und eine Mahlzeit ankündigte die ein Nachbar bestellt hatte. Mr. Hooper im neunzehnten Stock bekam öfter, als ihm lieb war, Miss Coopers Pizza geliefert und ich wurde regelmäßig mit Kupler aus dem drei-undzwanzigsten verwechselt.

Vor mich hinträumend kramte ich den Wohnungsschlüssel aus meiner Jackentasche und schloss die Tür auf. Zac saß aufrecht in der Diele – so als hätte sie meine Rückkehr schon erwartet. Ihre linke Pfote ruhte auf einem Blatt Papier, das jemand unter der Tür hindurchgeschoben haben musste.

Ich hob den weißen Zettel auf – und starrte auf die großen roten Buchstaben, die mit der krakeligen Handschrift eines Kindes darauf gemalt waren.

»VORSICHT. ES IST NICHT ALLES SCHWARZ-WEISS. DAS IST EIN TÖDLICHER IRRTUM.«

Ich zog die Tür hinter mir ins Schloss. Mein Herz raste. Zac folgte mir auf den Fersen, als ich zum Telefon stürzte und Petersons Büronummer wählte. Es klingelte und klingelte. Niemand hob ab. Ich warf einen Blick auf die Uhr: halb elf. Dann ging ich zur Sprechanlage und rief Victor unten im Empfang an.

»Den Jungen, den Sie hochgelassen haben, den Lie-feranten – haben Sie ihn wieder rausgehen sehen?«

»Ja, der ist hier unten angekommen, während Sie mit dem anderen Aufzug hochgefahren sind. Hatte immer noch seine volle Tasche dabei und sagte, er ha-be das falsche Gebäude erwischt – musste einen Block weiter. Tut mir leid, Miss Cooper, ich hätte das nachprüfen sollen.«

253

Wütend knallte ich den Hörer hin. Ich konnte jetzt unmöglich Chapmans italienische Nacht stören oder Battaglia aus den Federn scheuchen. Ich bezahlte jeden Monat die horrende Miete für dieses Apartment, um von dem Sicherheitsdienst geschützt zu werden, der ein solches Luxusgebäude bewachte. Ganz offensichtlich wollte mir jemand Angst einjagen. Und das war ihm gelungen.

16

Als ich am Montagmorgen um halb neun vor dem Gericht aus dem Taxi stieg, durchkämmten Justizbeamte auf allen vieren das Gebüsch vor dem Gebäude.

Es war ein offenes Geheimnis, dass dieser Grünstrei-fen in ganz Manhattan der aussichtsreichste Ort war, um eine geladene Waffe zu finden.

Direkt hinter den Eingangstüren des Gebäudes befanden sich Metalldetektoren, durch die jeder Passant geschleust wurde. Und jeden Tag durchliefen Hunderte von Verbrechern auf dem Weg zu ihren Vernehmungen die Hallen der Justiz. Manche von ihnen waren zu unterbelichtet, um zu kapieren – zumindest beim ersten Besuch –, dass sie durchsucht und durchleuchtet wurden. Doch wann immer man den Eingang des Gerichtsgebäude beobachtete, konnte man Männer und Frauen sehen, die vor dem Betreten kurz im Gebüsch verschwanden, um dort ihre Ge-wehre, Pistolen, Messer und sonstigen Waffen zu verstecken.

Die zwei bis drei Justizbeamte, die mehrmals täglich die Anlage durchkämmten, sammelten die Utensilien jener Besitzer ein, die nicht damit gerechnet hatten, das Gerichtsgebäude durch den Hintereingang zu verlassen, wo der vergitterte Bus in Richtung Haftanstalt abfuhr.

»Na, fette Beute?« rief ich Jimmy O’Mara zu, der 255

gerade einen Metallgegenstand in seine Ledertasche steckte.

»Zwei Automatische und ein Teppichmesser. Unterm Strich eher schlapp, Alex.«

Am Bagel-Stand in der Halle traf ich Sarah. Wir holten uns einen Kaffee und gingen zusammen hoch.

Aber ich war nicht die Erste in meinem Büro: Chapman erwartete mich bereits. Er hatte es sich auf meinem Schreibtischstuhl bequem gemacht, seine Füße ruhten auf der Tischplatte, und er lachte schallend ins Telefon. Als wir den Raum betraten, legte er den Hö-

rer auf, erhob sich und begrüßte uns mit der glatten Stimme eines Fernsehmoderators.

»Bitte keine Anrufe mehr, meine verehrten Damen und Herren, der Gewinner steht bereits fest!«

»Was ist los? Wovon redest du?«

»Das Krankenhaustreiben hat mal wieder einen Höhepunkt erreicht, und Detective Forester hat möglicherweise das große Los gezogen.«

Bei dem Gedanken, dass Maureen in Gefahr gewesen war, während ich den herrlichen Abend mit Drew genossen habe, zuckte ich zusammen. Wie aus einem Mund fragten Sarah und ich, ob Mo etwas zugesto-

ßen sei.

»Nein, nichts, gar nichts. Mo geht’s prima. Sie hatte das ganze Wochenende Besuch von ihrem Mann und den Kindern. Gestern, kurz vor der Nachtruhe, kam eine Krankenschwester vorbei und wollte Maureen, angeblich im Auftrag ihres Arztes, einen Einlauf verpassen. Da Mo wusste, dass ihr Arzt gar nicht 256

in der Stadt ist, weigerte sie sich, sich das Ding setzen zu lassen. Die Schwester bestand darauf, und so gings zwanzig Minuten hin und her, bis die Schwester ab-dampfte, um ihren Chef zu holen. Kurz darauf klingelte Maureens Telefon. Ein Mann, der sich als Dr.

Haven vorstellt. Er sagt, Maureens Arzt habe angeordnet, sie solle einen Seifenlauge-Einlauf bekommen. Maureen tut so, als habe sie ihn schon erhalten.

Dann fängt der Typ an, ihr ‘ne ganze Menge verrückter Fragen zu stellen – wie es sich angefühlt habe und so. Er wollte es bis ins kleinste Detail wissen.«

Kopfschüttelnd ließ sich Sarah in einen Sessel fallen.

»Während Mo telefonierte, gab sie den Jungs im Übertragungswagen ein Zeichen, die Fangschaltung zu drücken. Der Idiot hatte natürlich keine Ahnung, dass die Patientin, die er belästigte, voll verdrahtet und verkabelt war. Sie schaffte es, den Knaben acht Minuten bei der Stange zu halten. Dann bedankte er sich und legte auf.«

Dank der neuen Technik ist es kein Problem, ein-gehende Anrufe zurückzuverfolgen und festzustellen, von welchem Apparat aus sie geführt wurden.

»Lass mich raten – war es jemand aus dem Mid-Manhattan?«

»Falsch. Der Anruf kam von außerhalb, und zwar aus der Praxis von Arthur J. Simonsen. 710 Park Avenue.«

»Tut mir leid, sagt mir gar nichts.«

»Mr. Simonsen ist Präsident und Vorstandsvorsit-257

zender von Pharmaceutical Industry Life Line Sup-port, kurz PILLS, dem größten Arzneimittelvertreiber des Landes.«

Bei der Vorstellung, wie die Sensationspresse diese Neuigkeit ausschlachten würde, stöhnte ich leise auf.

»Und das war beileibe nicht das erste Mal, Ladies.

Gestern Abend kurz nach elf teilte Peterson die Neuigkeit Bill Dietrich mit. Und offenbar geht im Lenox Hill und im Mount Sinai ähnliches vor sich – in mindestens einem halben Dutzend anderer Krankenhäuser. Dietrich war bereits darüber informiert, aber die Krankenhausverwaltung ist bemüht, die Sache nicht publik werden zu lassen. Als Pharmaunternehmen erhält Simonsens Firma aus sämtlichen Krankenhäusern alle Patientendaten, einschließlich der Information, wer der behandelnde Arzt ist. Simonsen geht dann offensichtlich die Listen durch und sucht sich Frauen in Privatzimmern aus. Am frühen Abend, nachdem die Ärzte ihre letzte Visite gemacht haben und nach Hause gegangen sind, ruft er die jeweilige Stationsschwester an und behauptet, einen Anruf vom behandelnden Arzt bekommen zu haben, der angeblich einen Einlauf oder eine rektale Fiebermessung angeordnet habe. Etwa eine Stunde später meldet er sich selbst bei der Patientin – in der Hoffnung, seine Anweisung ist inzwischen ausgeführt worden. Er fordert die Patientin auf, bis ins letzte Detail zu beschreiben, was die Schwester mit ihr getan hat. Er hört zu, und weiß der Teufel, was er dabei am anderen Ende der Leitung sonst noch tut. Ich habe jeden-258

falls keine Lust, selbst herauszufinden, was den Reiz der Sache ausmacht. Das soll Mikey Diamond erledigen.«

Diamond hatte sich als altgedienter Gerichtsrepor-ter der New York Post auf Perverse aller Art speziali-siert. »Ich wette, Mickey leckt sich alle Finger danach, unseren Mann auf die Titelseite zu bekommen«, bemerkte ich. Die Wände von Mickeys Büro waren mit Headlines über die grausamsten Verbrechen der Stadt gepflastert. Sarah und ich fungierten für ihn als Co-vergirls, da unsere Fälle oft genug seine Aufmacher-storys waren.

»Verlass dich drauf, dass spätestens in einer Viertelstunde Mickey hier auf der Matte steht; er hat heute Morgen die Info bekommen. KLISTIER-MANN

BELÄSTIGT PATIENTINNEN oder so ähnlich könn-te die Schlagzeile lauten.«

»Apropos Patientin. Wie geht’s Maureen?«

»Ausgezeichnet, wie sonst? Ihr ist kein Härchen gekrümmt worden; mit dem Telefongespräch war der Fall für sie erledigt. Simonsen hat bereits alles gestanden. Er steht wegen Selbstmordgefahr unter ständiger Beobachtung. Neben seinem Geständnis haben wir als Zeugen genug Patientinnen aus anderen Krankenhäusern, so dass wir Mo noch nicht ent-tarnen müssen. Sie fühlt sich pudelwohl, lutscht Bon-bons, liest Krimis und wartet auf David Mitchells Besuch. Ruf sie doch einfach an; sie freut sich bestimmt, dich zu hören.«

Dann wandte Mike sich an Sarah. »Warum schaust 259

du eigentlich schon den ganzen Vormittag so finster drein?«

Lachend strich sie über ihren runden Bauch. »Hab’

nur nachgedacht. Eigentlich wollte ich drei Wochen vor der Entbindung aufhören zu arbeiten, damit das Baby nicht im Taxi zur Welt kommt und wir es nach dem Taxifahrer Vito oder Jesus nennen müssen. Aber angesichts der Dinge, die in den Krankenhäusern vor sich gehen, wäre eine Taxi-Entbindung vielleicht gar nicht das Schlechteste.«

»Hey, du kennst doch Warren Murtaghs Gesetze.«

Ein langjähriger Freund von mir und Inhaber einer großen Anwaltskanzlei hatte ein Regelwerk entwor-fen, das für fast jede Situation unseres Berufsalltags etwas Passendes bot. »Murtaghs Regel Nummer neun:

›Alle Verrückten treffen sich im selben Fall zum selben Zeitpunkt am selben Ort.‹ So gesehen sind unsere Aussichten, den Mörder bald zu finden, gar nicht schlecht.«

Dann griff ich in meine Aktentasche, zog das Blatt Papier heraus und reichte es Mike. »Schau dir das mal an.«

Schlagartig veränderte sich sein Gesichtsausdruck.

»Woher kommt das? Warum hast du mich nicht angerufen?« Er ließ den Bogen auf meinen Schreibtisch segeln.

Sarah griff danach. »Wir müssen Battaglia informieren, und zwar schnell. Das wird ihm gar nicht gefallen.«

»Gib mir ‘ne Plastikmappe – eine von den Klar-260

sichthüllen da drüben. Wir müssen nach Fingerabdrücken suchen.«

»Ja, aber zuerst sollten wir die Spuren deines Lieblingsweimaraners sichern. Ein Typ hat den Bogen unter der Tür durchgeschoben, und Zac hat ihn in die Pfoten bekommen. Ich bin zwar so vorsichtig wie möglich damit umgegangen, aber ich fürchte, viele Fingerabdrücke werden wir nicht mehr finden.«

»Hast du denn nichts an der Tür gehört? Niemanden gesehen?«

»Ich war nicht zu Hause, Mike. Ich war zum Abendessen verabredet, und der Portier hat in der Zwischenzeit irgendeinen Botenjungen hochgelassen. Als ich zurückkam, habe ich den Zettel gefunden.«

»Deine Verabredung macht mich fast genauso neugierig wie der Drohbrief«, bemerkte Sarah.

»Wer auch immer das Blatt unter meiner Tür hindurchgeschoben hat, irgendjemand versucht, mich einzuschüchtern, nicht mehr und nicht weniger. Der Typ hat schließlich nicht mal gewartet, bis ich wieder nach Hause kam.«

»Ja, und was wäre passiert, wenn er auf dich gewartet hätte? Es war purer Zufall, dass du einen Hund in der Wohnung hattest, der einen Eindringling in die Flucht geschlagen hätte, hab’ ich Recht?«

Wahrscheinlich, ja. Ich wählte Battaglias Nummer, und Rose hob ab. Ich bat sie um einen eiligen Termin, und sie bestellte mich sofort rüber.

»Kommt mit, das geht uns alle an.«

Wir überquerten den Gang und wurden von dem Si-261

cherheitsmann in Battaglias Büro gelassen. Rose freute sich über unser Erscheinen und führte uns direkt zu ihrem Chef. Er winkte uns an den Besprechungstisch in der Mitte des Raumes, während er sein Telefongespräch beendete. Dann kam er zu uns rüber, nickte Sarah und mir zu und begrüßte Chapman mit einem Handschlag. »Eine Zigarette, Mike? Die Damen?«

»Nein, danke, Mr. Battaglia«, lehnte Mike ab.

»Das mit der Drogenhändlerschießerei in der drei-undvierzigsten Straße haben Sie prima gemacht.

Schnelle, saubere Festnahme – Glückwunsch.«

»Je dümmer die sind, desto einfacher haben wir’s, Mr. B. Schießt einer um Viertel vor acht in ‘ner Ab-steige mitten im Amüsierviertel vier Leute übern Haufen und sagt dem Fahrer des Fluchtfahrzeugs, er solle auf die Tube drücken. Ich glaube, es waren drei-

ßig oder vierzig Zeugen, die sich die Nummer gemerkt haben. Ich wünschte, unser Mid-Manhattan-Fall wäre auch so einfach zu lösen.«

»Was gibt’s Neues?«

Wir unterrichteten den Bezirksstaatsanwalt über die aktuellsten Entwicklungen und zeigten ihm dann den Brief, der mir ins Haus geflattert war. Außerdem erzählte ich ihm von dem Wagen, der mich gern als Kühlerfigur gehabt hätte, versuchte aber, den Zwischenfall so weit wie möglich herunterzuspielen.

»Muss ich nun damit rechnen, dass Sie …«

»Nein, ganz bestimmt nicht, Paul. Ich wollte Sie lediglich über die Vorfälle in Kenntnis setzen und hö-

ren, was Sie dazu sagen.«

262

»Mein Vorschlag ist, dass Sie den verdammten Fall so schnell wie möglich aufklären. Am Donnerstag fliege ich nach London, zu einer interdisziplinären Konferenz über ethische Grundsätze. Richtlinien fürs nächste Jahrtausend oder so ein Unsinn. Ich hab’ vor

‘nem halben Jahr meine Teilnahme zugesagt, aber der Zeitpunkt ist jetzt nicht gerade glücklich.«

»Hey, Mr. B. vielleicht könnten sie am Rande der Konferenz den einen oder anderen Zeugen vernehmen.

Ich weih’ Sie vor Ihrem Abflug auch noch gern in die Tricks und Geheimnisse unserer Vernehmungstechnik ein«, stichelte Chapman.

Battaglia erhob sich und ging zu seinem Schreibtisch zurück; für ihn war das Gespräch beendet. »Vielleicht komme ich auf Ihr Angebot zurück, Mike. Ist jedenfalls interessanter, als sich in einem stickigen Konferenzraum die Klagen irgendwelcher europäischer Soziologen anzuhören, deren größtes Kriminalitätsprob-lem Ausschreitungen bei Fußballspielen sind. Und Sie, Cooper, passen gut auf sich auf, verstanden?«

Wir hatten den Raum noch nicht verlassen, da hing Battaglia schon wieder an der Strippe.

Unter den Blicken Dutzender Bezirksstaatsanwälte aus vergangenen Zeiten, deren Porträts den Gang zu Battaglias Büro säumten, traten wir den Rückweg an.

Ich hatte im Lauf meiner zehn Jahre als Staatsanwältin so viele Stunden mit Warten vor Pauls Büro zu-gebracht, dass ich ihre Namen und die jeweilige Amtsdauer in- und auswendig kannte.

»Wie geht’s jetzt weiter?« fragte ich, nachdem wir 263

wieder in meinem Zimmer angekommen waren.

Chapman setzte sich an meinen Schreibtisch und erstellte eine Liste aller Personen, mit denen wir sprechen mussten, während ich über seinen gebeugten Kopf hinweg die Tauben auf den barock geschwunge-nen Fenstersimsen des gegenüberliegenden Gebäudes beobachtete.

»Sarah hält hier die Stellung. Und wir fangen mit Bob Spector an. Außerdem hat uns Spector den Tip gegeben, uns mit Gig Babson vom New York Hospital zu unterhalten; sie war ‘ne gute Freundin von Gemma Dogen. Weiterhin müssen wir prüfen, ob an dem Gerücht, dass Dogen das Krankenhaus verlassen wollte, etwas dran ist. Und dann, denke ich, ist der Nachmittag auch schon vorbei.«

Langsam stellte sich in meinem Vorzimmer der gewöhnliche Besucherreigen ein.

Stacy Williams hielt Laura ein Formular unter die Nase; sie brauchte meine Unterschrift, um ein Flugti-cket zu kaufen. Sie musste ein Vergewaltigungsopfer aus Kansas City zur Verhandlung nach New York holen.

»Hey, wo hast du so lange gesteckt, Stace?« fragte Chapman. Stacy war Praktikantin in meiner Abteilung und traf sich seit einem halben Jahr mit einem von Mikes Kollegen aus der Mordkommission.

»Es ist vorbei, Mike. Ich bin seit ein paar Wochen nicht mehr mit Pete zusammen. Der Kerl hat mich angelogen; die ganze Zeit hat er mir erzählt, er hätte sich von seiner Frau getrennt.«

264

Ich warf einen Blick auf den Flugplan und unterschrieb dann den Reiseantrag. Sarah übernahm inzwischen die Rolle der mütterlichen Freundin. »Aber Stacy, erinnerst du dich nicht an Pat McKinneys Einfüh-rungsrede? Wenn dir ein Cop erzählt, er lebe getrennt, dann bedeutet das, dass seine Frau irgendwo am anderen Ende des Long Island Expressway etwa achtzig Meilen entfernt sitzt und die vier Kinder hütet. Das versteht ein Polizist unter ehelicher Trennung.«

Ein Blick in Stacys hübsches Gesicht genügte mir, um zu wissen, dass sie Pete nicht lange nachtrauern würde. »Hier ist der unterschriebene Antrag. Sag mir doch bitte Bescheid, wann die Verhandlung stattfin-det, Stacy, ja?«

Sarah verabschiedete sich, um in ihrem eigenen Büro ihre Arbeit zu erledigen. »Ruft an, wenn’s Neuigkeiten gibt, okay?«

Mike forderte bei Peterson einen Detective an, der den Drohbrief in meinem Büro abholen und zur Analyse ins Labor bringen sollte. Dann riefen wir Bob Bannion an, um zu besprechen, wann wir uns das Video vom Tatort ansehen konnten; wir wollten noch einmal Gemma Dogens Aktenschränke unter die Lu-pe nehmen, um eventuell darüber Aufschluss zu erhalten, welche Teile oder Ordner durchwühlt worden waren.

Wenig später saßen Chapman und ich in einer der winzigen Vorführkabinen der Video Unit und spielten die Sequenz wieder und wieder ab, vergrößerten diesen und jenen Ausschnitt, um festzustellen, worauf es 265

der Mörder abgesehen hatte. Ähnelten die Ordner, die wir auf dem Bildschirm sahen und die wir uns zweifelsohne noch einmal in natura anschauen würden, jenen, die die Polizisten im Müll gefunden hatten?

Falls die gefundenen Ordner tatsächlich aus Dogens Büro stammten – wo genau hatte der Mörder sie dann her? Hatten sie auf dem Schreibtisch gelegen oder in einem der zahlreichen Aktenschränke gestanden?

»Na, habt ihr was gefunden?« erkundigte sich Bob.

»Hätten wir bestimmt, wenn wir wüssten, wonach wir eigentlich suchen.«

Als wir wieder in mein Büro runterkamen, erwartete uns dort Janine Borman, eine der Assistentinnen in der Prozessabteilung.

»Der Richter von AP5 hat mir ‘ne halbe Stunde Zeit gegeben, um mich auf ein Gesetz zu berufen, andernfalls wird er dem Antrag der Verteidigung auf Niederschlagung der Klage stattgeben. Ich hab’ jetzt keine Zeit mehr für Recherchen und kann mir vorstellen, dass Sie diese Situation auch schon mal hatten. Deshalb wollte ich Sie um Rat fragen.«

Keine Zeit für Recherchen – tolle Ausrede. Wahrscheinlich hat sie keinen blassen Schimmer, wie man eine Recherche durchführt, dachte ich bei mir. »Worum geht’s denn?«

»Um sexuelle Belästigung. Es passierte in der U-Bahn – die Frau hat aber keine Strafanzeige erstattet. Alles, was ich habe, ist die Aussage eines Cops, der das Ganze beobachtet hat.« Bei kleineren Straftaten machten wir oft die Erfahrung, dass die Betroffe-266

nen keine Anzeige erstatteten, denn sie wussten, dass die Wahrscheinlichkeit, dass der Täter gefasst wurde, sehr gering war – und die, dass er eine Strafe erhielt, noch viel geringer. Kaum einer Frau, die tagtäglich mit der U-Bahn zur Arbeit fuhr, war es nicht schon mindestens einmal passiert, dass irgendjemand seine Weichteile an ihrem Po rieb; der einzige Vorteil der kalten Jahreszeit bestand darin, dass sich zwischen Täter und Opfer eine zusätzliche Schicht Stoff befand.

»Die Tat?«

Janine schien sich bei der Schilderung dessen, was meinen Berufsalltag ausmachte, nicht besonders wohl zu fühlen. Peinlich berührt suchte sie nach Worten und schielte dabei mehrmals verschämt rüber zu Chapman. »Nun, der … ähm … der Angeklagte, Anthony Gavropoulos, befand sich auf dem … ähm …

Bahnsteig. Auf dem Bahnsteig gegenüber stand der Cop. Der Cop sagt aus, der Angeklagte sei hinter die Frau getreten und habe sich … ähm … wie soll ich sagen … ähm … entblößt.«

»Er hat seinen Penis entblößt?« fragte ich.

»Ähm … ja. Und dann bekam er eine … ähm …

eine Erektion. Möglicherweise weil er sich an der Frau gerieben hat.«

»Hat er sich an der Frau gerieben oder hat er nicht?

