LINDA FAIRSTEIN

NOTAUFNAHME

Roman

Aus dem Amerikanischen

von Kirsten Sonntag

WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN

HEINE ALLGEMEINE REIHE

Band-Nr. 01/13185

Titel der Originalausgabe

LIKELY TO DIE

Redaktion: Rainer-Michael Rahn

Deutsche Erstausgabe 5/2000

Copyright © 1997 by Linda Fairstein Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2000 by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Printed in Germany 2000

Umschlagillustration: Tony Stone Images/Uwe Kreici, München Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling Druck und Bindung: Pressedruck, Augsburg ISBN: 3-453-17390-2

http://www.heyne.de

Für

Alice Atwell Fairstein,

die Beste

1

Nachdem der hartnäckige Anrufer das Telefon vier-mal hatte klingeln lassen, schaltete sich der Anrufbeantworter ein. Während mein Kopf dröhnte und hämmerte, verkündete meine Stimme vom Band, dass ich im Augenblick nicht zu sprechen sei. Der letzte Drink war wohl einer zu viel gewesen …

Ich warf einen Blick auf die Leuchtanzeige meines Weckers, die den noch dunklen Raum in grünliches Licht tauchte. 5 Uhr 38.

»Wenn du mich hörst, Coop, dann nimm ab. Los, mach schon.«

Ich hatte an diesem Morgen keine Bereitschaft.

»Es ist verdammt früh und verdammt kalt. Lass mich bitte nicht länger als notwendig in der einzigen funktionierenden Telefonzelle von ganz Manhattan zappeln. Ich will dir doch nur ‘nen Gefallen tun.

Komm, nimm schon ab, Blondie. Ich hasse den blöden Spruch vom Band.«

»Morgen, Detective Chapman. Danke für den Anruf«, murmelte ich in die Muschel, während ich meinen Arm wieder unter die Decke zog, um nicht zu frieren, während ich Mike zuhörte. Zu dumm, dass ich das Fenster gekippt hatte, bevor ich zu Bett gegangen war. Jetzt war es eiskalt im Zimmer.

»Ich hab’ was für dich, ‘ne ganz große Sache. Vorausgesetzt, du willst wieder durchstarten.«

7

Musste mich Chapman unbedingt daran erinnern, dass ich seit fast fünf Monaten keinen ernsthaften Fall mehr übernommen hatte? Ich hatte im letzten Herbst im Mord an der Schauspielerin Isabelle Lascar, meiner Freundin, ermittelt, und das hatte mich beruflich etwas aus der Bahn geworfen. Der Bezirksstaatsanwalt hatte die meisten meiner übrigen Fälle auf die Kollegen verteilt, und nachdem der Mörder gefasst war, hatte ich mir erst einmal eine Weile freigenom-men.

Von Mike hatte ich mir den Vorwurf gefallen lassen müssen, ich hätte mich den ganzen Winter über um die schwierigen Fälle gedrückt, bei denen wir frü-

her so oft zusammengearbeitet hatten.

»Worum geht’s denn?« wollte ich wissen.

»Oh nein, Miss Cooper, das ist keiner von den ›Mal sehen, und wenn er scharf genug ist, behalt ich ihn‹-

Fällen. Entweder du vertraust mir und übernimmst ihn, oder ich gehe den offiziellen Weg und rufe deinen verpennten Kollegen an, der gerade zufällig Bereitschaft hat. Ich wette, der würde sich diesen Fall verdammt gern unter den Nagel reißen. Mir soll’s egal sein, wenn der nicht mal den Unterschied zwischen DNS und NBC kennt …«

»Schon gut, schon gut.« Chapman hatte das Zau-berwort gesagt, und ich saß jetzt aufrecht im Bett. Ich wusste nicht so genau, ob ich am ganzen Körper zitterte, weil durch den Fensterspalt eiskalte Luft ins Zimmer drang, oder ob es die Angst vor der Rückkehr zur Bru-talität, zu den Mördern und Vergewaltigern war, die 8

fast zehn Jahre lang meinen Berufsalltag bestimmt hatten.

»Heißt das ja, Blondie? Bist du dabei?«

»Ich verspreche, dass ich nach einem ordentlichen Kaffee begeisterter klinge, Mike. Ja, ich mach’ mit.«

Sein Freudengeheul war wohl für niemanden nach-vollziehbar, der weder der Polizei noch der Staatsanwaltschaft angehörte, denn schließlich war der Anlass für seinen Freundenausbruch der gewaltsame Tod eines Menschen. Das einzig Tröstliche an der Sache war, dass das Mordopfer in diesem Fall in den

»Genuss« des besten Cops weit und breit kam: Mike Chapman.

»Prima. Jetzt stehst du auf, ziehst dich an, wirfst ein paar Alka Seltzer gegen den Kater ein …«

»Ist das nur ein Verdacht, Dr. Holmes, oder beobachten Sie mich?«

»Mercer hat mir erzählt, dass er gestern in deinem Büro war. Hat wohl irgendwie deine Feierabendpläne mitbekommen – zuerst das Knicks-Spiel mit deinen Uni-Freundinnen und danach eine Verabredung zum Essen im Restaurant. Das Einzige, was er nicht wusste, war, ob ich mit einem Anruf um diese Uhrzeit rein zufällig in eine spannende Bettszene platzen würde.

Ich hab’ ihm versprochen, dass er’s als Erster erfahren würde, wenn du deine Enthaltsamkeit aufgibst.«

Ich ignorierte die Bemerkung und freute mich stattdessen, dass Mercer Wallace auch mit von der Partie sein würde. Der einstige Polizist der Mordkommission war mein fähigster Mitarbeiter im Speci-9

al Victim Squad – er ermittelte bei allen Aufsehen erregenden Serienvergewaltigungen und Serienmorden.

»Bevor die Münze durchfällt, verrat mir bitte noch, wie ich das meinem Boss verkaufen soll.«

Paul Battaglia hasste es, wenn die Detectives bei komplizierten Fällen ihre bevorzugten Staatsanwälte ins Boot zogen. In den zwanzig Jahren, in denen er nun als Bezirksstaatsanwalt von New York County tätig war, hatte er mit einem Bereitschaftssystem gearbeitet, das sicherstellte, dass rund um die Uhr ein Vertreter der Staatsanwaltschaft auf Abruf bereit stand, der gemeinsam mit dem New York Police Department, kurz NYPD, in Mordfällen ermittelte. Verdächtige verhören, Haftbefehle ausstellen und Zeugen befragen – all diese Tätigkeiten gehörten zu den Aufgaben des Staatsanwalts, der laut Plan Bereitschaft hatte.

»Das ist genau der richtige Fall für dich, Alex, ganz im Ernst. Die Ermordete wurde vergewaltigt. Mercer hat ganz Recht – für diesen Fall brauchen wir dich und deine Erfahrung.« Chapman bezog sich auf die Tatsache, dass ich die Sex Crimes Prosecution Unit leitete – Battaglias Vorzeigeprojekt, bei dem ein besonders sensibler Umgang mit Opfern von Vergewaltigung und Missbrauch im Vordergrund stand. Da diese Art von Verbrechen leider oft in Mord gipfelte, wurden ich und meine Kollegen auch mit den nach-folgenden Ermittlungen und Prozessen betraut.

Ich griff in meine Nachttischschublade, in der der Bereitschaftsplan für den ganzen Monat lag, um fest-10

zustellen, ob ich einem von den besonderen Schützlingen des Bezirksstaatsanwalts auf die Füße treten würde und wie viel Ärger ich zu erwarten hatte.

»Hm, mal sehen … bis heute Morgen acht Uhr hat Eddie Fremont Bereitschaft.«

»Bitte bewahre mich vor dem«, entgegnete Mike.

»Das Senatorensöhnchen. Der ist in einem Mordfall ungefähr so hilfreich wie meine Mutter. Fremont ist

‘ne Schlafmütze erster Klasse – ich glaube, dem wür-de das Motiv nicht mal dann auffallen, wenn es ihn in den Arsch beißt.«

Chapman gab im Forlini’s, der Kneipe des Gerichtsgebäudes, oft parodistische Einlagen zum Besten. Er hatte den monatlichen Bereitschaftsplan in der Hand, verkündete den Namen des Dienst habenden Staatsanwalts und gab eine peinliche Episode des Betreffenden zum Besten. Fremont war für Chapman ein gefundenes Fressen – er war einer dieser brillanten Studenten, die mit akademischen Meriten glänzten, aber in der Praxis leider versagten. Niemand zweifelte daran, dass er den Job bekommen hatte, weil sein Vater –

ein ehemaliger Senator von Indiana – Zimmergenosse von Paul Battaglia auf der Columbia Law School war.

»Wenn du dich bis fünf nach acht geduldest, bekommst du Laurie Deitcher«, fuhr ich nach einem weiteren Blick auf den Bereitschaftsplan fort.

»Die Prinzessin? Nein, Blondie, einmal und nie wieder. Der einzige Fall, den ich jemals mit ihr hatte, war schlichtweg eine Katastrophe. In der Mittagspause hat sie nicht etwa ihre Kreuzverhöre geplant oder 11

Zeugen vorbereitet, oh nein, sie hat uns auf dem Gang warten lassen, während sie ihre elektrischen Lo-ckenwickler ausgepackt und sich noch mehr Makeup ins Gesicht geklatscht hat. Vor den Geschworenen hat sie sich dann gebärdet wie Norma Desmond bei einer Nahaufnahme. Kam auf den Bildschirmen natürlich klasse rüber, aber der Täter ist als freier Mann aus dem Gerichtsgebäude marschiert. Nein, Coop, wirklich nicht. Du rufst Battaglia an und sagst ihm, dass Wallace und ich dich, mitten in der Nacht aus dem Bett geklingelt haben, weil du die Einzige bist, die unsere Fragen beantworten kann. Du überzeugst ihn schon, Cooper. Das ist dein Fall.«

»Um welche Fragen geht’s denn zum Beispiel?«

»Zum Beispiel darum, ob sie vergewaltigt wurde, bevor oder nachdem sie starb. Zum Beispiel darum, ob sich der Zeitpunkt des Todes auf die Geschwindigkeit auswirkt, mit der sich Sperma im Körper abbaut, ob’s da Wechselwirkungen zwischen dem Sperma und ihren Körperflüssigkeiten gibt.«

»Okay, ich verstehe. Natürlich lässt er mich einen solchen Fall bearbeiten. Was soll ich jetzt als Erstes tun?«

»Komm so schnell wie möglich hierher. Und schick auch deine Videoleute. Die Spurensicherung war schon da und hat auch Fotos gemacht, aber sie hatten’s wieder mal ziemlich eilig. Ich befürchte, dass sie was Wichtiges übersehen haben könnten. Deshalb sollte deine Mannschaft nochmal anrollen und den gesamten Bereich aufnehmen. Wenn die Geschichte 12

erst einmal an die Öffentlichkeit gelangt ist, wird’s dort vor Presse nur so wimmeln, und wir haben keine Chance mehr.«

»Jetzt mal ganz langsam von Anfang an, Mike. Wo bist du überhaupt?«

»Im Mid-Manhattan Medical Center. Minuit Building, sechster Stock.« East Forty-Eighth Street, direkt am FDR Drive. Das älteste und größte Krankenhaus der Stadt. Das Opfer musste dort eingeliefert worden sein, nachdem man es gefunden hatte.

»Und wo treffe ich dich? Ich meine, wo ist der Tatort?«

»Hab’ ich doch eben gesagt.«

»Das heißt, das Opfer wurde im Krankenhaus umgebracht?«

»Genau. Vergewaltigt und umgebracht, ‘n hohes Tier. Leiterin der neurochirurgischen Abteilung der Uniklinik, Hirnchirurgin, Professorin. Ihr Name ist Gemma Dogen.«

Nach zehn Jahren in meinem Job konnte mich nicht mehr viel schockieren – aber diese Nachricht tat es.

Ich habe Krankenhäuser immer als Zufluchtsstätten betrachtet, als Orte, wo Kranke geheilt wurden, wo man Sterbenden in den letzten Stunden beisteht.

Ich war unzählige Male im Mid-Manhattan gewesen

– ich habe dort sowohl Zeugen vernommen als auch das medizinische Personal im Umgang mit Opfern von Sexualstraftaten geschult. Die beinahe ein Jahrhundert alten roten Backsteingebäude sind im ur-13

sprünglichen Stil restauriert worden. Großzügige Spender früherer Tage haben den Wolkenkratzern daneben, die heute die modernsten Medizintechnolo-gien sowie hervorragende Lehreinrichtungen beher-bergen, ihren Namen gegeben – Minuit Medical College.

Wie immer, wenn ich von einem neuen sinnlosen Verbrechen und dem Ende eines menschlichen Lebens erfuhr, krampfte sich mein Magen zusammen; meine Kopfschmerzen waren vergessen. Vor meinem geistigen Auge begann sich ein erstes Bild von Dr. Dogen zu bilden, und noch bevor ich weitersprach, schossen mir tausend Fragen durch den Sinn: Fragen zu ihrem Leben, zu ihrem Tod, zu ihrer beruflichen Laufbahn, zu ihrer Familie, ihren Freunden und Feinden.

»Wann ist es passiert, Mike? Und wie?«

»Irgendwann in den vergangenen fünfzehn bis zwanzig Stunden – Näheres erfährst du, sobald du hier bist. Der Anruf hat uns kurz nach Mitternacht erreicht. Mit sechs Stichen getötet. Ein Lungenflügel ist kollabiert, mehrere wichtige Organe wurden verletzt. Der Mörder hat sie blutüberströmt zurückgelassen; sie hat zu diesem Zeitpunkt noch gelebt. Sie wurde uns als Todeskandidatin gemeldet. Als wir am Tatort ankamen, war sie schon tot.«

Todeskandidat. Die übliche Bezeichnung für eine Kategorie von Fällen, die in den Tätigkeitsbereich der besten Mordkommission von Manhattan fielen. Zu dieser Sparte zählen Opfer, die beim Eintreffen der Polizei am Tatort in so schlechtem gesundheitlichen 14

Zustand sind, dass ihre nächste Station trotz größter medizinischer Anstrengungen die Leichenhalle ist.

Verlier keine Zeit mit Spekulationen, ermahnte ich mich selbst, in ein paar Stunden weißt du mehr über die Sache.

»In einer dreiviertel Stunde bin ich da.«

Ich sprang aus dem Bett, schloss das Fenster und hob dabei kurz die Jalousie, um einen Blick über die Stadt aus meiner Wohnung im zwanzigsten Stock an der Upper East Side zu werfen. Es dämmerte – ein grauer, nieseliger Tag. Ich habe immer die klaren, kühlen Herbsttage gemocht, die einen Vorgeschmack auf den Winter, auf die bevorstehenden Feiertage und den Schnee im Januar und Februar geben. Meine Lieblingsmonate sind der April und der Mai, wenn die Parks der Stadt grünen und blühen und schon ein Hauch des herannahenden Sommers in der Luft liegt.

Aber als ich jetzt den Horizont absuchte, entdeckte ich nichts von alledem, sondern sah nur dunkle, triste Farben. Ich stellte mir vor, dass auch Gemma Dogen auf die berühmten Verse der großen Dichter gepfiffen und sich meiner ganz persönlichen Ansicht ange-schlossen hätte, dass der März der grausamste Monat von allen ist.

2

»Tut mir leid, Ma’am, vor dem Krankenhaus ist das Parken verboten.«

Der uniformierte Polizist winkte mich weiter, als ich kurz vor sieben vor dem Krankenhaus ankam. Ich ließ das Fenster meines funkelnagelneuen Grand Cherokee herunter, um ihm den Grund meiner Anwesenheit zu erklären – das Parkhaus war zwei Blocks entfernt, und der Weg würde mich mindestens zehn Minuten kosten.

Bevor ich den Mund aufmachen konnte, hörte ich eine barsche Stimme, und als ich mich in die Richtung wandte, aus der sie kam, sah ich Chief McGraw, der die Tür eines Zivilfahrzeugs zuschlug. »Lassen Sie sie, Officer. Stellen Sie sich hinter mich, Alex, und legen Sie Ihren Ausweis hinter die Windschutzscheibe. Ich denke, wir haben denselben Weg.«

Verdammt. Danny McGraw war genauso wenig froh, mich hier am Tatort zu sehen, wie ich es war, ihn hier anzutreffen. Wenn die hohen Tiere von der Polizei erst einmal da waren, rissen sie die Sache an sich und ließen sich von der Staatsanwaltschaft nicht mehr viel sagen. Wahrscheinlich würde Chapman eins auf den Hut bekommen, weil er mich zu einem so frühen Zeitpunkt verständigt hatte. McGraw wäre es lieber gewesen, zuerst den Commissioner zu informieren und uns erst dann zu rufen. Ich kramte das 16

Plastikschild des NYPD aus dem Handschuhfach und legte es auf das Lenkrad – es erhob meine Anwesenheit zur »Offiziellen Polizeiangelegenheit«. Die nu-merierten Parkausweise waren schwieriger zu bekommen, als man ein Sechser im Lotto landete, und einige meiner Kollegen betrachteten sie als größten Vorteil ihres Jobs.

