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»Oh, sie nur lehrt den Kerzen, hell zu glühn!«

Romeo und Julia
(1. Akt, 5. Szene)

Will ließ den Knaben davonlaufen. Er verspürte kein Verlangen danach, solche Unschuld zu verführen.

Und er konnte ihn verführen, daran hatte Will keinen Zweifel. Er hatte die Begierde auf den Lippen des Burschen geschmeckt und sie in diesen erstaunlichen schwarzen Augen gesehen.

Will hatte schon einmal einen Mann geküsst, aber noch niemals so. Das einzige Mal, dass er es versucht hatte, um die endlosen Nächte etwas weniger endlos zu machen, hatte er nichts empfunden. Er war einfach ein Mann, der Frauen bevorzugte, selbst wenn er in Wahrheit nicht länger als Mann bezeichnet werden konnte.

Der Knabe war erst ein paar Momente fort, als Will einfiel, dass er immer noch nicht wusste, wie der Junge zu einem Jäger geworden war, wer es ihn gelehrt hatte und warum.

Will war so schnell, dass ihm kein Mensch davonlaufen konnte. Und nun, da er den Geruch des Knaben kannte, so einzigartig, so köstlich, konnte Will ihm überallhin folgen.

»Duft’ge Rosen«, murmelte Will. »Aus ihrem süßen Tod wird süß’rer Duft entbunden.« Oh, wie sehr er sich Papier und Federkiel wünschte!

Auch wenn Wills Artgenossen in Sagen und Legenden als herzlose, mordende Monster dargestellt wurden, war die einzige dauerhafte Veränderung doch nur körperlich.

Das bedeutete, wenn man schon vorher ein herzloses, mordendes Monster gewesen war, würde man nach der Verwandlung immer noch eines sein. Und wenn man als Mensch ein sensibler Stückeschreiber gewesen war, würde man das auch als Untoter sein.

Nach dem Erwachen gab es natürlich erst einmal eine Phase der Blutlust, die dem jugendlichen Erwachen des körperlichen Verlangens glich. Anfangs verlor man oft die Kontrolle, hatte niemals genug und wollte immer mehr, aber mit der Zeit mäßigte sich das. Kreaturen wie er wurden wieder zu den Persönlichkeiten, die sie zuvor waren, wenn sie es so wollten.

Darum beunruhigte Will sein plötzliches Verlangen nach einem Jungen. Solch eine Gier hatte er niemals zuvor verspürt. Würde es ihn bald wieder nach menschlichem Blut dürsten, ein Begehren, das er längst besiegt geglaubt hatte? Würde er sich genötigt fühlen, Zombies zu erschaffen, die Chaos und Verwüstung über die kleine Insel brachten, die Will stets sein Zuhause genannt hatte?

Fürwahr, er könnte das Blut des Burschen kosten. Will besaß die Fähigkeit, Menschen zu überzeugen, sie handeln und es dann vergessen zu lassen. Er könnte nur eine Kostprobe nehmen; der Junge würde es gar nicht merken. Will musste nicht mehr tun, als einmal über die Wunde zu lecken, und sie würde heilen.

Aber Will würde das nicht tun. Er hatte zu hart dafür gearbeitet und zu lange gelitten, um das zu wiederholen, was er kurz nach seiner Wandlung hatte durchmachen müssen.

Als er durch eine Krankheit vielleicht die Pest, wer wusste das schon? im Sterben gelegen hatte, war er vor die Wahl gestellt worden: vergehen oder ein neues Leben umarmen. Will hatte sich für Letzteres entschieden, da noch so viele Geschichten in seinem Kopf herumwirbelten, die er aufschreiben wollte. Doch derjenige, der ihn in dieser Nacht neu erschuf, in einer Hütte irgendwo auf einem Hügel in Britannien, hatte versäumt, ihm genau zu erklären, was Letzteres bedeutete.

Fairerweise musste man sagen, dass der Vampir, der ihn gewandelt hatte, nicht wissen konnte, dass Will ein Nekromant war, der zusätzlich zu seinem Blutdurst auch noch die Fähigkeit haben würde, die Toten zu erwecken.

