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»Es war diese Hellseherin«, sagte Dee prompt. »Für mich hat die ausgesehen wie eine, deren Hirn etwas von dem Peroxid abbekommen hat, mit dem sie ihre Haare färbt.«

»Nein«, widersprach Michael. »Weißt du, was es wirklich ist?« Jenny dachte, er wollte einen Scherz machen, aber ausnahmsweise war er ganz ernst. »Es ist die Kampfmüdigkeit. Unter der leiden wir alle. Wir sind dermaßen gestresst, dass wir Dinge sehen – und hören –, die gar nicht da sind.«

Am nächsten Tag saßen sie alle wieder auf dem Grashügel – bis auf Tom. Jenny war überrascht, dass Zach aufgetaucht war, nach dem, was sie ihm gestern Mittag gesagt hatte. Sie hatte damit gerechnet, dass er sich zurückziehen würde. Aber da saß er, die langen Beine unter sich gekreuzt, den aschblonden Kopf über sein Mittagessen gebeugt.

Jenny hatte keinen Appetit. »Die Anrufe waren keine Einbildung«, erklärte sie und bemühte sich, ihre Stimme ruhig zu halten. »Okay, der letzte hätte ein Traum sein können – ich habe meine Eltern schreiend aufgeweckt, und sie sagten, sie hätten das Telefon nicht gehört. Aber die anderen Male bin ich auf den Beinen gewesen, Mike. Ich war wach.«

»Nein, nein, ich behaupte ja auch nicht, dass die Anrufe nicht wirklich stattgefunden hätten. Was ich sagen will, ist: Das Telefon hat geläutet, vielleicht hat dir tats ächlich jemand etwas zugeflüstert – vielleicht war es auch nur das Rauschen –, aber du hast dir ausgemalt, was die Stimme sagt. Du hast die Geräusche interpretiert. Du hast erst vanished gehört, nachdem die Hellseherin vanished gesagt hatte, richtig?«

»Ja«, antwortete Jenny langsam. In der hellen Maisonne wirkte das Grauen der vergangenen Nacht viel weniger real. »Aber ich habe es mir nicht eingebildet. Ich habe die Geräusche schon beim ersten Mal gehört, als das Telefon in der Schule klingelte, und am Ende wurden sie klarer. Und das Wort ergab einen Sinn. Nicht vanished, sondern famished – es passt zu diesen Augen.«

»Aber genau das ist doch der Grund, warum du es direingebildet hast.« Michael schwenkte eine Schachtel Cracker Jack und sprach eifrig weiter. »Vielleicht ist eingebildet nicht das richtige Wort. Verstehst du, dein Gehirn ist ein System, das die Realität gestaltet. Es nimmt den Input, den es über deine Sinneswahrnehmung bekommt, und konstruiert daraus das plausibelste Modell. Aber wenn du total gestresst bist, kann es aus diesem Input ein falsches Modell formen – wie jemanden, der am Telefon Unsinn flüstert. Dein Gehirn hört etwas, das nicht da ist. Aber es erscheint dir real, weil es für dein Gehirn real ist.«

Dee runzelte die Stirn; die Idee, sich nicht auf ihr Gehirn verlassen zu können, gefiel ihr offensichtlich nicht. »Ja, aber es ist nicht real.«

»Es ist so real wie jedes andere Modell, das dein Gehirn den ganzen Tag über konstruiert. Zum Beispiel habe ich gestern Abend im Wohnzimmer Hausaufgaben gemacht und mein Gehirn hat ein Modell von einem Couchtisch geformt. Meine Augen haben dem Hirn Holz und rechteckig gemeldet und es hat das Ganze zu Couchtisch kombiniert und ich habe ihn erkannt. Aber wenn ich gestresst gewesen wäre, hätte ich vielleicht Holz und rechteckig gesehen, und mein Gehirn hätte daraus das Modell eines Sarges gemacht. Vor allem wenn ich nicht geschlafen hätte oder bereits über Särge nachgedacht hätte. Verstehst du?«

Jenny verstand es einigermaßen.

»Aber der Sarg wäre trotzdem nicht real«, wandte Dee ein.

»Aber woher sollte ich das wissen?«

»Ganz leicht. Du könntest ihn berühren …«

»Berührung ist auch nur ein weiterer Sinn. Man könnte ihn ebenfalls täuschen. Nein, wenn ein Modell gut genug ist, besteht keine Möglichkeit zu erkennen, dass es nicht real ist«, erklärte Michael weiter.