Schauen Sie, Janine, das eine ist eine Straftat, das andere nicht.«

»Tut mir leid, ich …«

»Hören Sie mir mal zu, Janine. Wenn Sie mit einem solchen Fall zu tun haben, dann müssen Sie auch die 267

betreffenden Worte aussprechen und die entsprechenden Körperteile benennen. Mit vagen Umschreibungen und rotem Kopf kommen wir da nicht weiter.«

Janine sammelte sich und fuhr fort. »Wir haben der gegnerischen Partei das Angebot gemacht, das Ganze nur als minderes Vergehen zu verfolgen – unter der Bedingung, dass der Angeklagte nach dem Ur-teilsspruch an einem Besserungsprogramm für Sexualstraftäter teilnimmt.«

»Prima. Und weiter?«

»Der Verteidiger lehnt unser Angebot ab und behauptet, der Cop lüge. Gavrapoulos sagt nämlich, sein Ding sei zu klein, als dass der Cop es vom gegenüberliegenden Bahnsteig aus hätte sehen können – selbst dann nicht, wenn er, Gavrapoulos, eine Erektion gehabt hätte. Hatten Sie so was schon mal?«

Chapman hob den Finger, um auf sich aufmerksam zu machen. »In diesem Fall brauchen Sie weder ein Gesetz noch eine Recherche. Das müssen Sie ganz anders machen: Schicken Sie den Richter aus dem Gerichtssaal, den brauchen Sie hier nämlich gar nicht.

Und dann sagen Sie zu Gavrapoulos: ›Hey, Anthony, du bist doch kein Schlappschwanz, oder? Hast du denn gar kein Fünkchen Stolz? Ein richtiger Kerl würde eher eine Verurteilung in Kauf nehmen als zu-zugeben, dass sein Ding so klein ist, dass man es gar nicht sieht.‹«

Janines Kinnlade klappte runter. Einen Augenblick lang glaubte sie wirklich, Chapmans Rat sei ernst gemeint.

268

»Er hat nur einen Witz gemacht, Janine.« Ich führ-te sie aus meinen Büro und erklärte ihr auf dem Gang, wie sie in diesem Fall am besten vorging.

Als ich wieder zurückkam, hielt Chapman schon meinen Mantel bereit. »Komm schon, Blondie, lass mich dich aus diesem Irrenhaus entführen. Wir sammeln Mercer auf und machen uns an einen richtigen Fall. Erinnerst du dich noch, was deine Granny Jenny mir vor ein paar. Jahren auf der Überraschungsparty erzählte, die deine Mutter gegeben hat?«

Ich wusste genau, was jetzt kam: Die Lieblingsklage meiner jüdischen Großmutter, die als Kind aus Russ-land in dieses Land gekommen und bis zum heutigen Tag stolz darauf war, allen ihren Söhnen einen Collegeabschluss und ein Studium ermöglicht zu haben.

Als ich ihr Mike vorstellte, bemerkte sie wie so oft seufzend: »Ihr Vater hat ihr die beste Ausbildung bezahlt, und was hat dieser Paul Battaglia aus ihr gemacht? Eine Expertin für Pimmels und Muschis. So was gibt’s nur in Amerika.«

17

»Geld oder Liebe?«

»Fifty-fifty, würde ich sagen.«

»Ich glaube, eins überwiegt.«

»Und wozu zählst du die bloße Lust? Worunter fällt Affekt? Oder Sexualmord? Unter Liebe? Das kann wohl nicht sein.«

»Selbst wenn – ich glaube, dass Geld sehr viel häufiger der Auslöser ist als Liebe.«

»Nimm nur mal alle deine Fälle von häuslicher Gewalt. Da geht’s nicht um das, was man sich unter Liebe so vorstellt. Da geht’s um Liebe, die ins Gegenteil umgeschlagen ist.«

»Ach ja? Ich habe aber die Erfahrung gemacht, dass bei häuslicher Gewalt Geld mindestens genauso oft eine Rolle spielt wie Beziehungsprobleme.«

Ich kam aus der Damentoilette der Cafeteria des Mid-Manhattan und platzte mitten in die Unterhaltung zwischen Chapman und Wallace. Es ging um Tatmotive bei Mord.

»Was ist deine Erfahrung, Coop?«

»Hm, keine Ahnung, wahrscheinlich ist Geld das häufigste Motiv.«

»Womit wir’s meist zu tun haben, Mercer, sind Bandenkriege zwischen Crack-Dealern – das ist die Realität. Manchmal schießt ein Dealer den anderen übern Haufen, weil’s Streit um ‘ne Frau gibt, das kommt na-270

türlich vor«, fuhr Mike fort, »aber meistens ist die Frau Teil des Geschäfts. Liebe spielt da bestimmt keine Rolle. Alles, was diese Jungs lieben, sind ihre Pitbulls, ihr Pythons und ihre tätowierten Schwänze – aber nicht ihre Bräute.«

»Also, was war’s bei Gemma Dogen? Geld oder Liebe?« fragte Mercer. Weder Mike noch ich hatten eine Antwort. »Ich bin gespannt, was uns Spector da-zu sagen kann.«

Wir bahnten uns den Weg durch zahllose Türen, Gänge und Aufzüge von der Cafeteria bis hoch in den sechsten Stock des Minuit Medical College.

»Werden Sie von Dr. Spector erwartet?« wollte die Rezeptionistin hinter dem Empfangstresen wissen.

»Ja. Wir beide sind von der Mordkommission, und Miss Cooper ist die ermittelnde Staatsanwältin.«

Hätten wir ihr, anstatt unsere Tätigkeiten zu er-wähnen, erzählt, wir seien mit Typhus infiziert, wäre die Reaktion nicht sehr viel anders ausgefallen. Stirn-runzelnd betrachtete sie uns, rollte auf ihrem Stuhl einen Meter von uns weg in die andere Richtung und vermied jeglichen weiteren Blickkontakt, während sie Spectors Nummer wählte und ihm mitteilte, »diese Leute« seien da.

»Letzte Tür rechts, direkt vor der Bibliothek.«

Wir gingen den Gang entlang, vorbei an dem unbe-leuchteten Raum, in dem sich Gemma Dogens Büro befunden hatte.

Spector begrüßte uns bereits an der Tür mit der Offenheit und Freundlichkeit, für die er bekannt war.

271

Er war kleiner als wir alle drei, und sein rötlich braunes Haar begann sich zu lichten.

Trotzdem wirkte er jünger als zweiundfünfzig –

das Alter, das Mercer in seinen Unterlagen notiert hatte.

Ähnlich wie Gemmas Büro war auch das von Spector mit medizinischem Gerät, Fotos und Auszeichnungen vollgestopft. Doch im Gegensatz zu ihrem fanden sich hier zahlreiche persönliche Gegenstände –

Kinderbilder in Plexiglasrahmen, Poster und witzige Geschenke von Studenten.

»Sie sind also die Leute, die in unserem kleinen Laden wieder für Ruhe und Ordnung sorgen wollen?«

»Ganz das Gegenteil scheint der Fall zu sein, der charmanten Begrüßung der Dame am Empfang nach zu schließen«, erwiderte Mike.

»Wie Sie sich vorstellen können, sind wir hier noch weit entfernt von jeglicher Normalität – wenn man einen Moloch wie diesen überhaupt jemals als ›normal‹ bezeichnen kann. Die Presse ist nicht gerade freundlich mit uns umgegangen; die haben uns hin-gestellt, als seien wir nicht in der Lage, eine Routine-operation hinzubekommen. Und Sie, junge Dame«, bemerkte er mit Blick auf mich, »tragen auch nicht gerade zur Beruhigung bei. Sobald ein Anwalt auf der Bildfläche erscheint, geraten viele Arzte in Panik – die schlechten Witze über das Misstrauen zwischen diesen beiden Berufsgruppen sind schon fast Realität geworden. Ich habe mich bemüht, meinen Leuten klarzumachen, dass Sie nichts mit der Verfolgung von 272

Kunstfehlern zu tun haben, sondern lediglich Staatsanwältin sind.«

»Wir hoffen, dass Sie uns einiges über Dr. Dogen erzählen können«, begann ich. »Es ist schwierig, etwas über sie zu erfahren. Sie schien sehr verschlossen gewesen zu sein.«

»Das war sie allerdings. Ich kann Ihnen sicher einige Informationen beruflicher Art geben, und Dr. Babson, mit der Sie ja später noch sprechen werden, weiß gewiss das eine oder andere über ihr Privatleben.

Gemma kam vor mir ans Mid-Manhattan, vor etwa zehn Jahren. Einen Ruf von dieser Abteilung zu bekommen und sie schließlich zu leiten, ist für eine Frau – nein, eigentlich für jeden – ein großer Erfolg.

Sie war ein brillanter Kopf und auf ihrem Fachgebiet ausgesprochen innovativ.«

Es folgte eine zwanzigminütige lebhafte Schilderung des Eifers und der Begeisterung, mit der Dogen die neurochirurgische Fakultät des Minuit aufgebaut hatte und die Studenten für die Facharztausbildung auswählte.

Als Chapman genug Lobpreisungen gehört hatte, unterbrach er Spectors Bericht. »Gut, das war also Gemma Dogen, die Märtyrerin. Und wer wollte sie aus dem Weg räumen?«

Überrascht von dieser Frage, ließ sich Spector in seinen Sessel zurücksinken. »Soll ich mich selbst an die erste Position dieser Liste setzen, oder wäre das unbescheiden?«

»Ganz wie Sie meinen.«

»Sie haben wahrscheinlich schon von den Gerüch-273

ten gehört. Gemma plante, zurück nach England zu gehen, und die Chancen, dass ich ihre Nachfolge an-treten würde, standen gar nicht schlecht. Vorausgesetzt natürlich, Bill Dietrich und seine Leute hätten die Stelle nicht über meinen Kopf hinweg mit jemandem von außerhalb besetzt.«

»Wie sicher war es denn, dass sie gehen würde?«

fragte Mercer.

»Ganz genau wusste das keiner. Sie hat zu diesem Thema wie zu allem anderen, was sie tat, nicht viel rausgelassen. Ich weiss, dass sie nach ihrer letzten Bosnien-Reise einen Zwischenstop zu Hause in London eingelegt hatte. Von Freunden an der Universität habe ich gehört, dass man sie dort mit offenen Armen empfangen hätte. Wegen ihrer großen Verdienste.

Und natürlich«, fügte er mit einem verständnishei-schenden Nicken in meine Richtung an, »aufgrund der Tatsache, dass sie eine Frau war.«

»Bis wann hätte sie ihre Entscheidung fällen müssen?«

»In den nächsten Wochen stehen hier eine Menge Entscheidungen an. Bis zum fünfzehnten April, um genau zu sein. Bis zu diesem Datum muss die Fakultät die Personalverträge für den kommenden Herbst gemacht haben, und bis dahin entscheiden wir, welche Studenten an der neurochirurgischen Facharztausbildung teilnehmen dürfen. Genaueres darüber erfahren Sie von Dietrich; seine Abteilung ist verantwortlich für alle administrativen Entscheidungen.«

»Ja, wir haben bereits …«

274

»Allerdings sollten Sie das, was er sagt, mit Vorsicht genießen. Er hatte eine Schwäche für Gemma –

auch noch nachdem sie sich vor ein paar Monaten getrennt hatten.«

Wir waren zu abgebrüht, um uns von dieser Bombe zu einer Reaktion oder einem Kommentar verlei-ten zu lassen.

Ohne mit der Wimper zu zucken, stellte Mike Spector die nächste Frage. »Also werden Sie im nächsten Monat voraussichtlich die Leitung der Abteilung übernehmen. Wie wird sich dadurch Ihr Leben verändern, Doc?«

»Wenn Sie mir diese Frage als einem potentiellen Verdächtigen stellen, Mr. Chapman, muss ich Ihnen antworten: So gut wie gar nicht.«

»Gehaltsmäßig?«

»Keine Veränderung. Sollte ich mir eines Tages ei-ne Privatpraxis zulegen, kann ich höhere Honorare verlangen, aber hier im Krankenhaus wirkt sich die Beförderung finanziell nicht aus. Hier geht’s nur um den Titel und ums Prestige.«

»Aber Sie wollen den Job, oder etwa nicht?«

»Natürlich. Ich wäre verrückt, wenn ich ihn nicht wollte. Schauen Sie, ich will offen zu Ihnen sein: Schon jetzt betrachten viele diese Abteilung als meine Abteilung. Dogen hat sich immer mehr zurückgezogen, hat sich vom Tagesgeschäft entfernt, weil sie die meiste Zeit in irgendwelchen Dritte-Welt-Ländern unterwegs war. Wenn von der Neurochirurgie des Mid-Manhattan die Rede ist, dann meint man Bob 275

Spectors Abteilung – ganz gleich, ob die heilige Gemma noch hier ist oder nicht. Das ist einfach so.«

»Wie viele Neurologen haben Sie …«

»Falsch, Mr. Chapman. Neurochirurgen, nicht Neurologen.« Spector schleuderte Mike diesen Einspruch entgegen, als sei die Unterscheidung zwischen Neurochirurgen und Neurologen wichtiger als die Frage, ob Gemma lebte oder tot war.

»Tut mir leid, Doc, ich habe die Begriffe bisher gleichbedeutend benutzt. Könnten Sie mich über den Unterschied aufklären?«

»Der Unterschied besteht in etwa einer halben Million Dollar pro Jahr, das ist alles«, antwortete Spector lachend. »Nein, im Ernst, Chapman, wir sind die Jungs mit Säge und Faden. Wir operieren, die Neurologen nicht.«

»Und warum, glauben Sie, wollte Gemma nach diesem Semester das Mid-Manhattan verlassen?«

»Ich glaube es nicht, ich weiß es. Die meisten von uns leben vom Entfernen von Gehirntumoren und von operativen Eingriffen an den Bandscheiben. Manche betreiben ergänzend zu ihrem chirurgischem Handwerk Studien auf dem Gebiet unterschiedlicher Erkrankungen – ich beispielsweise erforsche die Huntington-Krankheit. Gemma hat sich in diesem Punkt ursprünglich nicht von uns unterschieden, aber irgendwann begann sie, sich für Traumata, sprich Gehirnverletzungen, zu interessieren. Das war bereits hier in New York – all die Schußverletzungen und Autounfälle, Sie verstehen? In London sind ihr wahr-276

scheinlich nicht so viele Opfer von Schießereien über den Weg gelaufen. Und kaum hatte sie ihr Interesse für Traumata entdeckt, reiste sie von einem Kriegsgebiet zum nächsten. Sie musste nur von einem Gemetzel in irgendeinem Land mit unaussprechlichem Namen hören, das vor zehn Jahren noch gar nicht exis-tierte, schon saß sie im Flugzeug.«

»Wäre es ihr nicht möglich gewesen, weiterhin am Mid-Manhattan zu bleiben und trotzdem ihr Steckenpferd zu betreiben? Hört sich doch sehr nobel an, oder? Hätte nicht der Ruf des Krankenhauses von ihrem Engagement profitiert?« warf Mercer ein.

»Trauma-Behandlungen bringen leider nichts ein, denn die meisten der bedauernswerten Bürgerkriegs-opfer haben keine Krankenversicherung. Es mag sich krass anhören, aber ich bringe dem Krankenhaus mit meiner Arbeit in kurzer Zeit viel mehr Geld in die Kasse, als Gemma es mit ihren Wohltätigkeiten in hundert Jahren vermocht hätte. Die Trauma-Behandlung existiert für die meisten Neurochirurgen nur am Rande. Und davon abgesehen praktiziert der beste Neuro-Trauma-Experte der Welt hier in New York.

Sein Name ist Jam Ghajar. Er ist schon jetzt der führende Mann auf diesem Gebiet und hat seinen Zenit noch lange nicht erreicht. Er ist wesentlich jünger als Gemma und viel extrovertierter. Ich kann mir vorstellen, dass sie deshalb in dieser Stadt keine Zukunft mehr für sich gesehen hat. Das hat wahrscheinlich ihr Heimweh nur noch größer gemacht.«

Spectors Verhalten bewegte sich auf einem ex-277

trem schmalen Grad zwischen Offenheit und Groß-

spurigkeit.

Chapman versuchte, das Gespräch zurück auf Dogens gesellschaftliches Leben zu bringen. »Was wissen Sie sonst noch über ihre Beziehung zu Bill Dietrich, Doc?«

»Zuerst einmal, dass ich darüber gar nichts hätte wissen dürfen. Ich habe Geoffrey, ihren Ex-Mann, in den letzten Jahren recht häufig getroffen – mal hier, mal dort, auf Konferenzen und Kongressen. Ich glaube, ihm ging es nach der Scheidung besser als zuvor –

seine zweite Frau ist ein offener, herzlicher Mensch.

Gemma hat mich nie besonders gereizt, besonders nicht sexuell. Mit ihr ins Bett zu gehen, habe ich mir immer so ähnlich vorgestellt wie – bitte entschuldigen Sie, Miss Cooper – seine Weichteile in einen Schraub-stock zu klemmen. Aber viele andere Männer hier schienen das anders zu sehen. Dietrich kann Ihnen genauer als ich über ihre Namen Auskunft geben.

Soweit ich weiß, wollte er sie sogar heiraten – er betrachtete es als so ‘ne Art Mega-Gehaltserhöhung.

Auf diese Weise hätte er sich ein nettes Polster verschafft und seiner Liebe zu Oldtimer-Automobilen frönen können.«

»Zu Beginn unseres Gesprächs preisen Sie in einer begeisterten Rede Gemma Dogens Eigenschaften, und jetzt ziehen Sie plötzlich über sie her. Aber Tatsache ist doch, Doctor, dass Sie Ihnen an dem Morgen, an dem ihre Leiche gefunden wurde, bei einer Operation assistieren sollte. Ist das richtig?«

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»Über ihre fachlichen Qualitäten besteht gar kein Zweifel«, erwiderte Spector. »Mit ihr an der Seite fühlte ich mich im OP absolut sicher. Deshalb habe ich sie häufig gebeten, mir zu assistieren. Aber au-

ßerhalb des OPs reagierte ich allergisch auf sie. Sie ging sowohl mit den Studenten als auch mit den Kollegen überkritisch ins Gericht. Sie hat zweifelsohne Großes für dieses Krankenhaus und diese Universität getan, aber es war an der Zeit, dass sie sich verabschiedete. Ich will gar keinen Hehl daraus machen: Ich konnte es kaum erwarten, dass sie endlich ging –

allerdings hätte ich sie lieber in der Concorde anstatt in einer Zinkwanne gesehen.«

Spector hatte uns nichts mehr zu sagen. Er erhob sich und teilte uns mit, er werde zu einer Besprechung erwartet.

Erst als sich die Türen des Aufzugs hinter uns geschlossen hatten, ergriff Mike das Wort. »Ich kann’s nicht glauben: Bill Dietrich. Bei der bloßen Vorstellung, wie morgens sein Bettlaken aussieht, wird mir schlecht: Pomade, Bräunungsmittel und all so ein Zeug. Der Mann hätte sich besser mit der Besitzerin eines Waschsalons eingelassen. Was wollte Dogen mit so einem Lackaffen?«

»Schwer zu sagen. Wie fandet ihr Spector?«

»Naja, er hat mit offenen Karten gespielt. Er schien ziemlich geradeheraus – nach dem Motto: Angriff ist die beste Verteidigung.«

Auf der Fahrt ins New York Hospital gingen wir gemeinsam jede seiner Äußerungen durch. Der Si-279

cherheitsbeamte am Haupteingang erklärte uns den Weg zu Dr. Babsons Büro.

Auf mein Klopfen hin öffnete uns eine zierliche Frau um die fünfzig mit schulterlangem braunen Haar und sanften haselnussbraunen Augen.

»Ich bin Gig Babson. Katherine, um korrekt zu sein. Bitte kommen Sie rein.«

Ich war gespannt auf eine Beschreibung von Gemma Dogen aus weiblicher Sicht. Während Mercer uns vorstellte, warf ich einen kurzen Blick auf die Diplome an der Wand – Vassar College ‘69 und Harvard Medical School ‘73.

Gig Babson berichtete, wie sie Gemma Dogen ken-nengelernt hatte. »Es war erst vor drei Jahren. Wir haben uns bei der Arbeit kennen gelernt. Wir waren beide im selben Ärzteteam – es ging um die Trauma-Behandlung der kleinen Vanessa, vielleicht erinnern Sie sich?«

Natürlich erinnerten wir uns. Die Geschichte hatte keinen Menschen in New York unberührt gelassen.

Bei dem Absturz eines Privatjets auf dem La Guardia-Flughafen waren acht Erwachsene ums Leben gekommen; einzige Überlebende war die damals vier-jährige Vanessa, die aus dem Flugzeugwrack ge-schleudert worden und so dem Flammentod entkommen war, aber sechzehn Wochen im Koma lag. Ihre Verwandten hatten gefordert, die lebenserhaltenden Maschinen abzuschalten, da anscheinend keine Hoffnung mehr auf eine Heilung der schweren Hirnverletzungen bestand.

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Doch ein aus Neurochirugen bestehendes Spezial-team – an einzelne Namen konnte ich mich nicht mehr erinnern – hatte so etwas wie ein medizinisches Wunder erreicht. Das Mädchen erwachte aus dem Koma und erlangte innerhalb weniger Monate ihre geistigen Fähigkeiten vollständig wieder. Das Bild von dem lächelnden Mädchen auf den Treppen des Mid-Manhattan, umringt von dem Ärzteteam, das ihm ein neues Leben geschenkt hatte, war allen, die es gesehen hatten, im Gedächtnis geblieben.

»Gemma war auf ihrem Gebiet einfach brillant. Sie war es, die Vanessas Leben gerettet hat. Sie entdeckte die Quetschung der vorderen Großhirnrinde, die ein massives Blutgerinsel verursacht hatte. Während wir anderen angesichts der Risiken einer Operation noch zögerten, krempelte Gemma die Ärmel hoch und entfernte den Bluterguss – mutig, ruhig und tadellos.

Ohne Gemma wäre das Mädchen ein Pflegefall geblieben.«

»Wenn ich das höre, Doctor«, warf ich ein, »frage ich mich, warum jemand ein Interesse daran hatte, sie zu töten.«

»Glauben Sie wirklich, der Täter hat es gezielt auf Gemma abgesehen? Ich meine, ist sie nicht vielmehr zufällig einem Obdachlosen oder einem Einbrecher zum Opfer gefallen? An einen gezielten Mord habe ich bisher noch gar nicht gedacht. Wissen Sie, wir haben ihr immer wieder gesagt, dass sie verrückt sein müsse, nachts zu arbeiten, aber wir befürchteten na-türlich, dass ihr auf dem Weg etwas zustoßen könne, 281

nicht im Krankenhaus selbst. Aber sie ließ sich nicht beirren. Sie brauchte nicht viel Schlaf, und es war für sie das Normalste der Welt, nachts zu arbeiten und erst gegen drei Uhr morgens nach Hause zu gehen.

Dann schlief sie ein paar Stunden, und noch vor Sonnenaufgang ging sie zum Joggen. Wenn man Gemma nur ein bisschen kannte, wusste man, wo und wann man sie im Minuit antraf.«

»Was wussten Sie über Ihre Pläne, New York zu verlassen?«

»Nicht viel, außer dass sie darüber nachdachte.