Will hatte den Namen des Mannes niemals erfahren. Er war so krank gewesen, so nah am Tode, dass er kaum dessen Gesicht wahrgenommen hatte. Sein Schöpfer schien einige Jahre jünger als er zu sein auf seinen Wangen hatte er keinen Bart gesehen , vielleicht gerade erst dem Kindesalter entwachsen, als er selbst gewandelt worden war. Will wäre nicht überrascht gewesen, wenn der Mann in einer Zeit geboren worden wäre, in der es noch keine Namen gab.

Aber er hatte die Wahrheit niemals erfahren. Denn anstatt ihn zu lehren, wie er als Wesen der Dunkelheit existieren konnte, hatte Wills Schöpfer ihm das Geschenk gegeben und war weitergezogen. Und Will hatte alles über sein neues Unleben selbst lernen müssen.

In der ersten Nacht, in der Will an einem Friedhof entlanggegangen war, hatte es ihn verwirrt und erschreckt zu sehen, wie die Gräber ihre Toten ausspuckten.

Es hatte viel Zeit und Übung gekostet, aber schließlich war Will klar geworden, was er getan hatte, und was er tun musste, um es zu verhindern, wenn er nicht wollte, dass es geschah. Ein Vollmond, ein Weckruf seines Geistes an diejenigen, die fort waren, und – voilà! – die Toten erhoben sich.

Will beobachtete, wie sich der Knabe einem großen Herrenhaus näherte. Wenn das sein Zuhause war, erklärte das seine gehobene Sprache und die Französischkenntnisse. Wie Will gedacht hatte, war der Bursche zumindest der Sohn eines reichen Kaufmanns, wenn nicht sogar der Erbe eines Adelstitels.

Doch anstatt durch die Vordertür zu gehen, schlich sich der Junge an der Mauer entlang und schlüpfte durch ein Tor in den Garten. Als Will folgen wollte, fand er es verschlossen vor.

Er hätte das Schloss mit einer Hand aufbrechen können, aber Will wollte keinen Beweis seiner Anwesenheit an diesem Ort hinterlassen. Er hatte vor langer Zeit gelernt, dass Heimlichkeit immer am besten war. Stattdessen wartete er, bis ein Diener erschien, der den Tag lange vor den Herrschaften des Hauses begann.

»Bursche«, grüßte Will. »Wer lebt hier?«

»Mr Und Mrs Dymond, Euer Gnaden.«

»Haben sie einen Sohn?«

»Noch nicht.«

»Vielleicht einen Neffen? Einen Vetter?« Der Diener schüttelte den Kopf. »Einen Besucher?«

»Nein, Herr. Mr Dymond ist in der Neuen Welt, und die Herrin bleibt meistens im Haus bei ihrer Amme.«

»Ihrer Amme?«, fragte Will. Warum sollte eine Ehefrau eine Amme brauchen? Vielleicht war sie einfältig.

Das Gesicht des Dieners nahm einen verschlossenen Ausdruck an. »Ich muss gehen.«

Will hob einen Finger, sah dem Mann tief in die Augen und murmelte: »Noch nicht.«

»Ja, Herr«, erwiderte der Diener gebannt.

Auch wenn Will es vorzog, Informationen freiwillig zu bekommen, gab es Gelegenheiten, zu denen er von einem der Talente Gebrauch machte, die er zusammen mit der Unsterblichkeit verliehen bekommen hatte. Indem er in die Augen eines Menschen blickte, konnte er ihm seinen Willen aufzwingen.

»Warum braucht Mrs Dymond eine Amme?«

»Ihr Ehemann lebt einen Großteil des Jahres in Virginia«, sagte der Diener mit einer Stimme, die so tot war wie Wills Körper.

Das war einer der Gründe, warum Will es nicht mochte, seine Macht einzusetzen, um an Informationen zu gelangen. Unter einem Bann stehende Menschen neigten dazu, nur die gestellte Frage zu beantworten und nichts darüber hinaus zu verraten.

