Kapitel 4
Die "Boldixumer Tanzdeel" entpuppte sich als großer Saal hinter einer schlicht wirkenden Bauernkneipe am nördlichen Rand von Wyk. Hier gab es tatsächlich einen Ortsteil, der "Boldixum" hieß. Seltsamer Name! Das schmucklose, in den 60er Jahren errichtete Gebäude wirkte wenig einladend, aber es standen eine Menge Autos, Mopeds und Fahrräder auf dem Parkplatz, und während Matthias Graf noch zögerte, sah er, dass viele gut gelaunte Leute an ihm vorbei auf die Tür zu gingen. Es waren etliche Jugendliche, die bereits in Cliquen ankamen, aber auch Paare um die Dreißig oder Grüppchen von weiblichen und männlichen Singles. Immer wenn die Tür zum Saalbau aufging, drang ein Schwall lauter Musik heraus, und er stellte fest, dass es sich keineswegs nur um Techno handelte, sondern ebenso bunt gemischt war wie das Publikum.
Na, er konnte sich den Laden ja mal ansehen. Matthias sagte sich, dass dies zwar nicht unbedingt seine Art von Vergnügungen war, aber wenn er am Montag seine erste Glosse bei der Zeitung ablieferte und seine Eindrücke als Neuankömmling auf der Insel schildern wollte, musste er natürlich schon vielseitige Erfahrungen vorweisen können.
Ein wenig drückte ihn das schlechte Gewissen, weil er Sarah allein im Apartment zurückgelassen hatte, aber sie würde zurechtkommen. Sie war für ihr Alter ja schon ziemlich vernünftig. Sie wusste, wie sie ihn notfalls erreichen konnte, denn er hatte sein Handy mitgenommen und eingeschaltet. Um neun wollte sie ins Bett gehen und noch ein wenig lesen.
Matthias Graf trat auf die Tür unter der blinkenden Leuchtreklame zu, wurde von den beiden jungen Türstehern kurz gemustert und hinein gewunken. Nachdem er seinen Eintritt bezahlt und einen Stempel auf den Handrücken bekommen hatte, betrat er den eigentlichen Saal.
Hier war es gemütlicher, als er es sich vorgestellt hatte. Es gab eine Bar mit Hockern und ein paar Stehtischen. Am hinteren Ende dieser Bar war die Musikanlage, an der auf einem erhöhten Platz der Disk-Jockey saß – oder Dee-Jay, wie man heute kurz dazu sagte. Die eigentliche Tanzfläche war überraschend klein, so dass ringsum an den Wänden Platz genug war für etliche Zweier- und Vierertische.
Matthias suchte sich einen Platz, von dem er sowohl das Geschehen auf der Tanzfläche als auch an der Bar gut im Auge hatte. Eine junge Bedienung im knappen Mini und bauchfreiem Top fragte ihn, was er zu trinken haben wollte. Er musste seinen Wunsch laut rufen, denn die Musikanlage machte einen Höllenlärm. Es gab hier allerhand Mixgetränke, deren Zusammensetzung ihm verdächtig war – Matthias bestellte sich einen Whisky-Cola, dessen Alkoholgehalt er zumindest ungefähr einschätzen konnte.
Es wurden einige aktuell Hits gespielt, die er schon aus dem Morgenradio kannte, aber hier, aus der Megawatt-Anlage der Diskothek, klangen sie ganz anders. Die Rhythmen waren überraschend mitreißend, und er hatte sofort Lust, sich auf der Tanzfläche zu bewegen.
Matthias musterte die Leute, die am Rand der Tanzfläche standen und zum Teil zur Musik in den Knien wippten. Einige schienen allein gekommen zu sein und mischten sich manchmal einfach unter die Tanzenden, da man zu dieser Musik nicht unbedingt paarweise auf die Fläche musste.