Das ergibt Sinn, dachte Jenny. Wie der Hund gestern Abend. Sie hatte sich vor Schatten erschreckt, weil sie solche Angst gehabt hatte.

Sie lehnte sich auf dem Hügel zurück und atmete hörbar aus. Der Knoten in ihrem Magen hatte sich ein klein wenig gelockert – und jetzt konnte sie sich um andere Dinge Sorgen machen.

Zum Beispiel um Tom. Solange er nicht da war, fühlte sich die ganze Sache hier nicht richtig an.

Die anderen unterhielten sich weiter.

»Wir haben gestern ungefähr die Hälfte der Straßen abgearbeitet«, sagte Dee gerade, »aber wir haben nichts gefunden …«

»Ich hab Blasen bekommen«, warf Michael ein.

»… Und wenn ich weiter meine Kung-Fu-Kurse versäume, werde ich den nächsten Wettkampf nicht überleben« , beendete Dee ihren Satz.

»Glaubst du, nur du hast Probleme? Ich habe heute Morgen auf der Motorhaube meines Spiders überall Kratzer entdeckt«, sagte Audrey. »Daddy wird mich umbringen, wenn er das sieht.« Sie erzählte die Geschichte von dem Hund, der ihnen gefolgt war. Michael leerte triumphierend die letzten Krümel aus seiner Cracker-Packung.

»Siehst du? Eine weitere Modellkonstruktion«, erklärte er. Audrey blickte über den Rand ihrer Designersonnenbrille.

»Jenny?«, fragte sie. »Was ist los?«

Alle sahen sie an.

Jenny konnte spüren, dass ihre Lippen leicht zitterten, aber sie versuchte, lässig zu klingen. »Es ist nur – Tom und ich haben uns gestritten und wir haben uns irgendwie …« Sie zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht, ob wir noch zusammen sind oder nicht.«

Sie starrten sie an, als hätte sie gesagt, dass die Welt in wenigen Minuten aufhören würde, sich zu drehen.

Dann stieß Michael einen Pfiff aus und fuhr sich mit den Händen durchs Haar, das anschließend noch zerraufter aussah. Dee, die normalerweise alles verachtete, was mit Romantik zu tun hatte, legte Jenny ihre schlanke, nachtdunkle Hand auf den Arm. Audrey zog ihre Augenbrauen hoch. Zach schüttelte den Kopf und seine wintergrauen Augen wirkten fast so kühl wie Eis.

Audrey erholte sich als Erste. »Keine Sorge, Chérie«, sagte sie, nahm die Sonnenbrille ab und packte sie energisch in ein Etui. »Das ist nicht von Dauer. Tom muss ein wenig aufgerüttelt werden. Man muss die Jungs ab und zu an ihren Platz erinnern«, fügte sie mit einem strengen Blick in Michaels Richtung hinzu, woraufhin dieser nur verächtlich schnaubte.

»Nein. Es war kein richtiger Streit. Es ging um ihn – Julian. Tom denkt, ich gehöre zu Julian, wie in einem dieser schrecklichen alten Filme. Die Braut des Teufels. Er denkt, er habe mich bereits verloren, warum also kämpfen?« Sie erklärte es ihnen, so gut sie konnte.

Audrey hörte aufmerksam zu und blickte dabei mit zusammengekniffenen Augen in Richtung des Englischtrakts. Plötzlich verzogen sich ihre Lippen zu einem katzenhaften Lächeln. »Da sind offensichtlich drastische Maßnahmen notwendig. Und ich habe eine Idee«, verkündete sie.

»Was für eine Idee?«

Audrey deutete mit dem Kopf auf das Gebäude. An der Ziegelsteinmauer klebte ein großes Plakat mit der Aufschrift: EINLADUNG ZUM MITTERNACHTS-MASKENBALL. »Voilà.«

»Voilà?«, wiederholte Jenny verständnislos.

