KAPITEL 7

 

 

«Jeder Morgen brachte jetzt seine regelmäßigen Pflichten...» Jane Austen, Northanger Abbey

 

Donnerstag, 5. April 1984, vormittags

Mr. Pringle begab sich, wie verabredet, zu Fitz. Das Haus war groß und — wie Mrs. Bignall bemerkte — «aufgedonnert worden». Sie hatte ihn nach dem Frühstück dorthin gefahren.

Es war eine mißliche Mahlzeit gewesen. Die erschöpfte Mrs. Pugh hatte verkündet, sie habe aus lauter Sorge um Petronella kein Auge zugemacht. Bei Tagesanbruch schließlich habe sie die Gewißheit erfüllt: da das Mädchen noch immer nicht heimgekehrt war, sei sie nicht nur vergewaltigt, sondern auch ermordet worden. Petronellas Leiche liege nun sicher irgendwo halb versteckt und warte auf Entdeckung durch einen aktiven Pfadfinder oder einen unschuldigen Bürger, der seinen Hund ausführe. Wenn dies eintrete, werde die Polizei zweifellos Mr. Pringle um Hilfe ersuchen, den Schuft ausfindig zu machen. Wenn man es jedoch von der freundlicheren Seite betrachtete, folgerte Mrs. Pugh, sei es für Mavis und sie wirklich nicht nötig, die Pläne für den Einkauf zu ändern, da Petronellas Leiche möglicherweise bis zum letzten Trompetenschall am Tag des Jüngsten Gerichts unentdeckt bleibe.

Mavis Bignall blickte ihren Gefährten scharf an, und ihm fiel ein, daß er sie sehr mochte, und er wahrte den Frieden. Sobald er im Wagen saß, konnte er es jedoch nicht mehr aushalten. Mavis hörte sich seine Klagen über ihre Freundin schweigend an und stieß dann eine schreckliche Warnung aus.

«Was du auch tust, beunruhige nur Flo nicht. Man weiß von ihr, daß sie Stimmen hört.»

«Stimmen?»

«Aus dem Jenseits.»

Das gab ihm den Rest. «Dann bitte sie freundlich, nach Christopher Gordon zu horchen. Er kann noch nicht weit sein. Finde zum Nutzen der Polizei und zu meinem eigenen heraus, wer es gewesen ist.»

«Ich kann verstehen, warum Flo sich damit beschäftigt, Liebster. Es gab noch so furchtbar viel, was sie Billy sagen wollte, ehe er abkratzte. Sie wälzt sich jedesmal, wenn das Medium ihn erwischt, ein wenig mehr Last von der Seele. Und wenn es sie glücklich macht, warum nicht?»

An Fitz’ neuer antiker Haustür konnte man zwischen Messingklopfer und elektrischer Klingel wählen. Drähte ragten unordentlich aus der runden Plastikabdeckung um den Klingelknopf heraus. Hier war jemand am Werk gewesen, der Mr. Pringles handwerklicher Ungeschicklichkeit in nichts nachstand. Er war nicht überrascht, als sie nicht funktionierte.

Fitz’ Frau, kostspielig blond, lächelte mit einem verkniffenen, verwöhnten Mund. «Kommen Sie herein. Tut mir leid, diese Unordnung. Das Kindermädchen hat seinen freien Tag. Fitz ist im Arbeitszimmer. Fitz! Dein Besuch ist da. Gehen Sie doch ins Morgenzimmer.» Mr. Pringle wurde zu einem Raum geführt, den seine Oma die hintere gute Stube genannt hätte. Als er über Hobelspäne und Farbe hinwegschritt, wurde die Stimme von Fitz’ Frau schrill. «So ein Schweinestall. Ich sage ihm immer wieder, er soll sich beeilen und es fertig machen.»

«Guten Morgen.»

Fitz beugte sich über das Treppengeländer. Mit dem Kopf nach unten sah er jünger aus. In seiner Wohnung, ohne einen professionellen Schutzschild, sah er aus wie ein kleiner Junge, der Schelte erwartete.

«Ich wollte Mr. Pringle ins Morgenzimmer führen.»