Seine Aufmerksamkeit richtete sich auf eine dunkelblonde Frau, die etwas jünger zu sein schien als er, vielleicht Anfang bis Mitte zwanzig, jedenfalls kein Teenager mehr. Sie war nicht so aufgedonnert wie die meisten Mädels hier, wirkte eher schlicht, aber hübsch mit ihrem halblangen, offen getragenen Haar und dem leicht aufgebauschten Pony. Ihre dunklen Augen blickten forschend umher; irgendwie wirkte sie verloren. Wahrscheinlich war sie ebenso fremd hier wie er selbst. Als ihre Blicke sich trafen, hielt Matthias den Kopf schräg, sah sie fragend an, und sie antwortete mit einem angedeuteten Kopfnicken.
Er ging zu ihr hinüber. Ihr frisches Lächeln verzauberte ihn. Er schluckte. "Ich bin Matthias."
"Silke."
"Wollen wir?"
Statt zu antworten, ging sie an ihm vorbei auf die Tanzfläche, drehte sich zu ihm um, und schon hatte der Rhythmus sie im Griff. Sie lächelte ihn an.
Er betrachtete sie im wechselnden Licht der bunten Scheinwerfer. Sie bewegte sich zwanglos, ganz leicht, als habe sie den Rhythmus im Blut. Sie tanzte wie ein junges Mädchen, war aber bestimmt schon Anfang der Mitte zwanzig. Silke... ein schöner Name, der zu ihr passte. Besonders zu ihrem dunkelblonden Haar. Der Name kam zwar aus dem Schwedischen, erinnerte ihn aber an das englische Wort silk, das "Seide" bedeutete. Ja, genau: ihr Haar war seidig, und er stellte sich vor, wie es wohl sein würde, mit der Hand darüber zu streifen, ganz sacht... Sie lächelte in diesem Moment, als ob sie seinen Gedanken erraten hätte.
Das Stück war zu Ende, und sie standen einander etwas unbeholfen gegenüber. "Bleibst du noch?", bat er.
Sie nickte, und gleich darauf setzte wieder Musik ein. Sie tanzten jetzt näher zusammen, und Matthias bekam Herzklopfen, als er das Strahlen in Silkes Augen sah. Sofort war ihm klar, dass sie diesen ganzen Abend zusammen verbringen würden, und mit dieser Vermutung behielt er Recht.
*
Was für ein Mann!, dachte Silke.
Zuerst war er ihr gar nicht besonders aufgefallen, als sie da am Rande der Tanzfläche gestanden hatte, um sich ein "Opfer" auszusuchen. Er war auf sie zugekommen, und beim Näherkommen war ihr erst klar geworden, wie gut er aussah: Groß, schlank, wenn auch nicht gerade breitschultrig, markantes Gesicht. Keine Spur von Bauchansatz. Er war etwas älter als sie, aber das gefiel ihr. Seine Kleidung war zwar nicht unbedingt nach der neuesten Mode, aber die meisten Männer achteten ohnehin nicht auf so etwas. Sein auffälligstes Merkmal waren seine traurigen Augen, oder nein, traurig war nicht ganz der richtige Ausdruck. Er hatte auch Lachfältchen, und trotzdem lag in seinem Blick eine Melancholie, die sie nicht zu deuten wusste, die aber eine ganz besondere Faszination auf sie ausübte.
Er tanzte ein wenig ungelenk, ziemlich gehemmt, fand sie. Vielleicht gab es etwas, was ihn belastete. Irgendwann hatte sie sich mal ein Buch über Körpersprache gekauft und versuchte nun gelegentlich, aus der äußeren Haltung ihrer Mitmenschen herauszulesen, was mit ihnen los war, aber sie war darin nicht sehr erfolgreich, musste sie feststellen. Sie gab sich betont locker und versuchte, ihr Gegenüber mit ihren frischen, munteren Tanzbewegungen aus sich herauszulocken. Erfreut stellte sie fest, dass es ihr gelang.
Sie tanzten den ganzen Abend zusammen. Silke fand ihn auf Anhieb sympathisch, und sie genoss es, als er sie später, als langsamere Musik gespielt wurde, einfach in die Arme nahm und sie führte. "Du hast so schönes Haar", raunte er ihr ins Ohr. "Silke Seidenhaar."
Silke fand diese Bemerkung ein wenig kitschig und freute sich trotzdem darüber. Sie träumte an seiner Schulter und ließ sich von der Musik tragen. Es war so schön, wie es mit Oliver nur ganz am Anfang gewesen war.