»Der Schulball. Brian Dettlinger. Gestern. Erinnerst du dich?«

»Ja, aber …«

»Du hast gesagt, dass Tom denkt, er könne nicht mit einem Dämonenliebhaber konkurrieren. Aber wenn er sieht, dass er menschliche Konkurrenz hat, wird ihn das vielleicht ein wenig motivieren.«

Jenny starrte sie an. Es war verrückt – aber es könnte funktionieren. »Aber ich habe Brian abgesagt. Er wird inzwischen ein anderes Date haben.«

»Das glaube ich nicht«, murmelte Audrey. »Ich hab gestern in Algebra von Amy Cheng den neuesten Klatsch gehört. Brian hat Karen Lablonde einen Korb gegeben, um dich zu fragen.«

Jenny blinzelte. Karen Lablonde war die Anführerin der Cheerleader. Schön. Brillant. Anziehend. »Er hat ihr einen Korb gegeben – meinetwegen?«

»Zwischen ihnen kriselt es schon seit einer ganzen Weile. Karen trifft sich nebenbei mit Davoud Changizi. Bis jetzt hat Brian das akzeptiert.«

»Aber …«

»Hör mir zu, Jenny. Nach dem, was sich Tom geleistet hat, wer kann dir da einen Vorwurf machen, wenn du dich anderweitig umschaust? Außerdem wirst du dich wahrscheinlich blendend amüsieren – meine Güte, es ist Brian Dettlinger. Ich sag dir was, ich werde sogar mitgehen. Ich weiß, dass ich schon noch ein Date auftreiben kann.«

Michael protestierte lauthals. »Was?«

»Mike, mach kein Theater. Ich gehe da nicht hin, um mich zu amüsieren, es ist wie bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung – alles für den guten Zweck. Willst du denn nicht, dass Jenny und Tom wieder zusammenkommen?«

Michael schnaubte erneut. Aber Dee grinste ihr verwegenstes Grinsen. »Nur zu, Schätzchen«, sagte sie. »Lass es krachen.«

Zach zerknüllte gelangweilt seine Lunchtüte.

»Also, kommt«, sagte Audrey. »Wenn wir uns beeilen, könnten wir ihn noch vor dem Läuten finden. Allez! Das wird eine einfache Sache.«

Und das wurde es. Brian wirkte überrascht, als Jenny auf ihn zukam – aber seine Augen leuchteten, und Jenny wurde schlagartig klar, dass er noch kein anderes Date hatte.

Es war seltsam, dass ein Zwölftklässler sie so ansah. Jenny fragte sich, ob ihr Vorhaben fair war. Sie dachte an Abas Grundsätze, die sie auf ihren Badezimmerspiegel geklebt hatte. Ein schlichtes, handgeschriebenes Schild mit der Aufschrift:

Tu nichts Böses.
Hilf, wenn du kannst.
Vergelte Böses mit Gutem.

Während des Spiels war Jenny klar geworden, wie notwendig es war, diese Grundsätze zu befolgen, wenn die Welt nicht so werden sollte, wie Julian sie sah. Sie hatte sich vorgenommen, danach zu leben. Dazu schien die Verabredung ganz und gar nicht zu passen.

Aber jetzt war es zu spät. Audrey erklärte Brian gerade neckisch, weshalb Jenny gekommen war. Und dann war alles arrangiert.

»Ich hole dich dann um sieben ab«, sagte Brian aufgeregt und sah ihr in die Augen und ließ seinen Blick über ihr Haar schweifen. Jetzt konnte sie ihm kaum mehr sagen, dass sie ihre Meinung geändert hatte.

»In Ordnung«, murmelte Jenny schwach und ließ sich von Audrey wegführen.

Was habe ich getan? Ich hab nicht einmal ein Kleid …

Es läutete.

 

Jenny, Michael und Audrey hatten zusammen Algebra, dann ging Jenny in ihren Computer-Kurs. Dort wurde Michaels Theorie über das Gehirn und seine Modelle auf eine harte Probe gestellt.

Es begann damit, dass die Tastatur verrückt spielte. Jennys Partner fehlte, daher saß sie allein an ihrem Computer, einer alten lahmen Ente.

Als sie ihren Namen eintippen wollte, klemmte die J-Taste. Sie hatte sie kaum mit dem rechten Zeigefinger berührt, und schon zog sich ein J nach dem anderen endlos über die Zeile – bis an den rechten Rand des Dokuments, ja, sogar darüber hinaus bis an den Rand des Bildschirms.