Fitz verzog das Gesicht über dieses hochtrabende Geschwätz. «Wir unterhalten uns hier oben. Da stolpert man nicht andauernd über die Klamotten der Kinder.»

Seine Frau lächelte nicht. Mr. Pringle stieg die Treppe in der Gewißheit hinauf, daß der Haussegen schief hing. Die Frau folgte ihm mit den Blicken bis ganz nach oben. Sie schien sie nicht gerne allein zu lassen. Warum? Machte sie sich Sorgen, was ihr Mann sagen könnte — oder was er getan hatte?

Das Arbeitszimmer erwies sich als kleines Schlafzimmer zur Straßenseite. Der Teppich war alt, die Stühle waren Abfall aus dem Erdgeschoß, aber stabil genug. Mr. Pringle setzte sich.

«Ich habe Ihr Formular ausgefüllt», sagte Fitz.

Es war das einzige Papier auf dem Schreibtisch. Auf einem Regal in der Nähe floß ein Tablett aus Weidengeflecht über, hauptsächlich von Rechnungen, soweit Mr. Pringle es beurteilen konnte. Fitz spielte mit einem Kugelschreiber herum. «Ich habe so korrekt wie möglich geantwortet. Das mit den ersten Eindrücken danach war etwas heikel. Es ist seltsam, wie schwierig es ist, das zu beschreiben. Jeder sagte das gleiche. Man glaubt, etwas Gewisses gesehen zu haben, in einer bestimmten Reihenfolge. Dann kommt jemand mit einer anderen Version. Man fragt sich, ob die eigene überhaupt richtig war. Die Polizei hilft nicht...» Seine Finger drohten den Schreiber aus Plastik zu verbiegen. «Ich mußte meine Aussage ein- oder zweimal ändern. Es ist so schwierig, die Wahrheit zu finden», murmelte er schließlich.

«Ich hoffe, Sie fühlen sich besser?»

«Wie bitte? Oh, ja. Ein Anflug von Grippe, glaube ich. Jedenfalls Fieber. Gewöhnlich bekomme ich es, wenn ich unter zuviel Druck stehe.» Er errötete bei diesem Eingeständnis von Schwäche und strich sich das Haar aus den Augen. «Ich kann nichts dafür, ich bin nicht so blasiert wie einige andere. Ich bin nicht über das Londoner Zeitungsviertel hier eingestiegen, wissen Sie.»

Mr. Pringle steuerte ihn sanft wieder zurück. «Es muß ein schreckliches Erlebnis gewesen sein.»

«Ja, das war es — ein Schock. Ich fühlte mich an jenem Abend sehr schlecht.» Mr. Pringle nickte und wartete.

«Wenn man sieht...» Fitz stockte. Mr. Pringle hielt den Atem an.

«Ich meinte, ich sah das Ding aus Christopher herausragen, den Spieker. Ich muß einer der ersten gewesen sein, der ihn gesehen hat.» Mit all den Leuten zwischen ihm und dem Opfer? fragte’ sich Mr. Pringle.

«Als das Licht wieder anging, blutete Christopher ziemlich stark. Glauben Sie, daß er schon tot war?» Fitz glänzte von Schweiß, sein Gesicht zuckte. Das Zucken hatte nichts mit der Frage zu tun, sondern mit dem, was er beinahe ausgeplaudert hätte. Frag mich nicht danach, gab er zu verstehen. Mr. Pringle stieß einen schwachen Seufzer aus. «Ich glaube nicht, daß er da schon tot war, nein», sagte er.

Er regte an, das Formular durchzugehen, und spürte sofort, wie sich der junge Mann entspannte. Da wußte Mr. Pringle, daß keine der Antworten auf seine Fragen wichtig war. Fitz wurde geschwätzig. Mr. Pringle stellte fest, daß seine Aufmerksamkeit litt. Sie flackerte kurz wieder auf, als er bemerkte, wie gefährlich nahe die Daten von Fitz’ Heirat und der Geburt des ersten Kindes beieinanderlagen. Das zweite kam ebenfalls rasch. Fitz errötete wieder, als er bei dieser Zeile angekommen war.