Oliver – der Name war für sie eine Mahnung: Verlieb dich nicht, Silke! Niemand darf dir noch einmal so weh tun! Sie merkte gar nicht, dass sie sich versteifte, aber dann fragte Matthias: "Ist dir nicht gut?"
"Ein wenig zu warm", erwiderte sie. "Ich brauche frische Luft."
Fürsorglich führte er sie hinaus. Eine sanfte, überraschend warme Brise roch würzig nach Salz und Meer. Es war dunkel, aber die Sterne und der Mond, der sich hinter einer schmalen Wolkenbank versteckt hatte, boten genug Licht. Die Gegend hier am Nordrand von Wyk war nicht besonders einladend. Zwischen niedrigen Fischerhäusern konnte man hin und wieder einen Blick auf die Salzwiesen und aufs Wattenmeer werfen, das beinahe still im Mondlicht lag. Das Gelände einer früheren Fischfabrik diente einem Gebrauchtwagenhändler als Lagerplatz.
"Schade, dass hier kein Strand ist", murmelte Silke. "Ich würde jetzt so gern durch den Sand spazieren, um meine Füße zu kühlen."
"Es ist gar nicht besonders weit", erwiderte Matthias mit rauer Stimme. "Ich habe gestern bei Tag den Weg erkundet. Zehn Minuten durch die Altstadt, und schon sind wir da. Hast du Lust?"
Silke nickte. Sie konnte ja nun nicht gut nein sagen, nachdem sie gerade erst den Wunsch geäußert hatte, jetzt am Strand zu sein.
Sie mussten zuerst eine Hauptstraße überqueren, auf der auch um diese Uhrzeit noch etliche Autos unterwegs waren. Als sie über den Asphalt liefen, legte Matthias fürsorglich einen Arm um ihre Schulter und ließ ihn auch da, als sie die andere Seite erreicht hatten. So spazierten sie durch die gemütlich beleuchtete Altstadt mit ihren kleinen Tee- und Andenkenläden, Boutiquen und Restaurants, schauten hier und da in die Schaufenster und stellten fest, dass sie in vielen Dingen einen ähnlichen Geschmack hatten. Es war eine Wohltat für Silke, Seite an Seite mit diesem Mann, der doch für sie noch ein Fremder war, durch die Straßen zu spazieren und sich ganz unbefangen mit ihm zu unterhalten. Seine Berührung verursachte ihr ein wohliges Schaudern, und sie verspürte eine Geborgenheit, wie sie sie lange nicht mehr bei einem Mann empfunden hatte.
Es dauerte etwas länger, bis sie den Strand erreicht hatten, wohl fast eine halbe Stunde, aber das machte Silke absolut nichts aus. Am Anfang der Promenade stellten sie fest, dass sie nicht die einzigen waren, die auf die Idee zu einem Spaziergang gekommen waren; es waren etliche junge und ältere Paare hier unterwegs. Die Laternen am Rand des gepflasterten Wegs waren störend, beinahe grell.
"Lass uns unten durch den Sand gehen", schlug Silke vor. "Das tut den Füßen gut." Sie zog ihre Schuhe aus und ging den mit Gras bewachsenen Deichhang hinunter. Im Dunkeln wirkten die zahlreichen Strandkörbe unheimlich, wie ungeschlachte, nach vorn gebeugte düstere Gestalten. Plötzlich spürte Silke einen schmerzhaften Stich in der Fußsohle und sog zischend die Luft zwischen den Zähnen ein.
"Was ist passiert?" fragte Matthias gleich besorgt.
"Ich glaube, ich bin in eine Glasscherbe getreten", seufzte Silke. "Es tut unheimlich weh."
"Zeig mal." Ohne viel Federlesens hockte er sich vor ihr in den Sand und hob ihren Fuß an, um ihn im Licht der Laterne oben auf dem Promenadenweg zu betrachten. Seine Berührung hatte etwas Zärtliches. "Es blutet nicht", stellte er fest. "Du hast Glück gehabt. Vermutlich war es nur eine zerbrochene Muschel. Am besten gehen wir ganz vorn am Rand des Wassers entlang, da können wir besser auf so etwas achten, weil sich das Mondlicht am nassen Boden spiegelt."
