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»Der steigt durch Schuld,
der muss durch Tugend fallen.«

Maß für Maß (2. Akt, 1. Szene)

Der Fremde küsste mich, und ich ließ es zu. Ich weiß nicht, warum. Er hielt mich für einen Knaben, was ihn zu einem

Ich war nicht sicher, was der richtige Ausdruck dafür war. Ganymed? Sodomit? Solch ein Verhalten wurde mit dem Tode bestraft, auch wenn ich niemals gehört hatte, dass das Urteil tatsächlich vollstreckt worden wäre.

Ungeachtet dessen, wie man eine solche Person nannte, wusste der Fremde, wie man küsste, und ich nun, ich nicht.

Der einzige Mann, der mich jemals berührt hatte, war Reginald, und er gab sich nicht mit Küssen ab. Ich hätte niemals gedacht, dass die bloße Zusammenführung von Lippen so reizvoll sein konnte.

Sein Mund war sanft. Erst fuhr er mit seiner Zunge über meine geschlossenen Lippen, dann zwängte er sie plötzlich in meinen Mund. Erschrocken schnappte ich nach Luft. Meine eingebundenen Brüste streiften seine Brust und entflammten. Ich wollte, dass er sie berührte, auch wenn dadurch mein Geheimnis offenbart werden würde.

Mein Geheimnis!

Ich schubste ihn ein wenig, und er wich einen Schritt zurück. Da ich ihn lediglich kurz an der Brust berührt hatte, wusste ich, dass seine Bewegung aus freien Stücken erfolgt war. Meine Kraft reichte nicht aus, um ihn zu etwas zu zwingen, das er nicht wollte. Unter der dunklen Wolle seines Wamses war er so hart wie Stein. Ich hatte keinen Zweifel daran, dass er überall sonst ebenso hart war.

Meine übliche Reaktion auf solch einen Gedanken wäre es, zu schaudern und mich gegen das zu wappnen, was folgen würde. Darum schockierten mich der Fieberanfall, das Kribbeln meiner Haut und die Schwere tief in mir. Hatte ich mich mit der Pest angesteckt?

Ich starrte den Fremden an und versuchte, mir sein Gesicht einzuprägen. Nach dieser Nacht würde, konnte ich ihn niemals wiedersehen.

Dunkles Haar, dunkle Augen, ein kurzer Bart, der seinen Mund einrahmte und sein Kinn bedeckte. Zwischen seinem welligen Haar blitze ein Ring, der sein Ohr schmückte. Ich wollte diesen Ring, dieses Ohr in den Mund nehmen und daran knabbern.

Vielleicht sah er diese Tollheit in meinen Augen, denn er ging einen Schritt auf mich zu, streckte die Hand aus und starrte auf meine Lippen. Bevor er mich berühren konnte, ergriff ich mein Schwert und rannte davon.

Ich war dankbar, als ich feststellte, dass er mir nichts hinterherrief und mir auch nicht folgte. Ich war nicht sicher, was ich ansonsten getan hätte. Hätte ich ihn geküsst oder ihn getötet?

Ich ging nicht auf direktem Wege nach Hause, da ich nicht wusste, wer oder was mir dorthin folgen würde.

Auch wenn ich nichts lieber wollte, als mein Bett zu erreichen und gesegneten, traumerfüllten Schlaf zu finden, verbrachte ich eine Stunde damit, mir einen falschen Weg durch allerlei Gassen zu bahnen, hier und dort entlang, um eine Ecke und über ein Dach.

Als ich schließlich das Rankgitter zu meinem Zimmer hinaufkletterte, schaffte ich es kaum über die Brüstung des Balkons, bevor ich zusammenbrach.

Ich blieb eine ganze Weile dort liegen. Dann hob ich meine Finger an meinen immer noch kribbelnden Mund und rief mir den einzigen Kuss ins Gedächtnis, den ich jemals erlebt hatte.

Wie so oft, wenn ich nicht schlafen konnte, bestellte ich ein Bad, in der Hoffnung, dass das warme Wasser helfen würde. Unglücklicherweise fiel die Ankunft des heißen Wassers mit der Ankunft der Amme zusammen, und das Geplapper der Frau verursachte mir Kopfschmerzen.

»Mich dünkt, Ihr solltet nicht baden. Was, wenn Ihr Euch verkühlt und das Kind verliert?«

Da es kein Kind gab, machte ich mir darüber keine Gedanken. Ich würde die Amme glauben lassen, was sie wollte. So würde ich öfter Ruhe bekommen, und dafür lohnte sich eine Lüge, die ohnehin irgendwann aufgedeckt werden würde.

»Mir ist viel zu warm, um mich zu verkühlen, gute Amme«, sagte ich laut.

Meine Wangen waren noch von den Gedanken an den Fremden gerötet. Ich hätte den Dienern besser aufgetragen, ein kaltes Bad zu bereiten, aber dann hätte die Amme einen Anfall bekommen.