»Warum erfordert Mr Dymonds Abwesenheit eine Amme für eine erwachsene Frau?«

»Er will nicht zum Hahnrei gemacht werden.«

»Ist sie eine Dirne?«

»Nein, Herr!« Der Diener schien beleidigt. Angesichts der Hypnose war das eine erstaunliche Menge an Emotionen. Er musste seine Herrin aus tiefstem Herzen respektieren.

»Warum dann die Spionin?«

»Er ist sehr eifersüchtig.«

»Aber er hat keinen Grund dazu?«

»Nicht, dass ich wüsste.« Der Diener runzelte die Stirn und schürzte die Lippen. Da war noch mehr.

»Sag es mir.«

Worte sprudelten über die Lippen des Mannes. »Mr Dymond hat einen Freund aus Schulzeiten, der ihm von Untreue erzählt.«

»Und er glaubt diesem Mann?«

»Er hat keinen Grund, ihm zu misstrauen. Sie sind schon länger miteinander befreundet, als er verheiratet ist.«

Dieser Umstand faszinierte Will. Er lebte lange genug, um zu wissen, dass die Gründe für ein bestimmtes Verhalten vielfältig und chaotisch waren. Das war einer der Gründe, warum er es so genoss, Tragödien zu schreiben. Alles konnte aus jedem nur erdenklichen Grund passieren und jede Menge Ärger mit sich bringen.

»Du hast mich nicht gesehen.« Will blickte dem Diener tief in die Augen und zwang ihm seinen Willen auf. »Du erinnerst dich nicht an unsere Unterhaltung. Fort mit dir«, sagte er und drehte sich um. Er wusste, dass der Mann verschwunden sein würde, wenn er zurückblickte. Er würde es vergessen. Ihm blieb keine andere Wahl.

Tief in Gedanken darüber versunken, was der Diener erzählt hatte die Eifersucht eines Ehemannes, die Einflüsterungen eines Freundes, die Unschuld der Ehefrau –, blieb Will am anderen Ende der Gartenmauer stehen.

Die Geschichte ließ ihn an eine andere denken, die er vor Jahren auf Italienisch gelesen hatte Un Capitano Moro, geschrieben von Cinzio. Er hatte sie fast vergessen, doch jetzt erinnerte er sich plötzlich wieder daran.

Wills Finger sehnten sich nach einem Federkiel, und er wollte nach Hause eilen. Das neue Stück, das in seinem Kopf Gestalt annahm, ließ ihn den Knaben vergessen. Der schwarzgesichtige Hauptmann mit seiner schönen Frau, sein böser Freund, der Lügen verbreitet und so eine Tragödie heraufbeschwört.

Plötzlich trieb eine sanfte, süße Stimme durch die Nacht. »Weh mir.«

Will hielt inne. Diese Stimme. Er hätte schwören können, dass er sie schon einmal gehört hatte.

Er sprang über die Mauer und landete leichtfüßig im Garten. Sein Blick hob sich, und er erstarrte, als er die Frau erblickte, die sich auf das Balkongeländer stützte.

»Sie spricht«, flüsterte er, während seine Haut vor Erregung prickelte.

Ihr schwarzes Haar umrahmte ihr rosiges Antlitz; ihre Augen, deren Wimpern den Flügeln eines Schmetterlings glichen, waren so dunkel und klar wie der Himmel über ihr. Ihre Haut ließ ihr dünnes weißes Gewand leuchten wie den Hauch der verlorenen Sonne in der Dämmerung. Die sanften Rundungen ihrer Brüste und Hüften bezauberten ihn.

Will schluckte und war begeistert, dass sein Körper beim Anblick einer schönen Frau auf gewohnte Weise reagierte.

»Sprecht noch einmal«, flehte er. »Oh, sprecht noch einmal, holder Engel.«

»So einz’ge Lieb’ aus großem Hass entbrannt«, sagte sie. »Dunkler Fremder, wo seid Ihr jetzt wohl, dunkler Fremder?«

Diese Stimme. Diese Wangen. Dieses Kinn.

Plötzlich verstand Will, warum es ihn nach einem Zombie jagenden Knaben verlangt hatte.