Silke nickte. Er erhob sich und stützte sie. Das Auftreten tat noch weh, aber mit jedem Schritt ließ der Schmerz ein wenig nach. Sie gingen zwischen den Strandkörben zum Wasser, und Silke musste unwillkürlich kichern, als sie auf diesem kurzen Weg gleich mehrere Liebespaare aufschreckten, die das Dunkel der Strandkörbe zu zärtlicher Zweisamkeit nutzten.
Der feuchte Sand unmittelbar am Rand des Wassers war angenehm kühl und vertrieb den letzten Rest des Schmerzes aus der Fußsohle. Matthias hatte Recht, stellte Silke fest: Hier konnte man leicht erkennen, wohin man trat. Das Licht des Dreiviertelmondes, der längst hinter seiner Wolkenbank hervorgekommen war, spiegelte sich silbrig im feuchten Sand. Ab und zu kam eine flache Welle weit herauf und umspülte angenehm kühl ihre Füße.
"Machst du eigentlich Urlaub hier auf der Insel oder wohnst du hier?", wollte Silke wissen. Eigentlich wusste sie die Antwort: Sein Dialekt klang nicht einheimisch.
"Weder noch", erwiderte er. "Oder vielleicht beides, wie man's nimmt. Ich bin für sechs Wochen hier bei der Stadtverwaltung angestellt – als Inselschreiber."
"Was ist denn das?"
"Ein Stipendium", erklärte er. "Ich bin freiberuflicher Schriftsteller. Ab und zu schreibe ich einen Roman, aber meistens mache ich Übersetzungen. Davon kann man aber nicht besonders gut leben. Damit ich meinen nächsten Roman ganz in Ruhe schreiben kann, unbelastet von finanziellen Sorgen, habe ich mich hierher beworben. Ich musste auch einfach mal raus aus dem spießigen Kaff, in dem ich wohne."
Sie fragte ihn nicht weiter nach seinem Beruf. Er konnte wohl nicht besonders berühmt sein, wenn er finanzielle Sorgen hatte. Silke fand es toll, dass er so etwas überhaupt zugab – die meisten Männer prahlten ja mit ihrem tollen Beruf und dem dazu gehörigen Einkommen – um einer Frau zu imponieren, warf so manch einer mit Geld um sich, ohne es sich leisten zu können. "Wie lange bleibst du noch auf Föhr?"
"Fast sechs Wochen", erklärte er. "Ich bin ja gerade erst angekommen. Wenn du auch noch eine Weile hier bleibst, könnten wir ja noch einmal zusammen tanzen gehen."
"Tanzt du gern?"
"Nein, eigentlich nicht", gab er zu. "Ich bin viel zu steif, und vielleicht auch zu gehemmt. Aber mit dir macht es einfach Spaß." Und sanft setzte er hinzu: "Silke Seidenhaar."
Sie lachte, als er sie schon wieder so nannte. Er blieb plötzlich vor ihr stehen und nahm sie ohne Umstände in die Arme. Eine Hand strich dabei sanft über ihr Haar, dann spürte sie seine Lippen.
Nicht verlieben!, dachte sie, aber vermutlich war es schon zu spät. Sie genoss diese kräftige Umarmung, gab sich still diesem sanften, forschenden Kuss hin, bis sie nicht anders konnte als in voller Leidenschaft zu erwidern.
So standen sie lange, eng umschlungen, fest wie eine eiserne Statue, und weder der Wind noch die Zeit konnten ihnen etwas anhaben, und als sie endlich voneinander lassen konnten, schafften sie es nicht weiter als bis zu einem einzeln stehenden verlassenen Strandkorb, in dem sie sich mit leidenschaftlichen Küssen und zärtlichen Worten beschenkten, bis sich das erste Morgengrau am Horizont zeigte.