Noch nichts Endgültiges, aber sie wollte weg vom Mid-Manhattan.«

»Gab es dort nicht genügend Arbeit in Sachen Trauma?«

Babson starrte mich ungläubig an. »Machen Sie Scherze? In New York nicht genügend Arbeit auf dem Gebiet Trauma?«

»Nun, Dr. Spector hat uns erzählt …«

»Vergessen Sie, was Spector sagt. In beruflichen Dingen vertraute sie sich nur einem Menschen an –

und das war Geoffrey Dogen, ihr Ex-Mann. Nicht einmal mir hätte sie Einzelheiten erzählt.«

»Warum nicht?«

»Sie wollte mich da nicht reinziehen. Sie versuchte, mich aus den politischen Grabenkämpfen mit der Verwaltung rauszuhalten. Ich bin ein paar Jahre jünger als sie, und sie wollte nicht, dass meine Karriere ähnlich entgleiste wie die ihre.«

Wallace, Chapman und ich waren verwirrt. Um 282

welche Grabenkämpfe ging es? Offensichtlich nicht um das, wovon uns Spector berichtet hatte.

»Warum die Entgleisung?«

»Ihnen ist wahrscheinlich bekannt, dass sie einiges wusste und auspacken wollte. Bill Dietrich hat Ihnen sicher davon erzählt.«

»Um ehrlich zu sein«, bemerkte ich erstaunt, »hat uns noch niemand davon berichtet. Auch wir sind davon ausgegangen, dass der Mord an ihr ein zufälliges Verbrechen war, Dr. Babson. Wissen Sie, wer Gemma bedroht hat?«

»Bedroht? Nein, davon hat sie mir gegenüber nie etwas erwähnt. Aber wenn sie ihren Posten abgege-ben hätte, hätte sie einige offene Worte gesprochen, das kann ich Ihnen versichern. Sie wäre niemals in einer Nacht-und-Nebel-Aktion verschwunden.«

»Nun, und worüber wollte sie auspacken?«

»Das weiß ich nicht genau. Es ging wohl um ethische Fragen und hatte eher mit dem Minuit, also der Universität, als mit dem Krankenhaus zu tun. Sie wollte alle anderen auf die Maßstäbe verpflichten, die sie bei sich selbst angelegt hatte. Das ist eine schwere Bürde – manche würden es als unerträglich bezeichnen. Es gab da mal einen Medizinstudenten von der Westküste, der sich um die Teilnahme an Gemmas neurochirurgischer Facharztausbildung beworben hatte. Irgendjemand hat sie darauf aufmerksam gemacht, dass er in seiner Bewerbung unrichtige Angaben gemacht hatte – seinen Lebenslauf frisiert hatte oder etwas Ähnliches. Sie lehnte seine Bewerbung ab, ob-283

wohl einige ihrer Kollegen ihn haben wollten. Solche Dinge trieben sie zur Weißglut. Immer wenn so etwas publik wurde, versuchten die anderen, sie mundtot zu machen. Sie wollten nicht, dass in der Öffentlichkeit schmutzige Wäsche gewaschen wurde. Das schädige den Ruf des Krankenhauses, vertreibe die Patienten und so weiter. Aber wenn sie einmal in Fahrt war, konnte man sie kaum mehr stoppen.«

Das schrille Geräusch eines Pagers unterbrach ihre Worte. Alle vier griffen wir an unsere Gürtel, dann sahen wir uns an und mussten lachen.

»Was haben wir eigentlich getan, bevor diese Dinger erfunden wurden?« fragte Gig Babson. Es war ihr Pager gewesen, der sich gemeldet hatte. Sie griff zum Telefon.

»Können wir Schluß machen?« fragte sie. »Ich muss runter in den OP. Auf der Second Avenue ist ein Bus außer Kontrolle geraten und hat den Gehsteig gerammt. Gleich werden einige verletzte Passanten eingeliefert, und ich muss mich einsatzbereit halten.«

»Nach unserem Gespräch mit Bill Dietrich würde ich mich gerne noch einmal mit Ihnen unterhalten, Dr. Babson.«

»Natürlich, gern. Rufen Sie mich vorher kurz an.«

Babson führte uns zur Tür. »Können Sie uns etwas über die Beziehung zwischen Gemma Dogen und Bill Dietrich sagen?« fragte ich, als wir den Raum verlie-

ßen. »Ich meine, Ihre persönliche Einschätzung.«

»Ich war froh, als sie die Sache beendet hatte. Ich habe ihm nie vertraut, wirklich nicht. Irgendwie kam 284

er mir immer schmierig vor. Aber sie war einsam, und seine Aufmerksamkeit schmeichelte ihr. Er war ganz verrückt nach ihr. Aber nachdem die Geschichte zu Ende war, hat sie nicht mehr viel über ihn gesprochen. In ihren jüngsten Auseinandersetzungen schienen sie immer gegensätzlichere Positionen zu vertreten. Er ist ein Schmarotzer. Ich habe wirklich keine Ahnung, was sie an ihm gefunden hat, ich habe sie auch nie danach gefragt.«

Ich rief den Aufzug, während Babson die Metalltür zum Treppenhaus öffnete. Mercer wollte noch eine letzte Frage loswerden. »Haben Sie Gemma Dogen jemals zu einem Spiel begleitet?«

»Wie bitte?«

»War sie Sport-Fan? Baseball? Oder Football?«

»Gemma war selbst eine hervorragende Sportlerin.

Sie liebte physische Herausforderungen. Laufen, Ka-jakfahren, Ski – all solche Dinge, die ich als Zeitverschwendung betrachte. Nein, ich habe nie ein Spiel mit ihr besucht. Und ich kann mich nicht erinnern, dass Gemma jemals eines erwähnt hätte. Einmal im Jahr gehe ich zum Hot-Dog-Essen ins Yankee-Stadion, das ist aber auch schon alles. Über diese Seite ihres Lebens kann ich Ihnen nichts sagen, tut mir leid.«

Bevor der Aufzug ankam, war Dr. Babson bereits im Treppenhaus verschwunden. Kurz nach fünf verließen wir das Krankenhaus.

»Wohin?«

»Was haltet ihr zur Abwechslung von einem netten, selbstgekochten Essen?« fragte Mercer.

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»Mein Kühlschrank ist leider leer, Jungs.«

»Macht nichts, wir gehen einkaufen. Mike und ich kochen. Alles, was du tun musst, ist, danach das Geschirr in die Spülmaschine zu räumen.«

»Einverstanden.«

Wir waren nur ein paar Blocks von meinem Apartment entfernt. Ich wartete im Wagen, während Mike und Mercer im Supermarkt verschwanden. Zehn Minuten später tauchten sie mit Tüten beladen wieder auf.

»Also, es gibt Salat, Hühnchenbrustfilets in Senf-sauce nach dem Rezept meiner Mutter und dazu sau-tierte Stangenbohnen.«

»Mit Knoblauch«, ergänzte Mike. »Ist das für dich ein Problem? In Sachen Liebesleben, meine ich.«

»Er ist derzeit nicht in der Stadt, Mickey. Also los.«

Wir parkten in der Third Avenue und liefen zu mir. Anstelle von Zacs Leine fand ich auf dem Tisch-chen in der Diele einen Blumenstrauß und eine kurze Notiz von Davids Zugehfrau vor, die Zac abgeholt hatte.

Mike und Mercer machten sich in der Küche an die Arbeit, während ich in meine bequemen Leggings schlüpfte und den Anrufbeantworter abhörte: eine Nachricht von Drew, der erfolglos versucht hatte, mich im Büro zu erreichen, ein Anruf von meiner Mutter, die mich an den Geburtstag meiner Schwägerin erinnerte, und ein kurzes Hallo von Nina, die in einem Stau auf dem Santa Monica Freeway steckte.

Dann beobachtete ich die beiden Köche bei der Ar-286

beit. Mikes Sakko und Mercers Jacke lagen auf dem Wohnzimmersofa, die Krawatten steckten zusammengerollt in den Taschen. »Wir sind so weit«, verkündete Mercer schließlich. »Lasst uns vor dem Essen noch die Nachrichten sehen, okay?«

Wir gingen rüber ins Wohnzimmer und genehmigten uns einen Aperitif, während wir auf die 18-Uhr-30-Nachrichten warteten. Mike rief Peterson an, um ihm von den beiden Gesprächen zu berichten und zu hören, was der Rest des Teams herausgefunden hatte; doch es gab keine großen Neuigkeiten – die Detectives hatten weiter alle Gänge der unterirdischen Katakomben durchkämmt, sich mit den Bewohnern unterhalten und nach Spuren gesucht.

Mike legte auf und blickte uns an. »Peterson will wissen, zu welchen Schluss wir nach dem heutigen Tag gekommen sind. Ich hab’ ihm gesagt, dass wir noch keine Gelegenheit hatten, uns darüber zu unterhalten.«

»Diese Frage ist mir den ganzen Nachmittag im Kopf herumgegangen – was denke ich? Ich bin inzwischen davon überzeugt, dass wir von Anfang an schiefgelegen haben. Und zwar von dem Augenblick an, als ihr am Tatort ankamt.«

Mercer beugte sich vor und nickte nachdenklich; er ahnte, worauf ich hinauswollte.

»Ich will damit sagen, dass ihr genau das gesehen habt, was der Mörder wollte, dass ihr seht: einen Sexualmord. Ein Opfer, das im Kampf gegen seinen Vergewaltiger den kürzeren gezogen hat. Die Tat ei-287

nes Gestörten, der mitten in der Nacht ganz zufällig auf diese Frau trifft, die jede andere hätte sein können. Und genau daran glaube ich nicht mehr.«

Mike schaltete den Ton des Fernsehers ab und starrte mich an.

»Gemma Dogen ist einem ganz gewöhnlichen Mord zum Opfer gefallen«, fuhr ich fort. »Der Mörder hat seine Tat als Sexualverbrechen getarnt, damit wir nach jemandem suchen, der in keinerlei Verbindung zum Opfer steht. Nach jemandem wie Pops oder Can Man. Und von solchen wimmelt’s im Mid-Manhattan nur so. Der Mörder hat sie kühl berech-nend getötet, ihr die Strumpfhose ausgezogen und ihren Rock hochgeschoben. Ich glaube nicht, dass jemand wirklich versucht hat, sie zu vergewaltigen. Im Gegenteil: Eine sexuelle Beziehung mit Dr. Dogen ist wahrscheinlich das Letzte, woran der Mörder Interesse hatte.«

»Vielleicht war mein Wunsch, dich bei diesem Fall dabeizuhaben, so stark, dass ich gar nichts anderes als ein Sexualverbrechen in Betracht gezogen habe«, bemerkte Mike.

»Ist das Ganze nicht logisch? Der Mörder arrangiert die Leiche so, dass alles auf eine Vergewaltigung hindeutet – oder zumindest auf den Versuch einer Vergewaltigung. Aber es gibt keinerlei Spuren von Sperma, keine der Verletzungen ist typisch für ein solches Verbrechen, nicht einmal ein einziges Schamhaar des Täters wird gefunden. Ich wette, dass der Mörder an alles andere als Vergewaltigung gedacht 288

hat. Je mehr wir über Gemma Dogen wissen, desto mehr komme ich zu der Überzeugung, dass sie aus anderen Gründen umgebracht wurde und der Mörder uns ganz gezielt in die falsche Richtung lockt.«

»Dann ist es also pure Zeitverschwendung, durch die Katakomben zu laufen und die Penner zu befragen.

Der Mörder ist nicht umnachtet, sondern bei vollem Verstand – wie die Jungs in den teuren Anzügen und in den weißen Kitteln«, fasste Mike zusammen.

»Es ist so, wie Spector gesagt hat«, entgegnete Mercer. »Die Ärzte werden allmählich paranoid, weil du die Ermittlungen führst.«

»Das ist doch Unsinn. Sie werden kaum jemanden finden, der mehr Respekt vor Ärzten hat als ich. Die beiden Männer, die ich in meinem Leben am meisten geliebt habe«, antwortete ich und dachte dabei an meinen Vater und Adam, meinen tödlich verunglückten Verlobten, »waren Ärzte – die engagiertesten, herz-lichsten Menschen, die man sich vorstellen kann.«

»Es hat ja niemand behauptet, der Mörder sei unter den Ärzten zu suchen«, wandte Mike ein. »Aber es ist ziemlich wahrscheinlich, dass er Dogen gut gekannt hat – ihre Gewohnheiten, ihren Tagesablauf.«

»Den morgigen Tag werden wir wohl im Mid-Manhattan verbringen«, schlug Mercer vor. »Weiß der Ex-Mann eigentlich schon Bescheid?«

»Ja. Der Lieutenant hat heute Nachmittag in London angerufen und ihm die Nachricht mitgeteilt. Er war tief getroffen und schockiert. Er sagte, es sei, als habe er seinen besten Freund verloren.«

289

»Ich hoffe, dass er in die Staaten rüberkommt und uns für Vernehmungen zur Verfügung steht. Ich wette, er kann Licht ins Dunkel bringen.«

Wir diskutierten noch eine Weile, sprachen über die Zeugen und überlegten, wen wir im Lauf der Woche noch vernehmen mussten.

Als auf dem Bildschirm der Vorspann von »Jeopardy« erschien, schaltete Mike den Ton wieder ein.

Mercer rief derweil Maureen an, um zu hören, wie es ihr ging. Dann reichte er den Hörer an uns weiter.

Sie berichtete, dass sie eine Visite von John DuPre gehabt habe. »Ist das nicht einer von den beiden, die Pops im Röntgenraum aufgestöbert haben? Ich musste mich schwer beherrschen, ihn nicht um einen persönlichen Untersuchungstermin zu bitten. Sag bloß, dir gefällt er nicht, Alex? Also ich finde ihn toll.«

»Ich verrat dir morgen, wie ich ihn finde. Mike will, dass wir ihn noch einmal befragen. Denk dran, Mo, wir haben deinem Mann versprochen, keinen Arzt an dich ranzulassen, also beherrsch dich.«

»Was soll eine einsame Frau denn hier sonst tun?

Die einzige Neuigkeit, die ich heute erfahren habe, stammt von meiner Zimmernachbarin. Sie sagt, ihr Internist habe behauptet, Gemma hätte ‘ne Schwäche für junge Männer gehabt.«

»Wie jung? Hat sie Namen genannt?«

»Nun, die Dame, die mir diese Geschichte erzählt hat, ist zweiundachtzig. Ich schätze, jeder Sechzigjährige ist für sie ein Jüngling. Nein, Namen hat sie nicht genannt.«

290

»Sarah kommt dich morgen besuchen. Während wir sprechen, werde ich übrigens von meinen beiden Musketieren bekocht und bedient.«

»Mach mich nicht neidisch. Ruf mich später noch einmal an.«

Das Quiz steuerte seinem Höhepunkt entgegen; der blinde Kandidat, ein Linguist aus Tampa, führte mit einem Vorsprung von viertausend Dollar vor seinen beiden Kontrahenten. »Die heutige Preisfrage«, verkündete Trebek, »kommt aus dem Bereich Kunst.

Nach einer kurzen Werbepause sind wir wieder da, bitte bleiben Sie dran.«

Mike konnte es nicht fassen. »Wie kann man einem Blinden eine Frage über Kunst stellten? Das ist doch eine Unverschämtheit, eine Diskriminierung, das ist …«

»Und am allerschlimmsten ist, dass du keine Ahnung von Kunst hast, Detective Chapman, stimmt’s?«

»Ich setze fünf Dollar, Coop.«

»Tut mir leid, Chapman, unter zehn Dollar geht hier gar nichts. Ich schlage fünfzig vor, will schießlich mein Geld wieder.«

Mercer fungierte wie gewöhnlich als Unparteii-scher. »Zehn Dollar, und die Wette gilt.«

Unter den Blicken seiner gespannten Kandidaten verlas Trebek die Frage: »Niederländischer Maler des siebzehnten Jahrhunderts, der für seine Miniaturen von reichen Bürgern bekannt war. Sein bekanntestes Werk heißt Der Friede von Münster. «

Während die Uhr tickte, bezweifelte Mike knur-291

rend, dass auch nur einer der Kandidaten die Antwort auf solch eine merkwürdige Frage wusste.

»Tut mir leid, Mr. Kaiser«, beschied Trebek dem ersten Kandidaten. »Frans Hals war ein Jahrhundert früher.«

»Soll ich’s dir verraten, bevor er es sagt, damit du mir auch glaubst, dass ich es weiß?« fragte ich Chapman, als der zweite Kandidat mit Rembrandt dane-benlag.

»Siehst du, Mercer? Das ist der Quatsch, den man in den teuren Privatschulen lernt. Und deshalb sind die, die da rauskommen, auch so arrogant. Also schieß los, Blondie, wie heißt der Knabe?«

»Wer war Gerard Terborch?« antwortete ich und erfüllte mit der Frageform eine der grundlegenden Regeln dieses Quiz.

Trebek richtete gerade den Linguisten aus Tampa wieder auf, der keinen blassen Schimmer hatte und dessen Blindenschrift-Antworttafel leer geblieben war.

»Kaum zu glauben, was für nutzloses Zeug ihr im College gelernt habt. Erstaunlich, dass du damit ‘nen Job bekommen hast.«

»Den hab’ ich ja auch nicht dort gelernt«, parierte ich, während Mercer noch auf die korrekte Auflösung der Frage wartete. Dann schaltete er den Fernsehapparat aus und legte Rod Stewart in Concert auf.

»Ich weiß, ich weiß. Dein alter Herr hat wahrscheinlich den Schinken an der Wand hängen, hab’

ich Recht? Meine Mutter hat in jedem Zimmer ‘nen 292

Norman Rockwell; die gab’s 1952 als Serie auf der Titelseite der Saturday Evening Post. Wenn du wirklich unser Kumpel wärst, Coop, würdest den kleinen Scheißer, den Terborch meine ich, verkaufen, und wir könnten uns ein flottes Leben machen. Kommt, lasst uns jetzt essen.«

Gemeinsam trugen wir das Essen auf. Ich zündete die Kerzen an, nahm zwischen den beiden Platz und war dankbar für den netten Abend, der mich von unseren Problemen bei den Ermittlungen ablenkte.

Ich schob die Sardellen an den Tellerrand und führ-te die erste Gabel zum Mund. Ich hatte Gemma Dogen völlig vergessen – bis Rod Stewart mich mit seiner heiseren Stimme wieder an sie erinnerte: The First Cut is the Deepest. Schnitte, Wunden, Blut, Tatort – ich hatte vergessen, meine Buchstabenliste mit den Blutflecken auf dem Teppich zu vergleichen.

18

Als ich am Dienstagmorgen um acht in mein Büro kam, erwartete mich eine Nachricht von Rose Malone auf meinem Anrufbeantworter. »Hallo Alex, Mr. Battaglia hat mich aus dem Auto angerufen. Er hat um neun ‘ne Besprechung mit dem Polizeichef und will Sie gleich danach sprechen. Ich sollte versuchen, Sie zu erreichen, bevor Sie wegen Ihrer Termine das Haus wieder verlassen.«

Komm schon, Rose, gute oder schlechte Nachrichten? Aber ihre Stimme klang geschäftsmäßig wie immer und verriet nichts.

Die erste Stunde verbrachte ich am PC und erledigte meine Korrespondenz. Dann kam Rod Squires vorbei, um sich über den Verlauf der Ermittlungen zu erkundigen und mir von dem neuen Job seiner Frau zu berichten.

Eigentlicher Grund seines Besuchs unter Kollegen war die Tatsache, dass er mitbekommen hatte, wie Patrick McKinney hinter meinem Rücken mal wieder das Messer gegen mich wetzte. Rod hatte zufällig ge-hört, wie Pat McKinney Battaglia erzählt hatte, dass ein paar Detectives – und zwar die, die immer noch glaubten, der Täter sei unter Pops, Can Man und de-resgleichen zu suchen – der Meinung seien, ich setze dem medizinischen Personal des Mid-Manhattan und des Minuit allzusehr zu.

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»Verdammt noch mal. Das ist wahrscheinlich der Grund, weshalb mich der Chef sprechen will. Ich veranstalte ihm zu viel Wirbel im Krankenhaus, und der Verwaltungsrat – natürlich einschließlich Mrs. B. –

hat beantragt, dass mir der Fall entzogen wird. Soll ich mich direkt in der Stuyvesant-Psychiatrie in die Zwangsjacke begeben, oder unterstützt du mich, wenn ich gegen McKinney zurückfeure?«

»Natürlich kannst du auf mich zählen, Alex. Aber du solltest dich langsam daran gewöhnt haben, dass sich gewisse Dinge nie ändern – Pat wird dich immer auf dem Kieker haben.«

Rod hatte mich schon in meinen ersten Tagen bei der Staatsanwaltschaft unter seine Fittiche genommen, und ich war ihm für seine Loyalität ausgesprochen dankbar. Ich konnte mich felsenfest darauf verlassen, dass er mich vor Schlingen und Fallstricken jeder Art warnte, wenn ich selbst zu beschäftigt war, um darauf zu achten.

Laura war noch nicht da, also ging ich selbst ans Telefon. Der dritte Anruf kam von Drew.

»Guten Morgen, und ich meine wirklich Morgen.

Hier ist’s nämlich erst sechs. Störe ich dich bei der Arbeit?«

»Nein, perfektes Timing. Mein Kollege hat sich gerade verabschiedet, und die Kunden stehen noch nicht Schlange.«

»Ich ziehe soeben die Vorhänge zurück und genieße den atemberaubenden Blick über die Bay, einfach traumhaft. Ich wollte dir noch ‘ne Chance ge-295

ben und dich fragen, ob du nicht doch übers Wochenende …«

»Ich kann nicht, Drew. Ich habe keine Ahnung, wie weit wir am Wochenende sind, aber auf alle Fälle stecken wir mitten drin.«

»Dann komme ich mit dem Donnerstagabendflug zurück – vorausgesetzt, du hast am Wochenende Zeit für mich. Wie wär’s mit Freitagabend?«

»Sehr gern.«

»Okay, reservier einen Tisch. Ich melde mich spä-

ter noch mal, Alex.«

Ich blätterte in meinem Zeitplaner, um mir einen Überblick über meine Termine zu verschaffen. Kein Wunder, dass sich meine Laune so dramatisch verbes-sert hatte – nicht nur ein neuer Mann, nein, auch ein neuer Monat.

Laura brachte mir einen Kaffee und ein Stück selbstgebackenen Kuchen. »Essen Sie den«, sagte sie und stellte den Teller vor mir ab. »Kommt nicht allzu oft vor, dass Sie den Tag mit ‘nem richtig guten Frühstück beginnen. Patti hat angerufen. Sie war im ECAB« – im Early Case Assessment Bureau, der Stelle, bei der täglich alle Festnahmen zusammenliefen, die zwischen acht Uhr morgens und Mitternacht stattgefunden hatten. »Sie hat ‘nen Fall, der Sie interessieren könnte; sie ist schon unterwegs zu Ihnen, zusammen mit dem Cop. Außerdem hat Ihr Zahnarzt angerufen. Soll ich den Termin zur Zahnreinigung am nächsten Montag bestätigen?«

»Ja, bitte. Ich kümmere mich um Patti.«

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Ein paar Minuten später erschien Chapman in Begleitung von Mickey Diamond, der auf seinem täglichen Gang zur Presseabteilung mal hier, mal dort reinschaute. Der schlanke, große Reporter mit dem weißen Haar und der abgeschabten Lederjacke war schon so etwas wie eine Legende. Ich versuchte, ihn zügig abzufertigen, so dass er nicht gleich mitbekam, dass es einen neuen Fall gab, und ich war sicher, er merkte, dass ich ihn schnell loswerden wollte.

Kaum hatte Mickey mein Büro verlassen, erschien bereits Patti Rinaldi, eine langjährige Mitarbeiterin meiner Abteilung. Sie war intelligent, nett, schlank, etwa so groß wie ich und hatte dunkles, gelocktes Haar. Im Schlepptau hatte sie Police Officer Kerrigan, den ich noch nicht kannte; während sie eintraten, verzog sich Chapman in die hintere Ecke meines Büros und blätterte sich durch die Sensationspresse.