Ich stieg aus, trat mitten in eine schmutzige Pfütze und legte einen Schritt zu, um McGraw einzuholen, so dass ich in seinem Kielwasser durch die Sicher-heitsabsperrungen gelangen konnte. Die Square Badges – Polizeislang für die unbewaffneten Posten, die in Kliniken, Kinos, Stadien und Kaufhäusern Wache standen – schienen an diesem Morgen aufmerksamer als gewöhnlich und waren durch Polizisten verstärkt worden. Alle erkannten den Chief of Detectives und grüßten ihn förmlich. Mit schnellen Schritten passierten wir den endlos langen Zentralkorridor des Medical Center und ließen vier doppelflüglige Schwingtüren hinter uns, bevor wir von einem Detective, den ich noch nie gesehen hatte, zu einem Durchgang geführt wurden, über dem Minuit Medical College stand.

McGraw lief doppelt so schnell wie gewöhnlich, und nach den Blicken zu urteilen, die er auf meine hochhackigen Pumps warf, hoffte er, mich dadurch abzuhängen – damit er wenigstens ein paar Minuten allein mit seinen Leuten sprechen konnte, bevor ich meine Nase in die Sache steckte. Aber dank meiner regelmäßigen Aerobic- und Ballettstunden konnte ich problemlos Schritt halten, und als wir die Aufzüge er-17

reichten, ging sein Atem schon deutlich schneller. Ich konnte mir nicht verkneifen, ihm auf unserem gemeinsamen Weg in die neurochirurgische Abteilung einen Abstecher in die Kardiologie vorzuschlagen.

Wie die meisten seiner Kollegen vergaß McGraw, dass Ginger Rogers Fred Astaire in nichts nachstand –

außer dass sie es rückwärts tat und dabei Schuhe mit Schwindel erregend hohen Absätzen trug.

Als sich der Aufzug öffnete, stiegen wir ein, und ich drückte die sechs. Ich bemühte mich, eine Unterhaltung mit dem jungen Detective in Gang zu bringen, um seinem Chef Gelegenheit zum Verschnaufen zu geben, aber der Detective ignorierte meine Versuche mit steinerner Miene und schien keine Lust zu haben, mir irgendwelche Informationen zukommen zu lassen, solange McGraw in Hörweite war. Endlich erreichten wir das sechste Stockwerk. Erleichtert sah ich die vertrauten Gesichter der Mordkommission B, eines unserer vier Teams. Die Männer waren im Foyer versammelt. Mit aufgekrempelten Ärmeln standen sie herum, frische Notizblöcke in den Händen; auf den Tischen stapelten sich Kaffeetassen. Durch die Adern der Männer pumpte Adrenalin – das sie in den folgenden Tagen und Nächten, bis der Fall aufgeklärt sein würde, noch dringend brauchten.

Mein Erscheinen rief bei den Jungs die verschiedensten Reaktionen hervor: einige freundliche na-mentliche Begrüßungen von jenen, mit denen ich mich gut verstand oder mit denen ich schon früher mal zu tun hatte, ein paar unpersönliche Grunzer, die 18

von einem »Hallo, Counselor« begleitet wurden, von jenen, die mir gleichgültig gegenüberstanden, bis hin zu zweien, die mich vollkommen ignorierten.

McGraws Adlatus flüsterte seinem Chef etwas ins Ohr, dann gingen sie Seite an Seite durchs Foyer auf eine Tür zu; mir gab der Chief zu verstehen, dass ich davor auf ihn warten möge. George Zotos, ein Detective, der seit Jahren gute Arbeit leistete, kam grinsend auf mich zu. »Jetzt bekommt Chapman einen Satz heiße Ohren verpasst. Das Letzte, was McGraw im Augenblick hier haben will, ist die Staatsanwaltschaft

– und das allerletzte eine Frau. Der Commissioner war auf ‘ner Konferenz in Puerto Rico und fliegt eigens wegen dieser Geschichte früher zurück. Der Chief holt ihn um zwölf am JFK ab – und bis dahin braucht er al-le Details, wenn möglich noch den Namen des Mörders. Setz dich, trink ‘nen Kaffee, ich hol’ dir inzwischen Mike. Der wird dich schon auf Touren bringen.«

Er streckte mir den Becher mit seinem eigenen Ge-bräu entgegen – hellbraun mit Unmengen von Zucker. Ich rümpfte die Nase und erkundigte mich, ob auch ein ordentlicher schwarzer Kaffee greifbar sei.

George deutete auf einen Karton mit mindestens einem Dutzend noch verschlossener Plastikbecher. Ich entdeckte einen, auf dessen Deckel »schwarz« stand –

der Inhalt war zwar nur lauwarm, aber stark genug, um meinen Kreislauf anzukurbeln.

Als McGraw Chapman endlich zu mir ließ, hatte ich schon meinen zweiten Becher Kaffee geschlürft, 19

die Morgenzeitungen durchgeblättert, die ich auf einem Sofa in einer Ecke des Raumes aufgestöbert hatte, und mit ein paar Cops das Baskettballspiel vom Vorabend diskutiert. Ich erfuhr, dass es sich bei dem Raum, in den man den Chief geführt hatte, um das Büro der Ermordeten handelte – um den Ort, an dem man sie niedergemetzelt und in ihrem eigenen Blut hatte liegen lassen und wo sie erst Stunden später gefunden worden war. Es gab bislang weder einen Verdächtigen noch irgendwelche offensichtliche Spuren, keine blutigen Fußspuren, die in das Labor eines verrückten Wissenschaftlers mit Hang zum Morden führten. Das Team bereitete sich auf die üblichen langwierigen Ermittlungen vor, die Teil des Jobs waren, den sie trotzdem alle liebten.

»Hey, Blondie«, ertönte Chapmans Stimme – für alle gut hörbar – durch den Raum, »dein Anblick so früh am Morgen hat McGraw zur Bestie gemacht.«

Chapman war in seinem Element. Während ich noch eine ganze Weile an der emotionalen Seite des Mordes an dieser Frau zu knabbern haben und mich fragen würde, wer sie vermisst und wer um sie trauert, war Mike schon bereit für die Jagd. Er bearbeitete gerne Mordfälle, weil er keine Rücksicht mehr auf das Opfer nehmen musste, während mir besonders viel daran lag, den Gesundungsprozess überlebender Opfer zu begleiten; mit Überlebenden sexueller Gewalttaten hatte ich eindeutig lieber zu tun – es war in meinen Augen eine wesentlich dankbarere Aufgabe als das Aufspüren eines Mörders, wobei man nur hoffen 20

konnte, den Tod des Opfers zu rächen, indem man den Täter hinter Gitter brachte. Ohne die Möglichkeit, das vernichtete menschliche Leben wiederherzustellen, konnte es meiner Meinung nach so etwas wie Gerechtigkeit nicht geben.

Während Mike auf uns zukam, registrierte ich zufrieden, dass McGraws Worte – was auch immer er Chapman gesagt haben mag – Chapmans Grinsen, sein Markenzeichen, nicht hatte vertreiben können.

Sein schwarzes Haar war untypischerweise zerzaust –

ein Zeichen dafür, dass ihn das, was er in dieser Nacht gesehen hatte, einen Schock versetzt hatte. Ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er sich, ohne es selbst zu merken, wild mit den Händen durchs Haar fuhr, wenn ihm etwas nahe ging. Das marineblaue Sakko und die Jeans waren für Chapman so eine Art Uniform, die er seit fünfzehn Jahren, seit seiner Zeit im Fordham College trug und die ihn vom üblichen Braun und Grau seiner Kollegen von der Elite-Mordkommission der Stadt unterschied.

»Komm mit rüber in die Ecke, dort kann ich dir alles berichten«, gab er mir in der Hoffnung zu verstehen, wir würden irgendwo in dem offenen Foyer etwas Ruhe finden. »Hast du heute Morgen schon Nachrichten gehört? Ist die Neuigkeit schon raus?«

»Ich hab’ auf dem Weg hierher WINS gehört. Kein Wort. Der Streik der Müllabfuhr und die Gewerk-schaftsverhandlungen sind immer noch die ersten Schlagzeilen. Und natürlich die Ermittlungen im Fall von Lady Di.«

21

»Dann bleiben uns noch ein paar Stunden. Hast du den Videoleuten Bescheid gesagt?«

»Klar. Bannion kommt persönlich vorbei.« Ich hatte den Leiter unserer technischen Abteilung zu Hause angerufen, um sicherzustellen, dass der Job so gut wie möglich erledigt würde. »Er hat mir versprochen, gegen acht hier zu sein.«

»Und jetzt zu dem, was wir bisher wissen: Gemma Dogen – weiblich, weiß.« Mike blätterte seinen Notizblock zur ersten Seite zurück, aber um mir das Wichtigste mitzuteilen, brauchte er seine Aufzeichnungen nicht. »Achtundfünfzig Jahre, aber ich kann dir sagen«, kommentierte Chapman jetzt, »dass sie dafür noch prima in Schuss war.«

»Mit achtundfünfzig ist man ja auch noch keine Greisin, Mickey.«

»Naja, aber ein Teenie auch nicht mehr. Wenn man Sexualstraftat hört, denkt man an eine junge, attraktive Frau, die …«

»Wieder mal eins deiner persönlichen Probleme: Du schließt von dir auf andere.« Eine Vergewaltigung hat nur sehr selten etwas mit einem Sexualakt wie dem Geschlechtsverkehr zu tun, den wir kennen – besonders dann nicht, wenn sich Opfer und Täter davor noch nie begegnet sind. Es handelt sich vielmehr um ein Gewaltverbrechen im Tarngewand, bei dem Sex nur die Waffe darstellt, für die sich der Täter entschieden hat, die Waffe, mit der er sein Opfer unter Kontrolle bringt, demütigt, verletzt. Mike wusste das ebenso gut wie ich.

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»Jedenfalls war sie absolut fit und hat’s dem Kerl nicht leicht gemacht. Sie hatte einen Doktortitel in Medizin, war geschieden, keine Kinder.«

»Wer ist ihr Ex, und wo lebt er?«

»Ich sag’ dir’s, sobald jemand so freundlich ist, mir’s zu verraten. Vergiss nicht, dass ich auch erst seit ‘n paar Stunden hier bin und dass man mitten in der Nacht nicht besonders viele Auskünfte bekommt.

Das Klinikpersonal und die meisten ihrer Kollegen trudeln erst seit ungefähr einer Stunde hier ein, und ich hoffe, dass wir bald mehr wissen.«

Ich nickte, während Mike fortfuhr. »Viel Persönliches war in ihrem Büro nicht zu finden. Keine Famili-enfotos, keine Schnappschüsse, weder von irgendwelchen Haustieren noch von Menschen, keine selbstge-stickten Kissenbezüge mit netten Sprüchen oder Initialen. Nur jede Menge Fachbücher, Dutzende von Karteikästen voller Röntgenaufnahmen und Kran-kenblätter, ungefähr dreißig Plastikmodelle des menschlichen Gehirns – und ein vormals sicher ganz hübscher Perserteppich, der jetzt leider vor Blut nur so trieft.«

»Wer hat sie gefunden?«

»Der Wachmann, der kurz vor zwölf seine letzte Runde gedreht hat. Davor ist er bereits zweimal über diesen Flur gelaufen und hat beide Male nichts ge-hört. Aber dann hat er eine Art Stöhnen gehört. Mit dem Universalschlüssel hat er Dr. Dogens Tür geöffnet, und sofort den Notruf gewählt. Dann ist er aus den Latschen gekippt – zum großen Glück für die 23

Jungs von der Spurensicherung nicht in ihrem Büro, sondern draußen auf dem Gang.«

»Hat sie noch gelebt?«

»Im allerweitesten Sinne. Ihr Körper war durchlö-

chert wie ein Schweizer Käse und völlig ausgeblutet.

Ich gehe davon aus, dass sie nicht mehr bei Bewusstsein war, als der Mörder sich aus dem Staub gemacht hat. Wahrscheinlich lag sie schon ein paar Stunden da und hat dann in einem letzten Aufbäumen noch mal nach Luft geschnappt – das Geräusch, dass der Wachmann gehört hat. Die Ärzte, die aus der Notaufnahme angerannt kamen, wollten sie in den OP transportieren, um sie zu intubieren und die inneren Verletzungen in Augenschein zu nehmen, aber das hat sie nicht mehr mitgemacht. Jede Hilfe kam zu spät.«

»Hat die Gerichtsmedizin schon mitgeteilt, wann sie niedergestochen wurde?«

»Was glaubst du, wo wir hier sind? In einem Film?

Du weißt doch, wie’s läuft: Nach der Autopsie und nachdem ich Dr. Dogens Mitarbeiter, Freunde oder Nachbarn befragt habe, wann sie sie zum letzten Mal gesehen haben, und nachdem ich dem Pathologen mitgeteilt habe, dass sich der Tatzeitpunkt bis auf ei-ne Viertelstunde eingrenzen lässt, wird er mich mit großen Augen anschauen und mir als Tatzeit genau den Zeitraum nennen, den ich recherchiert habe.«

Eine alleinstehende Frau, berufstätig, keine Kinder, keine Haustiere, niemand, der von ihr abhängig ist.

Ich versuchte, meine persönlichen Vergleiche zu verdrängen und mich auf die Fakten zu konzentrieren, 24

die Mike mir lieferte, aber irgendwie sah ich immer wieder meinen eigenen Körper hinter der verschlos-senen Tür meines Büros im achten Stock der Staatsanwaltschaft liegen, während Dutzende von Leuten auf dem Gang vorbeigingen, ohne mal reinzuschauen oder nachzusehen, ob jemand da war. Konnte das sein?

»Glaubst du, sie hätte den ganzen Tag in ihrem Bü-

ro liegen können, ohne dass es jemand bemerkt hätte?

Eine schreckliche Vorstellung.«

»Alex, die Frau hatte jede Menge um die Ohren.

Sie konnte von Glück reden, wenn ihre linke Hand und ihre rechte Hand zufällig am selben Tag zur selben Uhrzeit im selben OP auftauchten. Sie hielt Vorlesungen an der Uni, operierte nebenan in der Klinik, hielt Vorträge auf der ganzen Welt, trat als Gutachte-rin in wichtigen Prozessen auf, und in ihrer Freizeit ist sie im Dienst unserer Regierung in Kriegsgebiete wie Bosnien und Ruanda geflogen, um unentgeltlich Kranke zu behandeln – und das sind nur die Aktivitä-

ten, die ich beim Durchblättern ihres Terminkalenders im Monat März gefunden habe.«

»Was hat sie gestern gemacht?«

»Ich hab’ den Dekan der medizinischen Fakultät gebeten, es für mich herauszufinden. Dr. Dogen hatte das Wochenende außerhalb der Stadt verbracht und wurde im Lauf des Montags zurückerwartet. Aber ihr Dienst im Krankenhaus begann erst am Dienstag, also gestern, um acht Uhr morgens – sie sollte an einer von einem Kollegen geleiteten Operation teilnehmen.

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Das Team befand sich bereits mit gebürsteten Nägeln im OP, der Patient lag in Narkose und mit kahl ge-schorenem Schädel bereit – sie haben hier ein Amphi-theater, in dem Studenten die Operationen beobachten können.«

»Ich weiß, es ist eine sehr renommierte Uni-Klinik.«

»Wer nicht erschien, war Dr. Dogen. Der Chirurg, Bob Spector, hat eine der Krankenschwestern losge-schickt, um Dogen anzurufen, aber es war nur der Anrufbeantworter dran, der mitteilte, dass sie sich nicht in der Stadt befände. Spector hat seine Kollegin und ihren vollgestopften Terminkalender verflucht, sich ein paar Studenten rausgepickt, die ihm dann assistierten, und dem armen Kerl auf dem OP-Tisch den Schädel aufgemeißelt.«

»Ich sollte mich öfter bei Laura melden und ihr sagen, wo ich bin«, murmelte ich vor mich hin. Ich war ständig auf Achse, raste zwischen der Police Acade-my, der Kommandozentrale, der Beratungsstelle für Vergewaltigungsopfer am Krankenhaus und manchmal einem kurzfristig eingeschobenen Lunch mit einer Freundin hin und her. An manchen Tagen konnte meine Sekretärin Laura beim besten Willen nicht wissen, wo ich gerade war.

»Woran denkst du gerade, Blondie? Stellst du dir gerade vor, wie der Richter eine Durchsuchung der Umkleideräume der Unterwäscheabteilung bei Saks anordnet und man dich dort tot auffindet – erwürgt von jemandem, dem du die besten Sonderangebote 26

vor der Nase weggeschnappt hast? Hey, dreh dich schnell um, wenn du dich von McGraw verabschieden willst.«

Der Chief ging auf den Aufzug zu und blieb kurz stehen, um Chapman zuzurufen: »Führen Sie Miss Cooper rum, Mike, und entlassen Sie sie dann bald.

Ich wette, sie hat heute ‘ne Menge zu tun.«

»Los geht’s. Hast du gestern Abend zufällig die Frage mitbekommen?«

Mike meinte die Final-Jeopardy-Frage aus der Quiz-Sendung, nach der wir beide süchtig waren.