* * *
Es war schon fast sechs Uhr, als Matthias Graf in die Ferienwohnung zurückkam, in der er mit seiner Tochter wohnte. Sarah war schon wach und setzte gerade Kaffee auf. Sie spielte wieder mal die kleine Hausfrau. Es versetzte ihm einen Stich im Herzen, da er wieder einmal das Gefühl hatte, dass ihr damit ein Stück Kindheit gestohlen wurde.
"Du warst ja ganz schön lange weg", sagte sie und umarmte ihn. "Erzähl mal."
"Ach..." Matthias winkte verlegen ab. "Was soll ich erzählen. Ich habe halt die ganze Nacht durchgetanzt. Fast."
"Dachte ich schon. Mit verschiedenen Frauen oder immer mit derselben?" Sarah hatte diesen forschenden Blick drauf, dem er nicht standhalten konnte. Er wollte sie auch nicht anlügen, auch wenn die ganze Geschichte noch nichts für eine Achtjährige war, fand er. Doch sie durchschaute ihn von selbst und stellte fest: "Es war bestimmt nur eine. Sie hat nämlich einen Lippenstift, der abfärbt."
Er kicherte und eilte ins Bad, wo er tatsächlich mehrere Spuren von Lippenstift an sich entdeckte. "Ich springe rasch unter die Dusche und ziehe mich um", rief er Sarah zu.
"Ich mach das Frühstück", bekam er zur Antwort. "Oder willst du erst schlafen?"
Er steckte den Kopf durch die Tür und schaute hinaus. "Ich bin nicht müde", versicherte er. Auf keinen Fall hätte er jetzt schlafen können, dazu war er innerlich viel zu aufgewühlt. "Vielleicht lege ich mich am späten Vormittag ein wenig hin, oder wir gehen später an den Strand, und ich schlafe da ein wenig. Sag mal, du magst doch gerne Krabben, oder?"
"Ja! Sehr gern!" Sarah strahlte. "Hast du mir welche mitgebracht?"
"Das nicht", gab er zurück, "aber wir könnten, statt hier zu frühstücken, zum Hafen gehen. Ich habe gehört, früh am Morgen kommen immer die Krabbenfischer dort an und verkaufen frische Krabben."
"Au ja!" Sarah war sofort begeistert. "He! Beeil dich mit dem Duschen!"
"Wird gemacht!", gab er schmunzelnd zurück. Er freute sich immer, wenn seine Tochter sich so spontan für etwas begeistern ließ. Matthias duschte nur kurz mit kaltem Wasser, zog sich frische Sachen an, und wenig später spazierte er schon mit seiner Kleinen in Richtung Hafen.
Sarah tänzelte fröhlich neben ihm her. "Sag mal, wie heißt sie?"
"Wer?"
"Na, die Frau, mit der du getanzt hast. Wie sieht sie aus? Ist sie nett? Bist du verknallt? Los, erzähl schon, ich will alles genau wissen. Hoffentlich keine Lehrerin."
Matthias Graf schmunzelte. "So, so. Und wenn ich nun sage, das ist alles noch geheim?"
"Dann kann ich plötzlich nicht mehr laufen." Sarah blieb auf der Stelle stehen, verschränkte die Arme und zog einen Flunsch.
"Du bist ja eine kleine Erpresserin!", rief Matthias aus. "Na schön. Sie heißt Silke, und Lehrerin ist sie wahrscheinlich nicht. Bist du nun zufrieden?"
"Nicht ganz." Sarah kam zu ihm, und sie beide gingen Hand in Hand weiter. "Wann trefft ihr euch denn wieder?"
"Mittwoch", erwiderte er knapp. Die Frage hatte etwas angerührt, das ihm weh tat. Als er sich am Morgen von Silke trennte, hatte er sie gefragt, ob sie sich wiedersehen konnten, und er hatte erwartet, dass sie, wie er selbst, einem schnellen Treffen zustimmen würde, möglichst noch heute, vielleicht zum Abendessen, oder wenigstens morgen. Aber Mittwoch Abend! Das waren vier Tage, den heutigen Sonntag mitgerechnet, und er hatte nicht einmal eine Telefonnummer, um sie anzurufen! Als er ihr seine eigene Karte hatte geben wollen, auf der er seinen vollständigen Namen und seine Iserlohner Adresse, aber auch die Nummer seines Handys und darunter mit Kugelschreiber die Nummer seiner hiesigen Unterkunft vermerkt hatte, winkte sie nur ab und sagte: "Wir sehen uns ja Mittwoch."