»Bis jetzt kamen heute zwei neue Fälle. Beim ersten handelt es sich um eine gewöhnliche Vergewaltigung –

kein Problem. Ich trage ihn morgen der Grand Jury vor; die Zeugin ist sehr glaubhaft, Studentin an der New York University. Aber der andere Fall ist irgendwie verrückt, und ich dachte, du und der Boss, ihr solltet darüber Bescheid wissen. Der Name des Beschul-digten lautet Fred Werblin. Schon mal gehört?«

»Nein«, erwiderte ich kopfschüttelnd, »sollte ich?«

Kerrigan kicherte. Mit breitem irischen Akzent und ebenso breitem Grinsen teilte er mir seine Neuigkeit mit. »Er ist Rabbi, Miss Cooper. Können Sie sich das vorstellen? Ein Rabbi, der Frauen vergewaltigt?«

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»Langsam, Brian«, warnte Chapman ihn. »Miss Cooper ist Jüdin.«

»Oh«, war sein überraschter Kommentar. »Das hab’ ich nicht gewusst, wirklich nicht. Der Name hört sich gar nicht so an, oder?«

»Ellis Island macht’s möglich«, erwiderte Chapman. »Irgendein Einwanderungsbeamter hat den Namen deines Opas drastisch verkürzt, stimmt’s, Coop?«

»War auch nicht so gemeint«, wiegelte Kerrigan ab.

»Es ist nur, weil … ach, die Zeitungen haben in der letzten Woche so ein Trara um die Verurteilung dieses Priesters in Rhode Island gemacht. Der, der die kleinen Jungs belästigt hat. Schlimme Sache für die Kirche. Irgendwie fand ich’s beruhigend zu hören, dass das nicht nur bei uns passiert. Ich wollte Sie wirklich nicht be-leidigen, Miss Cooper.«

»So hab’ ich’s auch nicht verstanden, Officer. Aber eines kann ich Ihnen versichern: Sexualstraftaten kommen überall vor. Unsere Angeklagten stammen aus allen nur möglichen ethnischen, rassischen und religiösen Gruppen, aus allen sozialen Schichten. So, und jetzt möchte ich wissen, worum es genau geht.«

»Wenn’s nicht so traurig wäre, könnte man drüber lachen«, begann Parti. »Werblin ist fünfundfünfzig und lebt in den East Sixties. Er hat keine eigene Gemeinde, sondern ist Gelehrter und Schriftsteller. Au-

ßerdem ist er manisch-depressiv.«

»Wird er behandelt?«

»Er sagt, er sei im Payne Whitney in Behandlung 298

gewesen, habe aber auf eigene Faust das Lithium ab-gesetzt. Und zwar zu dem Zeitpunkt, als die Zwischenfälle begannen.«

»Zwischenfälle? Gab es mehrere?«

»Ja. Wir haben drei Anzeigen gegen ihn vorliegen.

Von drei unterschiedlichen Damen.«

»Und was ist passiert?«

»Es gibt da einen Reinigungsservice namens ›Die Fröhlichen Elfen‹. Man ruft an und bestellt jemanden, der die Wohnung oder das Büro putzt. Werblin bestellt also eine Putzdame. Er öffnet ihr im Morgenmantel die Tür. Die Frau tritt ein und macht sich an die Arbeit. Normalerweise wartet er, bis sie in der Küche sind. Dann kommt er aus dem Schlafzimmer angeschlichen – splitterfasernackt. Er treibt sie in die Enge, begrabscht sie, befummelt sie, küsst sie. Jede der Frauen konnte sich befreien und flüchten. Der letzten ist er mit einer Gabel, so ‘ner Art Grillwerk-zeug, durch den Gang gefolgt.«

»Haben alle drei das gleiche berichtet?«

»Na ja, Miss Cooper, nicht ganz. Sehen Sie, die Frauen sind alle Ausländerinnen, Illegale. Zwei aus Osteuropa, eine aus China. Die ersten beiden haben zuerst gar nichts gesagt, sondern sich nur geweigert, noch einmal bei ihm zu arbeiten. Wahrscheinlich hatten sie Angst, ausgewiesen zu werden, wenn sie Anzeige gegen ihn erstatteten. Als dann die Dritte aus-packte, hat der Besitzer des Reinigungsservices die ersten beiden gefragt, was in der Wohnung des Rabbis vorgefallen sei. Erst dann haben sie geredet.«

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»Hast du die Frauen schon vernommen?« fragte ich, an Patti gewandt.

»Nein, Officer Kerrigan wird das für mich in die Wege leiten.«

»Gut. Ich werde Paul Battaglia gleich von dem Fall berichten. Achte bei der Vernehmung der Frauen bitte darauf, dass sie dir auch wirklich alles erzählen.«

Es passierte häufig, dass Frauen ihre Rolle als Opfer herunterspielten – besonders dann, wenn sie, aus welchen Gründen auch immer, kein Interesse daran hatten, mit der Justiz in Berührung zu kommen. Illegale befürchteten oft die Ausweisung oder Strafverfolgung und gingen nicht davon aus, dass auch sie unter den Schutz unserer Gesetze fielen.

»Wird Patti Dolmetscher brauchen, Officer?«

»Ja. Ich frage in der Agentur nach, welche Sprachen die Frauen sprechen. Können Sie die Dolmetscher anfordern?« fragte er.

»Klar.« Wir hatten eine Liste von Dolmetschern, die mehr als fünfzig unterschiedliche Sprachen und Dialekte abdeckten. Wenn die Vernehmung in der Muttersprache des jeweiligen Zeugen durchgeführt wurde, konnte man mit sehr viel genaueren und kor-rekteren Aussagen rechnen, und der Zeuge bzw. die Zeugin fühlte sich wesentlich wohler.

»Trag den Fall so schnell wie möglich der Grand Jury vor, Patti. So können wir einem Einspruch wegen geistiger Unzurechnungsfähigkeit des Täters zu-vorkommen; ich stehe dir jederzeit gerne für Fragen zur Verfügung. Danke, dass du mich so schnell in-300

formiert hast. Falls der Mann vorbestraft ist, beantrage die Erhebung einer Kaution. Und sorge bitte dafür, dass die Frauen begreifen, dass wir ihnen nichts Böses wollen.«

Als sich Patti und Kerrigan verabschiedeten, klingelte ein Telefon – Battaglia.

»Haben Sie ein paar Minuten Zeit?« fragte er.

»Bringen Sie auch Ihren Kumpel mit, falls er gerade in der Nähe ist.«

»Er will uns beide sehen, Mikey. Also los.«

Rose freute sich, uns zu sehen. »Das nächste Mal, wenn ich hier zu tun habe, lade ich Sie zum Lunch ein. Sie sind die einzige Frau, die von Jahr zu Jahr besser aussieht«, schmeichelte ihr Mike. »Der Zigarrenrauch Ihres Chefs muss Wunder wirken.«

»Gehen Sie schon rein«, sagte sie und wischte Mikes Komplimente, wie immer, mit einer vagen Geste weg. Rose hatte seit zwanzig Jahren mit Cops zu tun und wusste ganz genau, was sie von ihren Schmeiche-leien zu halten hatte. Aber immerhin konnte ich aus ihrem angedeuteten Lächeln schließen, dass Paul nicht vorhatte, mir den Fall zu entziehen.

»Setzen Sie sich«, forderte Battaglia uns auf, während er an einer noch nicht angezündeten Zigarre kaute. »Ich hab’ mich gerade mit Ihrem Boss unterhalten, Chapman. Hab’ versucht, meine Mannschaft hier zu verstärken, aber der Mann kann wirklich stur sein.«

»Darf ich fragen, wer gewonnen hat?«

Battaglias Mund verzog sich um die Zigarre herum 301

zu einem Grinsen. »Ich bin sturer als er. Im kommenden Monat bekomme ich sechs weitere Detectives. Außerdem habe ich ihn gefragt, ob wir Sie für ein paar Tage ausborgen dürfen, aber ich denke, ich frage auch Sie persönlich.«

»Stets zu Diensten, Mr. B.«

»Meine Frau hat heute Morgen um sieben einen Anruf bekommen – vom Verwaltungsratsvorsitzen-den des Mid-Manhattan. Er hat ihr mitgeteilt, dass Geoffrey Dogen ihn angerufen habe. Geoffrey ist der Ex-Mann, richtig? Er war sehr bemüht zu helfen, kann aber nicht rüberkommen, da er gerade drei Wochen im Himalaja unterwegs war und wichtige Operationen anstehen – er arbeitet an der University of London. Sie erinnern sich bestimmt, dass ich zu einem Kongress nach London eingeladen war.«

Battaglia führte ganz klar etwas im Schilde, und langsam dämmerte uns, was er vorhatte.

»Sie beide tun mir einen großen Gefallen, wenn Sie an meiner Stelle rüberfliegen. Alex kann an den Meetings teilnehmen, und Sie, Chapman, stellen Dogen die Fragen, die Sie eigentlich mir auftragen wollten.«

»Meinen Sie das ernst?«

»Der Polizeichef ist einverstanden und übernimmt die Kosten für Ihr Ticket. Zimmer und Verpflegung werden vom Kongressveranstalter getragen. Es ist nur ein 48-Stunden-Trip, aber wenn der Sie in den Ermittlungen weiterbringt, dann nichts wie los.«

»Mein Koffer ist schon so gut wie gepackt.« Chapman war begeistert.

302

»Und auch Sie, Alex, werden auf Ihre Kosten kommen. Der Kongress findet auf einem prachtvollen Landsitz etwa eine Stunde außerhalb von London statt. Cliveden. Schon mal gehört?«

»Lady Astor?« Ich wusste, dass die amerikanische Erbin Nancy Astor gegen Ende des Ersten Weltkrieges als erste Frau im Parlament einen Sitz im Unter-haus erhalten hatte und dass das so genannte ›Cliveden Set‹ ein Jahrzehnt später bekannt für sein prona-zistische Haltung war.

Chapman erinnerte sich an etwas anderes. »John Profumo, Christine Keeler, Sex-Spielchen und russi-sche Agenten?«

»Ich dachte, Sie seien zu jung, um darüber Bescheid zu wissen«, bemerkte Battaglia an Mike gewandt.

»Profumo war Verteidigungsminister, und ich bin Geschichtsfan. So einen Skandal würde ich doch nie vergessen.«

»Gut, dann ist die Sache ja geritzt. Meine Frau wird entzückt sein. So kann sie den Verwaltungsrat beruhigen und in Ruhe ihr Bild fertig malen.« Amy Battaglia war eine ausgesprochen talentierte Malerin, deren Werke in verschiedenen amerikanischen Museen zu sehen waren.

Battaglia wühlte in einem Stapel Unterlagen, förderte schließlich das Programm des Kongresses zu Tage und reichte es mir.

»Sie kennen doch Commander Creavey, nicht wahr?« erkundigte er sich.

»Ja, wir haben schon zusammengearbeitet.« Com-303

mander John Creavey war Leiter des Nachrichtendiens-tes bei Scotland Yard. Der Mann hatte die Statur eines Bären, trug eine Nickelbille und einen buschigen Schnauzbart, sprach mit einem starken Cockney-Akzent und verfügte über ein enzyklopädisches Wissen in Bezug auf alles, was mit Jack the Ripper zu tun hatte.

Vor etwa einem Jahr war Creavey zwei Wochen in New York gewesen, um sich über die Ermittlungsmethoden der Mordkommission des NYPD zu informieren.

»Er vertritt als britischer Kongressteilnehmer sein Land. Die Leitung hat Lord Windlethorne, ein Oxford-Professor, inne. Ich habe ihn noch nicht kennen gelernt. Er hält eine Rede, der Rest der Veranstaltung besteht aus Diskussionsrunden und Seminaren.«

»Creavey ist ein brillanter Ermittler, Paul. Vielleicht hat er ja auch in unserem Fall ‘ne gute Idee.«

»Sie fliegen mit American Airlines, morgen um Viertel nach sechs. Und passen Sie auf, Alex, dass Chapman nicht in irgendeinem Pub versackt. Rose organisiert alles Notwendige für Sie.«

Mike verließ den Raum, um mit Rose alles Nötige zu besprechen, während ich Battaglia über die am Vortag durchgeführten Vernehmungen und Pattis neuen Fall informierte.

Anschließend bat ich Laura, meinen Kalender durchzugehen und die für die zweite Wochenhälfe anberaumten Termine zu verschieben.

»Die Vernehmungen, die ich für Donnerstag und Freitag vereinbart hatte, können um ein paar Tage nach hinten verschoben werden, da ist nichts Eiliges 304

dabei. Sagen Sie Gayle, dass ich morgen Früh zur Ur-teilsverkündung komme. Und rufen Sie bitte Natalie an und geben Sie ihr meine Ballettkarte für Donnerstagabend. Sagen Sie ihr, dass Kathleen Moore und Gil Boggs Manon tanzen, und sie wird sie Ihnen aus der Hand reißen. Falls ein Mann namens Drew Renaud anruft, stellen Sie ihn bitte durch, ganz egal, was ich gerade tue. Es ist sehr wichtig.«

Das Letzte, womit ich gerechnet hatte, war eine Dienstreise über den großen Teich. Etwas Spannende-res als Ausflüge in die Bronx, nach Brooklyn und manchmal auch nach Albany war mir in Sachen Dienstreisen noch nicht passiert. Mike und ich flogen am Mittwochabend los und würden Samstagnachmit-tag wieder in New York landen. Schon jetzt ahnte ich, dass sich meine Beziehung zu Drew angesichts unserer beider Terminkalender ziemlich problematisch gestalten würde.

Laura stellte ein Gespräch für Mike durch. Es war David Mitchell, der aus Maureens Krankenzimmer anrief, um sich zurückzumelden und zu hören, ob es schon etwas Neues gab.

»Versuchen Sie doch mal, etwas aus Ihren Kran-kenhauskumpels herauszubekommen, Doc. Eine von Dogens Kollegen hat angedeutet, dass Gemma auf dem Kriegspfad wandelte. Irgendwelche Probleme mit der Zulassung eines Studenten zu ihrem Programm.

Seltsamerweise hat niemand vom Mid-Manhattan die Sache erwähnt. Vielleicht sind sie Ihnen gegenüber ja auskunftsfreudiger.«

305

David versprach uns, sich zu bemühen.

Mike legte den Hörer erst gar nicht auf, sondern begann, die Termine für die nächsten Vernehmungen am Minuit Medical College zu vereinbaren. Bill Dietrich erklärte sich bereit, uns sein Büro zur Verfügung zu stellen und die Ärzte, Schwestern, Praktikanten und Studenten, mit denen wir sprechen wollten, dorthin zu bestellen.

»Was für mich dabei?« erkundigte sich Mickey Diamond und verrenkte sich dabei den Hals, um einen Blick über Lauras Schulter hinweg in meinen Terminkalender zu werfen. »Dem Herausgeber hat die heutige Geschichte gefallen. Gibt’s irgendwelche Neuigkeiten?«

»Kaum zu glauben, dass Sie davon schon wissen –

die Tinte auf der Strafanzeige ist noch feucht. Haben Sie’s von uns oder von der Polizei?«

»›Der geile Rabbi‹ – Seite vier der Spätausgabe. Sie wissen doch, dass ich meine Quellen niemals preisgebe.«

»Nein, ich habe nichts Neues für Sie«, knurrte Laura. »Und versuchen Sie ja nicht, mir irgendwelche Aussagen unterzujubeln. Zu einem schwebenden Verfahren sage ich gar nichts. Haben Sie mich verstanden?«

Chapman und ich schlüpften in unsere Mäntel.

»Na, wohin des Weges?« Diamond war wirklich hartnackig. »Wieder mal die Penner besuchen, Alex?

Oder haben Sie inzwischen eine vielversprechendere Spur? Ich meine, ernstzunehmende Verdächtige?«

306

»Bitte Mike, erschieß ihn. Auf der Stelle. Wann verkrümeln Sie sich endlich, Mickey? Ist nicht bald Redaktionsschluss?«

»Nee. Ich werde Laura noch etwas Gesellschaft leisten und sehen, was ich aus ihr herausbekomme.«

Es war so gut wie unmöglich, Mickey durch Be-schimpfungen oder Beleidigungen loszuwerden; er schien immun gegen alle Arten von verbalen Angrif-fen zu sein.

Mike und ich waren in Bill Dietrichs Büro mit Mercer verabredet. Dietrich hatte dafür gesorgt, dass im Verwaltungsratszimmer ein Lunch serviert wurde, so dass wir ohne große Unterbrechung durcharbeiten konnten.

Chapman steuerte den Wagen durch die City; der warme, sonnige Tag ließ die Stürme der vergangenen Tage vergessen. »Dietrich hat angefragt, ob jemand von der Rechtsabteilung des Krankenhauses bei den Vernehmungen dabei sein darf. Ich hab’ ihm gesagt, dass du das entscheidest.«

»Abgelehnt.«

»Ahne ich den Grund, Coop?«

»Ja. Sie wollen die Klagen gegen das Krankenhaus in Grenzen halten. Denen geht die Muffe. Seit dem Mord müssen sie bei jedem Patienten, der irgendeine Beschwerde über das Krankenhaus hat, mit einer Klage rechnen. Und das Letzte, was wir brauchen können, ist ein Anwalt des Krankenhauses, der alles, was uns jemand erzählen will, brühwarm der Verwaltung berichtet. Was meinst du dazu?«

307

»Ganz deiner Meinung. Ich sag’s Dietrich.«

Wir parkten vor dem Krankenhauskomplex, und Mike legte seine polizeiliche Parkplakette gut sichtbar hinter die Windschutzscheibe. Der zivile Sicherheitsdienst am Eingang schien diesmal ausgeschlafen genug, um uns zu erkennen, und winkte uns ohne die übliche Ausweisprozedur durch.

Mercer erwartete uns bereits vor Dietrichs Büro.

Dietrichs Sekretärin führte uns in den Sitzungsraum des Verwaltungsrats und erklärte sich bereit, Dietrich mitzuteilen, dass wir die Vernehmungen in Abwesenheit seines Juristen führen wollten. Diese Nachricht schien ihm nicht zu gefallen, und er ließ uns ei-ne halbe Stunde warten, bevor er endlich auftauchte.

Chapman schielte bereits mit einem Auge auf das Buffet, das man für uns aufgebaut hatte. Schließlich schnappte er sich einen Teller und bereitete sich ein gigantisches Sandwich mit Schinken, Käse und Tomaten zu. Ich nahm etwas Salat, während Mercer von den schier endlosen Reihen von Patienten berichtete, die er an beiden vorangegangenen Vormittagen in der Stuyvesant-Psychiatrie vernommen hatte.

Das Sitzungszimmer des Verwaltungsrats war ma-hagonigetäfelt; in der Mitte des Raums stand ein langer Konferenztisch mit zwanzig ledergepolsterten Stühlen. An den Wänden rechts und links hingen die Ölporträts von sechs elegant aussehenden Herren mit weißen Schläfen und gestärkten Hemdkragen; von der gegenüberliegenden Wand blickte uns Peter Minuit, der Namensgeber der Universität, entgegen. Er 308

zeigte eine selbstzufriedene Miene; wahrscheinlich freute er sich noch darüber, dass es ihm gelungen war, dem Indianerhäuptling die Insel Manhattan für billigen Glasschmuck im Wert von vierundzwanzig Dollar abzujagen.

Gegen halb zwei erschien endlich Bill Dietrich, und seine Miene war noch selbstzufriedener als die Minuits.

»Tut mir leid, dass ich Sie so lange habe warten lassen«, sagte er zur Begrüßung, aber ich nahm ihm nicht ab, dass es ihm leid tat.

»Also, wie ist der Stand der Dinge? Um ehrlich zu sein, waren wir ausgesprochen erleichtert, als wir von der Festnahme des blutverschmierten Obdachlosen er-fuhren. Ist er denn endgültig von der Liste der Verdächtigen gestrichen?« Alle paar Sekunden fuhr sich Dietrich mit der linken Hand durch seine schmierige Frisur. Und jedesmal erwartete ich, Farbspuren an seinen Fingern zu entdecken, denn sein Haar sah aus, als habe er es mit Schuhcreme oder Dieselöl bearbeitet.

Ungeachtet der Tatsache, dass wir nicht viel Neues zu bieten hatten, verspürte Chapman keine Lust, Dietrich über mögliche Verdächtige zu informieren. »Noch ist niemand endgültig von der Liste gestrichen, Mr.

Dietrich. Deshalb drehen wir hier ja jeden Stein um.«

»Wir sind jedenfalls bereit, Ihnen zu helfen, Detective. Je eher Sie Ihre Pflicht getan haben und uns den Rücken kehren, desto besser.«

»Gut, dann legen wir los. Sollte Gemma Dogens Vertrag verlängert werden, oder war ihre Zeit am Mid-Manhattan abgelaufen?«

309

Dietrich sülzte eine Zeitlang herum, sprach von dem Respekt, den ihr alle entgegenbrachten, und pries ihre herausragenden Leistungen. Chapmans Verärge-rung war offensichtlich. Schließlich erhob er sich, ver-grub die Hände in den Hosentaschen und fixierte Dietrich.

»Wollen Sie, dass wir ernst machen, Mr. Dietrich?

Wollen Sie Ihre Verwaltung und den Unibetrieb für ein paar Tage ruhen lassen und lieber vor der Grand Jury aussagen? Oder ist es Ihnen doch lieber, die Sache kurz und schmerzlos über die Bühne zu bringen?«

Dietrich warf mir einen irritierten Blick zu, den ich jedoch ignorierte. Chapman sollte ihn ruhig in die Zange nehmen.

»Nun … ähm … Gemma war sehr starrsinnig. Sie weigerte sich bis zu ihrem Tod, die Verwaltung über ihre Pläne in Kenntnis zu setzen. Wir wussten, dass sie andere Angebote vorliegen hatte, und trotzdem machte sie es uns sehr schwer, für das nächste Jahr vorauszuplanen.«

»Um welche Inhalte ging es bei ihrer Arbeit, Mr.

Dietrich?«

»Das haben Sie wahrscheinlich schon von Dr. Spector erfahren. Es ging ihr darum, die Abteilung zu einem Trauma-Zentrum auszubauen. Sie war sehr an dieser Arbeit interessiert, wollte aber nicht die Verantwortung für die lästige Finanzierung übernehmen.«

Auf dieser Schiene ging es weiter; er klagte über 310

die vielfältigen Probleme, die Gemma Dogen der Verwaltung bereitete. Fast schien es, als habe Dietrich das Skript für seinen Auftritt gemeinsam mit Spector verfasst.

»Einfache Frage«, unterbrach Chapman Dietrichs abschweifende Berichte. »Waren Sie daran interessiert, dass Gemma blieb, oder wollten Sie sie loswerden?«

»Diese Entscheidung lag nicht in meiner Macht, Detective Chapman. Die Entscheidung dafür liegt beim Präsidenten des Minuit, der völlig unabhängig vom …«

Die Art und Weise, wie er sich bemühte, sich von Gemmas beruflichem Schicksal zu distanzieren, machte deutlich, auf welch verlorenem Posten Dogen innerhalb der Institution stand.

»Eine solche Entscheidung wäre in der Fachwelt außerhalb des Mid-Manhattan auf großes Unverständnis gestoßen, nicht wahr?«

»Welche Entscheidung? Die, Gemmas Vertrag nicht zu verlängern?«

»Sie vor die Tür zu setzen, zu feuern, auszubooten.«

»Nun, diese Worte würde ich nicht benutzen, Detective. Ich weiß, dass einige ihrer Kollegen hofften, sie würde diese Konsequenz von sich aus ziehen und zu-rück nach London gehen; davon hat sie oft gesprochen.