»Nein, da war ich gerade unterwegs zum Stadion.«

»Okay. Wissensbereich Verkehr. Wie viel hättest du gesetzt?«

»Zwanzig Dollar.« Da wir unterschiedliche Stärken und Schwächen hatten, wanderte gewöhnlich alle paar Tage eine Zehn-Dollar-Note zwischen uns hin und her, aber dieser Wissensbereich schien mir nicht besonders abgehoben – er hatte weder mir Esoterik noch mit Religion zu tun.

»Okay, die Frage lautet: Auf welchem US-amerikanischen Flughafen wird täglich das größte Frachtvolu-men des Landes umgeschlagen?«

Glück gehabt – eine Fangfrage. O’Hare konnte es nicht sein, denn das wäre zu einfach gewesen, außerdem ging es ausdrücklich um Fracht, nicht um Passagiere. Auf dem Weg zu Dr. Dogens Büro ging ich im Geiste alle großen amerikanischen Städte durch.

»Die Zeit ist abgelaufen. Deine Antwort.«

»Miami?« fragte ich vorsichtig und dachte an all 27

die Tonnen Rauschgift, die dort Tag für Tag umgeschlagen wurden – aber natürlich konnten die Macher der Quiz-Sendung Schmuggelware nicht berücksich-tigen.

»Leider falsch, Miss Cooper. Wie wär’s mit Mem-phis? Das ist die Drehscheibe der Federal Express-Flug-zeuge; ganz egal, welches Ziel sie haben, dort machen sie alle Zwischenlandung. Interessant, was? Her mit der Kohle.«

»Warum? Hast du richtig geraten?«

»Nee, aber das spielt bei unserem Quiz doch keine Rolle, oder?«

Mike klopfte an die schwere Holztür, an der in eleganten Goldlettern Dr. Dogens voller Name und Titel standen. Mercer Wallace öffnete uns. Beim Anblick des Blut getränkten hellblauen Teppichs zuckte ich kurz zusammen. Es war schwer, sich vorzustellen, dass noch ein einziger Tropfen Blut in ihren Adern gewesen war, dass sie die Kraft hatte, sich ein Stück voranzuschleppen, was sie offensichtlich getan hatte.

Es würde Tage dauern, bis mich das Tiefrot vor meinen Augen nicht mehr verfolgte.

3

Mercer führte mich um den riesigen Fleck im Teppich herum und quer durch Gemma Dogens Büro hinüber zu ihrem Schreibtisch. Raymond Peterson, der Dienst habende Lieutenant der Mordkommission und mit dreißig Dienstjahren der Veteran der Abteilung, wandte mir den Rücken zu, während er in sein Handy sprach und dabei aus dem Fenster auf den East River und die Skyline von Queens blickte. Ein Beamter der Spurensicherung war noch mit den Aktenschränken beschäftigt; mit Handschuhen blätterte er Akten und Ordner durch, um zu entscheiden, welche Oberflä-

chen er auf der Suche nach frischen Fingerabdrücken mit dem feinen Staub bepinseln sollte.

Der normalerweise eher lakonische Peterson brüll-te wütend ins Telefon. »Scheiße, ist mir doch egal, wie viele Leute von anderen Fällen abgezogen werden oder Überstunden schieben müssen. Wir brauchen sie hier. Sie müssen den Müll durchsuchen. Ja, genau das meine ich. Müll durchsuchen. Wer auch immer das getan hat, er muss diesen Raum über und über mit dem Blut der Toten bespritzt verlassen haben. Nicht ein einziger Mülleimer verlässt dieses Gebäude, ohne nach Kleidung, Waffen oder ähnlichem durchsucht worden zu sein.«

Chapman schüttelte den Kopf. »In jedem Müllbehälter hier wimmelt’s nur so vor blutigem Zeug. Das 29

hier ist ein Krankenhaus, keine Schwesternschule. So klären wir den Fall in hundert Jahren nicht auf.«

»Wir müssen es tun«, erwiderte Mercer. »Kann sein, dass es eine riesige Zeitverschwendung ist, aber wir haben keine Wahl.«

»Morgen, Loo«, begrüßte ich Peterson mit dem Spitznamen, mit dem in der Abteilung alle Lieutenants bezeichnet wurden. »Danke, dass ich dabei bin.«

Peterson beendete das Gespräch, drehte sich um und warf ein Lächeln in meine Richtung. »Schön, dass Sie da sind, Alex. Die Komiker hier glauben, Sie könnten Licht in die Angelegenheit bringen.«

Ich freute mich, dass Peterson mich akzeptierte. Er und McGraw hatten zur selben Zeit die Ausbildung beim NYPD absolviert – es war eine Zeit, zu der Frauen in Mordfällen weder auf der Seite der Polizei noch auf der der Staatsanwaltschaft zugelassen waren. Beide hatten 1965 die Polizeiakademie besucht – in einer Ära, als die Aufklärung von Morden noch reine Män-nersache war. Ein Jahrzehnt später hatte Paul Battaglia das Gesicht seiner Behörde verändert; als immer mehr junge Juristinnen von den Unis ins Berufsleben drängten, hatte er die Ränge der Staatanwalt-schaft auch für Frauen geöffnet. Die Bezirksstaatsanwaltschaft des New York County war in den Neun-zigern auf sechshundert Anwälte angewachsen, und heute war jeder zweite Staatsanwalt, der in einer Straftat ermittelte – ganz gleich, ob es sich um Taschendiebstahl oder Mord handelte –, eine Frau.

»Ich hab’ Alex die Sache schon in groben Zügen 30

verklickert, Boss. Haben Sie irgendwelche Fragen an sie, solange sie noch hier ist?«

»Nach der Autopsie habe ich sicher eine Menge mehr Fragen an Sie, Alex. Es scheint ein Sexualdelikt zu sein. Wertsachen gab’s hier jedenfalls nicht zu holen. Ihre Brieftasche liegt noch in der Schreibtischschublade. Im Augenblick gehen wir davon aus, dass sie vergewaltigt wurde. Der Kerl hat ihr einen Knebel in den Mund gesteckt, um sie ruhig zu halten – das Ding ist bereits im Labor. Rock, Strumpfhose und Unterwäsche waren ausgezogen. Der Zeitraum, den sie hier gelegen hat – spielt der Ihrer Meinung nach eine Rolle dafür, ob wir … ähm … ob wir irgendwas finden, anhand dessen wir den Mörder eindeutig identifi-zieren können?«

»Sie meinen einen genetischen Fingerabdruck?«

fragte ich.

Jetzt schaltete sich Chapman ein. »Die Tatsache, dass er sich entschieden hat, Bulle zu werden und nicht Priester, macht es ihm auch nicht einfacher, über bestimmte Körperflüssigkeiten und Geschlechtsorga-ne zu reden. Du musst wissen, Cooper, dass er vor allem anderen ein irischer Katholik ist. Also im Klartext: Wie stehen die Chancen, dass sich in der Vagina der Toten noch Sperma befindet, und falls ja, nützt es uns etwas? Ich glaube, das wollte er wissen.«

»Das kann man nicht pauschal beantworten. Falls der Mörder tatsächlich ejakuliert hat, und zwar in ih-re Vagina oder auf ihren Körper, dann können wir davon ausgehen, Samenflüssigkeit zu finden«, begann 31

ich. »Vorausgesetzt, der Mörder benutzte kein Kondom. Ob ihr es glaubt oder nicht – in letzter Zeit benutzen immer mehr Vergewaltiger ein Kondom.«

Chapman schüttelte ungläubig den Kopf, während ich fortfuhr. »Ich denke, die Ärzte haben in erster Linie um ihr Leben gekämpft und weniger an das Sammeln von Beweisstücken gedacht, deshalb liegen wohl noch keine Untersuchungsberichte vor. Die Gerichtsmedizin wird diese Punkte im Rahmen der Autopsie klären. Lag die Tote auf dem Bauch oder auf dem Rücken?«

»Als der Wachmann sie fand, lag sie auf dem Bauch«, antwortete Mercer.

»Wenn sie mehrere Stunden hier gelegen hat, ist die Bauchlage besser für uns.«

»Warum das denn?« wollte Peterson wissen.

»Wegen der Schwerkraft, Loo. Auf diese Weise fließt das Sperma nicht so leicht aus dem Körper heraus.

Und je schneller sie nach dem Überfall gestorben ist, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass ihre eigenen Körperflüssigkeiten dazu beigetragen haben, das Sperma abzubauen. Vielleicht finden wir also noch etwas, das uns weiterhilft.«

»Das nächste Problem«, fuhr ich fort, »ist die Frage nach ihrem letzten Geschlechtsverkehr. Man könnte in ihrem Körper intaktes Sperma finden, das jedoch nicht vom Mörder, sondern von ihrem Freund stammt und bereits ein, zwei Tage alt ist. Wenn der Mörder beispielsweise impotent ist oder gar nicht ejakuliert hat, könnte das ein Motiv dafür sein, dass er 32

wütend wurde und auf sein Opfer eingestochen hat –

aber das Sperma in der Vagina der Toten stammt von einem anderen Mann, mit dem sie ein, zwei Tage zuvor Geschlechtsverkehr hatte. Die Sache ist also gar nicht so einfach. Mike, wenn du mit der Gerichtsmedizin sprichst, bitte sie, dass sie nach fremden Schamhaaren suchen. Auch dadurch kann man die DNS

bestimmen.«

»Das sind alles noch Spekulationen«, bemerkte der Lieutenant. »Wir brauchen in jedem Fall noch viel mehr Informationen. Nicht zu diesem Punkt, sondern ganz allgemein. Der Chief wird für diesen Fall eine Sonderkommission bilden. Er stellt mir zur Unterstützung Detectives aus anderen Abteilungen zur Verfügung.«

»Wo wird die Einsatzzentrale sein?« wollte Mercer von Peterson wissen.

»Auf dem Revier im 17. Bezirk. Chapman, Sie kümmern sich um die Autopsie und sprechen mit dem Gerichtsmediziner, verstanden?«

Mike nickte und machte sich einige Notizen.

»Außerdem will ich, dass Sie mit jemandem von der Krankenhausverwaltung sprechen. Besorgen Sie einen kompletten Übersichtsplan von all diesen Ge-bäuden hier – wie sie zusammenhängen, wo die Eingänge liegen, wo sich Türen, Schlösser und Wachleute befinden sollten und wo sie tatsächlich sind. Weiter möchte ich von der Klinikverwaltung eine Liste aller in diesem Krankenhaus Beschäftigten – Ärzte, Krankenschwestern, Studenten, technisches Personal, Bo-33

ten, Putzleute. Und eine Aufstellung aller Patienten –

ambulante und stationäre. Außerdem das Gleiche von der Psychiatrie nebenan. Und ich will nichts von Da-tenschutz oder so ‘nem Quatsch hören. Entweder die kooperieren, oder sie sind selber reif für die Klapsmühle, wenn ich mit ihnen fertig bin.«

Auch Mercer hielt seinen Stift schon in Schreibbe-reitschaft.

»Wallace, Sie fangen mit ihrem Privatleben an.

Machen Sie ihren Ex-Mann ausfindig, befragen Sie ihre Nachbarn und Kollegen, machen Sie sich ein Bild von ihren Gewohnheiten, stellen Sie fest, wo sie verkehrt hat. Zotos wird Sie dabei unterstützen. Außerdem brauchen wir eine Aufstellung aller ähnlicher Straftaten, die jemals hier passiert sind und die jemals in einem der anderen Krankenhäuser der Stadt passiert sind.«

»Verstanden, Boss.«

»Danach nehmt ihr sämtliche Krankenhäuser in Philadelphia, Washington und Boston unter die Lupe und stellt fest, ob dort etwas Derartiges geschehen ist.

Ich besorge inzwischen Leute, die sich den Müll näher anschauen, und kümmere mich darum, dass eine Hotline für Hinweise geschaltet wird. Alex, lassen Sie Ih-re Leute sämtliche Akten nach ähnlichen Straftaten durchkämmen.«

Ich nickte. »Na dann an die Arbeit. Ich möchte mir außerdem gerne Dr. Dogens Wohnung anschauen, wenn’s möglich ist. Ich meine nicht wegen Beweisstü-

cken, das ist Mercers Job. Aber wenn er damit fertig 34

ist, würde ich gerne nochmal mit ihm in die Wohnung gehen. Es hilft mir sehr, wenn ich mir auf diese Weise ein Bild von dem Opfer und seinem Leben machen kann.« In Mordfällen gab es im Gegensatz zu Vergewaltigungen keinen Überlebenden, mit dem man zusammenarbeiten konnte; es gab keinen Zugang zu dem Menschen, der durch das Verbrechen zerstört wurde. Und wenn da noch nicht einmal Angehörige waren, die einem von der Toten erzählen konnten, dann war es wenigstens hilfreich, die Wohnung des Opfers zu sehen, um einen Eindruck von dem Menschen zu bekommen. »Von mir aus kein Problem, Boss. Ich werde heute mit der Wohnung fertig, und dann kann ich Alex mitnehmen.«

»Okay, Mercer. Aber denken Sie daran, die Wohnungstür zu versiegeln – ich will nicht, dass uns bei den Ermittlungen irgendwelche Verwandte oder Freunde in die Quere kommen.«

»Was halten Sie davon, wenn wir uns heute Abend alle treffen und zusammentragen, was wir rausgefunden haben?« wandte sich Chapman an Peterson.

»Gute Idee. Um sieben auf dem Revier im 17. Bezirk. Ich bin sicher, dass der Chief ein Briefing verlangt, seid also gut vorbereitet. Sie auch, Alex.«

Ich dankte ihm nochmals und folgte Mike in gro-

ßem Bogen um den blutigen Teppich herum zur Tür.

Als ich runtersah, um nicht auf Gemmas tödliche Spur zu treten, blieb mein Blick an einem großen, dunkelroten Fleck hängen, der auf dem blassblauen Dhurrie beinahe wie ein absichtlich verursachtes Zei-35

chen hervorstach. Der Fleck war gleichmäßig und deutlich – im Gegensatz zu den unregelmäßigen, ver-laufenen Flecken, von denen der Rest des Teppichs übersät war.

»Was könnte das sein, Mercer?« fragte ich über meine Schulter hinweg, da er immer noch hinter mir stand.

»Was ist was?«

»Der Abdruck auf dem Teppich, da, im Blut.«

»Ich glaub’, du siehst Gespenster, Coop. Da ist nur Blut, sonst nichts.«

Auch Mike hatte sich hinuntergebeugt, und gemeinsam betrachteten wir den Fleck, den ich entdeckt hatte. »Sieht aus wie eine Brandmarke oder ein Stempel. Vielleicht der Abdruck irgendeines Gegenstandes – einer Gürtelschnalle, eines Hakens oder etwas Ähnliches. Die Spurensicherung hat’s fotografiert.«

Meiner Meinung nach sah der Fleck ganz anders aus. »Mich erinnert es eher an etwas Geschriebenes, an einen Teil eines Worts.«

Chapman war anderer Ansicht. »Sie hatte keine Kraft zum Atmen mehr, Blondie, geschweige denn zum Schreiben. Sie hat sich von dieser Welt verabschiedet und keine Einkaufsliste geschrieben.«

Ich antwortete ihm nicht und zeichnete für Mercer die Form in der Luft nach. »Sieht aus wie ein F, ein großes F – oder vielleicht auch wie ein R, aber mit Ecken statt Rundungen … und dann ein Schwanz in diese Richtung«, sagte ich und zog eine unsichtbare 36

Linie von dem Buchstaben, den ich skizziert hatte, nach links unten. »Findet ihr nicht?«

»Deine Videoleute sollen es auf alle Fälle mal aufnehmen, Alex, aber ich glaube, du wirst hier Opfer deines Wunschdenkens.«

»Lass mir doch bitte ein Polaroid davon machen, Mercer«, bat ich.

Er nickte zwar geduldig, pfiff aber schon den alten Temptations-Song »Just my Imagination«, während er sich eine Notiz machte.

Mike hielt uns die Tür auf, schloss sie, nachdem Mercer den Raum verlassen hatte, und gab dem uniformierten Polizisten die Anweisung, niemand ohne ausdrückliche Erlaubnis des Chiefs das Büro betreten zu lassen. Dann folgte er uns den Gang entlang. »Ich hab’ jetzt schon dein Resümmee im Ohr. Ich kann deine dramatische Beschreibung des Fingers, der aus dem Grab heraus auf den Mörder zeigt, förmlich hö-

ren. Nicht schlecht, Cooper. Die Geschworenen werden sich darüber amüsieren, aber die Presse liebt dich dafür.«

4

Um halb neun parkte ich meinen Cherokee in der schmalen Straße vor der Bezirksstaatsanwaltschaft. In meiner Tasche kramte ich nach der Ausweismarke, die ich brauchte, um ins Gebäude zu kommen. Dann holte ich mir bei dem Verkäufer, der jeden Morgen mit seinem Rollwagen an der Ecke zur Centre Street stand und Gebäck und Getränke anbot, meinen dritten Kaffee. Der Wachmann am Eingang der Bezirksstaatsanwaltschaft war zu vertieft in sein Tittenmaga-zin, um mich überhaupt zu bemerken.