"Ich freue mich drauf", sagte er.
"Ich auch. Tschüs, mach's gut!" Ein flüchtiger Abschiedskuss, und dann war sie in dem schmalen Seitenweg neben dem Wellenbad verschwunden gewesen, so rasch, dass er das Gefühl hatte, sie sei auf der Flucht vor ihm. Seltsam - und das nach den langen, leidenschaftlichen Küssen in der Nacht, die ihn hatte glauben lassen, sie wollte vor lauter Sehnsucht und Verliebtheit in ihn hineinkriechen!
Mittwoch – eine Ewigkeit, besonders wen man so heftig verliebt war wie Matthias! Er glaubte, in hellen Flammen zu stehen, und jeder müsste es merken. Ging es ihr denn nicht genau so?
"Mittwoch", hörte er seine Tochter in diese Gedanken hinein sagen. "Dann ist ja noch viel Zeit."
Er nickte. "Viel zu viel."
"Vielleicht hat sie jemanden, um den sie sich kümmern muss", vermutete Sarah. "Ein Kind vielleicht, genau wie du mich hast. Wäre doch toll, wenn alles klappt, oder? Dann bekäme ich vielleicht einen Bruder oder eine Schwester."
"So weit ist es noch lange nicht", bremste er ihre vorauseilenden Gedankengänge. "Ich habe ja gerade erst einen Abend mit ihr getanzt." Und sie eine ganze Nacht in den Armen gehalten und sie geküsst, setzte er in Gedanken hinzu. Wie sollte er die Zeit bis Mittwoch nur durchhalten?
Sie hatten inzwischen den Hafen erreicht, und tatsächlich hatte drei Krabbenkutter angelegt, von kreischenden Möwen umschwärmt. Direkt am Kai waren bei jedem der drei Kutter kleine Verkaufstische mit Waagen aufgestellt, und Männer in blau-weiß gestreiften Fischerhemden füllten die frischen Krabben aus großen Körben in Frühstücksbeutel aus Kunststoff und wogen sie ab. Es waren eine Menge Leute da, nicht nur einheimische Privatleute und Restaurantbesitzer, sondern es hatten auch einige Touristen so früh aus den Federn gefunden. In kleinen Grüppchen standen sie beisammen, puhlten Krabben und aßen das weiche Innere voller Genuss. Eine rundliche Frau mit Hamsterbacken und sächsischem Akzent schimpfte, dass es dazu keinen Tomaten-Ketchup zu kaufen gab.
"Das gäb' ja auch 'ne bannige Schweinerei, wenn ich Ihnen Ketchup darüber schütte", meinte einer der Fischer. "Sie müssen die Krabben doch mit den Fingern essen und dazu einzeln aus der Schale puhlen." Er deutete auf die anderen Käufer, die sich um die Papierkörbe scharten und die feinen Krabbenschalen hineinfallen ließen.
"Auch das noch!", schimpfte die Frau und wandte sich an ihren hageren Begleiter. "Kannste dir det vorstellen, Ede! Wär'n wer mal gleich in't Restorang gegangen. Saach ma, det is doch keen Sörwis hier! Wenn wir det in Annaberg erzählen, fährt keen Mensch mehr von uns an die See!"
"Dafür sind die Krabben hier fangfrisch", wagte ihr zwei Kopf größerer Begleiter einzuwenden, "und im Restaurant bekommt man sie nicht so früh."
"Wär mer ooch egal", schimpfte die Frau und stopfte zornig ihre ganze Tüte frischer Krabben in einen der bereit stehenden Papierkörbe. Sofort stürzten sich mehrere Möwen darauf und fingen an, sich zu zanken.
Sarah zupfte ihren Vater am Ärmel. "Hast du das gesehen, Papa! Die wirft die Krabben einfach weg! Dabei waren das vor ein paar Stunden noch echt lebendige Tiere, die fröhlich durchs Meer geschwommen sind! Man darf Tiere doch nicht tot machen, wenn man sie dann nicht mal isst!"