Der Bildschirm flatterte auf der rechten Seite und der Rest von Jennys Dokument bewegte sich ruckartig nach links – und verschwand. Entsetzt riss sie die Augen auf. Ihr erster Gedanke war, dass sie den Computer kaputtgemacht hatte. Jenny liebte Computer, im Gegensatz zu Dee, die alles, was mit Technik zu tun hatte, hasste, aber sie musste zugeben, dass sie durchaus etwas Seltsames an sich hatten. Als könnten jederzeit unerwartete Dinge auf dem Bildschirm geschehen. Nachdem sie als Kind einmal einen ganzen Tag lang mit dem PC ihres Dads gespielt hatte, träumte Jenny manchmal immer noch von bizarren Szenen und unmöglichen Spielen auf dem Monitor. Als sei der Computer nicht nur eine Maschine, sondern eine Verbindung ins Unbekannte.

Verblüfft beobachtete sie, wie die J-Reihe sich immer weiterzog. Und weiter und weiter. Da stimmte etwas nicht – das konnte gar nicht sein. Wo war der Zeilenumbruch? Die Buchstaben müssten doch einfach in die nächste Zeile rutschen.

Aber das taten sie nicht. Sie prallten auf den Rand des Bildschirms, ebbten etwas ab und wogte dann wieder an den Rand. Wie eine Schlange. Oder etwas Pulsierendes.

Jennys Fingerspitzen kribbelten, sie spürte einen Schauder zwischen den Schulterblättern. Da stimmte etwas nicht. Wie konnten die Buchstaben überhaupt das Dokument verlassen? Wie war das möglich? Jenny fühlte sich plötzlich meilenweit entfernt von Raum und Zeit. Es war, als hätte sie sich irgendwo im virtuellen Raum verirrt. Und sie hatte Angst vor dem, was sie dort vielleicht sehen würde.

 

JJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJ

 

Seit die Taste zu klemmen begonnen hatte, drückte Jenny ständig auf Escape. Jetzt schlug sie auf Enter, um mit einem Absatz die Reihe zu unterbrechen. Nichts geschah.

 

JJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJ

 

Oh Gott, was war hier los? Wohin steuerten die J? Auf etwas zu, das sich meilenweit entfernt von ihrem ursprünglichen Dokument befand; auf etwas, das einfach nicht da sein konnte, weil gar kein Platz dafür war; auf etwas jenseits aller möglichen Ränder. Es war, als segle sie selbst über den Rand der Welt hinaus.

Verzweifelt durchforstete sie ihr Gehirn nach einem Code, um die Bildschirmanzeige zu löschen. Nichts. Sie drückte die Unterbrechungstaste. Nichts. Dann, die Zähne in die Unterlippe gebohrt, drückte sie Control/Alt/Delete.

Diese Kombination hätte den Computer neu starten sollen. Doch sie tat es nicht. Die J segelten weiter.

Der Bildschirm erstrahlte in einem tiefen und schönen Blau. Jenny hatte noch nie zuvor bemerkt, wie blau dieser Bildschirm eigentlich war. Eine unvorstellbar leuchtende Farbe. Und die weiße J-Reihe wogte weiter und weiter und weiter. Plötzlich hatte Jenny das Gefühl zu fallen. Sie war zu weit draußen …

 

Sie streckte die Hand aus und tat etwas, wofür die Lehrerin ihnen mit der Todesstrafe gedroht hatte: Sie drückte den Hauptschalter des Rechners. Sie trennte ihn vom Strom und ließ ihn bewusst abstürzen.

Nur dass er das nicht tat.

Der Schalter war aus, das Licht des Hauptprozessors war aus – aber die J-Reihe marschierte weiter, pulsierend und wogend.

Jenny hielt den Atem an. Sie starrte ungläubig auf die Buchstaben. Ihre Hand nestelte hektisch an dem Bildschirmschalter herum. Er klickte unter ihren Fingern, das Bildschirmlicht ging aus.

»Was machst du da?«, stieß das Mädchen links von ihr hervor.

Der Monitor leuchtete immer noch blau. Die J segelten weiter.

Jenny riss die Tastatur aus dem Gerät.