Sie stellen die Sache dramatischer dar, als sie tatsächlich war. Gemma war dickköpfig und eine Kämpfernatur, aber trotz allem war sie für dieses Krankenhaus von großem Wert. Ihr Tod stellt für uns einen großen Verlust dar, das können Sie mir glauben.«

311

Chapman hatte keine Lust, noch weitere Zeit mit Trauerbekundungen zu verschwenden. »So, dann lassen Sie uns jetzt zu den Unterlagen kommen, die die Grand Jury sehen will. Alex, zeigst du Mr. Dietrich die Anträge zur Beweisaufnahme?«

»Aber gern.« Ich öffnete meine Mappe und zog einen ganzen Stapel Papiere hervor, die Laura am Vormittag vorbereitet hatte.

»Wir brauchen sämtliche schriftlichen Unterlagen, die über die Teilnehmer der neurochirurgischen Facharztausbildung existieren. Soweit ich weiß, handelt es sich lediglich um acht oder zehn Studenten. Wir hätten gerne ihre Bewerbungen, Zeugniskopien …«

Dietrich fuhr sich nervös durchs Haar, seine Stirn war ärgerlich gerunzelt. »Ich … ähm … ich verstehe nicht, was Ihnen das nützen soll. Diese Unterlagen …«

Ich schnitt ihm das Wort ab. »In dieser Liste geht es um die Personalakten der anderen Fakultätsmit-glieder. Wie Sie sehen, bezieht sich die Anfrage auf ihren beruflichen Werdegang, ihr Gehalt, eventuelle Beschwerdeverfahren gegen sie, mögliche Korrespondenz mit Gemma Dogens Institut. Die Liste ist noch länger, aber die Punkte sind an und für sich klar.«

Dietrich überflog die Papiere, die ich ihm reichte.

»Das muss ich zuerst mit unseren Juristen durchgehen. Bei vielen der Informationen handelt es sich um vertrauliche Daten, und ich werde mich hüten …«

»Ich gehe davon aus, dass Ihre Juristen mit mir darüber sprechen werden, Mr. Dietrich, aber die ärzt-312

liche Schweigepflicht wird durch diese Anfragen in keiner Weise verletzt, denn es geht hier nicht um Patientendaten, sondern lediglich um Personalinterna.

Ich bin sicher, dass Ihre Juristen Ihnen raten werden, uns die gewünschten Informationen baldmöglichst zu liefern. Je rascher wir sie haben, desto schneller sind Sie uns los.«

Auf Dietrichs Stirn hatten sich Schweißperlen gebildet. Chapman fand es nun an der Zeit, zum privaten Teil der Veranstaltung zu kommen.

Er war hinter dem Tisch hervorgekommen und hatte sich hinter Dietrichs Stuhl aufgebaut. »Ich weiß, dass der Mord viele sehr betroffen gemacht hat, aber für Sie muss es ganz besonders schlimm gewesen sein.«

Dietrichs Kopf schoss herum. Er hob den Blick, um Chapman ins Gesicht zu sehen.

»Wir wissen von Ihrem Verhältnis mit Dr. Dogen.

Auch dazu haben wir ein paar Fragen an Sie.«

Dietrich wandte sein Gesicht wieder nach vorn, um sich mit einem schnellen Blick davon zu vergewis-sern, dass die Tür geschlossen war. »Hören Sie, ich weiß nicht, was man Ihnen darüber erzählt hat, aber Gemma und ich waren seit Monaten – seit mindestens einem halben Jahr – nicht mehr zusammen. Ich verstehe nicht, was das mit ihrem schrecklichen Tod zu tun haben soll.« Sein Gesicht war rot angelaufen, und seine Stimme klang erregt.

Mercer Wallace schob sofort die nächste Frage nach. »Erzählen Sie uns doch bitte, wie diese Bezie-313

hung vor sechs Monaten ausgesehen hat und wie sie sich in den letzten Wochen gestaltete.«

Dietrich ähnelte jetzt einem in die Enge getriebe-nen Tier. »Nun … ähm … das ist ganz einfach. Vor etwa einem Jahr – es können auch vierzehn Monate gewesen sein – haben wir im Rahmen eines sehr zeit-aufwendigen Projekts zusammengearbeitet. Wir haben gemeinsam eine Konferenz der WHO zum Thema Gehirntrauma vorbereitet. Gemma war intelligent und schön – und so hat sich unser Verhältnis entwickelt. Eines abends habe ich sie von hier nach Hause gebracht, sie lud mich auf einen Drink zu sich ein, und was dann folgte, Mr. Wallace, muss ich Ihnen wohl nicht näher erläutern, oder?«

Mercer fragte das Übliche: Wie oft sie sich sahen, wo sie sich trafen, und wie die Affäre endete.

»Gemma zog den Schlussstrich. Ich wollte sie heiraten, sie schien anfangs nicht abgeneigt, entschied sich dann aber plötzlich dagegen. Das war im Spät-sommer, nachdem sie in England gewesen war. Sie erklärte mir Knall auf Fall, dass sie mich nicht mehr sehen wolle.«

»Und das haben Sie einfach so akzeptiert?«

»Ach, Sie glauben, ich hätte mich zum Narren machen und sie mit einem Fleischermesser um den OP-Tisch jagen sollen? Nein, Gentlemen, das ist nicht meine Art.«

»Haben Sie nicht mehr versucht, sie zu treffen, sie anzurufen?« fragte ich.

»Zu Beginn natürlich schon, ja. Aber wie ich Ihnen 314

bereits gesagt habe: Sie war sehr dickköpfig. Gegen eine gelegentliche gemeinsame Nacht hatte sie auch nach der Trennung nichts einzuwenden, aber eine weitergehende Bindung lehnte sie strikt ab. Ebenso wie Gespräche übers Krankenhaus.«

Wallace horchte auf. »Wann haben Sie denn die letzte Nacht mit ihr verbracht?«

Dietrich zögerte. Dann gab er sich einen Ruck. »In der Woche vor ihrem Tod. Gemma fragte mich, ob wir gemeinsam zu Abend essen wollten. Wir kamen ziemlich spät hier raus und fuhren zu Billy’s auf der First Avenue. Anschließend gingen wir zu ihr und schliefen zusammen. Ich verließ ihre Wohnung, als sie zum Joggen aufbrach. Das war’s. Derjenige, der Sie über unser Verhältnis unterrichtet hat, hat Sie wahrscheinlich auch über das Geld informiert, das Gemma mir geliehen hat«, fügte er sarkastisch hinzu.

»Klar«, log Chapman. »Wir haben’s außerdem auf ihren Kontoauszügen gesehen.« Was wir natürlich nicht hatten.

»Keine Angst, Detective, ich habe das Geld. Ich werde es umgehend auf ihr Konto überweisen.«

»War es nur diese eine Zahlung?« bluffte Chapman.

»Ja, im vergangenen Juli. Vierzigtausend Dollar.«

Ich wusste, was Mike jetzt dachte – vierzig Riesen, das war mehr, als die meisten Menschen in einem Jahr verdienten. Dogen hatte es ihm geliehen, als ihr Verhältnis noch intakt war, und er hatte es noch nicht zurückgezahlt.

315

»Hat sie es zurückverlangt?« fragte Mike und ließ das Wort ›kürzlich‹ unausgesprochen. Er wollte wissen, ob das Thema zwischen den beiden in den vergangenen zwei Wochen zur Sprache gekommen war.

»Geld spielte für Gemma keine sehr große Rolle.

Wir verbrachten damals ein Wochenende an der Küste und besuchten eine Oldtimer-Auktion. Dort sah ich einen DeLage und verliebte mich sofort in ihn. Bau-jahr zweiunddreißig, ziemlich selten. Sie drängte mich, ihn zu kaufen, aber so etwas kann ich mir nicht leisten. Also bot sie mir das Geld an. Ursprünglich hatte sie es als Geschenk gedacht, aber als der Kauf etwas später zu Stande kam, hatte sie unsere Beziehung bereits beendet. Sie sagte, ich könne ihr das Geld irgendwann später zurückzahlen. Sie haben sicher schon erfahren, dass sie alles andere als materialistisch war. Sie hatte mehr als genug Geld, um sich das, was sie brauchte oder wollte, zu kaufen.«

Dietrich erhob sich. »Alle weiteren Fragen können Sie mir später stellen. Ich schlage vor, Sie machen jetzt mit dem Personal weiter, das ich für Sie einbestellt habe, so dass der Betrieb so schnell wie möglich weitergehen kann. Ich werde mich wegen dieser Unterlagen umgehend mit meinen Juristen in Verbindung setzen.«

Er fuhr sich ein weiteres Mal durchs Haar, bevor er nach dem Stapel Papiere griff. Dann zog er einen dicken Schlüsselbund aus der Hosentasche und fingerte solange daran herum, bis er den richtigen Schlüssel –

vermutlich den zu seinem Büro – gefunden hatte.

316

Ohne weiteren Kommentar wandte er sich zum Gehen. Während er sich umdrehte, bemerkte ich, dass von dem Schlüsselbund eine Nachbildung der Londoner Tower Bridge herabbaumelte – es war der gleiche Schlüsselanhänger, den auch Gemma Dogen besessen hatte und der noch immer auf meinem Nachttisch lag, weil ich vergessen hatte, ihn Mercer zurückzugeben. Und im selben Augenblick fragte ich mich, ob Dietrich wohl auch Gemma Dogens Wohnungsschlüssel besaß.

19

John DuPre war der erste, den wir zu den Umständen befragten, die am Abend von Gemma Dogens Tod im Minuit geherrscht hatten. Und während er mir zur Begrüßung lächelnd die Hand entgegenstreckte, begriff ich, warum Maureen Forester ihn so attraktiv fand. Er gab uns nicht das Gefühl, dass wir ihm mit unseren Fragen seine kostbare Zeit stahlen, sondern war sehr bemüht, uns bei den Ermittlungen weiter-zuhelfen.

Ich erklärte ihm, warum wir ihn nach der Vernehmung auf dem Revier einige Tage zuvor, bei der er von der Entdeckung Pops’ in der radiologischen Abteilung berichtet hatte, nun noch einmal befragen mussten.

»Was haben Sie in der vergangenen Woche so alles getan?« fragte ich. »Lassen Sie uns die Tage von Montag bis einschließlich Mittwoch durchgehen.«

Er blickte mir direkt in die Augen; seine Stimme klang fest und angenehm. »Das alles erinnert mich an damals, als unser Priester umgebracht worden war, während meiner Kindheit in Mississippi. Ich war zwar erst acht, aber die Polizei hat bei den Verhören keinen ausgelassen. Das hat mich wahnsinnig beeindruckt.

Beinahe wäre ich in der Strafverfolgung anstatt in der Medizin gelandet. Ich bewundere Ihre Arbeit. Ich weiß, dass Sie nach der sprichwörtlichen Nadel im 318

Heuhaufen suchen, und mir ist klar, dass sich einige meiner Kollegen durch Ihre Fragen belästigt fühlen, aber ich freue mich, Ihnen zu helfen.«

DuPre zog einen Taschenkalender hervor und schlug die vorangegangene Woche auf. »Sie können gerne einen Blick auf meine Termine werfen, aber ich bin ganz sicher, dass ich nicht vor Dienstagnachmit-tag, als ich in die Bibliothek musste, im Krankenhaus war.«

DuPre berichtete uns von seiner neurologischen Praxis, in der er seit zwei Jahren seine Sprechstunde abhielt. Seine beiden Helferinnen waren ebenso wie er jeden Tag anwesend.

»Und was machen Sie abends, Doc? Wo wohnen Sie?«

»In der Striver’s Row, Detective, Höhe einhun-dertneununddreißigste Straße«, antwortete DuPre und bezog sich auf eine elegante Reihenhaussiedlung aus dem letzten Jahrzehnt des vorangegangenen Jahrhunderts. »Meine Frau ist Designerin, Miss Cooper.

Seitdem wir unser Haus bezogen haben, sind wir flei-

ßig am Restaurieren. Ich mache ‘ne Menge Schrei-nerarbeiten selbst, abends nach dem Essen, wenn die Kinder im Bett sind. Sie sollten mal bei uns vorbeischauen.«

Diese Antwort verriet uns drei Neuigkeiten: DuPre brauchte viel Geld, um sich ein Haus in diesem Viertel leisten zu können. Er befand sich in der Nacht, als der Mord geschah, einige Meilen vom Krankenhaus entfernt – vorausgesetzt, er war wirklich zu Hause.

319

Und falls jemals der Verdacht auf ihn fallen würde, verfügte er über das am schwersten zu knackende Alibi: eine Frau und zwei Kinder.

Wallace lenkte das Gespräch weg von DuPres familiärer Situation und hin zur Ermordeten. »Wie war der Ausdruck, mit dem Sie Dr. Dogen letzte Woche beschrieben haben? Die eiskalte Jungfrau?«

»Vielleicht bin ich da ein bisschen zu weit gegangen, Mr. Wallace, aber ich habe Ihnen auch gesagt, dass ich sie nicht gut genug kannte, um viel über sie zu sagen. Sie war mir gegenüber immer so steif und distanziert – ich konnte einfach keinen Zugang zu ihr finden, wie sehr ich mich auch bemüht habe.«

»Wir haben eben Mr. Dietrich gebeten, uns einige Informationen aus den Personalakten offenzulegen, Dr. DuPre. Wir werden die Daten in wenigen Tagen bekommen; vielleicht gibt es etwas, das Sie uns lieber vorab persönlich …«

»Sie nehmen sich wohl sehr ernst, Detective, was?

Sie wollen unsere Personalakten einsehen? Daten des medizinischen Personals? Hören Sie, Coleman Harper und ich haben Ihnen einen heißen Tip gegeben und Sie zu jemandem geführt, der weitaus gefährlicher ist als alle meine Kollegen zusammengenommen, aber das scheint Sie nicht weiter zu interessieren. Man muss sich nur ein paar Stunden hier aufhalten, um zu wissen, dass es kein Problem ist, irgendwo unbemerkt hereinzukommen.«

John DuPre feuerte eine volle Breitseite ab – ein ziemlich cooler Typ.

320

»Wo wir schon bei der ersten Vernehmung sind, Dr. DuPre«, leitete Chapman seine Frage ein, »war es Ihre oder Dr. Harpers Idee, runter in die Röntgenabteilung zu gehen?« Chapman war es genauso wenig wie mir aus dem Sinn gegangen, dass die beiden Männer in diesem Punkt Widersprüchliches ausgesagt hatten.

»Es war eindeutig Colemans Vorschlag gewesen.

Hab’ ich Ihnen das damals nicht schon gesagt? Ich wollte an diesem Nachmittag in der Bibliothek arbeiten und wechselte ein paar Worte mit einigen von Spectors Schützlingen – Coleman bezeichnet sich mit Vergnügen als einen solchen, glaube ich –, und da hat er mich aufgefordert, zusammen mit ihm unten in der Röntgenabteilung die Aufnahmen anzusehen. Ich hätte ansonsten gar keinen Grund gehabt, mich da unten aufzuhalten.«

Mike wollte noch mehr Hintergrundinformationen. »Was hat Sie dazu gebracht, ausgerechnet in New York City zu praktizieren?«

»Eine Verkettung verschiedener Umstände, Mr.

Chapman. Zum einen ist meine zweite Frau in dieser Stadt aufgewachsen und hat hier ihre Familie. Zum anderen ist mir die Kleinstadt zu eng geworden; ich habe hier an Konferenzen teilgenommen, habe mit New Yorker Ärzten zusammengearbeitet, die meine Vorträge gehört haben, und irgendwann kam ich zu dem Schluss, es einfach hier zu versuchen.«

»Unterrichten Sie am Minuit?«

»Nein, nein. Ich habe lediglich Belegbetten im 321

Krankenhaus. Eigentlich, um den Fuß in die Tür zu bekommen – das ist nicht so einfach, wenn man nicht aus der Stadt stammt. Politik spielt hier eine große Rolle.«

So sehr Mike und Mercer auch nach Einzelheiten bohrten, DuPre konnte uns nichts Neues über das Krankenhaus und die neurologische Abteilung erzählen. Umso überraschter reagierten wir, als der Arzt darum bat, einen Moment mit mir unter vier Augen sprechen zu dürfen.

»Ich muss sowieso noch den Lieutenant anrufen«, bemerkte Chapman. »Wir sind in zehn Minuten mit dem nächsten Zeugen da.«

Erst als sich die Tür hinter Chapman und Walice geschlossen hatte, ergriff John DuPre das Wort.

»Zwei Dinge möchte ich Ihnen sagen, Miss Cooper.

Zum einen geht’s um meine Personalakte. Sie werden feststellen, dass ich mitten in einem scheußlichen Prozess um einen angeblichen Kunstfehler stecke. Sie können jederzeit mit meinen Anwälten darüber sprechen, aber ich möchte die Sache um jeden Preis aus den Zeitungen heraushalten.«

Ich ließ ihn weitersprechen.

»Einer meiner Patienten starb. Noch unten in Atlanta, bevor ich nach New York kam. Es hat nichts mit dem Mid-Manhattan zu tun, und natürlich noch viel weniger mit diesem Vorfall. Ein junger Mann kam wegen bestimmter Beschwerden zu mir –

Schwindelgefühl, Gewichtsverlust und so weiter. Ich untersuchte ihn, verschrieb ihm ein Medikament und 322

gab ihm einen Termin für weitere Untersuchungen.

Zwei Tage später war er tot. Ich versichere Ihnen, dass ich Ihnen nichts verheimlichen will, aber ich möchte andererseits auf keinen Fall in diesen verdammten Mord hineingezogen werden. Sie sind Juristin, und ich hoffe, dass Sie mehr Verständnis für meine Position und die juristischen Auswirkungen haben als die Cops.«

»Wusste Gemma Dogen von dem Prozess?«

»Davon gehe ich aus. Ganz sicher weiß ich es allerdings nicht, da wir nie darüber gesprochen haben. Es könnte natürlich sein, dass sie mich deshalb so kühl behandelt hat, aber das werden wir wohl nie erfahren.«

»Und die andere Sache?«

DuPre schien erleichtert aufzuatmen, dass das Un-angenehme hinter ihm lag. »Falls in meiner Personalakte Informationen fehlen, können Sie mich jederzeit anrufen. Wissen Sie, ich habe vor ein paar Jahren eine ziemlich hässliche Scheidung durchgemacht, hab’

meine erste Frau wegen der zweiten verlassen. Julia ist durchgedreht und hat meine Praxis in Atlanta angezündet. Ich musste mir natürlich Kopien von sämtlichen Abschlüssen und Diplomen besorgen, und ich weiß nicht genau, ob meine Personalakte tatsächlich komplett ist. Aber in meiner Praxis habe ich alle Unterlagen.«

»Danke, Doktor. Das alles hätten Sie mir aber auch in Anwesenheit der Detectives sagen können. Ich denke, dass wir damit klarkommen.«

»Gut, Miss Cooper. Vielleicht sind es ja nur meine 323

Südstaaten-Erfahrungen mit der Polizei, die mich so skeptisch haben werden lassen, aber ich vertraue mich lieber Ihnen als denen an«, sagte er und ergriff über den Tisch hinweg meine Hand. »Ich bin sicher, dass wir uns nochmal sprechen werden.«

Wallace wartete draußen; bei ihm war Banswar Desai, einer der beiden Ärzte, die Spector an jenem Vormittag anstelle von Gemma Dogen bei der Operation assistierten.

Desai war ein kleiner, untersetzter Mann, dessen Haut einige Nuancen dunkler als die DuPres war.

Sein pakistanischer Akzent stand im Kontrast zu dem Hauch britischer Höflichkeit, die seine Internatszeit auf der Insel hinterlassen hatte. Ich holte ihn in den Sitzungsraum, zog Mercer einen Moment zu Seite und bat ihn leise, telefonisch bei Sarah eine Überprü-

fung DuPres in Auftrag zu geben; ich wollte wissen, was die Zeitungen in Georgia über den Kunstfehler-prozess berichteten.

Dann stellte ich mich Dr. Desai vor und nahm gegenüber von ihm Platz. Wenig später erschien auch Chapman.

Desai gehörte dem neurochirurgischen Team noch nicht lange an; Gemma Dogen hatte ihn erst ein Jahr zuvor eingestellt. Er beantwortete unsere Fragen sehr präzise und schien Gemma Dogen gegenüber ausgesprochen loyal zu sein. Sie war seine Mentorin gewesen, und Desai war aufrichtig erschüttert über ihren Tod.

Mikes Fragen konzentrierten sich zunächst auf die 324

Operation, bei der er und Harper Spector assistiert hatten. »Was ging in Ihnen vor, als Dr. Dogen nicht zur Operation erschien? Haben Sie sich Gedanken gemacht?«

»Ihr Fernbleiben war ganz und gar untypisch«, erwiderte Desai. »Gemma war hochprofessionell, Mr.

Chapman. Aber Gedanken? Nein, Gedanken habe ich mir nicht gemacht. Ich ging davon aus, dass ihr etwas Dringenderes dazwischengekommen war. Oder dass sie und Spector mal wieder Ärger miteinander hatten und …«

»Mal wieder Ärger hatten? Worüber?«

»Das entzieht sich meiner Kenntnis. Ich weiß nur, dass sie über bestimmte Fragen im Zusammenhang mit dem Minuit immer wieder Auseinandersetzungen hatten, aber ich als einer der Jüngsten in der Abteilung habe an solchen Unterhaltungen niemals teilgenommen.«

»Sie verstanden sich gut mit Dr. Dogen, nicht wahr? Sie waren auf ihrer Seite, richtig?«

»Das stimmt, Mr. Chapman, aber ich war nicht ihr Vertrauter. Unsere Beziehung beschränkte sich strikt auf den beruflichen Bereich. Gemma zog eine scharfe Grenze zwischen ihrer Arbeit und dem Privatleben, und ich kenne niemanden, der es gewagt hätte, diese Grenze zu überschreiten.«

»Und obwohl Sie bekanntermaßen einer von Dogens Schützlingen waren, hat Spector Sie an jenem Vormittag aus der Schar der Anwesenden herausgepickt und als Assistenten nach vorne geholt?« fragte ich.

325

»Man kann über Spector denken, was man will, aber sein erstes Interesse gilt dem Wohl seiner Patienten.

Ich habe mich immer aus den politischen Rangeleien herausgehalten, und das wussten sowohl Spector als auch Dogen zu schätzen. Außerdem befanden sich unter den Anwesenden nur ein paar, die qualifiziert genug für diese Operation waren. Es war mir trotzdem eine Ehre, ihm zu assistieren. Ich habe ihm ein paar Instrumente gereicht, aber eigentlich waren Coleman und ich in die glückliche Lage gekommen, Spector bei seinem perfekten Handwerk mal ganz aus der Nähe zu beobachten. Zu der Operation selbst haben wir herzlich wenig beigetragen.«

Banswar Desai strahlte etwas Altmodisches, Beruhigendes aus; Eigenschaften, angesichts derer ich mich wohlfühlte. In meiner Familie wurde der Arztberuf hoch geschätzt und respektiert; mein Vater hatte es mit seinen Leistungen zu weltweiter Anerkennung gebracht, und meine Brüder und ich waren es gewohnt, dass in unserem Elternhaus herausragende Ärzte ver-kehrten.