Ich hatte es mir zur Gewohnheit gemacht, spätestens um acht an meinem Schreibtisch zu sitzen, denn schon gegen neun kam Leben in die Bude: Anwälte, Polizisten, Zeugen, Geschworene und Verbrecher aller Art tummelten sich in den Gängen, und dazu kam das nervtötende Klingeln von tausend Telefonen, die den ganzen Tag nicht stillstanden. In dieser einen ruhigen Stunde am Morgen konnte ich mir Gedanken über meine laufenden Fälle machen, Akten durchblättern, die Berichte analysieren, die meine Assistenten angefertigt hatten, und einige Rückrufe machen.

Ich war auf meinem Gang die Erste. Ich schaltete die Flurbeleuchtung ein, schloss die Tür zu meinem Büro auf und hängte meinen Mantel in den schmalen Spind in der Ecke des Raumes. Es war warm und stickig, also schlüpfte ich aus meinen Schuhen, stieg auf 38

den Computertisch meiner Sekretärin Laura und bearbeitete mit einem Schraubenzieher das Thermostat der Klimaanlage, das ein sadistischer Ingenieur hinter einem Metallgitter in unerreichbarer Höhe angebracht hatte. Nachdem ich die Temperatur auf ein erträgliches Maß heruntergedreht hatte, ging ich an die Arbeit. Meine Kollegen und ich waren Tag für Tag für die Sicherheit von Millionen Einwohnern und Besu-chern Manhattans verantwortlich – aber offenbar sollte es uns nicht gestattet sein, die Temperatur in unseren winzigen, schäbigen Büros im Gerichtsgebäude selbst zu bestimmen.

Ich wählte die Nummer meiner Stellvertreterin und hinterließ ihr eine Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter. »Hallo, Sarah. Bitte ruf mich doch so schnell wie möglich zurück. Ich habe ‘nen Mordfall im Mid-Manhattan übernommen. Ich arbeite mit Chapman zusammen, und wir müssen alle unsere Akten nach alten Fällen durchsuchen, die etwas mit Ärzten, Krankenhäusern oder psychiatrischen Anstalten zu tun hatten. Außerdem musst du mir wahrscheinlich noch andere Arbeit abnehmen.«

Dann rief ich meine Praktikanten an, die sich ein Büro auf dem benachbarten Flur teilten. Es waren zwei clevere junge Frauen, die im vergangenen Frühjahr ihren Collegeabschluss gemacht hatten und bei mir ihr Praktikum absolvierten, bevor sie ihr Jurastu-dium aufnahmen. »Wir treffen uns um zehn in meinem Büro – es gibt einen neuen Fall und ‘ne Menge Arbeit. Den Vortrag im Police Headquarters müsst ihr 39

euch heute nicht anhören – ich brauche euch hier dringender.«

In Windeseile wählte ich dann die Nummer meiner Freundin Joan Stafford. Es war nur der Anrufbeantworter dran – Joan steckte wahrscheinlich gerade mitten in ihrer täglichen Gymnastikstunde. »Hier ist Alex. Streich mich für das Dinner und das Theater heute Abend – frag Ann Jordan, ob sie meine Karte haben möchte. Ich muss arbeiten. Entschuldige mich bei den anderen Mädels, ich melde mich morgen wieder.« Joan hatte für uns Freundinnen Theaterkarten für eine Vorstellung besorgt, die erst seit zwei Wochen lief, aber ich musste wohl darauf verzichten.

Rose Malone, die Chefsekretärin des Bezirksstaatsanwalts, war schon da. »Wann wird Paul im Büro sein?« erkundigte ich mich.

»Um neun spricht er vor dem Stadtrat, aber ich hoffe, dass er noch vor zwölf hier aufkreuzt. Soll ich Sie auf die Liste setzen?«

»Bitte tun Sie das, Rose. Ich hab’ heute Morgen einen Mordfall übernommen und möchte ihn darüber informieren.«

»Er weiß schon Bescheid, Alexandra. Er hat mich gerade vom Auto aus angerufen und mir gesagt, dass das Büro des Commissioner ihn davon unterrichtet habe. Ich weiß nicht, ob Sie darüber informiert sind, aber Mrs. Battaglia sitzt im Verwaltungsrat des Mid-Manhattan.«

Nur ein einziges Mal wollte ich Paul Battaglia etwas mitteilen, das er noch nicht wusste. Der Mann 40

hatte mehr Informationsquellen als McDonald’s Hamburger.

»Okay, Rose. Ich bin an meinem Platz. Er kann mich jederzeit anrufen.«

Ich überflog meinen Terminkalender und machte eine Liste aller Meetings und Zeugenbefragungen, die Sarah für mich übernehmen konnte. Die Termine, die ich selbst wahrnehmen musste, markierte ich rot. Ich schaltete meinen PC ein und arbeitete an mehreren Schriftsätzen. Laura konnte sie später formatieren und ausdrucken, dann würde ich sie noch einmal durchlesen und schließlich unterschreiben, so dass sie rechtzeitig um drei beim Richter sein würden.

Als ich das letzte Dokument abspeicherte, erschien Sarah Brenner, beladen mit Akten und Unterlagen.

»Das ist erst der Anfang«, verkündete sie kopfschüttelnd. »Ich hol’ mir noch schnell einen Kaffee und bin gleich wieder da – das kleine Monster hat mich die halbe Nacht auf Trab gehalten. Sie bekommt gerade Zähne.«

Irgendwie schaffte es diese charmante, gut aussehende junge Anwältin, ihre Arbeit genauso sorgfältig und gut zu erledigen wie ich – mit dem Unterschied, dass sie Mutter eines recht anspruchsvollen, nachtak-tiven Kleinkinds war. Jetzt erwartete sie ihr zweites Baby und war immer noch begeisterter und engagierter bei der Sache als die meisten anderen Anwälte, mit denen ich zu tun hatte.

Sarah kam mit ihrem Kaffee wieder und nahm vor meinem Schreibtisch Platz. »Hast du Lust, sie mir für 41

ein paar Nächte abzunehmen? Vielleicht entdeckst du ja deine Mutterinstinkte.«

»Danke, ich hab’ mein eigenes kleines Monster.

Chapman. Er hat mich heute mitten in der Nacht aus dem Bett geklingelt und mir einen Fall angeboten. Ich würde ihn gern behalten, falls der Boss einverstanden ist, aber ich frage mich, ob ich dich dabei nicht über-fordern würde.«

»Sei nicht albern. Erstens hab’ ich noch fünf Monate Zeit, und zweitens fühle ich mich prima und hab’

ohnehin keine Lust, zu Hause rumzusitzen anstatt zu arbeiten.« Dann zögerte Sarah. »Es war höchste Zeit, dass du wieder einen Fall bekommst, der dich wirklich interessiert. Ich verspreche dir, dass ich dir alles andere abnehme. Und jetzt verrat mir endlich, worum es geht.«

Ich berichtete, was im Mid-Manhattan passiert war und welche Aufgabenverteilung Lieutenant Peterson vorgesehen hatte.

»Sorg bitte nur dafür, dass der Fall aufgeklärt ist, bevor ich mich in den Kreißsaal begebe. Ich hab’ nämlich keine Lust auf eine Hausgeburt à la Rosemary’s Baby, aber andererseits ist der Gedanke, dass ein Verrückter die Krankenhäuser der Stadt unsicher macht, auch nicht gerade beruhigend. Wenn du gleich einen Blick in die alten Akten wirfst, wirst du nämlich feststellen, dass zu den unterschiedlichsten Zeitpunkten in den verschiedensten Kliniken die verrücktesten Sachen passiert sind.«

In einigen dieser Fälle war ich an den Ermittlungen 42

beteiligt gewesen, aber wir hatten sie in der Vergangenheit nie als gesonderte Kategorie betrachtet. Sarah und ich versuchten zunächst, uns rein gedächtnismä-

ßig an die Fälle zu erinnern, in denen wir Zeugen befragt hatten oder die uns aus anderen Bezirken zu Ohren gekommen waren. Als um zehn meine Praktikantinnen Maxine und Elizabeth auftauchten, beauf-tragten wir sie damit, per Hand die Fallberichte der vergangenen zehn Jahre nach entsprechenden Aussagen von Opfern oder Tätern zu durchsuchen.

»Fischt jede Aussage raus, in der die Wörter ›Krankenhaus‹, ›Klinik‹, ›Arzt‹, ›Krankenschwester‹, ›Psychiatrie‹ oder ähnliche Begriffe aus dem Krankenhaus-Bereich vorkommen, und kopiert sie für Sarah und mich. Bis heute Abend möchte ich alles, was ihr gefunden habt, vorliegen haben.«

Kurz nach zehn war auch Laura eingetroffen; sie bekam die gleiche Aufgabe wie die Praktikantinnen, nur mit dem Unterschied, dass sie die Computer-Dateien durchschauen sollte. Die Dateien reichten nicht so weit zurück wie die Fallberichte in Papier-form und waren schneller zu durchsuchen als die handgeschriebenen Dokumente, die Sarah und ich vom ersten Tag in dieser Abteilung an gesammelt hatten – es war ohne Zweifel eines der umfangreichs-ten Archive der Welt in Sachen Sexualstraftaten.

»Kann ich dir heute Vormittag noch irgendwie helfen?« fragte Sarah.

»Nein, danke. Gleich kommt Margie Burrows runter. Ich muss eine ihrer Zeuginnen nochmal befragen.

43

Margie hat bei der ersten Befragung ein paar wichtige Punkte ausgelassen.«

Leider nichts Ungewöhnliches. Margie Burrows war auf eigenen Wunsch in unsere Abteilung gekommen, und wir hatten ihr einige Fälle übertragen, an denen sie – unter unserer Aufsicht – ihr Können unter Beweis stellen sollte. Sie hatte das im Umgang mit Vergewaltigungsopfern notwenige Maß an Einfühlungsvermögen und Mitgefühl – was bei Vertretern der Ermittlungsbehörden nicht oft anzutreffen war –, aber ihr fehlte immer noch das kritische Auge für Widersprüche und lückenhafte Aussagen. Es war ein besonderes Fingerspitzengefühl, mit dem manche – wie zum Beispiel Sarah Brenner – auf die Welt gekommen zu sein schienen, während es andere wahrscheinlich nie lernen würden.

Als Margie das Vorzimmer betrat, verließ Sarah mein Büro. Ich rief Margie herein und holte einen dritten Stuhl – für Ciarita Salerios, die Zeugin der Anklage.

Ich überflog Margies bisherige Notizen: Ciarita Salerios war siebenundvierzig und arbeitete als Büroange-stellte in der Versandabteilung eines großen Unternehmens. Sie war geschieden und hatte mehrere erwachsene Kinder, die in der Dominikanischen Republik lebten. Seit einiger Zeit litt sie unter Depressionen, verursacht durch den Tod ihres Ex-Mannes, mit dem sie einen Neuanfang versuchen wollte. Eine ihrer Freundinnen hatte ihr einen sogenannten Santero empfohlen – den sechsundsechzigjährigen Angel Cas-44

sano, der verhaftet worden war, weil er versucht hatte, Ciarita Salerios zu vergewaltigen.

Ich stellte mich Ciarita vor und erklärte ihr, dass ich ihr noch einige Fragen stellen musste, obwohl Margie sie bereits ausführlich befragt hatte. Eine der Fragen lautete beispielsweise: Was genau ist ein Santero?

»Kein Problem, Miss Alex. Ich sag’ Ihnen alles, was Sie wissen wollen. Ich glaube, man kann es mit Hexendoktor übersetzen.«

Diese Sache würde mich sicher ein paar Stunden beschäftigen und mich davon abhalten, immer wieder an Gemma Dogen zu denken. In den Tausenden von Fällen, die ich in den letzten zehn Jahren bearbeitet hatte, war mir jedenfalls noch kein Hexendoktor un-tergekommen.

Ciarita berichtete, dass sie den Angeklagten einige Monate lang aufgesucht hatte, damit dieser ihr über den Tod ihres Ex-Mannes hinweghalf. Angel – welch unpassender Name in Anbetracht des Berufs des Angeklagten – ging zunächst mit ihr auf den Friedhof von Queens, wo Señor Salerios begraben lag, und vollführte dort einige Rituale. Da der Hexendoktor so gut wie blind war, erklärte sich Ciarita bereit, ihn danach nach Hause zu bringen. Nach ihrem vierten oder fünften Ausflug auf den Friedhof bat er sie in seine Wohnung, um dort ein zusätzliches Ritual durchzuführen.

Ab Mitte Februar gingen sie nicht mehr auf den Friedhof, sondern direkt in seine Wohnung. Und auch 45

das Ritual veränderte sich etwas. Angel verlangte von der vertrauensseligen Frau, dass sie sich splitternackt auszog und auf eine Decke mitten im Zimmer legte.

»Kam Ihnen das denn nicht seltsam vor, Ciarita?«

»Hab’ mir nichts dabei gedacht, Miss Alex. Der Al-te ist doch so gut wie blind.«

Während ich mich erinnerte, wie oft ich Polizisten und Kollegen gebeten hatte, Vergewaltigungsopfern vorurteilsfrei gegenüberzutreten, nickte ich verständnisvoll.

Sie erklärte uns, dass er sie in eine Art Trance versetzte, sich dann neben sie kniete und sie befingerte.

»Wo genau hat er Sie berührt, Ciarita?«

»An meiner Muschi.«

»Verstehe. Erzählen Sie bitte weiter.«

Irgendwann hatte sie Angel aufgefordert, damit aufzuhören, und er ließ es tatsächlich sein.

»War dieses Verhalten nicht ungewöhnlich für einen Santero

»Ich hab’ ihn gefragt, warum er so was tut, und er hat gesagt, die Geister hätten es ihm befohlen.«

»Haben Sie ihm das geglaubt, Ciarita?«

Ciarita lachte. »Jedenfalls konnte es nicht der Geist von Nestor Salerios sein, da war ich ganz sicher. Er hat mich grün und blau geschlagen, sobald mich ein anderer Mann nur eine Sekunde zu lang angeschaut hat, Miss Alex. Er war immer sehr eifersüchtig, und daran ändert auch der Tod nichts.«

Ich warf einen kurzen Blick auf den Haftbericht, den ein Polizeibeamter kurz nach der Festnahme von 46

Cassano geschrieben hatte, und las, dass der Beamte bei Cassano eine starke Alkoholfahne festgestellt hatte.

»Sagen Sie, Ciarita, was trank Angel an dem betreffenden Tag in seiner Wohnung?« Margie hatte diesen Punkt in ihrer ersten Befragung nicht angesprochen; wahrscheinlich deshalb nicht, weil Ciarita sich nicht von sich aus dazu geäußert hatte.

»Lassen Sie mich überlegen«, antwortete sie und blickte hoch zur Decke, als könnte sie dort die Antwort finden. »Rum. Ja, ich bin ziemlich sicher, dass es Rum war.«

»Hat er Ihnen auch etwas angeboten?«

»Ja, hat er. Er hat mir gesagt, die Geister mögen das. Aber ich hab’ nur einen kleinen Schluck getrunken, nicht viel.«

Love Potion Number Nine. Das Einzige, was jetzt noch fehlte, war die Zigeunerin mit dem Goldzahn, aber die tauchte wahrscheinlich bei Ciaritas nächstem Besuch auf.

Ciarita gab ihm das Geld für die Sitzung und ging –

ich musste mich auf die Zunge beißen, um sie nicht zu fragen, ob sie ihm für die Sondereinlage nicht ein Extra-Trinkgeld gegeben hatte.

Das Erstaunliche an der Sache war, dass sie zwei Tage später wieder zu ihm ging. Ja, gab sie zu, sie ha-be sich schon gefragt, ob er nicht nur an einer sexuellen Beziehung mit ihr interessiert gewesen sei und ob er wirklich so vertrauenswürdig war, wie sie anfangs geglaubt hatte.

Genau dieses Muster wiederholte sich in vielen sol-47

cher Geschichten: Ciarita war von Cassano bereits sexuell belästigt worden und wusste auch, dass er etwas Unrechtes getan hatte – und trotzdem ging sie wieder zu diesem Mann. Ihre Einsamkeit, ihre Hilflosigkeit und Verletzbarkeit waren für mich ebenso offensichtlich wie sie es für den blinden Santero gewesen sein mussten.

Bei ihrem nächsten Besuch verfiel Ciarita nach einigen Schlucken Rum und der Anrufung der Geister erneut in Trance – wieder splitternackt auf der Decke in der Mitte des Raumes. Doch diesmal war der Bann erst gebrochen, als Angel sich auf sie legte und versuchte, mit seinem Penis in ihre Vagina einzudringen.

»An dieser Stelle habe ich noch ein paar Fragen«, unterbrach ich Ciaritas Erzählung. Hier waren Margies Notizen besonders lückenhaft.

