kaufen«, flüsterte er. »Ich behalte bloß den Unterschied. Zwischen dem, was sie richtig kosten, und dem, wofür ich sie verkaufe. Aber ich kann die nicht am Automaten ziehen. Ich bin zu jung zum Zigarettenziehen.«

»Und die sind zu jung zum Rauchen.« Sie seufzte.

Am Küchenfenster stand der Rücken ihrer Mutter und sah hinaus auf die Stadt, ruhig und erwachsen. Wie machte sie das nur? Wie machte man das, erwachsen zu sein? Entscheidungen zu treffen, irgendwo zwischen Weiß und Schwarz?

Svenja betrachtete die Münzen in Nashvilles Hand. Sie nahm sie nicht.

Wozu brauchst du das Geld?, wollte sie fragen. Du bekommst doch hier alles. Essen. Kleidung. Buchstaben.

Da steckte er ihr die Münzen in die Hosentasche. Seine schmale Kinderhand verweilte etwas länger in ihrer Tasche als notwendig, sie spürte ihre Wärme wie die eines kleinen Tieres, das gerne tiefer gekrochen wäre, um sich zu verbergen.

»Das ist natürlich Quatsch«, wisperte er, und sein Blick hielt sie einen Moment lang fest. »Dass ich zu jung bin für die Automaten. Ich bin für gar nichts zu jung.«