«Wir dachten, wir könnten ebensogut eine Familie auf einen Schlag gründen», sagte er verteidigend, als habe man ihn eines Vergehens beschuldigt. «Allerdings wußten wir damals noch nicht, was das alles kosten würde.»

«Wohnen Sie hier schon lange?» Mr. Pringle glaubte, eine harmlose Frage gestellt zu haben, aber die Welle der Scharlachrote stieg Fitz bis ins Haar. «Hat sie es schon geschafft, sich über das Anstreichen zu beschweren, ja?»

«Nein, eigentlich...» Wie dem häuslichen Schlachtfeld entfliehen?

«Wissen Sie, was das ist?» Fitz schob Mr. Pringle einen Katalog zu. Auf der Vorderseite strahlte ein engelhaftes Kind und eine lächerlich junge Mutter Mr. Pringle an. Er war verwirrt. «Ich glaube nicht, daß ich...»

«Dies ist ein Weg zum Bankrott. Wissen Sie, wieviel es kostet, ein Baby zu haben? Sogar zwei? Hier, ich zeige es Ihnen.»

 

 

 

«Ich habe keine Kinder.» Ein geheimer Kummer von Renée und ihm.

«Schätzen Sie sich glücklich!» Fitz blätterte fieberhaft, er suchte nach Beweisen. «Ich wette, Sie haben geglaubt, Babies seien hilflose kleine Bündel. Ah, hier haben wir’s. Sehen Sie? Grundausstattung Babywäsche, 189 Pfund. Und darin ist der Kinderwagen nicht enthalten. Und wissen Sie, wie lange das bißchen reicht?»

«Ich habe überhaupt keine Ahnung.»

«Sechs Monate.» Fitz wurde vor Aufregung fast hysterisch. Dann sind sie herausgewachsen. Aber wenn das nächste kleine Monstrum kommt und Sie glauben, Sie seien sicher, dann bekommen Sie einen weiteren Schock. Es ist alles abgetragen. Geschrumpft. Verdorben auf unergründliche Art und Weise. Unmodern. Wie dem auch sei, Sie müssen noch einmal 150 Pfund lockermachen, um die Grundbedürfnisse des neuen Lebens zu stillen.»

«Meine Güte!» Was für ein Glück hatten er und Renée schließlich doch noch gehabt.

«Das einzige, was meine beiden entbehrt haben, waren Gold, Weihrauch und Myrrhe.» Fitz sprach fast zusammenhanglos. Zorn ließ ihn erbeben. «Und wenn der Laden für Mutter und Kind diese Sachen auch noch auf Lager gehabt hätte, würden sie die ebenfalls bekommen haben.» Seine Kräfte verließen ihn. Er sank zurück und ließ die Arme schlaff an den Seiten des Stuhls herabhängen. Die Adern in seinem mageren Gesicht pulsierten heftig.

Einige Augenblicke lang herrschte Schweigen, weil Mr. Pringle nicht wußte, was er sagen sollte.

«Ich brauchte Schuhe in dieser Woche», sagte Fitz müde. «Ich habe nur zwei Paar, und das eine ist fast durchgelaufen, aber Emily begann mit Tanzunterricht. Sie mußte ein nagelneues Trikot, Stepschuhe, Ballettschuhe, alles haben. Wissen Sie, um wieviel mich das zurückgeworfen hat? Um zwanzig Pfund. Nur weil eine kleine Dreijährige nicht anders aussehen darf als all die anderen kleinen Dreijährigen, Jesus!» Der schlaffe Mund war verbittert. Seine eine Hand zitterte nervös. «Gesellschaftliches Bewußtsein bei Dreijährigen!»

Mr. Pringle versuchte, Trost zu spenden. «Vielleicht wird das andere Kind keine tänzerischen Neigungen haben?»

«Es ist ein Junge. Sie möchte, daß er ein Pony bekommt.»