»Diese Trance, die Sie beschreiben – waren Sie währenddessen bei Bewusstsein? Waren Sie bei sich, begriffen Sie, was um Sie herum passierte?« Ich musste sicherstellen, dass sie nicht bewusstlos gewesen war oder unter Drogen stand.

»Klar doch, Miss Alex. Ich hatte dieses Mal die ganze Zeit meine Augen auf.«

»Hat Angel Sie dieses Mal zuerst mit seinen Fingern berührt?«

»Nein, Ma’am, ich bin doch nicht blöd. Wenn er das getan hätte, wäre ich sofort aufgestanden und hätte ihm eine gescheuert.«

»Das heißt, er hat sich ohne Vorankündigung auf Sie gelegt und wollte Sex mit Ihnen?«

48

Wieder suchte Ciarita die Antwort an der Decke meines Büros. Dann sah sie mich an und antwortete.

»Genau.«

Aber Angel hatte seine Hose ausziehen, sie wenigstens runterlassen oder zumindest den Hosenstall öffnen und seinen Penis herausholen müssen, bevor er auf sie stieg – in dieser Zeit hätte sie doch merken müssen, woher der Wind wehte.

»Können Sie mir sagen, Ciarita, wann genau er seine Hose auszog?«

»Sie haben Recht, Miss Alex«, sagte Ciarita und schaute mich verblüfft an. »Das ist eine gute Frage.

Wann hat er seine Hose ausgezogen? Darüber muss ich erst noch nachdenken.«

»Dann kommen wir später auf diese Frage zurück.

Ist nicht schlimm. Mir ist klar, dass dieser Teil der schwierigste für Sie ist.« Wir manövrierten uns durch den Rest der Erzählung bis hin zum Ende, als das Verhalten des Angeklagten gegenüber Ciarita um-schlug und zu einer kriminellen Tat wurde. Nachdem Ciarita beschlossen hatte, dass sie die Geister nicht empfangen wollte, stieß die Cassano weg und sprang auf. Nackt rannte sie zur Tür, gefolgt von dem blinden Hexendoktor, der sich inzwischen eine Machete vom Küchentisch gegriffen hatte. Damit zwang er sie, im Raum zu bleiben, und forderte Oralsex. Die Flucht gelang ihr erst, nachdem sie ihm anbot, im benachbarten Supermarkt neuen Rum zu holen. Von dort aus verständigte sie die Polizei.

Ich dankte ihr für ihre Mithilfe und Geduld, führte 49

sie raus auf den Gang, wo sie sich die Beine vertreten konnte, und sprach den Fall mit Margie Burrows durch; dabei klärten wir, welche Teile des Vorfalls als Straftat zu betrachten waren und welche nicht.

Laura steckte den Kopf zur Tür rein, um mir mitzuteilen, dass Rose Malone angerufen hatte. Der Bezirksstaatsanwalt sei eingetroffen und wolle mich schnellstmöglich in seinem Büro sehen – in jedem Fall noch vor seinem Arbeitsessen mit den Herausge-bern der New York Times. Ich informierte Margie über die Präsentation vor der Grand Jury, die für den Nachmittag anberaumt war, schnappte mir die Mappe mit den Notizen, die ich im Fall Gemma Dogen gesammelt hatte, und machte mich auf den Weg in Paul Battaglias Büro.

Rose stand vor einem der heillos überladenen Aktenschränke in ihrem Vorzimmer und wühlte sich durch die Ordner. »Ich versuche gerade, die Artikel zu finden, die die Times über die so genannten ›Quality of Life Crimes‹ in der Stadt veröffentlicht hat.

Paul möchte die Herausgeber davon überzeugen, eine Serie über unsere Erfolge bei der Bekämpfung von Marihuana-Handel und Prostitution in den besseren Wohnvierteln zu bringen.«

Sie lächelte mich über die Berge vergilbten Papiers hinweg an, und ich wusste, dass der Bezirksstaatsanwalt gute Laune hatte. Rose war nämlich mein persönliches Frühwarnsystem.

»Er ist gleich frei, Alex. Im Augenblick telefoniert er noch mit seiner Frau.«

50

Ich ließ im Geiste noch mal die wenigen Fakten Revue passieren, die ich zu bieten hatte – wobei mit klar war, dass Battaglia ein Pedant war und sehr viel mehr Informationen fordern würde.

In diesem Augenblick dröhnte seine Stimme aus dem riesigen Büro. »Ist Cooper schon da?«

Ich beantwortete seine Frage, indem ich den Kopf in sein Zimmer steckte, und als er mich sah, winkte er mich mit zwei Finger seiner linken Hand, zwischen denen die allgegenwärtige Zigarre steckte, herein.

»Damit bei mir der Haussegen nicht länger als nö-

tig schiefhängt, sollten Sie und die Jungs von der Mordkommission den Fall so schnell wie möglich aufklären. Meine Frau leitet die Benefizgala fürs Mid-Manhattan, und in zwei Wochen beginnt der Karten-vorverkauf. Heute Morgen um halb neun hat sie einen Anruf vom Plaza Hotel bekommen – nachdem die von dem Mord gehört haben, wollten sie einen Vorab-Scheck für die fünfhundert bestellten Dinners

… falls die Karten nicht verkauft werden können. Soviel dazu. Ist es ihr Fall?«

»Ich würde ihn gern übernehmen, Paul. Es geht um Vergewaltigung und Mord, und ich habe …«

»Ich nehme an, Sie waren schon am Tatort?«

schnitt er mir das Wort ab, denn schließlich musste er sich nicht anhören, was er ohnehin bereits wusste.

»Ja, McGraw hat Chapman die Erlaubnis gegeben, mir alles zu zeigen. Ich habe mich schon auf die Suche nach ähnlichen Fällen gemacht. Es gibt in Manhattan kaum ein Krankenhaus, in dem in der Vergan-51

genheit kein Verbrechen passiert ist – es gibt also ‘ne Menge zu tun.«

Battaglia paffte an seiner Zigarre, stemmte einen Fuß gegen die Ecke seines Schreibtischs und stieß sich nach hinten ab, so dass sein Stuhl nur noch auf den beiden hinteren Beinen stand. Er blickte mir direkt ins Gesicht.

»Das ist ein perfekter Fall für Sie, Alexandra, auch wenn Sie ihn sich durch die Hintertür geangelt haben. Niemand kennt sich besser mit Sexualstraftaten aus als Sie, und ich nehme an, dass Sie das Interesse der Presse an diesem Fall, das vermutlich enorm sein wird, nicht besonders stört. Sie werden mir direkt berichten, und wenn Chapman eine seiner berühmt-berüchtigen kreativen Ideen hat – etwa Sie in der Verkleidung einer Krankenschwester zwecks Sammelns von Beweisstücken in die Nachtschicht einzuschleusen –, dann tun Sie mir bitte den Gefallen, ihn davon abzubringen.«

Lachend versicherte ich Battaglia, dass ich mich auf so etwas Blödes im Traum nicht einlassen würde –

und nahm mir im selben Augenblick vor, dem Er-mittlungsteam vorzuschlagen, meine Lieblingspolizis-tin Maureen Forester als Patientin in die neurologische Abteilung des Mid-Manhattan einweisen zu lassen.

5

Der Rest des Tages verging wie im Flug mit den üblichen Problemen und Fragen, mit denen die jungen Anwälte meiner Abteilung bei mir auf der Matte standen. Sarah und ich hatten uns über Mittag mit Salat und Cola in einen Konferenzraum zurückgezogen, wo wir eine Liste mit Namen von Zeugen zu-sammenstellten, die wir im Mordfall Dogen genauer unter die Lupe nehmen wollten. Laura hielt mir alle unwichtigen Anrufe vom Leib, und den letzten Teil des Tages verbrachte ich mit dem Überfliegen ihrer Telefonnotizen und dem Beantworten der Anrufe, die so dringend waren, dass sie nicht bis zum nächsten Morgen aufgeschoben werden konnten.

Um halb sieben schaltete ich sämtliche Lichter aus und machte mich auf den Weg zu Rod Squires, dem Leiter der Prozessabteilung, um ihm mitzuteilen, dass ich nun zu dem Meeting der Sonderkommisson gehen würde. Die Mappe voller Fallnotizen unter dem Arm, verließ ich dann das Gebäude und ging zu meinem Jeep. Der schlimmste Berufsverkehr war schon vorbei, so dass ich ungehindert die First Avenue hi-nauffahren und dabei noch Nina Baum, meine beste Freundin, anrufen konnte. Wie fast jeden Tag hinterließ ich eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter in ihrer Kanzlei in Los Angeles. Ich parkte in der Nähe des Reviers auf der East Fifty-first Street und betrat 53

das Gebäude. Am Eingang erklärte ich den Grund meines Besuchs und zeigte dem wachhabenden Cop meinen Ausweis. Er winkte mich vorbei und deutete auf die Treppe. Im ersten Stock angekommen, öffnete ich die schwere Metalltür und betrat einen grün geka-chelten Flur. Zu meiner Rechten sah ich die Umkleideräume der uniformierten Cops, geradeaus ging’s zum Anticrime Office, aber den meisten Platz bean-spruchte der Einsatzraum zu meiner Linken.

Wenn gerade die Ermittlungen in einem wichtigen Mordfall anliefen, konnte man bei einem Besuch im Hauptquartier die Crème de la Crème des NYPD antreffen. Die Stimmung war wie elektrisiert: Die Mitglieder von Petersons handverlesenem Sonderkom-mando hatten sich schon zur Vorbereitung des Briefings versammelt, das nach der Ankunft der beiden Bosse etwa eine Stunde später beginnen sollte. Ich sah mich im Raum um, um festzustellen, wer in diesem Fall mit mir zusammenarbeiten würde, und hatte dabei auch im Hinterkopf, dass diese Jungs nicht nur Ermittler waren, sondern später auch als Zeugen im Prozess auftreten würden. Und von ihrer Sorgfalt bei der Beweisaufnahme, ihrer Fähigkeit, den richtigen Beweisen die richtige Bedeutung zuzuordnen, und ihrem Geschick, die Beweismittelkette überzeugend aufzubauen, würde maßgeblich der Erfolg dieses Prozesses abhängen.

Vom Gang aus betrachtet ähnelte der Einsatzraum einem Kaninchenstall. Schätzungsweise zwanzig Detectives drängten sich um die zwölf Schreibtische, auf 54

denen jeweils eine alte Schreibmaschine, mehrere Telefone und ein Drahtkorb standen; letztere waren im Augenblick noch leer, aber bald würden sie sich mit den rosafarbenen Berichtsbögen füllen. Das Compu-terzeitalter hatte hier ganz offensichtlich noch nicht Einzug gehalten. An den beiden Tischen nahe der Tür saß jeweils ein verdrossen dreinschauender Polizist in Zivil, und es war offensichtlich, dass die beiden zur Stammmannschaft des 17. Reviers gehörten, das nun von dem Sondereinsatzkommando in Beschlag genommen worden war; die zwei hatten offenbar nichts mit dem Mordfall Dogen zu tun, sondern waren zu ganz normalem Dienst in ihrem Bezirk verdonnert.

Sie beobachteten die Elite-Cops wie Aschenputtel ihre Stiefschwester angestarrt haben musste, die sich für den Ball schönmachte.

Zu meiner Rechten befand sich eine durch Gitterstäbe abgeteilte, lediglich mit einer Holzpritsche möb-lierte Arrestzelle, in der Gefangene in der Zeit zwischen einer Vernehmung und dem Abtransport ins Gefängnis verwahrt wurden. Normalerweise warteten zwei, drei Männer in der Zelle, aber an diesem Tag drängten sich dort sage und schreibe acht Festgenommene. Die Tür der Zelle stand weit offen, manche der Männer standen, manche saßen auf dem geka-chelten Boden, und einer lehnte sogar außerhalb der Zelle an den Gitterstäben. In ihren schmutzigen, abgerissenen, bunt zusammengewürfelten Klamotten sahen sie aus, als hätten sie keinen Platz mehr im Obdachlosenheim gefunden. Niemand schenkte ihnen 55

Beachtung, und sie schienen sich nicht gerade unwohl zu fühlen.

An einem Tisch in der entgegengesetzten Ecke des Raumes saß die einzige andere Frau. Es war Anna Bartoldi, eine der Hauptstützen der Mordkommission, die Peterson zweifelsohne dazu bestimmt hatte, in diesem sicherlich nicht einfachen Fall für die Regist-rierung aller Schriftstücke zu sorgen. Annas fotogra-fisches Gedächtnis würde dem Lieutenant gelegen kommen, wenn es darum ging, die vielen hundert Dokumente zu registrieren, die die Officers in Kürze produzieren würden – von wichtigen Zeugenaussagen bis hin zu den Hinweisen wohlmeinender Bürger –, und jedes dieser Mosaiksteinchen konnte letztlich das entscheidende bei der Jagd nach dem Mörder sein.

Mit einer Hand hielt sich Anna den Hörer ans Ohr, während sie mit der anderen einen Eintrag in eine überdimensionale Kladde machte; daraus schloss ich, dass die Nummer der öffentlichen Hotline bereits über die lokalen Radiosender bekanntgegeben worden war.

Hinter Annas Schreibtisch befand sich die Tür zum Büro des Dienststellenleiters, den Peterson jedoch bis auf weiteres ausquartiert hatte; wie in jedem spektakulären Fall stand Peterson unter dem Druck, möglichst bald die erste Verhaftung vorzunehmen.

Mercer Wallace, der massigste und schwärzeste aller anwesenden Männer, entdeckte mich als Erster, während ich aus meinem Mantel schlüpfte. »Guck nicht so entsetzt, Cooper«, rief er mir zu und deutete mit dem 56

Kinn auf die hoffnungslos überfüllte Arrestzelle. »Willkommen bei der Heilsarmee. Komm schon rüber.«

Ich kannte die meisten der anwesenden Cops und wechselte mit denen, die ich morgens am Tatort noch nicht gesehen hatte, ein paar Worte, während ich mich zu Mercers Schreibtisch vorarbeitete.

»Peterson ist da drin und wartet auf McGraw. Der Commissioner und McGraw hatten ‘nen Auftritt in den Abendnachrichten. Das übliche: Appell an die Öffentlichkeit, Ruhe zu bewahren, die Bitte um Hinweise aus der Bevölkerung. Der Bürgermeister hat eine Belohnung von zehntausend Dollar für Hinweise, die zur Ergreifung des Mörders führen, ausgesetzt. Sofort haben alle Hotline-Telefone geklingelt, und manch einer hätte für die Belohnung seine Großmutter verkauft«, berichtete Wallace, nachdem ich endlich bei seinem Schreibtisch angekommen war.

Ich schaute Anna über die Schulter und sah, dass sie gerade den siebenundvierzigsten Eintrag gemacht hatte. Früher hatte sie mir mal gesagt, dass ihrer Erfahrung nach nur jeder sechzigste Anruf tatsächlich in einem Zusammenhang mit dem Fall stand, also er-staunte es mich nicht, dass sie sich zurücklehnte und mich mit dramatisch verdrehten Augen begrüßte, bevor sie sich an den nächsten Eintrag machte, der wahrscheinlich auch nichts weiter als eine Fleißübung war. Eine ganze Menge Ermittler würden damit beschäftigt sein, den einzelnen Hinweisen und Aussagen nachzugehen, auch wenn sie kaum etwas mit dem Fall zu tun zu haben schienen, denn schließlich konn-57

te jeder Anruf zu einer heißen Spur führen; vielleicht stammte er sogar von jemandem, der den Mörder kannte und sich die Belohnung verdienen wollte.

»Hey, Blondie, pack die Kohle aus, nach einer kurzen Werbepause sind wir wieder da«, dröhnte Chapmans Stimme durch den Raum. Mit vollen Backen kauend und ein Stück Pizza in der Hand, betrat er die Einsatzzentrale. »Die Glotze steht hier im Umkleideraum. Los, bewegt euch.«

Mercer erhob sich und gab mir einen Klaps auf den Rücken. »Los, Alex. Ich setz mein Geld auf dich. Au-

ßerdem gibt’s in der Umkleide auch was zu essen, also werden wir ihm Gesellschaft leisten.«

Ich folgte Mercer um die Ecke und den Gang entlang bis zum Ende. An den Wänden des etwa fünf mal sieben Meter großen Raumes standen ramponier-te dunkelgrüne Spinde. Zum Inventar gehörten eine Kaffeemaschine, ein Kühlschrank, schätzungsweise aus dem Jahr 1940, ein Fernsehapparat und ein großer rechteckiger Tisch, auf dem Getränkedosen, drei Pizza-Kartons, eine Schachtel, die früher einmal ein Dutzend Donuts beherbergt hatte, einige halbleere Tüten mit Nachos und Salzbrezeln sowie ein paar Zi-garettenpackungen standen. Das einzige Kunstwerk, das die Wände schmückte, war ein Penthouse-Poster; auf den üppig gerundeten Körper des blutjungen Models hatte man den Kopf von Janet Reno montiert. Ich erinnerte mich, dass die Justizministerin Ende 1996

den Bezirk besucht hatte, und musste grinsen; sie hatte offenbar einen tiefen Eindruck hinterlassen.