Sie musste dem ein Ende machen. Irgendetwas lief hier ganz schrecklich, unvorstellbar falsch, und sie musste diesen J ein Ende machen, bevor …

»Ms Godfrey!«, rief das Mädchen. »Ms Godfrey, Jenny hat …«

Jenny blieb genau eine Sekunde Zeit, um zu sehen, was als Nächstes geschah. Selbst mit abgehängter Tastatur zogen die Buchstaben weiter – oder zumindest dachte sie, dass sie es taten. Es war schwer zu erkennen, weil alles so schnell ging. Da war ein heller Blitz – der Bildschirm wurde grellweiß – und ein blaues Nachbild wurde auf ihre Netzhaut projiziert. Dann wurde der Monitor dunkel.

Das Gleiche galt für die Lichter im Raum – und alle anderen Computer.

»Jetzt siehst du, was du angerichtet hast«, zischte das Mädchen neben ihr.

Jenny saß wie erstarrt da. Das Herausziehen des Tastaturkabels konnte keinen Stromausfall verursacht haben. Diese Wirkung konnte sie nicht einmal mit dem Computerabsturz erzielt haben. Im Raum war es zwar nicht vollkommen finster, aber sehr düster aufgrund der dunkel getönten Fenster, die die Ausrüstung schützen sollten. Inmitten der Düsternis sah Jenny leuchtend blaue Windrädchen und Glühfäden.

Oh, bitte, dachte sie und verharrte so still wie möglich. Ihr Herz klopfte bis zum Hals.

Dann hörte sie etwas unter den EDV-Tischen.

So leise wie ein zündendes Streichholz. Eine kaum hörbare Bewegung, wie ein Seil, das über den Boden geschleift wurde. Wie etwas, das über den Boden glitt.

Auf sie zu.

Jenny drehte den Kopf und versuchte, es aufzuspüren. Die Stimme der Lehrerin wirkte weit entfernt. Das schleifende Geräusch war viel näher. Jetzt konnte sie es ganz deutlich hören. Wie ein trockenes Blatt, das übers Pflaster geweht wurde. Es begann und hörte wieder auf. Wogte. Wie die J-Reihe. Es kam direkt auf ihre Beine zu.

Es war fast da. Fast unter ihrem Tisch. Und sie konnte sich nicht bewegen, sie war wie versteinert.

Sie hörte ein Zischen wie ein statisches Rauschen. Oder …

Etwas strich über ihr Bein.

Jenny schrie. Plötzlich fiel die Lähmung von ihr ab, sie sprang auf und schlug nach ihren Beinen. Das Ding streifte sie erneut, und sie schnappte danach, erwürgte es, versuchte, es zu töten – und stellte fest, dass sie das Tastaturkabel in der Hand hielt.

Es musste über den Rand des Tischs gefallen sein, als sie es herausgerissen hatte, es musste heruntergebaumelt sein.

Jenny hielt das Ding so fest, dass ihre Hände ganz bleich wurden.

Aus nächster Nähe konnte sie es deutlich erkennen. Nur ein Kabel.

Da gingen die Lichter wieder an. Die Leute sammelten sich um sie herum, berührten sie, stellten Fragen.

Es ist nur dein Gehirn, das die Modelle formt, sagte sie sich verzweifelt und ignorierte alle anderen. Der Computer hatte eine Fehlfunktion und du bist ausgeflippt. Du hast ein Rauschen gehört, als der Strom ausfiel, und hast es als Zischen interpretiert. Aber es war nicht real. Es waren nur Modelle in deinem Gehirn.

»Ich denke, du solltest für heute besser nach Hause gehen«, sagte Ms Godfrey. »Du siehst so aus, als könntest du ein wenig Ruhe gebrauchen.«

 

»Ich bin jetzt dahintergekommen«, sagte sie an diesem Abend zu Michael. »Es muss etwas mit der USV zu tun gehabt haben – der unterbrechungsfreien Stromversorgung. Das ist eine Art Batterie, die Computer weiterlaufen lässt, wenn der Strom ausfällt.«

»Oh, natürlich«, erwiderte Michael, der kaum Ahnung von Computern hatte, es aber niemals zugeben würde.

»Das ist es, was den Computer in Gang gehalten hat, aber dann habe ich es irgendwie geschafft, das ganze System lahmzulegen«, fuhr Jenny fort. »Das hat den Stromausfall verursacht und der Rest hat sich in meinem Kopf abgespielt.«

»Du musst ziemlich komisch ausgesehen haben mit diesem Kabel in der Hand«, meinte Michael.