Die Zimmertür wurde geöffnet. «Tut mir leid, es ist nur Instantkaffee. Mir war nicht aufgefallen, daß die Dose leer ist. Liebling, wenn ich das nächste Mal aus dem Haus gehe, sage einfach <Kaffeebohnen>, ja? Milch und Zucker?» Sie hatte Mr. Pringle kein einziges Mal angeschaut. Ihre Blicke flitzten zwischen dem Gesicht ihres Mannes und dem Formular hin und her. Mr. Pringle vermutete, daß sie jedes Wort auf dem Papier diktiert hatte. Was Fitz auch wissen mochte, er würde in Anwesenheit seiner Frau nichts verraten. Mr. Pringle schluckte die bittere Flüssigkeit im Becher so schnell wie möglich herunter und fragte, ob er telefonisch ein Taxi rufen könne.

«Ich kann Sie bringen.» Fitz sprach, ohne zu überlegen. Die Reaktion seiner Frau brachte ihn zum Schweigen. Er sei noch krank, er dürfte nicht daran denken, bei diesem Wetter rauszugehen, erst wenn er völlig wiederhergestellt sei.

Sie hat Angst, ihn aus den Augen zu lassen, dachte Mr. Pringle. Warum, warum, warum?

Sie gingen nach unten, um auf das Taxi zu warten. Sogar im Korridor blieb Fitz’ Frau neben ihm stehen, das Tablett noch in der Hand.

«Ich wollte fragen», sagte Mr. Pringle sanft und strich sich über den Schnurrbart, «ob Ihnen der Spieker aufgefallen ist.» Fitz’ Gesicht war blaß vor Furcht.

«Wann ist er verschwunden?» Fitz antwortete immer noch nicht.

«War er noch da, als das Licht das erste Mal wieder anging, oder war er da schon verschwunden?»

Mr. Pringle ließ nicht nach. «Zu irgendeinem Zeitpunkt muß er weggenommen worden sein, da er benutzt wurde, um Christopher umzubringen.»

«Ich habe den Spieker erst gesehen, als das Licht zum zweitenmal wieder anging und der Holzständer aus Christophers Rippen ragte. Sonst weiß ich nicht, was damit passiert ist. Da müssen Sie Dorothy fragen.»

Das hat er geprobt, und es ist eine Lüge, dachte Mr. Pringle. Laut sagte er: «Ja, selbstverständlich. Ich hoffe, ich kann sie nachher sprechen. Gibt es sonst noch etwas?»

«Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß.» Mr. Pringle konnte den Schweiß an ihm jetzt riechen.

«Wenn Sie mich entschuldigen würden, dann verabschiede ich mich und gehe wieder in mein Zimmer. Dieser Grippevirus...» Er ging die Treppe wieder hinauf. Seine Frau bewachte Mr. Pringle wie eine Kerkermeisterin. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis das Taxi endlich kam.

In dem kleinen Schlafzimmer standen die beiden Seite an Seite, ohne sich zu berühren, und beobachteten, wie das Taxi davonfuhr. «Er weiß...»

«Sei nicht dumm!» sagte sie. «Woher denn möglicherweise? Wenn du dich jedoch jedesmal so benimmst, wenn dir jemand eine Frage stellt...»

«Ich kann einfach nicht lügen.»

«Doch, du kannst! Wir sind das immer wieder durchgegangen. Du brauchst nur dabei zu bleiben. Und jetzt mußt du telefonieren.»

«Nein.»

Sie sah ihn fest an. «Doch, du mußt. Es geht nicht anders.» Sie setzte sich neben ihn, als er die Nummer wählte.

Er wartete auf die Verbindung. «Charles weiß...»

«Wieso? Er kann nicht... Hat er etwas gesagt? Wann hast du ihn gesprochen?»

«Habe ich nicht. Seit gestern nicht mehr. Es ist die Art, wie er mich angeschaut...» Er brach ab, um der Stimme an seinem Ohr zu lauschen, und legte auf. Seine Erleichterung war offenbar, so wie es der Geruch nach Angst gewesen war. «Ich komme nicht durch. Die Nummer ist besetzt.»

«Du kannst es später noch einmal versuchen.» Sie dachte nach. «Ich bin mir sicher, Charles weiß es nicht. Wenn er es wüßte hätte er schon etwas unternommen...»

Im Taxi fiel Mr. Pringle ein, daß er Fitz nichts von dem Porträt gesagt hatte.