Bei diesen Gedanken kamen mir unweigerlich die Erinnerungen an meine erste große Liebe Adam Ny-man in den Sinn; unser Glück fand ein jähes Ende, als er nur wenige Stunden vor unserer Hochzeit tödlich verunglückte. Wie in einem Tagtraum sah ich das verschwommene Bild Adams, der sich nach einem langen Tag im OP zum letzten Mal mit einem Kuss von mir verabschiedete. Während meines kurzen Abstechers in die Vergangenheit war das Gespräch, das 326

Chapman und Desai führten, vollkommen an mir vorbeigerauscht.

»Das ist für heute alles, Dr. Desai. Wenn Ihnen noch etwas einfällt, das für uns von Interesse sein könnte, melden Sie sich bitte«, sagte Chapman und reichte Desai seine Karte.

Mike begleitete den jungen Arzt bis zur Tür und winkte anschließend Coleman Harper herein.

»Vielen Dank für Ihre Geduld, Mr. Harper. Sieht so aus, als hätten Detective Chapman und ich Sie ein weiteres Mal warten lassen«, entschuldigte ich mich in Anspielung auf die erste Vernehmung auf dem Revier, an dem Abend, nachdem Harper und Coleman Pops in der blutverschmierten Hose entdeckt hatten.

Mike blätterte in seinen Notizen, bis er die Seite gefunden hatte, auf der er damals die Informationen festgehalten hatte. Als Antwort auf Mikes erste Frage erklärte Harper, dass DuPre vorgeschlagen habe, runter in die Röntgenabteilung zu gehen.

»Ich will Sie nicht wieder so nervös machen wie letzte Woche auf dem Revier, Doc, aber DuPre ist sich ganz sicher, dass Sie es waren, der vorschlug, runter in den Röntgenraum zu gehen.«

Harper zögerte; sein Kopf verharrte reglos, aber sein Blick schoss zwischen mir und Chapman hin und her, so als versuchte er fieberhaft herauszufinden, was Mike mit dieser Frage bezweckte.

»Wollen Sie damit behaupten, ich hätte schon im vorhinein gewusst, dass der Alte da unten war?«

»Haben Sie’s gewusst, Doc?«

327

»W-woher? Natürlich hatte ich keine Ahnung – ich war den ganzen Nachmittag nicht in der Röntgenabteilung gewesen. Und welchen Unterschied hätte es gemacht?«

Keinen großen, dachte ich und ging davon aus, dass Mike Harper, der an diesem Tag genauso nervös wie in der vorangegangenen Woche wirkte, nur ein bisschen ärgern wollte.

»Ich glaube, wir haben uns noch nicht über Ihre Beziehung zu Dr. Dogen unterhalten, stimmt’s, Dr.

Harper?«

»Mir ging’s wie wohl den meisten – ich respektierte ihre Arbeit, hatte aber ansonsten wenig mit ihr zu tun.«

Chapman warf einen Blick auf seine Notizen. »Sie kannten sich seit Ihrem ersten Tag am Krankenhaus, also seit fast zehn Jahren, richtig?«

»Ja, das stimmt.«

»Haben Sie für sie gearbeitet?«

»Nicht direkt. Ich kam nach meinem Examen an dieses Krankenhaus, absolvierte hier mein praktisches Jahr und meine Assistenzzeit und begann meine neurologische Facharztausbildung. Zu diesem Zeitpunkt haben wir uns kennen gelernt. Dr. Dogen hatte gerade angefangen, am Minuit zu unterrichten.«

»Hat sie Sie unterrichtet?«

»Ja, wir mussten alle die neurochirurgische Abteilung durchlaufen.«

»Wollten Sie nie Chirurg werden, Doc? Ich meine, das wäre für einen Arzt doch die Krönung, oder?«

328

»Ja, stimmt, mehr oder weniger. Ich meine, ich ha-be mich gleich nach meiner Assistenzzeit um die Zulassung zur neurochirurgischen Facharztausbildung beworben, bin aber abgelehnt worden. Doch andererseits war ich mit dem, was ich hatte, zufrieden und habe mich um das andere nicht sonderlich bemüht.

Wie Sie ja bereits wissen, ist das Ausbildungspro-gramm auf sehr wenige beschränkt und ziemlich eli-tär. Viele von uns stoßen nie in diese Sphären vor, was auch kein Beinbruch ist. Ich habe dann noch ein Jahr am Metropolitan Hospital gearbeitet und bin anschließend mit meiner Frau nach Nashville gegangen, wo ich meine eigene Praxis eröffnet habe.«

»Was genau machen Sie im Rahmen Ihrer Zeit als Fellow?«

Harpers dickliche Finger umklammerten die Arm-lehnen des Stuhls und kneteten das glatte Holz, während er uns seine aktuelle Funktion erläuterte.

»Ich … ähm … war nach zehn Jahren reif für eine Veränderung. Vielleicht ist es mir auch nie ganz aus dem Sinn gegangen, dass ich vielleicht doch Neurochirurg hätte werden wollen. Manchmal glaubte ich, zu früh aufgegeben zu haben, nachdem ich die Zulassung nicht auf Anhieb geschafft habe. Im Rahmen dieses … ähm … Praktikums darf ich als Fellow schon erste OP-Erfahrungen sammeln, während ich auf die Ergebnisse meiner Bewerbung warte.«

»Welcher Bewerbung?«

»Oh, ich dachte, Dr. Spector hätte es Ihnen erzählt.

Ich absolviere dieses Praktikum und hoffe, danach 329

nun doch meine neurochirurgische Facharztausbildung beginnen zu können; ich rechne jeden Tag mit dem Bescheid. Aus diesem Grund habe ich an dem Praktikum teilgenommen und ein Jahr lang Ge-haltseinbußen in Kauf genommen.«

»Was haben Sie als Neurologe denn so verdient?«

»Etwa einhundertfünfzigtausend Dollar pro Jahr.«

»Und in diesem Jahr?«

»Nun, während des Praktikums wird natürlich nur eine Art Stipendium gezahlt, um die dreißigtausend Dollar, aber wenn ich fertig bin, dann …«

»Was? Sie leben in dieser Stadt von dreißigtausend Dollar? Ihnen scheint wirklich etwas an dem Job zu liegen, Doc.«

»Ist ja nur vorübergehend, Detective. Außerdem hab’ ich genug auf der hohen Kante«, erwiderte Harper nervös lachend. »Viel Zeit zum Geldausgeben bleibt mir neben der Arbeit sowieso nicht.«

»Es lockt der Topf voller Gold am Ende des Regenbogens, was?«

»Das ist nicht der Grund. Es geht mir um die größ-

te Herausforderung für einen Arzt, Chapman. Es handelt sich um ein sehr kreatives, innovatives Fachgebiet. Jede Woche kommen neue Verfahren und noch bessere Techniken heraus. Man rettet Leben und stellt Funktionen wieder her, die zuvor unrettbar verloren geglaubt wurden. Und man …«

»Und man macht jedes Jahr ‘ne halbe Million Dollar mehr als früher«, warf Mike ein.

»Ist das verboten, Detective?«

330

»Ganz im Gegenteil. Ich versuche nur mir vorzustellen, was einen Mann in Ihrem Alter dazu treibt, eine erfolgreiche Praxis aufzugeben und auf die Chance zu hoffen, noch mal ‘ne Facharztausbildung zu machen. Wenn Sie fertig sind – vorausgesetzt, Sie schaffen die Zulassung –, sind Sie …«

»Fast fünfzig. Ja, das stimmt. Aber das ist im medizinischen Bereich kein Hindernis. Sehen Sie, ich habe eine solide Laufbahn aufzuweisen, keine Schulden, keine Familie durchzubringen – und ich habe einen Traum.«

»Wer hat sich Ihnen denn beim ersten Mal in den Weg gestellt?«

»Sie meinen damals, vor fast zehn Jahren? Keine Ahnung. Wie Spector Ihnen bestätigen wird, trifft ei-ne Kommission auf der Grundlage von Beurteilun-gen, Empfehlungen und persönlichen Gesprächen die Auswahl. Es hat einfach nicht geklappt, und ich habe es akzeptiert. Ich habe trotzdem Karriere gemacht und möchte es nun eben noch einmal versuchen.«

»Hat Dr. Dogen Sie unterstützt?«

»Keine Ahnung, wirklich nicht. Ich hatte mit Gemma Dogen nur sehr wenig zu tun.« Coleman Harper war an die vordere Stuhlkante gerutscht, so als wolle er aufspringen und fluchtartig den Raum verlassen, sobald Mike sein Fragenbombardement einstellte. »Ich hatte nicht viele Gelegenheiten, mit ihr zusammenzuarbeiten, und ich bin ihr auch nicht in den Hintern gekrochen wie manch andere junge Schleimer.«

»Wie war es, als sie sich kennen lernten, Doc?«

331

»Himmel, das ist fast zehn Jahre her. Ich hatte im Rahmen der üblichen Rotation ein paarmal mit ihr zu tun. Wir waren ganz verschieden. Ich war jedenfalls froh, als ich von hier wegging, rüber ins Metropolitan.«

»Glauben Sie, dass sich in Ihrer Personalakte auch noch Informationen von damals finden?« fragte ich mit ruhiger Stimme.

Harper warf mir einen scharfen Blick zu, dachte einen Augenblick nach, schüttelte dann den Kopf und antwortete, dass seines Wissens nach keine Akten aufbewahrt wurden, die älter als sieben Jahre waren.

»Ich habe selbst versucht, an ältere Daten zu kommen; es ging um Empfehlungsschreiben, die ich damals hier und am Metropolitan bekommen hatte.« Er stieß ein gezwungenes Lachen aus. »Wenn man eine eigene Praxis hat, bekommt man keine Empfehlungsschreiben. Und die Meinung der werten Patienten bemisst sich weniger nach den Fähigkeiten des Arztes, sondern nach der Höhe der Rechnung. Falls Sie die alte Akte in nächster Zeit doch noch aufstöbern, sagen Sie mir bitte Bescheid. Spectors Kommission gibt am fünfzehnten dieses Monats die Zulassungen bekannt; vielleicht können mir die netten Worte von damals noch etwas nützen.«

»Auch Gemma Dogens Beurteilung?«

Harper erhob sich und steuerte auf die Tür zu. »Ich wünschte, ich hätte damals alles kopiert – aber nicht nur, um es Ihnen zeigen zu können. Nein, ich denke, dass mir die eine oder andere Beurteilung heute von Nutzen gewesen wäre. Dogen war vielleicht nicht mein 332

größter Fan, aber ich kann mich nicht erinnern, dass sie mir Knüppel zwischen die Beine geworfen hätte.«

»Können Sie sich vorstellen, warum jemand Dogens Tod wünschte?«

Harper hatte bereits die Hand an der Türklinke.

»Das weiß hier niemand, Detective. Uns geht es darum, Leben zu retten. Ich kann mir nicht vorstellen, warum ein Mensch so etwas tut, ich habe wirklich keine Ahnung.«

Das Gespräch mit Coleman Harper war nicht auf-schlußreicher als die anderen Unterhaltungen gewesen. Irgendwie schien es absurd, diese hoch geachte-ten Ärzte zu dem abscheulichen Mord an einer Kollegin zu befragen, aber andererseits musste es sein; letztlich unterschieden sie sich durch nichts von anderen potentiellen Verdächtigen.

Mercer gesellte sich wieder zu uns, und den Rest des nachmittags ließen wir weitere Zeugen an uns vorüberdefilieren. Wir sprachen mit sieben Krankenschwestern, drei weiteren Professoren, die ihre Büros auf demselben Gang wie die Ermordete hatten, und außerdem einer Hand voll junger Studenten und Assistenzärzte, die in irgendeiner Form mit Gemma Dogen zu tun hatten.

Man konnte die Befragten ganz klar in zwei Gruppen unterteilen: in jene, die Gemma Dogen gemocht und bewundert hatten und denen sie zumindest einen Hauch kollegialer Beachtung geschenkt hatte, und in jene, die sie aufgrund ihres kalten Wesens und ihrer Distanziertheit fürchteten und ablehnten.

333

Der Versuch, ihre letzten Stunden zu rekonstruieren, war völlig aussichtslos. Gemma hütete ihre selbst gewählte Abgeschiedenheit und ließ Gesellschaft nur zu, wenn es ihr paßte. Ihren Lieblingstätigkeiten –

Joggen, Schreiben, Reisen und Forschen – ging sie bevorzugt alleine nach, ganz ungestört von dem Klatsch und den politischen Intrigen jener, die nur allzu gern in ihren Orbit vorgedrungen wären.

Gegen sechs hatte der letzte Zeuge den Raum verlassen, und Dietrichs Sekretärin erinnerte uns daran, dass sie das Zimmer abschließen musste, wenn wir fertig waren. Ich teilte ihr mit, dass wir demnächst aufbrächen. Wir packten unsere Notizen und Unterlagen ein und machten uns auf den langen Weg durch die Korridore in Richtung Ausgang.

»Und weiter? Neue Ideen?« fragte Mercer.

»Das waren eindeutig zu viele Gespräche für einen Tag«, erwiderte ich stöhnend. »Mein Kopf dreht sich.

Ich geh’ jetzt nach Hause, sortiere meine Gedanken, werfe noch einen Blick auf meine Notizen und packe für morgen.«

»Wollen wir noch etwas essen gehen?«

»Ich passe. Hab’ vor dem Abflug noch zu viel zu tun. Außerdem habe ich das Gefühl, dass wir heute keinen Schritt vorangekommen sind.«

»Okay, dann setzen wir dich zu Hause ab. Ich hab’

mich vorhin nach Maureen erkundigt. Heute Morgen hat der Chief gesagt, er werde sie nur noch bis Freitag im Krankenhaus lassen. Er hält die ganze Aktion für Zeit- und Geldverschwendung. Heute Nachmittag ist 334

ihr aber von einem Boten eine Schachtel Pralinen gebracht worden; auf der Karte stand, das Geschenk sei von ihren Kindern. Richtig teure Pralinen waren das, französische.« Mich durchfuhr ein Schreck, während Mercer weitersprach. »Das Problem ist, dass Mo allergisch gegen Schokolade ist. Jeder, der sie kennt, weiß das. Also, Leute, was schließen wir daraus? Jemand hat es auf sie abgesehen.«

»Tatsache ist, dass der Chief vollkommen schiefliegt.

Peterson kämpft darum, dass sie noch länger drin-bleibt. Die Pralinen sind bereits im Labor; bin mal gespannt, was die Jungs darin finden.«

»Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass meine Idee, Maureen ins Mid-Manhattan einzuschleusen, doch nicht so gut war.«

»Mach dir keine Sorgen, Coop«, beruhigte mich Mercer, »Mo ist absolut sicher.«

Wenig später waren wir vor meinem Apartmenthaus angekommen.

»Wie geht’s weiter?«

»Mercer fährt uns morgen Nachmittag zum Flughafen. Bring am besten deinen Koffer ins Büro mit, wir sammeln dich dann dort auf.«

»Gute Idee. Bis morgen dann.«

Ich holte meine Post aus dem Kasten und fuhr hoch.

Dann schaltete ich den Fernsehapparat im Schlafzimmer an, so dass ich beim Packen die Nachrichten sehen konnte. Ich zappte zu »Jeopardy«, um die Preisfrage mitzubekommen, gab aber gleich auf, als Trebek verkündete, dass sie aus dem Bereich Astronomie kam.

335

Die nächste Stunde verbrachte ich mit Telefonieren. Zuerst meldete ich mich bei Maureen, die von den Ereignissen des Tages reichlich unberührt schien

– wahrscheinlich weil Charles noch neben ihrem Bett saß. Danach sprach ich mit meiner Mutter, mit Joan Stafford, David Mitchell und Ninas Anrufbeantworter; gegen halb neun wussten alle, dass ich ein paar Tage unterwegs sein würde. Schließlich bestellte ich bei P.J. Bernstein’s eine Hühnersuppe.

Meine Unterlagen bedeckten den gesamten Ess-tisch. Oben rechts lag das Polaroid, das Mercer auf meine Bitte hin von dem seltsam geformten Blutfleck auf Gemmas Teppich gemacht hatte. Was dies ein Zeichen, das von der sterbenden Frau mit Absicht gemalt wurde, fragte ich mich zum hundertsten Mal, und ist es wirklich ein Buchstabe oder Teil eines Wortes? Ich nahm einen Zettel und schrieb die Initialen sämtlichen Personen nieder, die wir bislang vernommen hatten. Dann verglich ich die Buchstaben mit dem verstümmelten Schnörkel, der mir in der vergangenen Woche ins Auge gesprungen war. Als nichts zu passen schien, gab ich meine Bemühungen auf und ordnete meine bisherigen Notizen.

Bis ich gepackt hatte und endlich im Bett lag, war es kurz vor Mitternacht. Ich rief in Drews Hotel in San Francisco an und hinterließ ihm eine Nachricht auf dem Voice-Mail-System. Ich berichtete ihm von meiner überraschenden Dienstreise nach London und bat ihn, mich anzurufen, sobald er meine Nachricht erhalten hatte.

336

Dann stellte ich meinen Wecker auf sieben und löschte das Licht. Ich machte mir große Sorgen um Maureen und fragte mich, ob es meine Schuld war, wenn sie nun in Gefahr schwebte. Um endlich ein-schlafen zu können, zwang ich mich, an alles mögliche außer an den Mord zu denken. Aber das Rätsel um Gemma Dogen und ihren Tod ließ mich nicht los, und ich lag noch einige Stunden wach.

20

»Noch eine Todeskandidatin.«

»Wovon sprichst du?« Mit einem Blick auf den Wecker stellte ich fest, dass es erst kurz nach sechs war.

»Tut mir leid, dass ich dich geweckt habe«, schickte Mike hinterher. »Aber ich dachte, du wolltest es so schnell wie möglich erfahren. Diese hier hat’s Uptown erwischt, direkt vor dem Columbia-Presbyterian. Das wirft unsere bisherigen Ermittlungen komplett über den Haufen.«

Noch kapierte ich gar nichts. »Warum?«

»Die Sache ist fast unheimlich – es könnte unser Mörder gewesen sein. Vielleicht hat Dogens Tod ja wirklich nichts mit dem Mid-Manhattan zu tun. Vielleicht ist es ein Perverser, der auf Frauen in weißen Kitteln steht.«

»Jetzt red endlich Klartext.«

»Der Lieutenant hat gerade angerufen; er hat’s von den Kollegen der Nachtschicht erfahren. Es geschah zwischen drei und vier Uhr morgens, wieder in einem Krankenhaus, in dessen unmittelbarer Umgebung sich jede Menge Gesindel herumtreibt. Eine Assistenzärztin wollte nach ihrem Dienst nach Hause fahren. Als sie sich ihrem Wagen nähert, sieht sie, dass ein Reifen platt ist. Ein ›barmherziger Samariter‹ bietet ihr an, den Reifen zu wechseln – wahrscheinlich hat er ihn zuvor eigenhändig plattgestochen. Er sagt, 338

er müsse nur schnell im Gebäude gegenüber, einer fünfstöckigen Mietskaserne, bei seiner Schwester das richtige Werkzeug holen, und bietet ihr an, im Foyer auf ihn zu warten, damit sie nicht draußen in der Käl-te stehen muss. Sie überqueren gemeinsam die Straße

– drei Zeugen haben das beobachtet. Ihren Aussagen nach benimmt sich der Mann sehr höflich, hält sie am Arm und warnt sie vor dem Verkehr. Im Foyer muss er dann ein Messer gezückt haben. Dafür gibt’s na-türlich keine Zeugen mehr. Alles, was wir haben, ist eine vertrauensselige junge Ärztin im weißen Kittel, die mit acht Stichen in Brust und Unterleib, ohne Unterwäsche und mit heruntergezogenem Rock hinter der Treppe aufgefunden wurde. Und wieder kein Hinweis auf ein Sexualverbrechen – kein Sperma, keine Schamhaare, keinerlei Spuren einer Vergewaltigung. Und jetzt sag du mir, ob es sich um eine aus welchen Gründen auch immer missglückte Vergewaltigung handelt, oder ob der Täter ihr zehn Mäuse und den Pager geraubt und den Diebstahl als Vergewaltigung getarnt hat, um uns auf eine falsche Fährte zu führen? Ist es Zufall, oder hat unser Mann zum zweiten Mal zugeschlagen?«

Ich wusste keine Antwort. Ich versuchte, mir das Verbrechen vorzustellen, und empfand angesichts des Verlustes eines weiteren wertvollen Menschenlebens tiefe Bestürzung.

»Ist sie tot?«

»Kann nicht mehr lange dauern, bis sie’s ist. Es sind nur noch sehr schwache Hirnströme messbar.«

339

»Du hast von Zeugen gesprochen.«

»Ja, die Leute, die gesehen haben, wie der Typ vor dem Krankenhauseingang rumhing und sie dann spä-

ter bei ihrem Wagen ansprach. Latino, männlich, ein Meter siebzig, drahtige Figur. Sah ziemlich schmutzig und abgerissen aus; möglicherweise ist er obdachlos wie die anderen tausend in den Straßen rund ums Krankenhaus. Er trug ein Wollhemd und eine grüne OP-Hose. Jedenfalls war er kein Kollege, so viel steht fest.«

»Was denkst du jetzt?« fragte ich, und im selben Moment wurde mir klar, wie dumm die Frage war.

»Keine Ahnung, was ich denke. Ich weiß nicht, ob es nur ein blödes zeitliches Zusammentreffen zweier voneinander unabhängiger Verbrechen ist, oder ob es sich um das Werk eines Irren handelt, den wir aus den Katakomben des Mid-Manhattan vertrieben haben und der sich nun das Columbia-Presbyterian aus-gesucht hat. Ich bin mir mittlerweile nicht mal mehr sicher, ob Gemma Dogen nicht doch einer versuchten Vergewaltigung zum Opfer gefallen ist und sterben musste, weil sie versuchte, sich zu wehren – wie die Frau von heute Nacht. Genauso gut kann aber auch deine Vermutung zutreffen, dass Gemma Dogens Ermordung nur als Vergewaltigung getarnt werden sollte. Ich habe keine Ahnung.«

»Und wie viele Frauen müssen noch sterben, bis wir es endlich wissen?«

»Hey, Blondie, Kopf hoch, wir werden’s herausfinden. Wir haben sechs zusätzliche Kollegen aus der 340

Mordkommission dazubekommen. Ich ruf dich im Büro an, sobald ich mehr Einzelheiten habe.«

Ich ging in die Küche und machte mir einen Kaffee, dann verschwand ich unter der Dusche. Ich fragte mich, warum Drew nicht angerufen hatte. Wenig später schlüpfte ich in die Klamotten, die ich schon am Vorabend bereitgelegt hatte. Der Portier half mir, mein Gepäck im Taxi zu verstauen, und ich beschloss, in der einen Stunde, die ich früher als ge-wöhnlich im Büro war, meinen Schreibtisch aufzu-räumen.

Als beim Betreten meines Zimmers um Viertel nach sieben schon das Telefon klingelt, konnte ich es kaum glauben.

»Hallo, Alex? Hier ist Stan.«

Stan Westfall. Einer meiner Mitarbeiter, der zwar im Gerichtssaal nicht schlecht war, sich aber im täglichen Leben etwas ungeschickt anstellte.

»Ich hab’ da ein Problem. Gerade hab’ ich versucht, dich zu Hause zu erreichen, aber da nur der Anrufbeantworter ranging, dachte ich mir, du wärst vielleicht schon im Büro.« Seine Stimme hörte sich leicht panisch an.

»Was kann denn schon am frühen Morgen so Schreckliches passiert sein?« Mein Bedarf an Hiobs-botschaften war bereits gedeckt, doch ich fürchtete, dass Stan eine weitere schlechte Nachricht zu verkünden hatte.