Sie besprachen den Verlauf ihres Nachmittags. Er, Dee und Audrey hatten zusammen Plakate aufgehängt und den größten Teil des Gebietes zwischen der Ramona Street und der Anchor Street abgesucht – und nichts gefunden.

Jenny erzählte ihm, was sie schon Dee und Audrey erzählt hatte. Es ging ihr jetzt wieder gut. Sie hatte den ganzen Nachmittag geschlafen. Ihre Mutter wollte sie zum Arzt bringen, aber Jenny hatte abgelehnt.

Sie war sehr stolz auf sich, weil sie begriffen hatte, dass sich alles nur in ihrem Kopf abspielte. In Zukunft würde sie ruhiger bleiben.

»Nun, das ist gut«, sagte Michael. Dabei klang seine Stimme recht wenig überzeugt für jemanden, dessen Theorie bestätigt worden war. »Ähm, Jenny …«

»Was?«

»Oh, nichts. Wir sehen uns morgen. Pass auf dich auf.«

»Du auch auf dich«, erwiderte Jenny ein wenig verblüfft. »Bis morgen.«

 

Michael starrte auf das Telefon in seiner Hand. Dann schaute er unbehaglich zu seinem Schlafzimmerfenster hinüber. Er fragte sich, ob er es Jenny hätte erzählen sollen  – aber Jenny hatte schon genug Sorgen.

Außerdem gab es keinen Grund, seine eigene brillante Theorie zu verderben. Es war nur Kampfmüdigkeit und er war ihr genauso ausgeliefert wie alle anderen.

Stress. Anspannung. In seinem Fall kombiniert mit einem ziemlich nervösen Temperament. Michael hatte sich selbst immer schon als schamlosen Feigling bezeichnet.

Das erklärte vielleicht auch das Gefühl, das er den ganzen Tag über gehabt hatte, das Gefühl, beobachtet zu werden. Aber draußen vor diesem Fenster konnte sich gar nichts bewegen. Die Wohnung befand sich schließlich im ersten Stock.

 

Audrey räkelte sich in ihrem Christian-Dior-Nachthemd und streckte sich genüsslich auf den pfirsichfarbenen Satinlaken aus. Selbst nach fünfundvierzig Minuten im Whirlpool taten ihr die Füße noch weh. Sie war sich sicher, dass sie Schwielen bekommen würde.

Aber noch schlimmer war, dass sie seit dem Nachmittag dieses seltsame Gefühl nicht abschütteln konnte. Eigentlich ein Gefühl, das Audrey stets hatte, wenn sie einen Raum betrat – dass alle Blicke auf ihr ruhten. Nur dass diese Blicke heute nicht bewundernd gewesen waren. Sie waren wachsam gewesen – und bösartig. Sie hatte sich verfolgt gefühlt.

Als pirsche sich etwas an sie heran.

Wahrscheinlich nur die Nachwirkung des Schrecks, den sie gestern erlebt hatte. Es gab keinen Grund zur Sorge – sie war sicher zu Hause. Im Bett.

Audrey streckte sich erneut und ihre Gedanken schweiften ab. Blicke … Augen … mmh. Keine Augen mehr. C’est okay. Va bène. Sie schlief ein.

Und träumte einen angenehmen Traum. Sie war eine Katze. Keine abstoßende, räudige Katze wie die von Jenny, sondern eine elegante Abessinierkatze. Sie lag mit einer anderen Katze zusammengerollt da und leckte sich nach Katzenart.

Audrey gab sich lächelnd dem verführerischen Gefühl hin und bot ihren Nacken dar. Die Zunge der anderen Katze war rau, aber angenehm. Es muss eine große Katze sein, dachte sie, halb erwachend. Vielleicht ein Tiger. Vielleicht …

Mit einem Kreischen schoss Audrey im Bett hoch. Sie war wach – aber das Gefühl aus ihrem Traum war immer noch da. Sie hatte eine raue Zunge gespürt, die über ihren Nacken leckte.

Sie schlug sich mit der Hand auf den Nacken – und spürte die Feuchtigkeit.

Ein seltsamer Moschusgeruch erfüllte den Raum.

Audrey riss beinah die Nachttischlampe herunter, bevor sie sie anschalten konnte. Dann sah sie sich hektisch um und hielt Ausschau nach dem Ding, das in ihrem Bett gewesen war.