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»Heute geht’s um berühmte Anführer, Coop. Ich setz’ fünfzig. Will diesen Fall doch schließlich opti-mistisch beginnen.«

Chapman zog einen Schein aus seiner Geldbörse und legte ihn auf den Tisch, während er nach dem nächsten Pizzastück griff. Dann schob er mir den Karton rüber, und gemeinsam mit Mercer öffnete ich den Deckel – er war mit Fettflecken übersät, und die Pizza war eiskalt. »Die liegt hier schon seit Stunden rum«, bemerkte Wallace. »Darauf kann ich verzichten. Ich setz’ meinen Fünfziger auf das Mädel, Chapman.«

»Überleg’s dir gut – das ist sein Fachgebiet«, warnte ich Mercer. Chapman hatte in Fordham Geschichte studiert, und auf diesem Gebiet schlug er mich mühelos.

»Du warst doch sonst immer auf Draht, Coop. Was ist los mit dir? Berühmte Anführer … du liest doch jeden Tag die Zeitung, oder? Vielleicht geht’s ja um eine aktuelle Persönlichkeit, nicht um einen Verbli-chene. Wenn nach einem Cousin von Mercer gefragt wird, der in Afrika einen Tutsi-Stamm anführt, oder nach dem Präsidenten einer baltischen Republik, die’s vor drei Wochen noch gar nicht gegeben hat, muss ich passen. Also los, da ist Trebek.«

Alex Trebek hatte seinen drei Kandidaten soeben die Final-Jeopardy-Antwort bekannt gegeben. Ich las den Namen Medina Sidonia und hatte keine Ahnung, wer das sein sollte.

Chapman setzte sein Pokerface auf und ließ mir den Vortritt. Mit der ernstesten Stimme, die ich zu-59

stande brachte, lieferte ich ihm die Frage: »Wer war vor John Gotti der Kopf der Brooklyn-Fraktion der Gambino-Familie?«

»Leider falsch«, erwiderte er, während er der Pizza einen Donut mit Zuckerguss folgen ließ. »Señor Sidonia – übrigens ein spanischer Adliger, Miss Cooper, und kein Mafioso – war der Oberbefehlshaber der spa-nischen Armada; er führte seine Seeleute an der Küste entlang, im Rücken die Unterstützung der Landstreit-mächte unter Alessandro Farnese, dem Herzog von Parma …«

»Ich glaub’, ich hol’ mir was zu essen«, rief ich über die Schulter, während ich mich entfernte. Wieder einmal hatte mich Mike mit seinem geradezu enzyklopädischen Wissen in Sachen Militärgeschichte verblüfft. »Tut mir leid, Wallace. Ich revanchier’ mich bei Gelegenheit. Aber jetzt plaudere ich erstmal ‘ne Runde mit Anna.«

Als ich den Umkleideraum verließ, sah ich Chief McGraw in der offenen Tür zu Petersons Büro stehen.

Neben dem Schreibtisch des Lieutenants stand ein alter Holzbock, auf dem ein großer Skizzenblock lehnte; auf dem ersten Blatt stand in ordentlichen Buchstaben

»Mid-Manhattan Hospital«. McGraw hatte vorgeschlagen, das Briefing hinten durchzuführen, so dass er währenddessen die Berichterstattung auf New York 1

verfolgen konnte, einem lokalen Fernsehsender, der jede halbe Stunde aktuelle Nachrichten brachte.

Mercer war mir gefolgt und flüsterte mir ins Ohr:

»McGraw hat sich seit der Pressekonferenz vor einer 60

Stunde mindestens schon sechs-, siebenmal in der Glotze gesehen, aber offenbar kann er wieder mal nicht genug von seinem eigenen Konterfei kriegen, was?«

Während die beiden das Büro verließen, bedeutete uns Peterson, wieder zurück in den Umkleideraum zu gehen, und drückte Mercer das Holzgestell in die Hand. Dann brüllte Peterson die Namen von drei anderen Männern, die er beim Briefing dabeihaben wollte, durch den Einsatzraum. McGraw würdigte mich keines Blickes, also verschwand ich schnell in der Umkleide, um sicherzustellen, dass Mike nicht zufällig eine Parodie des Chiefs aufführte. Aber Chapman guckte die Nachrichten; gerade wurden die Titelseiten mit den Headlines eingeblendet, die die großen Morgenzeitungen am nächsten Tag bringen würden: MAYHEM IM MID-MANHATTAN. Das Foto zeigte den von Reportern umringten Bürgermeister, der vor dem Portal des Krankenhauses Gemma Dogens Schicksal bedauerte und gleichzeitig den Krankenhäusern der Stadt sein volles Vertrauen aussprach.

»Warte nur, bis der Chief sieht, dass er nicht übern Äther flimmert«, bemerkte Chapman grinsend. »Er hasst es, wenn der Bürgermeister ihn aus dem Rennen wirft.«

»Vielleicht willst du’s ihm ja selbst sagen. Er steht ungefähr fünf Schritte hinter dir«, zischte ich Mike warnend zu.

Mercer stellte das Holzgestell ab. Er schlug den ers-61

ten Bogen nach hinten, und zu sehen war die erste einer Reihe von Skizzen, die eine Polizeizeichner anhand eines Bauplans des Krankenhauses angefertigt hatte, um die Bosse mit dem Terrain vertraut zu machen. Obwohl es aus der Skizze nicht ersichtlich war, wussten wir alle, dass der Komplex mehr Menschen beherbergte als die meisten Städte des Landes. Es gab Dutzende von Ein- und Ausgängen, die auf Straßen, in Tiefgaragen und in andere Gebäudeteile führten; es gab kilometerlange Gänge, an denen Büros, Labors, Aufbewahrungskammern und OPs lagen; es gab Tausende von Menschen, die in diesem Gebäudekomplex arbeiteten, die dort jemand besuchten, behandelt wurden oder aus anderen Gründen tagtäglich ein und aus gingen.

Lieutenant Peterson führte McGraw in den hinteren Teil der Umkleide; ihnen folgten die drei Detectives des Sondereinsatzkommandos. Es handelte sich um die drei Männer, die den Tag damit verbracht hatten, im Krankenhaus zu ermitteln; die hatten geduldig Zeugen um Zeugen angehört, um herauszufinden, ob irgend jemand am Tag oder in der Nacht zuvor etwas Ungewöhnliches gehört oder gesehen hatte. Peterson schob seine Brille hoch auf die Stirn, forderte uns auf, am Tisch Platz zu nehmen, und bat Mercer, zu berichten, was er über die Ermordete herausgefunden hatte. McGraw hielt sich etwas abseits, die Arme vor der Brust verschränkt, die Zigarette im Mundwinkel. Mit zusammengepressten Lippen hatte er aus dieser Position heraus sowohl uns als auch den Fern-62

sehapparat im Blickfeld; der Ton war abgestellt, aber auf dem Bildschirm waren immer noch die tumultar-tigen Szenen vor dem Krankenhaus zu sehen.

Laura hatte mir in meinem Büro den üblichen rostfarbenen Ziehharmonikaordner in die Hand ge-drückt, der im Lauf einer solchen Ermittlung schon bald aus allen Nähten platzen würde. Ich nahm die Notizblöcke heraus, die sie reingesteckt hatte – ein paar frische und zwei, die schon die Notizen beinhal-teten, die Sarah und ich im Lauf des Tages für dieses Meeting zusammengetragen hatten. Die Cops klappten währenddessen ihre handlichen Steno-Blöcke auf.

Als Mercer zu berichten begann, machten wir die ersten Notizen.

»Gemma Dogen. Wie Sie bereits alle wissen, war die Ärztin achtundfünfzig Jahre alt, weiß, körperlich gut in Schuss, alleinstehend. Sie war Britin, geboren und aufgewachsen in einem kleinen Dorf namens Broadstairs an der Küste von Kent. Sie hat in England studiert und Examen gemacht und zog vor etwa zehn Jahren hierher – sie hatte das Angebot erhalten, in der neurochirurgischen Abteilung zu arbeiten, und übernahm dann bald deren Leitung. Keine schlechte Karriere für eine Frau. Dazu kommt noch die Profes-sur am Medical College. Sie war auch in akademischen Kreisen respektiert, nicht nur als praktizierende Ärztin. Sie wurde vor ihrer Übersiedlung in die Staaten geschieden. Keine Kinder. Ihr Ex-Mann, Geoffrey Dogen, ist im Augenblick nicht erreichbar. Er ist ebenfalls Arzt; sie haben sich an der Uni kennen gelernt.

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Er ist seit 1991 wieder verheiratet, und seine jüngere Frau hat in ausgerechnet in dieser Woche zum Berg-steigen in den Himalaja geschleift. Sie leben in London, und aus den Briefen, die ich in Gemma Dogens Wohnung gefunden habe, ist ersichtlich, dass sie noch in Kontakt stehen und eine gute Beziehung haben. Er wird nächste Woche in London zurückerwartet, dann können wir uns mit ihm in Verbindung setzen und ihm ein paar Fragen über das Privatleben seiner Ex-Frau stellen. Zum Kreis der Verdächtigen ist er jedenfalls nicht zu zählen.«

Der Chief hatte noch kein Wort von sich gegeben.

Sein Blick hing immer noch wie gefesselt am Bildschirm, und wie immer störte ihn die Tatsache, dass seine Zigarette bis kurz vor seinen Mundwinkel he-runtergebrannt war, nicht im geringsten. Sobald sein Speichel die Glut gelöscht haben würde, griff er automatisch nach der Packung und zündete die nächste an. Wir alle hatten das schon tausendmal gesehen.

Wallace fuhr fort. »Gemma Dogen lebte am Beekman Place, nicht weit vom Krankenhaus entfernt.

Genauer gesagt im Doorman Building: teures Zwei-Zimmer-Appartment inklusive Dachterrasse mit Blick über den Fluss. George Zotos ist noch dort. Es gibt Tonnen von Papierkram durchzusehen. Die Dame hat jede Menge Akten gebunkert – im Moment schwer zu sagen, ob wir darunter was Interessantes finden oder nicht. Aber für die Wohnung gilt im Prinzip das Gleiche wie für ihr Büro: nicht viel Persönliches. Die meisten Fotos sind Schnappschüsse aus ihrer Kindheit 64

oder Bilder von Veranstaltungen, bei denen ihr ein Titel oder eine Auszeichnung verliehen wurde.«

McGraw steckte sich eine neue Zigarette in den Mundwinkel. »Gibt’s irgendwelche Nachbarn oder Wachleute, die etwas über sie erzählen können?«

»Der Typ am Empfang bestätigt ihren verrückten Terminplan. Sie ist zwischen dem Krankenhaus und ihrer Wohnung hin und her gerast, hatte jede Mengen Fahrten zum Flughafen, ist morgens und oft auch abends am Fluss gejoggt. Hatte nur wenig Besuch.

Manchmal blieb ein Mann über Nacht; um genau zu sein: verschiedene Männer. Aber an Namen konnte er sich nicht erinnern. Die direkten Nachbarn waren bislang keine Hilfe. Ein Ehepaar ist erst vor zwei Monaten eingezogen, die auf der anderen Seite waren den ganzen Tag nicht da, und die anderen haben wir noch nicht vernommen.«

Mercer blätterte auf die nächste Seite um. »Wir haben begonnen, den Tatort Krankenhaus unter die Lupe zu nehmen und nach anderen Verbrechen im Mid-Manhattan zu fahnden, aber ich bekomme die Computerergebnisse vermutlich nicht vor morgen.

Alex kann im Augenblick zu diesem Punkt wahrscheinlich mehr als ich sagen. Dr. Dogens Kollegen und Mitarbeiter haben wir für die nächsten Tage zur Vernehmung einbestellt. Die Neurochirurgie ist eine relativ kleine Abteilung – bis zum Wochenende müssten wir damit durch sein. Als vorläufiges Zwi-schenergebnis können wir sagen, dass Gemma Dogen zwar keine Mutter Teresa war, aber auch keine offen-65

sichtlichen Feinde hatte. Sie war ‘ne strenge Chefin, aber das muss man wohl sein, wenn ein Tausendstel Millimeter über das Leben eines Patienten entschei-det. Außerdem habe ich mich nach ähnlichen Fällen in anderen Krankenhäusern an der Westküste erkundigt. Im Washington Metro wurden vor etwa einem Monat zwei Ärzte im Parkhaus erschossen, als sie nach dem Dienst nach Hause fahren wollten. Es handelte sich um zwei männliche Ärzte, in beiden Fällen war offensichtlich Raub das Tatmotiv – es wurden Medikamente und Rezeptblöcke gestohlen. Die Kugeln stimmten in beiden Fällen überein. Bislang keine Verdächtigen. In einer Privatklinik in Philadelphia wurde eine Patientin – man stelle sich vor: eine Quer-schnittsgelahmte – von einem Junkie vergewaltigt, der nachts eingebrochen war, um Spritzen zu klauen. Eine Krankenschwester hat den Kerl dingfest gemacht, bevor er abhauen konnte. In Boston ist nichts ähnliches bekannt, aber die Kollegen geben in ein, zwei Tagen endgültig Bescheid. Das ist bis jetzt alles, Chief.«

McGraw brummte nur und Peterson gab Chapman mit einem kurzen Nicken zu verstehen, er möge sich an die Tafel begeben. Mercer setzte sich neben mich an den Tisch, während sich Mike erhob.

Er schnappte sich den schwarzen Filzstift, der mit einer Kordel an dem Block befestigt war, summte die Erkennungsmelodie von Twilight Zone und gab eine Rod-Serling-Parodie zum Besten. »Guten Abend, meine verehrten Damen und Herren. Sie werden sogleich in eine völlig neue Dimension eintauchen – sie erwar-66

ten einen Ort, an dem die Kranken und Müden Trost finden, an dem die Verletzten geheilt werden, an dem die Lahmen wieder laufen lernen. Und was treffen wir statt dessen an? Das Mid-Manhattan.« Serling wurde wieder zu Chapman. »Ein Ort, an dem sich jeder beliebige Verrückte, der aus Bellevue, Creedmoor, dem Manhattan State oder einer anderen Klapsmühle ausgebrochen ist, unbemerkt einschleichen und bewegen kann.«

»Pass auf, Cooper, jetzt hat er die Aufmerksamkeit des Chiefs«, flüsterte Wallace mir zu. »Halt dich gut fest.«

McGraw fixierte Mike, während er sich die nächste Zigarette anzündete.

»Tut mir leid, Chief, aber so sieht die Sache aus.

Keiner von uns wird nach diesen Ermittlungen jemals wieder eine ruhige Nacht in einem Krankenhaus verbringen. Das Ding ist so groß wie ‘ne Kleinstadt –

nur dass es dort keine Polizei gibt. Die beschissensten Sicherheitsstandards, die man sich in einem verdammten Krankenhaus vorstelllen kann.«

»Halt die Luft an, Mike«, unterbrach Peterson.

»Auf deine Kraftausdrücke können wir verzichten.«

Ich wusste, dass er es hasste, wenn seine Jungs vor Frauen derart fluchten.

»Mach dir um Cooper mal keine Sorgen, Loo. Ich weiß zufällig, dass sie ihr erstes College-Jahr in einem Marine-Trainings-Camp auf Parris Island verbracht hat – die kann also so schnell nichts erschüttern.«

Kein Protest meinerseits.

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»Okay, wieder zurück zu unserem Fall. Wie der Lieutenant vorgeschlagen hat, habe ich mich von William Dietrich, dem Klinikdirektor, ein paar Stunden lang durch den ganzen Komplex führen lassen. Jeder der hier Anwesenden war schon mal in dem Gebäude; jeder hat schon mal jemanden dort besucht oder hatte dort ‘ne Zeugenvernehmung oder ähnliches. Ich schwöre euch, dass ich dort heute Dinge gesehen habe, die euch das Blut in den Adern gefrieren lassen und die Sehnsucht nach der guten alten Zeit wachrufen, in der Ärzte noch Hausbesuche gemacht haben. Fangen wir mit dem Grundriss an. Das Wichtigste ist allen bekannt: Der Haupteingang an der Achtundvierzigsten Straße bietet den einfachsten Zugang zum Mid-Manhattan. Es handelt sich um acht doppelte Türen, die direkt von der Straße in den so genannten Privat-teil des Krankenhauses führen. Dabei handelt es sich um eine hochmoderne Einrichtung, die eintausend-fünfhundertvierundsechzig Betten umfasst, die sich auf sechsundzwanzig Flügel verteilen. Auf Wunsch kann ich die einzelnen Flure detailliert vorstellen. Die Eingangshalle ist etwas kleiner als die Halle von Penn Station, aber wahrscheinlich genauso voll.«

»Wie sehen die Sicherheitsmaßnahmen aus, Mi-ke?« erkundigte sich der Lieutenant.