»Meine Zeugin ist abgehauen, Alex. Du weißt schon, es geht um den Prozess vor Richter Sudolsky.

341

Also, gestern wurde die Beweisaufnahme abgeschlossen, aber meine Zeugin ist noch nicht verhört worden.

Du erinnerst dich – die Frau, die ich eigens aus Pitts-burgh geholt habe, damit sie hier aussagt und …«

»Wo war sie untergebracht?«

»Nun, das ist der Punkt. Du warst so beschäftigt mit deinem Fall, und ich wollte dich nicht damit be-lästigen. Also bin ich zu Pat McKinney gegangen und hab’ mir von ihm die Erlaubnis geholt, sie in einem Hotel unterzubringen. In einem ganz billigen natürlich. Im Big Apple, drüben in der Vierundsechzigs-ten.«

»Na toll. Du quartierst ‘ne Nutte mitten im Rot-lichtviertel ein. Hoffentlich mit ‘nem Bodyguard vor der Tür?«

»Alex, sie hat mir hoch und heilig versprochen, dass sie nicht mehr auf den Strich geht. Ich hab’ ihr wirklich geglaubt.«

Ich verdrehte die Augen. Stan war wirklich zu dämlich – eher würde ihn der Blitz treffen, als dass er jemals das Vergnügen hätte, eine Ex-Nutte kennenzulernen.

»Also, was ist passiert? Sie ist rausgeschmissen worden, weil sie’s mit Freiern in einem Hotelzimmer getrieben hat, für das die Steuerzahler aufkommen?«

»So ähnlich. Der Hotelmanager hat sie erwischt, als sie sich um zwei Uhr morgens mit ‘nem Typen im Schlepptau aufs Zimmer schleichen wollte. Der Manager wusste, dass sie von uns kommt, hat den Jungen vor die Tür gesetzt, sie aber aufs Zimmer gehen 342

lassen. Na ja, und nachdem auch sie weg war, hat mich der Manager angerufen.«

»Nur keine Panik. Wahrscheinlich macht sie drau-

ßen noch ‘ne schnelle Mark, bevor wir sie wieder nach Hause schicken.«

»Der Manager ist da anderer Meinung. Sie ist weg, abgehauen, und hat alles, was in dem Zimmer nicht niet- und nagelfest war, mitgehen lassen: das gesamte Bettzeug und die Handtücher. Sogar die Bibel hat sie mitgenommen«, stöhnte er verzweifelt.

Bei der Vorstellung, wie McKinney angesichts dieser Neuigkeit fluchen würde, musste ich lachen. Das war mit Sicherheit der letzte Zeuge gewesen, den wir im Big Apple einquartiert hatten – in einem der wenigen Manhattaner Hotels, die sich die Staatsanwaltschaft leisten konnte.

»Ich weiß nicht, ob es Sinn hat, sie von der Polizei suchen zu lassen; bei den Geschworenen ist sie jedenfalls unten durch, wenn die davon erfahren.«

»Du darfst sie ihnen eben als nichts anderes als das, was sie ist, verkaufen, auch wenn sie nur ‘ne Nutte statt ‘ner Ex-Nutte ist. Wenn ich mich recht erinnere, hattest du doch haufenweise medizinisches Beweismaterial, auf dem in diesem Fall die Hauptbeweislast liegt. Spiel ihre Verletzlichkeit aus und mach ihnen klar, was für ein Dreckskerl der Angeklagte ist.«

»Und wie soll ich sie so schnell wiederfinden? Vor halb zehn steht mir kein Polizist zur Verfügung.«

»Ruf auf dem Revier Midtown South an und versuch, vor Schichtende noch ein paar Cops von dort an 343

die Strippe zu bekommen. Gib ihnen eine Beschreibung von der Frau und frag sie, ob sie sie zufällig auf ihrer Tour gesehen haben.« Die Polizisten, die den Strich kontrollierten, machten selten vor acht Uhr morgens Schluss. »Und am wichtigsten ist, dass du jetzt nicht ausrastest. Bitte den Richter, den Prozess um einige Stunden zu verschieben, falls sie nicht gleich wieder auftaucht. Auch das ist kein Weltuntergang.«

»Danke, Alex, ich melde mich später wieder.«

Bis Laura erschien, erledigte ich meine Korrespondenz, dann diktierte ich ihr einige Briefe, die noch vor meiner Rückkehr rausmussten. Um halb zehn erinnerte sie mich daran, dass ich rüber zur Urteilsver-kündung des Richters Torre im Prozess gegen den Serienvergewaltiger musste, den Gayle Marino drei Wochen zuvor überführt hatte.

Ich schlüpfte in eine halbvolle Zuhörerbank, als Gayle gerade das Wort ergriff. Obgleich der Richter Johnny Rovaros kriminelle Vorgeschichte kannte, zählte Marino gewissenhaft die Vorstrafen des Angeklagten auf, um vor diesem Hintergrund eine besonders harte Bestrafung zu fordern. Sie erinnerte den Richter Torre daran, dass Rovaro acht Jahre zuvor für ein ähnliches Verbrechen verurteilt worden war und im Gefängnis sogar an einem Therapieprogramm für Sexualstraftäter teilgenommen hatte. Nach seiner Entlassung auf Bewährung war Rovaro in sein altes Viertel in Brooklyn zurückgekehrt – mit der Auflage, an einem weiteren Therapieprogramm eines Zentrums im Greenwich Village teilzunehmen.

344

Drei Monate nach seiner Entlassung fanden in der ruhigen Wohngegend um das Therapiezentrum herum mehrere sexuelle Übergriffe statt. Der erste Überfall galt einem irischen Kindermädchen, dem es gelang, das ihr anvertraute Kind in Sicherheit zu bringen, bevor sich der Täter an ihr verging. Das zweite Opfer war ei-ne mit Einkaufstüten beladene Hausfrau, die der bewaffnete Angreifer im Hauseingang überfiel. Das dritte Opfer war ein Kind: Der Täter verfolgte das Mädchen auf dem Weg von der Schule nach Hause, wo er es im Hausflur missbrauchte.

Gayle hatte den Fall hervorragend aufgebaut; die absolut glaubhaften Zeuginnen sprachen für sich, und das Alibi der Verteidigung, das aus Verwandten und Freunden des Angeklagten bestand, erschütterte Gayle durch eine gewissenhafte Vorbereitung und ein kluges Kreuzverhör. Dank ihrer hartnäckigen Fragen gelang es ihr, Rovaros Lügengeflecht auffliegen zu lassen und ihn derart aus der Fassung zu bringen, dass er vor den Geschworenen einen Wutausbruch bekam. Zufrieden nahm Gayle auf ihrer Bank Platz und überließ das Schicksal des Angeklagten einem der strengsten Richter New Yorks.

Jetzt war Edwin Torre an der Reihe. Er erhob sich von seinem ledergepolsterten Stuhl, trat hinter die Rückenlehne und stützte beide Ellbogen darauf. Zuerst warf er der Ehefrau sowie der Mutter des Angeklagten, die während Gayles Plädoyer laute Flüche ausgestoßen und wild gestikuliert hatten, einen kühlen Blick zu. Torres dunkles Haar und seine kantigen 345

Züge hoben sich scharf vor der hellen Holztäfelung des Gerichtssaals ab. Bevor er das Wort ergriff, streifte sein Blick Gayle Marino. In seiner entschlossenen Art charakterisierte er das Verhalten des Vergewaltigers; dabei ließ er Rovaro keine Sekunde aus den Augen.

»Ihre Taten sprechen für sich – oder besser: schreien zum Himmel«, kommentierte er die Verbrechen.

»Aber was Sie tatsächlich aus der Zivilisation ausschließt, was Sie jenseits von Mitgefühl und Mensch-lichkeit stellt, ist die Tatsache, dass Sie sich an einem Kind vergangen haben. Sie sind ein Sinnbild des Schlechten, des Verkommenen. Allein für diesen Akt der Grausamkeit wären Sie in anderen Gesellschaften gepfählt worden oder hätten stundenlang in der gna-denlosen Sonne der Sahara schmoren müssen.«

In der Reihe hinter mir stenografierte Mickey Diamond wie besessen mit; dann beugte er sich zu mir vor und flüsterte mir zu: »Er ist einfach toll, bei ihm muss ich nichts dazudichten.«

Lächelnd konzentrierte ich mich wieder auf Torre, der sich nun anschickte, das Urteil zu verkünden: einhundert Jahre Gefängnis. Als persönliche Bemerkung fügte der Richter hinzu: »Dem Berufungsgericht, das jemals auf die Idee kommt, Sie wieder auf die Gesellschaft loszulassen, wünsche ich schon heute die Pest an den Hals.«

Dann schickte Torre ein Zwinkern in meine Richtung und ordnete an, die Gerichtsbeamten mögen den Gefangenen zurück in die Zelle bringen. Mit unbe-wegter Miene ließ sich Rovaro zum Ausgang führen, 346

doch kurz vor der Tür drehte er sich um und spuckte in Richtung der Bank der Staatsanwaltschaft. Der Beamte packte ihn unsanft am Kragen und zerrte ihn aus dem Raum. Ich gratulierte Gayle, als einer der Gerichtsdiener nochmals erschien, um sich zu verge-wissern, dass die Staatsanwältin keinen Schaden genommen hatte.

»Rovaro spuckt Gift und Galle«, teilte er uns grinsend mit. »Mit dem haben Sie nie wieder Ärger, Miss.«

Gayle nickte zufrieden und verabschiedete sich mit einem Winken von Torre, der den Gerichtssaal verließ. Ich konnte nur hoffen, dass Gemma Dogens Mörder auf einen ebenso strengen Richter traf – vorausgesetzt, wir fanden den Täter.

»Sie haben gerade Drew Renauds Anruf verpasst«, waren die Worte, mit denen Laura mich empfing. »Er sagte, er müsse jetzt raus aus seinem Hotelzimmer.

Er wollte Sie nicht mitten in der Nacht stören und meinte, er werde später, kurz vor Ihrem Abflug, noch einmal versuchen, Sie zu erreichen. Außerdem will McKinney Sie sprechen; er möchte wissen, was Sie in dem Fall der Ärztin aus dem Columbia-Presbyterian zu tun gedenken und wer während Ihrer Abwesenheit die Ermittlungen leiten soll. Er schien auch etwas ärgerlich zu sein – hat irgendwas mit Phil zu tun, was genau, wollte er mir nicht sagen.«

»Okay, Laura, danke.«

Noch bevor ich meinen Schreibtisch erreicht hatte, leuchteten beide Gesprächslämpchen der Telefonanlage auf. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass dies einer 347

der ganz wilden Tage werden würde – wie meistens, wenn ich wegmusste.

Über die Sprechanlage teilte Laura mir mit, dass das Gespräch auf der ersten Leitung Mercer sei und das auf der zweiten ein Reporter von New York One.

»Stell den Reporter rüber in die Pressestelle. Mercer nehme ich natürlich.«

»Morgen. Ich nehme an, Mike hat dich schon über den Vorfall im Columbia informiert? Ich mache mich jetzt auf den Weg dorthin. Kannst du Laura bitten, einen Beweisaufnahmeantrag für Dietrichs Konto zu stellen? Ich hab’ heute Morgen mit einer Angestellten seiner Bank gesprochen, die mir sagte, dass Dietrichs Konto ziemlich in den Miesen sei. Hat ‘nen Haufen Schulden bei verschiedenen Leuten. Ohne Genehmigung der Grand Jury rückt die Dame natürlich keine weiteren Informationen heraus.«

»Können wir ihr den Wisch zufaxen? In einer Viertelstunde ist er fertig.«

»Prima. Dann hab’ ich wenigstens was zu tun, während Chapman und du mit der Queen Tee trinken. Bis später.«

Ich legte auf und bemerkte, dass das Lämpchen der zweiten Leitung immer noch aufleuchtete. Offenbar war der Reporter so hartnäckig, dass Laura ihn nicht hatte abwimmeln können. »Alex, der Typ auf der zweiten Leitung behauptet, er wolle keine Infos, sondern habe einen Tip für dich. Genaueres will er mir nicht verraten. Willst du mit ihm sprechen?«

»Okay.« Ich drückte den Knopf.

348

»Miss Cooper? Sie leiten doch die Ermittlungen im Mid-Manhattan, richtig? Wissen Sie oder Ihre Kollegen irgend etwas über den Einbruch, der heute Nacht im Metropolitan Hospital stattgefunden hat?«

Der Mann war offensichtlich besser informiert als ich. Ich verneinte seine Frage und nahm meinen Block zur Hand, um mir Notizen zu machen. »Was ist passiert? Wurden Patienten verletzt?«

»Das würden wir auch gerne wissen. Bislang haben sie bestritten, dass Patienten in die Sache verwickelt wurden, aber wir sind uns da nicht so sicher. Keiner will gerne im gleichen Atemzug mit dem Mid-Manhattan genannt werden, und was im Columbia-Presbyterian passiert ist, wissen Sie ja wahrscheinlich schon.«

»Ja. Also, was geschah heute Nacht im Metropolitan.«

»Sie spielen es runter. Behaupten, der Typ habe es nicht geschafft, an den Sicherheitsleuten vorbeizukommen und weder das Personal noch die Patienten seien in Gefahr gewesen. Die üblichen Floskeln.«

»Wer hat den Einbruch entdeckt?«

»Die Nachtschicht des Reinigungspersonals. Die Putzfrau kam gegen drei Uhr morgens in einen Raum der Buchhaltung. Das Licht brannte, sie hörte Schritte, sah aber niemanden flüchten. Das Türschloss war aufgebrochen worden.«

»Ich weiss, dass Sie Ihre Quellen grundsätzlich nicht preisgeben, aber …«

»Gar kein Thema, es weiß ohnehin schon jeder Bescheid. Die Putzfrau macht die Nachtschicht im Met, 349

und dann kommt sie rüber und putzt bei uns. Als sie heute Morgen in unserer Redaktion ankam, war sie total aufgeregt. Sie redete von nichts anderem als dem Einbrecher im Krankenhaus – praktisch im Ne-benzimmer des Präsidenten, mitten in der Nacht. Sie hat den Job sofort gekündigt – hat die Nase voll von Kankenhäusern.«

»Verständlich. Richten Sie ihr aus, dass sie da nicht die Einzige ist.«

»Jetzt fragen wir uns, ob der Typ erst anfangen wollte, als unsere Putzfrau ihn aufstöberte, oder ob er schon fertig war.«

»Gute Frage. Ehrlich, ich habe noch gar nichts von der Sache gehört. Das nächste Mal, wenn ich einen heißen Tip habe, revanchiere ich mich. Geben Sie mir Ihre Nummer, und ich melde mich, wenn ich was auf Lager habe. Vielen Dank für die Information.«

Ich rief sofort Mercer an. »Gott sei Dank, dass ich dich noch erwische. Noch ‘ne schlechte Nachricht.

Schau doch mal im Metropolitan vorbei und überprüf folgende Geschichte.« Ich berichtete, was ich von meinem Informanten erfahren hatte.

»Hoffentlich war der Bursche nur auf ein paar Schecks oder offen herumliegendes Bargeld aus«, bemerkte Mercer. »Natürlich hatte die Krankenhauslei-tung keinen Grund, uns darüber zu informieren. Aber ich bin trotzdem mal gespannt, ob sie den Einbruch auf dem nächsten Revier gemeldet hat und ob überhaupt etwas gestohlen wurde. Ich halte dich auf dem Laufenden.«

350

Drei Anklageschriften warteten auf meine Unterschrift, anschließend hatte ich ein Dutzend Rückrufe zu erledigen. Über Mittag fand in Rod Squires’ Büro ein Treffen aller Abteilungsleiter statt, in dem es um organisatorische Fragen ging.

Während ich, den Telefonhörer am Ohr, darauf wartete, mit jemandem vom St. Luke’s Crime Victims Intervention Program verbunden zu werden, steckte Faith Griefen den Kopf durch die Tür. »Sarah sagte, du hättest immer ein paar Ersatz-Strumpfhosen in der Schreibtischschublade. Kannst du mir mit einer aushelfen?«

Ich nickte und gab ihr mit einer Handbewegung zu verstehen, sie möge sich einen Augenblick gedulden, bis ich meiner Gesprächspartnerin erklärt hatte, wie wichtig es war, dass sich Vergewaltigungsopfer auf eine HIV-Infektion testen ließen.

»Ich hatte einen Gerichtstermin und bin an der Anklagebank hängengeblieben«, berichtete Faith und deutete auf eine breite Laufmasche, die am Knöchel begann und sich bis hoch unter ihren Rock zog. »Die alten Holzmöbel im Saal 52 rauben mir noch den letzten Nerv; jedesmal, wenn ich dort eine Verhandlung habe, passiert mir das Gleiche.«

»Die Geschworenen haben dabei ihren Spaß, soviel ist sicher«, erwiderte ich mit einem Blick auf Faith’

schlanke Beine und öffnete die Schublade mit der Aufschrift »Abgeschlossene Fälle«. Darin befanden sich neben mehreren Paaren Escada-Pumps mit unterschiedlichen Absatzhöhen einige Packungen Strumpf-351

hosen, diverse Schminkutensilien, eine Zahnbürste und Zahnpasta – also alles, was einer Staatsanwältin aus der Klemme helfen konnte. Ich reichte Faith eine Strumpfhose und klärte sie darüber auf, dass die sehr geringe Anzahl weiblicher Kollegen einer der unange-nehmsten Begleitumstände war, als ich damals vor zehn Jahren bei der Staatsanwaltschaft angefangen hatte. Die Männer waren zwar gute Kumpels und brauchbare Mentoren, doch nachdem Battaglia sich entschlossen hatte, mehr Frauen einzustellen, hielt mit den neuen Kolleginnen in unserer Abteilung ein ganz anderer, zuvor undenkbarer Teamgeist Einzug.

Nicht, dass man sich nun auch über andere Themen als Demi Moores Brustimplantate unterhalten konnte, nein, es wurde auch einfacher, im Bedarfsfall eine Strumpfhose, einen Tampon oder eine Nagelfeile zu organisieren, ohne dass man wegen jeder Kleinigkeit die Praktikantinnen ins Kaufhaus schicken musste.

Faith war schon zum Umziehen in die Toiletten-räume verschwunden, als Rose Malone mit einer Liste von Stichpunkten hereingeschneit kam, die Battaglia bereits für seinen Vortrag in England zusam-mengestellt hatte.

»Der Chef möchte, dass Sie sich das hier ansehen.

Er lässt Ihnen ausrichten, dass Sie Ihren Vortrag selbst gestalten können, dass aber diese Positionen in Sachen kontrollierter Waffenbesitz, Umgang mit der Drogenproblematik, Behandlung von Drogenabhän-gigen und Todesstrafe enthalten sein sollten. Außerdem sollen Sie Ihre eigenen Standpunkte in Bezug auf 352

Sexualstraftaten und Gewalt innerhalb der Familie einbringen. Einverstanden?«

»Klar. Ich überarbeite das Papier sofort, so dass Laura es gleich sauber abtippen kann. Gibt es noch weitere Richtlinien?«

»Mr. B. hat Lord Windlethorne angerufen und ihm die personelle Umdisponierung erläutert; sie freuen sich sehr, dass Sie an der Veranstaltung teilnehmen.

Geoffrey Dogen wird am Freitagvormittag raus nach Cliveden kommen; da Sie Ihren Vortrag bereits am Donnerstagnachmittag halten, haben Sie und Mike den ganzen Freitag Zeit für ihn. Am Montag erwartet Mr. B. natürlich gleich in aller Frühe Ihren Bericht.«

Ich dankte Rose für die Informationen und unterrichtete sie über die jüngsten Zwischenfälle im Columbia-Presbyterian und im Metropolitan, so dass sie Battaglia umgehend darüber informieren konnte.

»Falls er Fragen hat, weiß er, wo er mich findet. Also dann, bis nächste Woche.«

Pauls Vortrag war knapp und prägnant und brachte die Themen auf den Punkt. Die meisten seiner Positionen waren mir vertraut, so dass ich nur noch meine Aussagen zu meinen eigenen Themen hinzufügen musste. Nachdem ich Laura meine handschriftlichen Notizen zum Abtippen gegeben hatte, bekam ich die Nachricht, dass die Teilnehmer des Gesprächskreises allmählich in Rods Besprechungszimmer eintrudel-ten.

Der Kontrast zu dem Konferenzraum des Mid-Manhattan hätte kaum größer sein können: Zu vier-353

zehnt saßen wir dicht gedrängt um zwei kunststoffbe-schichtete Besprechnungstische herum – keine Spur von eleganten, hochglanzpolierten Holzmöbeln; anstelle von ledergepolsterten Sesseln mussten wir uns mit vinylbezogenen Stühlen zufriedengeben, und an den Wänden hingen billige Reproduktionen in Plas-tikrahmen. Normalerweise musste man bei den Mit-tagsbesprechungen sein eigenes Sandwich mitbrin-gen; beim Verzehren tat man gut daran, keinen Blick in die Zimmerecken zu werfen, wo man Spuren jenes grünen Pulvers entdecken konnte, mit dem man seit einiger Zeit versuchte, den nagenden Untermietern des Gebäudes den Garaus zu machen; die Pelztierchen hatten sich allerdings so sehr an das Zeug gewöhnt, dass sie es mittlerweile als Naschwerk betrachteten.

Rod, ein intelligenter, humorvoller Mann, war in all den Jahren immer mein Lieblingssupervisor gewesen; er war sehr aufgeschlossen, hatte immer ein offenes Ohr und verfügte über ein sicheres Urteilsver-mögen. Unzählige Male hatte er mich dadurch, dass er meine Fälle mit mir ruhig und sachlich durch-sprach, vor übereilten Aktionen bewahrt. Sowohl seine freundschaftliche Unterstützung als auch sein enormes Wissen waren für mich von unschätzbarem Wert.

Ich organisierte mir einen Stuhl und rückte ihn neben John Logan; während ich meinen fettarmen Joghurt öffnete, packte er ein köstlich duftendes Sandwich aus.

Wir begrüßten einander, während Rod und Pat die 354

Tagesordnungspunkte bekannt gaben und auf die letzten Nachzügler warteten. »Haben Sie schon von dem Überfall auf die junge Ärztin gehört?« erkundigte sich Logan. »Welche Auswirkungen hat das auf Ihren aktuellen Fall?«

»Oh, falls Sie jemanden kennen, der bereit ist, beide Taten zu gestehen, sagen Sie mir bitte Bescheid.

Dann bin ich aus dem Schneider.«

»Gern«, erwiderte Logan grinsend.

Rod wollte allmählich anfangen. »An die Arbeit, Leute. Wir haben keine Zeit zu verlieren, zumal Alex demnächst mit Chapman in die Flitterwochen auf-bricht.«

Einige Köpfe flogen herum; alle waren gespannt auf meine Reaktion – wie gewöhnlich brodelte es na-türlich auch diesmal in der Gerüchteküche. Aber ich kannte Rods Scherze und tat ihm nicht den Gefallen, rot anzulaufen.

»Schön jedenfalls, Alex, dass du trotzdem noch zu unserem Meeting gekommen bist. McKinney sagte, er sei nicht sicher, ob du überhaupt noch hier arbei-test.«

»Sein übliches Wunschdenken, Rod«, erwiderte ich und warf Pat ein aufreizendes Lächeln zu.