"Es gibt halt Leute, die verstehen so etwas nicht", meinte Matthias bedauernd. "Die denken darüber nicht nach."
"Die Frau ist sowieso doof", meinte Sarah respektlos. "Die war auch im Zug, als wir neulich in Dagebüll angekommen sind, und als wir zum Schiff gingen, hat sie eine blöde Bemerkung über uns gemacht, nur weil wir für die Reise unsere alten Klamotten angezogen hatten. Ich hätte sie am liebsten gefragt, ob sie wenigstens anständige Bügelfalten in der Strumpfhose hat."
"Na, na!", schimpfte Matthias und zwinkerte seiner Tochter zu, die laut genug gesprochen hatte, dass einige der Umstehenden sie hören konnten und zu kichern begannen. Heimlich war er stolz darauf, dass seine Tochter ein loses Mundwerk hatte, denn immerhin zeugte es von einem wachen Verstand.
Er kaufte eine Tüte Krabben und beobachtete amüsiert, wie Sarah sich von einem der Fischer genau zeigen ließ, wie man das Krabbenfleisch am besten aus der Schale löste. Matthias war froh, dass sie es erklärt bekam – so konnte er es selbst leicht lernen, ohne sich zu blamieren.
Sarah angelte sich eine Krabbe nach der anderen aus der Tüte, und sie war ganz schön fix. Ihr Blick schweifte umher, und plötzlich entdeckte sie, wie einer der Fischer große flache Kisten zu einem Lieferwagen trug. "Ob da wohl Fische drin sind?" Sarah wartete die Antwort ihres Vaters gar nicht ab, sondern rannte zu dem Wagen hinüber. Matthias beobachtete sie, wie sie den Fischer ansprach und er sie daraufhin auf die Ladefläche des Wagens hob, damit sie in die verschiedenen Kisten schauen konnte. Anschließend ging sie an der Hand des schlaksigen, vollbärtigen Fremden auf das Schiff.
Es dauerte fast fünf Minuten, bis Sarah wieder auftauchte und dann mit ausgebreiteten Armen auf der schmalen Gangway wieder an Land balancierte. Sie kam strahlend auf ihn zu gelaufen. Der Fischer blieb an der Reling stehen und sah ihr nach, während er sich eine Pfeife anzündete.
"Du, der war ganz nett und hat mir alles erklärt. Jens heißt der und ist ein echter Fischer. Er hat mich sogar min Deern genannt. Die fangen außer den kleinen Krabben auch noch Garnelen und andere Krabbeltiere", sagte sie. "Und auf dem Schiff habe ich die Bottiche gesehen, wo die kleinen Krabben abgekocht werden, damit sie nicht so lange leiden müssen."
"Das hat er dir alles erzählt?"
"Ich habe ihn ausgefragt", gab Sarah zu. "Ich habe ihm einfach erzählt, dass ich später mal Reporterin werden will."
"Aha." Matthias fühlte, wie jetzt doch in ihm die Müdigkeit empor kroch. "Na, dann weißt du schon eine ganze Menge." Er gähnte. "Ich glaube, wir sollten jetzt doch heimgehen. Ich muss ein wenig schlafen. Für den Strand ist es noch nicht warm genug. Was machst du in der Zwischenzeit?"
"Lesen", sagte sie. Im gleichen Moment blieb sie vor einem kleinen Reisebüro stehen. "Du, da gibt es Ausflugsfahrten. Inselrundfahrt, Tagesfahrt nach Hamburg, Tagesfahrt nach Kiel... Machen wir das auch mal?"
"Keine schlechte Idee", fand Matthias. Er deutete auf eine Box mit Prospekten an der Tür. "Wir können ja so ein Faltblatt mal mitnehmen. Ich rufe dann heute Mittag da an, wenn ich wieder klar denken kann." Seine Zweifel, ob das überhaupt vor Mittwoch noch der Fall sein würde, behielt er lieber für sich.
Sarah legte den Kopf an seinen Arm, und eine Woge aus Wärme und Zuneigung durchströmte ihn, als sie sagte: "Du bist der tollste Papa der Welt."