»Wirklich?« Sie sah mir ins Gesicht. »Meine Güte! Ihr habt Fieber.«

»Das habe ich nicht«, blaffte ich und stieg aus dem Wasser.

»Wenn der Herr herausfindet, dass Ihr ein Kind erwartet und ich mich nicht gut genug um Euch gekümmert habe, wird er « Die Amme hielt inne, und ich sah sie erstaunt an. Diese Frau hörte niemals von alleine auf zu reden.

»Dann wird er was?«

»Nichts«, beeilte sich die Amme zu sagen. »Aber seine Enttäuschung würde mir das Herz brechen.«

Ich fragte mich, ob seine Enttäuschung ihr nicht eher den Arm brechen würde.

Auch wenn die bloße Anwesenheit der Amme bewirkte, dass ich am liebsten bis zur Bewusstlosigkeit geschrien hätte, wollte ich doch nicht, dass sie verletzt wurde. Ich musste eine Möglichkeit finden, das erfundene Kind verschwinden zu lassen, ohne dass es die Schuld der Amme oder einer anderen Person war.

»Ich will einfach nur baden und schlafen«, sagte ich aufrichtig und lautstark.

»Ich werde Euch nur schnell das Haar waschen.« Die Amme setzte sich mühsam neben der Wanne auf den Boden.

»Nein!«

»Nein?« Sie runzelte verwirrt die Stirn. »Ich wasche Euch immer das Haar.«

Der Gedanke, andere Hände als die des Fremden an meinem Körper zu spüren, war mir unangenehm. Wie seltsam. Ich ertrug Reginalds Berührungen jetzt schon seit drei Jahren, auch wenn es nicht leicht war. Allerdings war ich bisher auch noch nie so gut und wahrhaftig geküsst worden.

»Nicht heute Abend«, befahl ich.

»Ach. Natürlich.« Die Amme kam mühsam wieder auf die Beine. »So viele Dinge werden sich jetzt für Euch verändern. Ich erinnere mich noch daran, wie es bei mir war.«

Sie verließ den Raum und schloss die Tür hinter sich. Ich starrte ihr nach und fragte mich, was sie damit gemeint hatte.

Dann lehnte ich mich zurück, aber das heiße Wasser tat wenig, um mich zu beruhigen. Stattdessen beschwor das Plätschern des Wassers gegen meinen Bauch und meine Brüste sowie zwischen meinen Beinen die Erinnerung an die Umarmung des hübschen Fremden herauf.

Er hatte nach Gefahr gerochen heiß, würzig , und doch war seine Haut unter seinem Wams so köstlich kühl gewesen. Wie kann das sein?, fragte ich mich. Die Hitze, die mich durchströmte, ließ mich in Gedanken erleben, wie ich meine Lippen auf seinen schön geformten, kalten Hals presste und mit meiner Wange jeden Zentimeter seiner Haut entlangfuhr, während ich seinen Geruch und Geschmack aufnahm.

Ich schreckte auf und verschüttete Wasser auf den Boden. Dann strich ich mit meiner Hand über meine Brüste, streichelte mich erst dort, dann viel tiefer. Das hatte zur Folge, dass mein Atem stoßweise kam und sich das heiße Wasser auf meiner feurigen Haut fast kühl anfühlte.

»Er muss ein Hexer sein«, murmelte ich. Und doch hatte er nicht böse gerochen. Er hatte auch auf keinen Fall böse geschmeckt.

Wie schmeckte das Böse?

Ich spritze das langsam abkühlende Wasser auf meine geröteten Wangen und meinen Hals. Ich hatte mich schon einmal verzaubern lassen, und wohin hatte mich das gebracht?

Ich war in einer Ehe mit einem Mann gefangen, den ich verabscheute und der darauf versessen war, mich zu schwängern und

Ich zitterte bei dem Gedanken, denn ich war dabei gewesen, als meine Mutter im Kindbett gestorben war. Ich wollte nicht, dass mir das Gleiche widerfuhr. Nicht, dass meine Wünsche jemals ins Gewicht fielen.

Außer wenn ich in den dunkelsten Stunden der Nacht einen Tibonage jagte.

Mit immer noch zittrigen Beinen stieg ich aus der Wanne und schlang ein Tuch um mich. Dann schnappte ich mir eine Haarbürste und ging auf den Balkon, wo eine sanfte Brise wehte.

Dort begann ich, meine Haare zu entwirren. Der kühle Lufthauch auf meinen Locken und meiner feuchten Haut war fast so ernüchternd wie die Wahrheit, die mein Leben beherrschte.

Reginald hatte mich mit schönen Worten und noch schöneren Versprechungen verführt. Aber sobald ich seine Lügen geglaubt hatte, war gar nichts mehr schön gewesen.

Ich bezweifelte, dass es mit dem dunklen Fremden anders gewesen wäre.