Rod ging zum ersten Tagesordnungspunkt über; es ging darum, eine andere Lösung für die Anklagever-nehmungen zu finden, die zwischen Mitternacht und acht Uhr morgens stattfanden. In der Vergangenheit waren diese Vernehmungen von ganz jungen Assistenten durchgeführt worden, doch in den letzten Mo-355

naten hatte sich diese Praxis als viel zu langsam und unproduktiv erwiesen, so dass wir nun gezwungen waren, über ihren Sinn nachzudenken. Während die unterschiedlichsten Meinungen durch den Raum schwirrten, war ich mit meinen Gedanken ganz woanders; ich überlegte, was Mercer während meiner und Mikes Abewesenheit am sinnvollsten tun konnte.

Gegen halb drei löste Rod die Sitzung auf und rief mich zu sich, um mir mitzuteilen, er sei im Mid-Manhattan-Fall auf einen weiteren Verdächtigen gestoßen. Er überreichte mir einen Stapel Unterlagen, die ihm ein Staatsanwalt aus Detroit zugeschickt hatte.

»Hast du schon einmal von einem Arzt namens Thangavelu gehört?«

»Nein, noch nie gehört. Wer ist das?«

»Ein Arzt, dem vorgeworfen wurde, während einer vaginalen Untersuchung an einer Patientin Cunnilin-gus praktiziert zu haben. Er wurde rechtskräftig verurteilt, doch ein Berufungsgericht in Michigan ver-warf das Urteil; die Richter kamen zu dem Schluss, dass die Staatsanwaltschaft niemals zweifelsfrei wi-derlegt habe, dass die von dem Arzt praktizierte ›Un-tersuchungsmethode‹ nicht doch ein sinnvoller Be-standteil der Behandlung hätte sein können. Ich kann dir nur eines raten, Alex: Falls es dir in Michigan irgendwann mal schlecht geht, fahr in jedem Fall noch über die Grenze nach Ohio. Stell am besten möglichst bald fest, ob sich dieser Typ in New York aufhält und sich im Mid-Manhattan eingenistet hat.«

»Danke für den Tip, Rod, du bist mir wie immer 356

eine große Hilfe. Dieser Fall ist mir und Sarah bei unserer Recherche ganz offensichtlich durch die Lappen gegangen. Ich kümmere mich darum, sobald ich wieder aus England zurück bin.«

Nachdem ich Laura die letzten Anweisungen gegeben und sämtliche Rückrufe erledigt hatte, blieb mir nur noch eine Stunde. Sarah schaute noch kurz vorbei und versicherte mir, dass sie in den folgenden Tagen die Stellung halten werde.

Ich packte die Fotos vom Tatort zusammen, und außerdem noch einige der Polizeiberichte sowie das Video, das Bob Bannion von Gemma Dogens Büro aufgenommen hatte. Vielleicht kamen Inspector Creavey oder Geoffrey Dogen neue Ideen, wenn sie die blutige Szene unvoreingenommen betrachteten.

»Ich glaube, auf dem Gang hat gerade Ricky Nel-son ‘nen Auftritt«, bemerkte Sarah und streckte den Kopf zur Tür hinaus. Und tatsächlich: Chapman brachte Laura und Rods Sekretärin zu deren großem Entzücken mit breitestem Grinsen ein Ständchen zur Melodie des »Traveling Man« dar. Die Zuhörerinnen waren zutiefst beglückt.

»Als ich meiner Mutter erzählt habe, dass Alex Cooper mich mit nach London nimmt, glaubte die al-te Dame doch glatt, ich wolle sie verschaukeln. Sie hat mich förmlich angefleht, auf dem Rückweg ‘nen Zwischenstop in Dublin einzulegen und die ganze Sipp-schaft zu besuchen. Was hältst du davon, Blondie?«

»Warum nicht?«

»Zumindest musste ich ihr versprechen, dass ich 357

versuche, dich zum Konvertieren zu bewegen. Vielleicht bringe ich dich auch dazu, dem Dewar’s abzu-schwören und Gefallen am guten alten irischen Whis-key zu finden. Das ist also mein Ziel, Ladies. So, Blondie, und jetzt her mit deinem Gepäck; unten wartet schon Mercer.« Mike folgte mir in mein Büro, um meinen Koffer abzuholen. »Wie lautet deine Schätzung Sarah? Wie oft wird sich die gnädige Dame in den kommenden zweiundsiebzig Stunden umziehen?

Wie viele Paar Schuhe hat sie wohl eingepackt? Wenn ich mir mit dem Gepäck ‘nen Bruch hebe, beantrage ich jedenfalls Frührente.«

Chapman hob meinen Koffer an, packte mit der anderen Hand Sarahs Arm und zog sie in Richtung Lift. Er flüsterte ihr etwas ins Ohr, woraufhin sich ihr Gesichtsausdruck veränderte und sie die Hand vor den Mund schlug. Ich bildete mir ein, Maureens Namen gehört zu haben.

»Was ist los?«

»Geht dich nichts an, Coop. Gar nichts ist los. Ich hab’ nur vergessen, ihr was zu sagen. Komm, wir müssen jetzt gehen.« Die Türen des Lifts glitten auf, und der rote Pfeil in Richtung Erdgeschoß leuchtete auf.

Mein Blick wanderte von seinem zu ihrem Gesicht, aber ich konnte mir keinen Reim machen. »Ging es um Maureen?«

»Das hätte ich dir doch gesagt, oder etwa nicht?

Los, komm, wir müssen uns beeilen.«

Ich folgte ihm in den Aufzug, und im nächsten Augenblick schlossen sich die Türen hinter uns.

21

Mercer parkte vor dem Gebäude und erwartete uns bereits mit geöffnetem Kofferraumdeckel. Ich schob zwei alte Krawatten, eine halb offen stehende Sport-tasche, aus der schmutzige Klamotten quollen, und eine verbeulte Baseball-Mütze beiseite, damit ich auf dem Rücksitz Platz nehmen konnte.

Über das Gewirr holpriger Highways steuerten wir in Richtung Kennedy Airport.

»Was gibt’s Neues in den beiden Fällen von gestern Nacht?«

»Die Assistenzärztin hängt noch immer an den Maschinen, aber es sieht nicht gut für sie aus. Bislang gibt’s noch keine Verdächtigen. Und die Sache im Metropolitan sieht wie ein missglückter Einbruch aus.«

»Ist irgend etwas gestohlen worden?«

»Nichts von Belang. Der Täter könnte die Medika-mentenausgabestelle im Visier gehabt haben, um sich Drogen und Spritzen zu beschaffen, hat es aber nicht bis dahin geschafft. In der Verwaltung hatte er nur mäßigen Erfolg. Etwas Bargeld fehlte, und Dutzende Personalakten waren im Raum verstreut.«

»In diesem Punkt herrscht noch Unklarheit. Der Typ hat auf die Unterlagen geschissen; deshalb konnte sich noch niemand den … ähm … richtigen Durch-blick verschaffen.«

359

»Bitte erspart mir Einzelheiten.«

»Gerne.«

Der Berufsverkehr lief so zäh wie gewöhnlich, und die letzte Meilen, bevor die riesigen Frachtabferti-gungshallen in Sicht kamen, legten wir im Schritt-tempo zurück. Nachdem wir den Terminalbereich erreicht hatten, beschleunigte sich der Verkehr wieder, und als Mercer unvermittelt vor der Flughafenkapelle in die Bremsen stieg, konnte ich mich nur mit Mühe am Vordersitz abstützen. Hunderte von Malen war ich schon an dem kleinen, unscheinbaren Gebäude vorbeigefahren, hatte es jedoch noch nie betreten.

»Coop und ich warten gern im Wagen, während du ein Stoßgebet gen Himmel schickst.«

»Mann, verscheißer mich nicht.« Chapman litt unter schrecklicher Flugangst, gab es aber nicht gern zu.

»Ich mein’ doch gar nicht den Flug – da wird der Pilot sich schon Mühe geben. Nein, nur damit in England alles glatt läuft.«

Mercer fuhr wieder an und nahm die Ausfahrt, die zum American Airlines-Terminal führte.

Er wartete, bis Mike meinen Koffer aus dem Wagen gehievt hatte, dann ließ er die Bombe platzen.

»Der Lieutenant hat mich vorhin wegen der Laborergebnisse hinsichtlich der Pralinen von Maureens ge-heimem Bewunderer angerufen.«

Ich warf Mike einen kurzen Seitenblick zu und wusste, dass er deshalb mit Sarah getuschelt hatte.

»Kirschen im Schokomantel – gekrönt mit einem Hauch Borsäure. Irgendein Verrückter hat das Zeug 360

mit einer haarfeinen Nadel eingespritzt, die kaum ei-ne Einstichstelle hinterlassen hat.«

Als ich den Mund öffnete, packte Mercer mit beiden Händen mein Gesicht und sah mir direkt in die Augen. »Es ist alles in Ordnung, Alex. Maureen ist nichts passiert, hörst du? Genau aus diesem Grund haben wir Maureen ja eingeschleust – um den Mörder auf den Plan zu rufen.«

»Aber …«

»Kein Aber. Du hast gestern Abend selbst mit Maureen gesprochen. Du hast dich selbst davon überzeugen können, dass es ihr gutgeht. Und jetzt steigst du in das Flugzeug und erledigst deinen Job.«

»Aber ich kann doch nicht …«

»Schau mich noch mal an, Mädchen. Willst du mir damit etwa sagen, du traust mir nicht zu, dass ich mich um Maureen kümmere?«

Langsam schüttelte ich den Kopf.

»So, und jetzt geh, Coop, ich hasse lange Abschiede.«

Mike und ich verschwanden im Terminal. Dann er-klärte mir Mike, dass es Mercers Idee gewesen sei, mir diese Neuigkeit erst so spät wie möglich mitzuteilen. Ich litt, weil ich jetzt nicht bei Mo sein konnte, aber andererseits wusste ich, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatten.

Für Flüge nach Europa herrschten strenge Sicherheitsmaßnahmen, und es dauerte Ewigkeiten, bis unsere Pässe und Tickets geprüft, unser Gepäck durchleuchtet und die Sitzplätze vergeben waren.

»Wir haben noch eine halbe Stunde Zeit, lass uns 361

hoch in den Admiral’s Club gehen.« Mike folgte mir den Gang entlang und in den Aufzug, der uns zu der privaten Lounge brachte. Ich zeigte der Dame am Eingang meine Mitgliedskarte, während Mike das nächste Telefon ansteuerte, um sich ein letztes Mal in seinem Büro zu melden. Als sich das Paar vor mir umdrehte, erkannte ich überrascht den elegant gekleideten Herren, der gerade sein Ticket in der Tasche verstaute und im selben Moment auch mich entdeckte.

»Beruflich oder privat, Alex? Wohin geht die Reise?« Justin Feldman begrüßte mich mit einem Kuss auf die Wange.

Justin war ein hervorragender Strafverteidiger und Fachmann auf dem Gebiet Finanzwesen und Wertpa-pierhandel, was zur Folge hatte, dass er sich gewöhnlich in der etwas feineren Atmosphäre der Bundesge-richte anstatt in unseren Niederungen bewegte.

»Nach London«, antwortet ich. »Diesmal allerdings rein beruflich. Glückwunsch übrigens zu dem, was ich letzten Monat im American Lawyer gelesen habe –

eine Auszeichnung als einer der zehn besten Finanz-anwälte des Landes, wirklich nicht schlecht.«

»Falls du dich eines Tages entschließt, das Lager zu wechseln, wirst du mich im Handumdrehen aus diesen Rängen verdrängen. Darf ich dir meine Mitarbeiterin vorstellen, Susan LaRossa.«

Susan war einige Jahre jünger als ich, doch mir war schon zu Ohren gekommen, dass sie außergewöhnlich talentiert war. Wir begrüßten uns, plauderten an-362

schließend über gemeinsame Bekannte und verabredeten uns zu einem Lunch nach unserer Rückkehr.

»Und wohin geht eure Reise?«

»Nach Paris. Ein Kurztrip für einen Kunden, der in den Bankskandal verwickelt ist, den dein Boss hat auffliegen lassen. Jedenfalls sorgt Battaglia dafür, dass wir nicht arbeitslos werden. Diesmal kann es Susan und mir sogar passieren, dass wir zur Abwechslung mal einen Strafprozess durchfechten müssen.«

Die Angestellte der Fluggesellschaft gab mir meine Mitgliedskarte zurück, und wir schlenderten in die Lounge. »Dein Name ist übrigens gestern in einer Besprechung gefallen, die ich bei Milbank hatte. Worum ging es da noch? Ach ja, natürlich …«

Ich biss mir auf die Unterlippe; so etwas wie Geheimnisse gab es in New York nicht.

»Offensichtlich hat sich Drew Renaud Hals über Kopf in dich verliebt. Ihr habt euch kürzlich kennen gelernt, stimmt’s? Nun ja, seine Partner sagen, sie hätten ihn nach dem Tod seiner Frau nicht mehr so glücklich und ausgeglichen gesehen.«

»Wir kennen uns noch nicht mal richtig, ehrlich.

Ich bin sicher, dass es viel zu früh ist, um …«

»Er ist ein großartiger Mensch, Alex – intelligent und verlässlich. Ach ja, jetzt fällt mir auch wieder ein, wie wir darauf kamen. Es ging um den Wahnsinnszu-fall und die misslichen Umstände, durch die Susan und ich zu unserem aktuellen Fall gekommen sind.

Drews Partner meinte, er habe schon von den selt-samsten Wirren des Schicksals gehört, aber eine so 363

verrückte Sache wie die mit dir, Drew und den Mord-fallermittlungen sei ihm noch nicht untergekommen.«

Ich blieb stehen und sah Justin fragend an. »Welche ›verrückte Sache‹ meinst du?«

»Na, das mit Drews Frau und den Umständen ihres Todes.« Justins Lächeln war schlagartig verschwunden, während Susan meinem Blick auswich und auf den Boden starrte.

»Es war Krebs, nicht wahr? Sie starb doch an einem Gehirntumor, oder?« Ich sah keinen Zusammenhang, aber Justin wusste ganz offensichtlich mehr als ich.

»Die ermordete Ärztin … der Fall, den du im Augenblick leitest – entschuldige, mir ist ihr Name entfallen.«

»Gemma Dogen.«

»Ja, richtig: Nun, wir dachten, du wüsstest Bescheid. Carla Renaud starb auf ihrem Operationstisch.

Drew hatte sie nach London gebracht, weil dort eine neue Operationsmethode entwickelt worden war. Ein kompliziertes Verfahren, das von den besten Neurochirurgen durchgeführt wurde. Dogen wurde eigens eingeflogen, um bei der Operation zu assistieren.

Carla starb sozusagen unter Gemma Dogens Händen, noch während des Eingriffs.«

Mein Kopf begann sich zu drehen; ein Gedanke jagte den anderen. Hatte Drew Joan Stafford vor oder nach dem Mord an Gemma Dogen gebeten, uns miteinander bekannt zu machen? War in einer unserer Unterhaltungen der Name der Ermordeten gefallen, 364

und wenn ja, wer hatte das Gespräch auf die Sache gebracht – Drew oder ich? Warum hatte er mir von alledem nichts erzählt – wo es doch um die grausamste, traumatischste Erfahrung seines Lebens ging?

»Tut mir leid, Alex, wenn es dich unvorbereitet getroffen hat. Wir haben uns alle so darüber gefreut, dass ihr beiden zusammen seid. Und dann musste dieser schreckliche Mord dazwischenkommen.«

»Er ist nicht dazwischengekommen, Justin. Gemma Dogen war bereits tot, als wir uns kennen lernten.«

»Warum hatte Drew mich kennen lernen wollen?

Ging es um mich, oder war es nur, weil ich die Ermittlungen leitete? Hatte er Gemma Dogen gehasst?

Hatte er ihr die Schuld am Tod seiner Frau gegeben?«

»Bitte entschuldigt mich, ich bin etwas durchein-ander. Ich muss noch schnell einen Anruf erledigen, bevor wir an Bord gehen.«

»Ich habe dich ganz offensichtlich aus der Fassung gebracht, Alex. Es tut mir sehr leid …«

»Schon gut, Justin. Schön, Sie kennen gelernt zu haben, Susan. Hoffentlich sehen wir uns bald mal wieder.«

Ich steuerte auf eine leere Sitzgruppe im äußersten Winkel des Raumes zu, griff nach dem Telefonhörer und wählte die Nummer von Joans Wohnung. Nur der Anrufbeantworter. »Bitte, heb schon ab, Joan.

Ganz egal, ob du schreibst oder auf der anderen Leitung sprichst, Joan, es ist sehr wichtig, ich muss dich unbedingt sprechen. Gleich hebt der verdammte Flieger ab, und ich muss dich noch etwas Dringendes fra-365

gen. Joannie, bitte geh ran, ich mache wirklich keinen Witz.«

Ich wartete noch einige Sekunden, aber nichts passierte. Wenn Joan in Hörweite gewesen wäre, hätte sie abgehoben. »Wenn dich diese Nachricht in der nächsten Viertelstunde erreicht, kannst du mich noch über den Pager erreichen«, flehte ich in den Hörer.

Im nächsten Moment wurde unser Flug aufgerufen. Ich sah, wie Mike in der anderen Ecke des Raumes in die Telefonmuschel lachte, und ich wusste, dass wir bis zum Gate noch ein gutes Stück laufen mussten und die Sicherheitskontrolle zu passieren hatten. Zuerst warf ich einen Blick auf meine Uhr und betrachtete dann die Nummer von Drews Hotel, die ich auf den Ticketumschlag gekritzelt hatte. Ich rief in San Francisco an. Dort war es früher Nachmittag, und die Wahrscheinlichkeit, dass ich ihn noch in seinem Zimmer erwischte, war mehr als gering.

Chapman hatte unterdessen aufgelegt und hielt nach mir Ausschau. Nachdem er mich erspäht hatte, winkte er mir zu und bedeutete mir, mich zu beeilen.

Die Vermittlung stellte mich zu Drews Zimmer durch. Nachdem es zwölfmal geklingelt hatte, wurde ich gefragt, ob ich eine Nachricht hinterlassen wolle.

Doch ich hatte keine Ahnung, was ich sagen sollte.

Eigentlich wollte ich, dass er mir die Dinge erzählte, ohne dass ich ihn danach fragte. Bevor ich mit Drew sprach, wollte ich wissen, was Joan über die Sache wusste. Ich wollte wissen, welche Gefühle er in den zwei Jahren seit dem tragischen Tod seiner Frau ge-366

genüber Gemma Dogen genährt hatte. »Nein, ich möchte keine Nachricht hinterlassen. Ich melde mich später noch einmal.«

Ich griff nach meiner Handtasche und stieß zu Mi-ke, der mich am Ausgang erwartete. »Alles klar?«

fragte er. »Du siehst aus, als hätte dir gerade jemand einen Kinnhaken verpasst.«

»Komm, wir müssen uns beeilen.« Wir drängten uns in den überfüllten Aufzug, und quetschten uns, unten angekommen, durch die Menschenmengen vor den Abfertigungsschaltern. Vor der Sicherheitskontrolle reihten wir uns in die Schlange ein.

»Was ist los, Blondie?«

Ich nahm mein soeben durchleuchtetes Handgepäck vom Laufband und berichtete Mike auf unserem Weg zum Gate in knappen Worten, was ich wenige Minuten zuvor erfahren hatte.

»Betrachte es als das, was es ist: purer Zufall.«

»Du glaubst doch genauso wenig an Zufall wie ich.«

»Du siehst zu viele Filme, Blondie.« Grinsend schüttelte Chapman den Kopf. »Was stellst du dir denn vor? Dass dein neuer Lover Dogen umgebracht hat? Und dann, einen Tag später, bittet er deine beste Freundin, euch miteinander bekannt zu machen. Du verliebst dich in ihn, ihr schlaft miteinander …«

»Wir haben nicht miteinander geschlafen.«

»Ach was? Habt ihr nicht? Na, kein Wunder, dass er dich noch nicht umgebracht hat. Zuerst will er sehen, wie du im Bett bist, und dann bringt er dich um die Ecke, damit du ihm nicht auf die Schliche kommst.«

367

»Hört sich ziemlich albern an.«

»Kann man wohl sagen. Deshalb spreche ich aus, was du nur denkst. Glaubst du denn wirklich, dass ein Spitzenanwalt, der vor zwei Jahren seine Frau verloren hat, Dogen mitten in der Nacht in ihrem Büro niedersticht? Und weshalb sollte er dich – mal abgesehen von deinen weiblichen Reizen – unbedingt kennen lernen wollen, bevor er dich um die Ecke bringt, so dass du den Fall nicht mehr lösen kannst? Ich weiß, was du jetzt denkst, aber ich sage dir, dass es Quatsch ist. Vielleicht will er nicht über seine verstorbene Frau sprechen. Vielleicht erinnert er sich nicht mal an Namen der Ärztin.«

»Vielleicht, vielleicht, vielleicht. Ich will die Antworten wissen. Ich hasse Ungewissheiten und seltsame Zufälle.«

»Du hasst alles, was sich deiner Kontrolle entzieht.

Jetzt beruhige dich erst mal und vergiss die ganze Sache, bis wir wieder zurück sind.«

Wir waren beinahe am Ende des ewig langen Flurs angekommen, und ich sah, dass die Passagiere an Ga-te 20 bereits einstiegen. »Geh du vor, Mike, ich versuch’s noch einmal bei Joan. Bitte.«

Ich machte an dem öffentlichen Fernsprecher halt, wählte Joans Nummer und hörte im selben Augenblick den letzten Aufruf für unseren Flug. Mike deutete auf eine Frau – wahrscheinlich eine Flughafenan-gestellte, die sich um verspätete Passagiere kümmerte. Die letzten Nachzügler zeigten ihre Tickets vor und gingen an Bord. Mike drückte ihr seinen Flug-368

schein in die Hand, drehte sich um und spurtete zu-rück zu mir, während ich Joan noch einmal anflehte, an den Apparat zu gehen. Aber sie war immer noch nicht zu Hause, und ich bat sie, mich am nächsten Tag in Cliveden anzurufen.

Mike hob meine Handtasche auf, die ich achtlos hatte fallen lassen, packte mich entschlossen am Ellenbogen und schleppte mich zu der Dame vom Bo-denpersonal. »Sie will deine Bordkarte sehen.«

Ich reichte sie ihr; sie gab mehrere Nummern in den Computer ein, dann strich sie die Sitzplatznum-mer durch und trug eine neue ein. Die Bordkarte wanderte hinüber zu ihrer Kollegin, die sich um die Nachzügler kümmerte und uns zu unserer Maschine führte. Doch anstatt uns nach rechts zu leiten, wo sich die Passagiere in der Touristenklasse drängten, winkte sie uns nach links. »Sie sitzen in der ersten Klasse – auf den Plätzen 2A und 2B. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Flug.«

»Ich traue mich kaum zu fragen, wen du dafür be-stochen hast. Hast du etwa jemandem deine Polizeimarke unter die Nase gehalten?« Immerhin konnte ich schon wieder lächeln. »Oder hast du eine Stewardess becirct?«

»Du hast ja eine nette Meinung von mir, Blondie.

Ich dachte, du würdest dich über die kleine Überraschung freuen. Erinnerst du dich an Charlie Bar-dong?« Charlie war früher Lieutenant und arbeitete inzwischen als Privatdetektiv. Wir kannten ihn beide gut. »Seine Frau ist beim Special Service der Ameri-369

can Airlines. Ich hab’ sie heute Vormittag angerufen, und sie meinte, falls in der ersten Klasse noch Plätze frei seien, wäre das kein Problem. So, und jetzt lach mal, Coop. Nach ein paar Cocktails habe ich meine Flugangst vergessen, und du denkst nicht mehr an Lew …«

»Drew.«