»Welche Sicherheitsmaßnahmen? So was wie Sicherheit gibt’s da nur im allerentferntesten Sinn. Nur Square Badges. Genauso gut könnte man meine Mutter an den Empfang setzen; die würde die Besucherauswei-se verteilen, während sie ihre Soaps glotzt. Die Jungs, 68

die dort eingesetzt werden, sind als Sicherheitskräfte völlig unqualifiziert und unzureichend ausgebildet.«

»Außerdem sind es nicht besonders viele«, fuhr er fort, »angesichts der Menschenmassen, die sich rund um die Uhr rein- und rauswälzen. Darüber hinaus machen sie’s sich ziemlich einfach und halten alte Damen und ordentlich aussehende Besucher an, während sie Typen, denen ich nicht im Dunkeln begegnen möchte, unbeanstandet passieren lassen. Hab’ ich heute mit eignen Augen gesehen. Und das ist erst der Haupteingang. Auf jeder Seite des Hauptgebäudes existieren zusätzliche Türen. Sie sollten zwar nur als Ausgänge dienen und öffnen sich lediglich zur Straße hin, aber wenn man einen Herauskommenden abpasst, kann man mühelos durch die geöffneten Türen hinein-schlüpfen. Eine Kontrolle gibt es nicht. An der Rückseite des Gebäudes existieren weitere Türen, die zum Parkplatz führen. Der ist zwar nur für Personal gedacht, aber letztlich kann dort jeder parken und ein und ausgehen, wie es ihm passt.«

»Und was ist mit der Uniklinik, in der sie umgebracht wurde?« drängte McGraw.

»Das Minuit Medical College wurde 1956 erbaut; es ist eine Stifung der Erben von Peter Minuit, dem Generaldirektor der New Netherlands, dem Mann, der die Indianer beschissen und ihnen Manhattan für vierundzwanzig Mäuse abgekauft hat.« Chapman zeichnete einige Pfeile ein, die vom Hauptgebäude in Richtung des modernen Hochhauses zeigten, in dem sich die Uniklinik befand.

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»Ein Meisterstück moderner Architektur, Chief, und das Beste daran: Es ist nicht nur durch eine Vielzahl von Gängen und Aufzügen mit dem Mid-Manhattan verbunden, sondern, was mir bis heute selbst nicht bekannt war, durch ein System unterirdischer Tunnel, das in den Tagen geschaffen wurde, als man noch glaubte, dort wäre man im Fall eines Nuklear-angriffs sicher. Addiert man die Länge dieses Systems, erhält man einen Tunnel, der sicher bis nach China reicht.«

»Und was ist da drin?«

»Falsch gefragt, Loo. Wer ist da drin, nicht was. Erinnerst du dich an die Typen in den Zellen drüben im Einsatzraum? In diesen Tunnel hausen Hunderte von Obdachlosen. Wir sind heute Vormittag durchmar-schiert und haben alles gesehen, was man sich nur vorstellen kann: alte Männer, die zusammengerollt in den Ecken vor sich hin vegetieren, Junkies mit ‘nem kompletten Crack-Labor, in einem größeren Raum war ein Damen-Club versammelt, alle in ziemlich schrägen Klamotten, ihre Hab Seligkeiten in ein paar Plastiktüten verpackt. Außerdem hab’ ich drei Typen wiedergetroffen, die mir ‘94 bei einer Drogenrazzia ins Netz gegangen sind, und der Alte in dem silber-nen Glitzer-Overall, der gerade in eine Ecke gepinkelt hat, als wir vorbeikamen, hätte tatsächlich Elvis sein können.«

»Irgendwelche Hinweise darauf, dass sie Zugang zu den Krankenhausgebäuden haben?« wollte der Chief wissen.

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»Kann man wohl sagen. Jeder zweite von ihnen trägt ‘nen Arztkittel – ganz offensichtlich aus einer der Abteilungen geklaut. In den Ecken stapeln sich Tabletts mit Essensresten der Patienten und außerdem jede Menge leerer Tablettenröhrchen. Als Kopfkissen benutzen sie Bettpfannen, und gegen die Kälte tragen sie Gummihandschuhe. Scherz beiseite: Wenn ihr nachts in dem Einbettzimmer, für das eure Krankenversicherung einen Haufen Geld bezahlt, die Augen öffnet, kann es passieren, dass einer von den Typen vor euch steht. Entweder trifft euch der Schlag, oder ihr seid kuriert.«

Mike schlug den Bogen zurück und griff nach dem Stift.

»Und nicht zu vergessen das dritte Puzzle-Teil: Wir haben bisher noch kein Wort über unsere Freunde vom Stuyvesant Psychiatric Center verloren, das sich gleich rechts vom Mid-Manhattan befindet und – ihr habt’s wahrscheinlich schon erraten – ebenfalls mit dem Gebäude verbunden ist, und zwar auf jedem Stockwerk, sowohl ober- als auch unterirdisch.«

»Jetzt ist Nicholson dran – Einer flog übers Ku-ckucksnest. McGraw kocht schon«, raunte mir Wallace zu und versuchte, sein Grinsen zu unterdrücken.

Mike war schon mitten in seinem nächsten Auftritt und ließ uns an seinem morgendlichen Rundgang vorbei an sämtlichen neunhundertsechsundvierzig Betten der psychiatrischen Klinik teilnehmen. Er beschrieb die Patienten in allen Nuancen ihrer seltsamen Zustände, er schilderte die Insassen der geschlos-71

senen Abteilungen – von den in Zwangsjacken To-benden bis hin zu den völlig teilnahmslos Dahinvege-tierenden, die schon fast zum Inventar gehörten und deshalb über das Privileg verfügten, sich tagsüber mehr oder minder frei bewegen zu dürfen.

Peterson versuchte, Chapman auf den Punkt zu bringen. »Soll das heißen, dass sich diese Patienten ohne jede Aufsicht bewegen können?«

»Die schwersten Fälle sicherlich nicht, aber ich ha-be einige gesehen, die keinerlei Beschränkungen un-terliegen.«

»Heißt das, dass sie ein und aus gehen und somit ohne Probleme in die benachbarten Gebäude gelangen können?«

»Genau das heißt es, Loo. Sie schlüpfen in ihre Latschen, schlurfen in den nächsten Aufzug, und niemand hält sie auf.«

»Und was ist mit den Square Badges?«

»Loo, ich schwör’s dir, wenn einer von denen den Sicherheitsleuten sagen würde ›Hi, mein Name ist Jeffrey Dahmer, und ich habe Hunger‹ – die würden den ohne mit der Wimper zu zucken in die Jugend-klinik führen.«

McGraw war fassungslos. »Himmel, da grenzt es ja an ein Wunder, dass so etwas nicht schon viel früher passiert ist. Kaum zu glauben, dass das der erste derartige Fall sein soll.«

»Immer langsam, Chief. Cooper hat ein paar Überraschungen für Sie parat. Falls Sie der Meinung sein sollten, ich hätte nicht schon genug Verdächtige zu 72

bieten, wird sie Ihnen gleich noch ein paar mehr prä-

sentieren. Auch wenn ich der Meinung bin, dass wir den Mörder unter den unterirdischen Bewohnern suchen sollten, hat Alex ein paar Geschichten auf Lager, die auch andere Möglichkeiten eröffnen.«

6

»Sie wissen, dass ich es hasse, Chapman Recht zu geben, aber es sieht wirklich so aus, als würden die Verrückten persönlich die Klapsmühle leiten«, bemerkte ich, während ich in meinem mittlerweile vollge-schriebenen Notizblock blätterte.

»Chief«, wandte sich Peterson an McGraw, der es bekanntermaßen nicht schätzte, wenn die Staatsanwaltschaft am polizeiinternen Briefing teilnahm, »ich habe Alex gebeten, sämtliche Sexualstraftaten ausfindig zu machen, die in den vergangenen Jahren in einem unserer Krankenhäuser begangen wurden. Meine Jungs wissen ja nur in Sachen Mord Bescheid, deshalb hielt ich es für sinnvoll, für diesen Punkt Alex hinzuziehen.«

»Sarah Brenner und ich haben alles rausgekramt, was uns dazu einfiel, doch es ist wahrscheinlich nicht alles. Aber eines vorab: Sollten Sie oder einer Ihrer Angehörigen sich jemals einem Eingriff unterziehen müssen, gehen Sie am besten in die Tierklinik. Diese großen Krankenhäuser können tödlich sein. Aber jetzt zur Sache. Im Mid-Manhattan laufen fünf Ermittlungen. Im 17. Bezirk wurde gerade ein Hausmeister festgenommen, der erst vor drei Monaten seine Stellung im Krankenhaus angetreten hatte. Seine Spezia-lität war es, sich, bekleidet mit einem Arztkittel, in die Zimmer von Patientinnen einzuschleichen, die kein Englisch sprechen und sein Tun nicht hinterfragen 74

konnten. Die Frauen haben ihn natürlich für einen Arzt gehalten und sich im Intimbereich von ihm untersuchen lassen. Sein Name ist Arthur Chelenko; er wurde vor zwei Wochen verhaftet und daraufhin frist-los entlassen. Erst zu diesem Zeitpunkt fand die Per-sonalabteilung heraus, dass er letztes Jahr wegen genau des gleichen Vergehens vom Bronx Samaritan gefeuert worden war. Er hatte in seinem Lebenslauf falsche Angaben gemacht, und natürlich hatte kein Mensch seine Daten nachgeprüft. Jetzt treibt er weiter sein Unwesen.«

»Was? Im Gefängnis?«

»Nein, er ist gegen Kaution bis zur Verhandlung auf freien Fuß gesetzt worden.«

McCabe, Losenti und Ramirez – die drei Detectives, die zur Kleinarbeit verdonnert worden waren – machten eifrig Notizen, während ich ihnen Kopien des Strafregisters von Chelenko über den Tisch reichte.

»Ist er in der Vergangenheit bereits gewalttätig geworden?« erkundigte sich Wallace.

»Laut Strafregister – nein. Aber wir müssen natürlich die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass er Gemma Dogen lediglich sexuell belästigen wollte und die Situation eskalierte, als sie sich zur Wehr setzte. Der Nächste ist Roger Mistral, ein Anästhesist. Ich bekam heute morgen, nachdem die Nachricht von dem Mord an Gemma Dogen ausgestrahlt worden war, einen Anruf von der Staatsanwaltschaft in Bergen County, New Jersey. Dort wurde Dr. Mistral letzten Monat wegen Vergewaltigung verurteilt – man hatte ihn in 75

einem leeren OP dabei erwischt, wie er mit einer Patientin Geschlechtsverkehr hatte, die er nach einer Fußoperation erneut betäubt hatte.«

»Und was hat das mit unserem Fall zu tun?«

»Vielleicht gar nichts. Aber wir gehen trotzdem jedem Hinweis nach. Tatsache ist, dass das in New Jersey gegen Dr. Mistral verhängte Urteil erst im Mai rechtskräftig wird. Das bedeutet, dass er diesseits des Hudson Rivers noch ganze sechs Wochen seinem Beruf nachgehen kann.«

McGraw wollte wissen, wo sich der Arzt in den vergangenen achtundvierzig Stunden aufgehalten hatte. »Hat er ein Alibi für die Zeit ab Montagabend, als sich Dr. Dogen wieder in der Stadt befand?«

»Er ist noch nicht verhört worden«, antwortete ich.

»Seine Frau hat ihn nach der Verurteilung in New Jersey vor die Tür gesetzt, wir wissen also nicht, wo er sich gegenwärtig aufhält. Es gibt da ein Gerücht, wonach er auf der Untersuchungsliege im Röntgenraum des jeweiligen Krankenhauses schläft, in dem er gerade arbeitet, weil er zu geizig ist, sich ein Hotelzimmer zu nehmen. Einer von uns muss mit ihm sprechen, sobald er morgen Früh zum Dienst erscheint. Wir prüfen gerade, wo er arbeitet.«

»Mit ihm sprechen?« fiel mir Chapman ins Wort.

»Dem zieh’ ich das Fell über die Ohren. Der einzige Unterschied zwischem dem, was der Kerl getan hat, und Nekrophilie ist doch nur, dass der Körper seines Opfers noch warm war. Wie, zum Teufel, kann man nur so was tun?«

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»Komm morgen Abend zu meiner Vorlesung im Lenox Hill Debs, dann erfährst du es. So, der nächste heiße Tip stammt von Sarah Brenner. Es handelt sich um einen Gynäkologen, gegen den eine Anzeige vor-liegt. Er ist ein weltbekannter Spezialist für künstliche Befruchtung mit einer Praxis in der Fifth Avenue.

Er hat Belegbetten sowohl im Mid-Manhattan als auch in drei weiteren Krankenhäusern an der East Si-de. Er geht dort also ständig ein und aus. Bisher ein unbeschriebenes Blatt – sein Name ist Lars Ericson.

Eine Patientin hat ihn beschuldigt, er habe sie vergewaltigt, als sie ihn letzten Monat in seiner Praxis aufsuchte.«

»Wurde er bereits befragt?«

»Nein, noch …«

»Was? Worauf warten Sie denn noch?« bellte mich McGraw an.

»Die Sache ist nicht so einfach. Das angebliche Opfer leidet unter Schizophrenie – in ihr existieren drei-

ßig oder vierzig verschiedene Persönlichkeiten, in die sie je nach Stimmung schlüpft. Es scheint so, als wollten zwei oder drei ihrer Persönlichkeiten Sex mit Dr.

Ericson, während der Rest dagegen war. Sarah versucht gerade herauszufinden, welche die Anzeige gemacht hat.«

Wallace trat hinter mich, um sich eine Cola aus dem Kühlschrank zu holen, und flüsterte mir zu:

»Willkommen in der verrückten Welt der Sexualverbrechen. Das sollte dem Chief die Augen öffnen.«

McGraw fand das nicht besonders komisch.

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»Und dann haben wir da noch unseren Pirschgänger: Mohammed Melin. Erinnern Sie sich noch an Robert De Niro in Taxi Driver? Der war harmlos dagegen. Melin tauchte mit einer angeblichen Prostata-entzündung mitten in der Nacht in der Notaufnahme auf. Eine junge Assistenzärztin hat ihn behandelt –

eine ziemlich gute Ärztin, die außerdem noch sehr hübsch ist. Sie hat ihn untersucht, ihm ein Medikament verschrieben, ihm eine Salbe auf den Penis ge-schmiert – und hat den Typen seitdem nicht mehr losbekommen.«

»Genauso hat’s mit mir und Coop auch angefangen, Chief«, bemerkte Chapman. »Eine einzige Streicheleinheit, und seit zehn Jahren folge ich ihr als treu ergebener Sklave. Liebe ist wirklich ‘ne komische Sache.«

Ohne ihn zu beachten, fuhr ich mit meiner Litanei fort. »Mohammed postiert sich mit seinem Taxi vor der Klinik, sobald er in der Nähe ist. Elena Kingsland, die Ärztin, verläßt nach ihrem Dienst erschöpft das Krankenhaus, geht um die Ecke zum Taxistand, und wer erwartet sie dort? Richtig: Mohammed. Und man kann nichts gegen ihn tun: Er geht schließlich nur in seinem Taxi auf einer öffentlichen Straße seinem Job nach – kein Verstoß gegen die Gesetze. Zweimal wurde er allerdings schon im Krankenhaus geschnappt –

zwischen drei und vier Uhr morgens, auf der Suche nach Elena Kingsland. Er wurde wegen dieser Vergehen für ein paar Tage eingebuchtet, und das war’s.

Wir haben versucht, ihm ein schwerwiegenderes Ver-78

gehen nachzuweisen und sind schließlich auf einen Sozialhilfebetrug gestoßen, aber seit drei Wochen ist er abgetaucht.«

Das war alles, was ich im Zusammenhang mit dem Mid-Manhattan zu bieten hatte. Wallace beobachtete, wie ich den ersten Block zur Seite legte und nach dem nächsten griff, auf dem ich die Vorfälle in anderen Einrichtungen notiert hatte. »Hey, Alex, vergiss nicht den Fall im Stuyvesant, an dem ich gerade dran bin.

In ein paar Wochen wissen wir mehr darüber.«

»Erzähl’s ihnen selbst, Mercer. An den Fall hab’

ich, um ehrlich zu sein, gar nicht gedacht. Tut mir leid, meine Schuld.«

»In der psychiatrischen Abteilung gibt’s eine sechsundzwanzigjährige Frau, die seit ihrer Jugend unter einer affektiven Störung leidet. Mit siebzehn hat sie versucht, sich mit ‘ner Überdosis Tabletten das Leben zu nehmen. Seitdem, also seit fast zehn Jahren, liegt sie im Koma und kann ab und zu gerade mal das Augenlid heben. Während der ganzen Zeit hängt sie im Stuyvesant an den Maschinen, ohne die sie nicht überleben könnte.«

Ich erinnerte mich, wie ich durch Mercer vier Monate zuvor von dieser schrecklichen Geschichte erfahren hatte, und als er nun das Unaussprechliche wiederholte, konnte ich es erneut kaum glauben.

»Nun, die Frau wird in vier Wochen ein Kind zur Welt bringen. Die Tatsache, dass sie seit Jahren nicht mehr bei Bewußtsein war, hat irgendeinen Menschen nicht davon abgehalten, sie zu vergewaltigen. In der 79

Abteilung, in der sie liegt, herrschen strenge Sicherheitsvorkehrungen, und wenn es nicht ihr Vater war

– ihre Eltern und Geschwister sind die einzigen, die sie besuchen –, dann handelt es sich bei dem Vergewaltiger um einen, der dort arbeitet.«

McGraw und die anderen hatten noch nichts von diesem Fall gehört und schüttelten fassungslos die Köpfe.

»Irgendwelche Verdächtigen?« fragte Lieutenant Peterson.

»Praktisch jeder, vom Reinigungspersonal bis hin zum Oberarzt«, antwortete Mercer.

»Cooper hat uns eine staatsanwaltliche Anordnung besorgt, so dass wir dem Fötus Blut entnehmen und eine DNS-Analyse durchführen können. Das Gleiche machen wir dann mit jedem, der Zugang zu der Frau hatte. So kriegen wir ihn.«

Ich fuhr mit meiner traurigen Odysee durch die medizinischen Einrichtungen Manhattans fort: Nicht eine einzige Klinik, ganz gleichgültig ob privat oder öffentlich, war in den letzten drei Jahren von Sexualstraftaten verschont geblieben. In manchen Fällen handelte es sich bei den Tätern um Ärzte oder Pfleger; vielfach waren es technische Mitarbeiter, die für das Funktionieren der Einrichtungen, die Kleinstädten glichen, verantwortlich zeichneten – Mitarbeiter der Gebäudewartung, der Großküchen, der Haus-meistereien, Hilfskräfte und Boten. Manchmal handelte es sich auch um Patienten, die sich frei bewegen und von einem Teil des Krankenhauses in einen ande-80

ren gelangen konnten, und oft waren es auch Menschen, die sich auf der Suche nach Opfern einfach Zugang zu den Einrichtungen verschafften, ohne in irgendeinem Zusammenhang mit dem Krankenhaus zu stehen.

»Man muss jeden als Täter in Betracht ziehen –

von den Ärzten bis hin zu den Obdachlosen im Tun-nelsystem.« Ich hatte bereits in der Vergangenheit lernen müssen, dass man zu Beginn einer Ermittlung den Kreis der Verdächtigen möglichst weit fasst, um keinen potentiellen Täter außer Acht zu lassen.

Nachdem alle Anwesenden über die Ergebnisse des Tages berichtet hatten, war es fast zehn. McGraw bat Wallace, die Lautstärke des Fernsehapparats wieder aufzudrehen und auf Fox 5 News umzuschalten, um einen Blick auf die Schlagzeilen zu werfen. Ein ehemaliger Kriminalbeamter aus McGraws Einheit arbeitete als Verbrechensberichterstatter für den Sender, und aus McGraws gespannter Körperhaltung konnte man schließen, dass er seinem früheren Untergebe-nen Informationen hatte zukommen lassen, um im Gegenzug auf den Bildschirm zu kommen.

Mike verkniff sich eine höhnische Bemerkung, während in der Glotze McGraws Gesicht erschien; er teilte der Öffentlichkeit mit, dass seine Männer jede Menge Spuren verfolgten und bis Ende der Woche ein Verdächtiger verhaftet sein würde. Die im Raum anwesenden Jungs schienen von den überaus optimis-tischen Äußerungen ihres Chefs nicht weiter überrascht zu sein. Als der Bildschirm wieder das Gesicht 81

das Bürgermeisters zeigte, wandte sich McGraw uns zu.

»Wer macht die Autopsie?«

»Der Chief kümmert sich morgen selbst drum«, antwortete Chapman. »Ich bin auch dabei.«

Das waren gute Neuigkeiten für mich. Ich schätzte Chet Kirschner, den Chief Medical Examiner; wir hatten ein unkompliziertes Verhältnis. Wahrscheinlich würde er uns schon am nächsten Nachmittag, al-so vor dem abschließenden Bericht, Vorabinformatio-nen geben.

»Jetzt zu den Motiven«, fuhr McGraw fort. »Was ist denkbar?«

»Es könnte ein stinknormales Sexualverbrechen gewesen sein«, bemerkte Jerry McCabe. »Ein x-beliebiger Mann aus jeder eurer Kategorien könnte durch die Flure schleichen und Montagnacht, meinetwegen gegen Mitternacht, eine Frau mutterseelenal-lein in ihrem Büro antreffen. Sie ist kräftig, glaubt, sie könne mit ihm fertig werden. Aber er hat ein Messer, und das war’s.«

»Es könnte auch ein ganz gewöhnlicher Einbruch gewesen sein, und Dogen hat den Täter in flagranti ertappt«, fiel Wallace ein. »Die Tatsache, dass ihre Brieftasche noch da war, heißt schließlich nicht, dass nicht etwas fehlt, von dem wir gar nichts wissen.«

Wallace war einer der gründlichsten und sorgfäl-tigsten Detectives, mit denen ich je zu tun hatte. Mit seinem methodischen Verstand würde er jeden Gegenstand in Dr. Dogens Büro kritisch unter die Lupe 82

nehmen, nach Papieren, Akten, Unterlagen oder Bü-

chern Ausschau halten, an denen sich möglicherweise jemand zu schaffen gemacht hatte. »Vielleicht war er gerade in das Büro eingedrungen und suchte nach Beute, als sie plötzlich auftauchte. Er geriet in Panik, und was als Einbruch begonnen hatte, wurde zur Vergewaltigung.«

»Ja, aber was kam zuerst – die Vergewaltigung oder die Messerstiche?«

McGraw war zu dickköpfig, um diese Frage direkt an mich zu richten, aber gleichzeitig auch zu einfältig, um zu wissen, dass ich sie nicht beantworten konnte. Die meisten hätten wohl ohne zu zweifeln angenommen, dass die Vergewaltigung logischerweise stattgefunden haben musste, bevor Gemma Dogens durchtrainierter, fester Körper massakriert worden war. Aber in der Welt der Mörder und Verrückten gab es keine Logik.

Ich hatte weiß Gott mehr als genug Fälle gesehen, in denen der Angreifer durch den Akt des Tötens in sexuelle Erregung geraten war und im Anschluss an den Mord die Vergewaltigung begangen hatte.

»Mal sehen, was Kirschner dazu findet. Bis dahin ist alles nur reine Vermutung«, bemerkte Chapman.

McGraw aber wollte die Suche nach einem möglichen Motiv noch nicht aufgeben. »Angenommen, es war weder ein Verrückter noch ein auf frischer Tat ertappter Einbrecher. In diesem Fall müsst ihr nach jemandem Ausschau halten, der Grund hatte, sie umzubringen. Findet raus, welcher ihrer Kollegen von ihrem Tod profitiert, wer ihren Job als Leiter der Ab-83

teilung übernimmt. Findet ihr Testament und stellt fest, wer sie beerbt. Lasst nicht die gewöhnlichen Motive außer Acht, nur weil dieser Mord ausgerechnet in einem Krankenhaus passiert ist.«

Die Männer klappten ihre Blöcke zu, standen auf und streckten ihre steifen Knochen. Es reichte für den ersten Tag, ihnen stand der Sinn nach einem anständigen Abendessen und dem Bett. Auch wenn McGraw im Fernsehen eine schnelle Klärung des Falls versprochen hatte, wussten sie, dass mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit in den nächsten Wochen Dienst rund um die Uhr anstand, es sei denn, einer von ihnen landete einen frühen Zufallstreffer.

Mir fiel ein, dass ich Lieutenant Peterson nach den acht Männern fragen wollte, die ich in der Arrestzelle gesehen hatte. »Weswegen sind die hier, Loo?« erkundigte ich mich.

»Das sind einige der Jungs, die in den Fluren des Krankenhauses leben. Und das war heute erst der erste Schwung aus dem Mid-Manhattan. Ich spreche wohlgemerkt nicht von den unterirdischen Tunnel, der Psychiatrie oder dem Parkplatz. Die da draußen haben wir in leeren Krankenzimmern angetroffen, und einer schlief sogar auf dem Flur in der Nähe der Lagerräume in einem Rollstuhl. Ich hab’ ein paar Männer abgestellt, die sich mit ihnen unterhalten.«

»Sind sie Verd…«

»Ich hab’ keine Ahnung, ob sie Verdächtige, Zeugen oder nur arme Teufel ohne festes Dach über dem Kopf sind. Fragen Sie mich bitte was Leichteres. Tatsa-84

che ist, dass man mit Typen wie denen in einem Krankenhaus nicht gerade rechnet, und da wir uns mitten in einem brisanten Mordfall befinden, weiß ich auch nicht so genau, was ich mit ihnen anfangen soll.«

Wir dachten beide das Gleiche. Jeder von ihnen konnte uns theoretisch zu einer heißen Spur führen, aber in dem Augenblick, in dem wir sie auf freien Fuß setzten, würden wir sie nie Wiedersehen. Die Sache war heikel. Wenn sie weiter auf der Wache festgehalten werden würden, würde das Gericht die von Petersons Männern durchgeführten Interviews als Verdächtigenverhöre und die Unterbringung in der Arrestzelle als Beugehaft werten. Das Verhalten der Polizei würde daraufhin ins Kreuzfeuer der Kritik geraten. Der Richter würde die Tatsache rügen, dass die Männer über einen längeren Zeitraum ohne Anwalt festgehalten worden waren, und Untersuchungen über die genauen Umstände der Festnahmen an-ordnen.

Es war klar, dass Petersons Leute die Penner aus dem Mid-Manhattan nicht ignorieren konnten, aber andererseits mussten wir auch an die rechtlichen Konsequenzen denken. Und zwar bevor es zu spät war. Denn der Nutzen und die Verwertbarkeit jeder einzelnen Information, die uns diese Männer geben konnten, hingen ganz stark davon ab, unter welchen Umständen wir an diese Informationen kamen.

Ich wagte einen erneuten Vorstoß. »Was passiert nach der Befragung mit den Männern?«

»Sie sind unsere Gäste, Miss Cooper. Verstehen 85

Sie das?« fuhr McGraw mich an. »Sie kommen in den Genuss der einzigartigen Gastfreundschaft dieses Reviers – sie bleiben heute Nacht und so lange sie wollen. Bevor sie mich also bei Ihrem Boss anschwärzen, sollten Sie sich die Situation noch mal gut ansehen.«

Peterson zuckte mit den Achseln. McGraw forderte mich mit einer aufgebrachten Geste auf, ihm in den Einsatzraum zu folgen. »Die Tür steht sperrangelweit offen. Sehen Sie das? Diese Herren können auf der Bank oder auf dem Boden schlafen, ganz wie es ihnen beliebt. Sie haben hier bessere Mahlzeiten verspeist, als sie seit Jahren gesehen haben. Stimmt’s, Scrubs?«

Ein fahl aussehender, kahlköpfiger Alter mit schorf-bedeckten Armen schaute McGraw von seinem Hocker aus an.

»Dieser hier heißt Scrubs. An seinen richtigen Namen kann er sich nicht mehr erinnern. Als er vor viereinhalb Jahren aus der Stuyvesant-Psychiatrie entlassen wurde, hatte er kein Zuhause mehr. Also hat er das Krankenhaus nie verlassen. Unten in der Tiefgarage steht sein Einkaufswagen: vollgepackt mit grünen Arztkitteln und ähnlichem Zeug. Er klaut –

ausleihen nennt er es – OP-Kittel aus der Wäschekammer und verkauft sie an andere Penner. Hast du Hunger, Scrubs?«

»Nein, Sir.«

»Hast du heute von meinen Jungs was Anständiges zu beißen bekommen?«

»Ja, Sir, Chief. Zwei Stück Kuchen und ‘n Salami-sandwich. Und fünf Cola.«

86

»Erzähl der Dame, was du heute sonst noch so gemacht hast.«

»Fernsehen geguckt. Zeichentrickfilme und Wrest-ling, und außerdem hab’ ich ein Bild von der Frau Doktor gesehen, die sie drüben abgemurckst haben.«

»Haben Sie sie gekannt?«

»Hab’ sie zum ersten Mal in der Glotze gesehen.«

»Wo willst du heute Nacht schlafen, Scrubs?«

Ich hatte das unbestimmte Gefühl, dass man dem armen Kerl diese Frage schon einmal gestellt hatte –

in einer Art Generalprobe, bevor er vor mir auftreten durfte.

»Ich bleib’ gern hier, so lange ich darf.«

McGraw warf mir einen zufriedenen Blick zu. »Das sollten Sie Paul Battaglia erzählen. Ich hab’ keine Lust, später irgend jemanden behaupten zu hören, ich würde mit diesen Bekloppten nicht fair umgehen. Ich setze mich dafür ein, dass es ihnen hier an nichts fehlt. Meine Männer haben entsprechende Anweisungen.«

Ich beschloß, mir die entscheidende Frage für Peterson aufzuheben. Nachdem McGraw abgerauscht war, fragte ich den Lieutenant: »Und was ist, wenn einer von ihnen heute Nacht gehen will? Ist es ihre freie Entscheidung?«

»Lassen Sie sie doch ein paar von den Jungs über Nacht mit nach Hause nehmen, Loo«, schaltete sich Chapman ein. »Sie hat ein weiches Herz, nicht wahr, Coop? Kochen kann sie ihnen zwar nichts, aber ich wette, sie würden morgen Früh von Kopf bis Fuß neu eingekleidet hier auf der Matte stehen.«

87

»Alex, Sie wissen ganz genau, dass ich keinen von ihnen gehen lassen kann. In den Obdachlosenasylen wollen sie nicht bleiben, und keiner von ihnen hat Angehörige mit festem Wohnsitz. Wir sehen die nie wieder. Wir haben von jedem von ihnen Fingerabdrü-

cke genom…«

»Ihr habt was

»Alex, sie haben zugestimmt.«

»Diese Art von ›Zustimmung‹ würde vor Gericht nicht zehn Sekunden Bestand haben, das wissen Sie doch genau. Falls einer dieser Männer tatsächlich irgend etwas mit dem Mord an Gemma Dogen zu tun hat, können wir uns sämtliche Beweise ans Knie nageln.«

»Bei ein paar von ihnen, bei mindestens dreien, hat der Computer Vollzugsbefehle ausgespuckt. Kleine Sachen – Schwarzfahren, Taschendiebstahl, unerlaubtes Betreten öffentlicher Flächen. Nichts in Zusammenhang mit Gewalt, aber doch genug, um sie in Gewahrsam zu behalten, bis die jeweiligen Verhandlungen stattfinden.«

Noch mehr Ärger. »Wisst ihr, ob an den schwebenden Verfahren Anwälte beteiligt sind?«

»Kein Problem, Alex. Wir haben die Namen erst gecheckt, nachdem wir die entsprechenden Fragen gestellt haben. Ich weiß, dass Sie unser Vorgehen nicht billigen können, aber wir haben unter den herrschen-den Umständen keine andere Wahl.«

An diesem Abend würde ich das Problem nicht mehr lösen, aber das erste, was ich am nächsten Mor-88

gen tun wollte, war, mit Rod Squires zu sprechen. Als Leiter der Prozessabteilung war er McGraw schon mehrmals – und mit mehr Erfolg als ein Dutzend meiner Kollegen zusammengenommen – auf die Füße gestiegen.

Ich steckte meine Notizblöcke in die Mappe und setzte mich zu Mercer an den Tisch; beide warteten wir darauf, dass Chapman sein Telefongespräch beendete.

»Was haltet ihr von einem netten Abendessen?«

erkundigte ich mich.

»Viel. Ich hab’ Lust auf Chinesisch.«

»Shun Lee Palace?«

»Gute Idee, Cooper, der beste Chinese der Stadt.«

Chapman legte auf und verließ mit uns den Raum.

»Das könnte der Durchbruch sein, den wir brauchen. Das war ‘ne Hellseherin, die eben angerufen hat. Sie hat in den Frühnachrichten vom Mord an Gemma Dogen gehört und seitdem jede Menge Ein-gebungen gehabt. Sie meinte, mit ein paar zusätzlichen Einzelheiten über die Tote könnte sie uns morgen Früh den Namen des Mörders nennen. Ja, du brauchst gar nicht die Augen zu verdrehen, Blondie, woher willst du wissen, dass es nicht doch funktioniert?«

»Was hast du ihr gesagt?«

»Dass sie mit uns essen gehen soll und wir die Sache dabei in Ruhe besprechen.«

»Mike, ich hab’ wirklich keine Lust, den Abend mit …«

89

»Keine Panik, Cooper, verlier nicht schon am ersten Tag den Humor. Wohin gehen wir? Ich hab’ ihr weder den Namen des Restaurants noch die Uhrzeit genannt. Ich hab’ ihr gesagt, dass sie’s schon erraten wird, wenn sie ‘ne richtige Hellseherin ist. Komm schon, Mercer, nichts wie raus hier aus dem Laden.«

7

Das Restaurant an der fünfundfünfzigsten Straße war fast leer, als wir gegen elf ankamen. Patrick Chu be-grüßte uns mit einem Bückling und führte uns an der Bar vorbei in einem großen Speisesaal mit kobalt-blauen Wänden, die mit Laterne und antiken Porzel-lantellern geschmückt waren, was dem Ganzen eine für chinesische Lokale in Manhattan ungewöhnlich luxuriöse Atmosphäre verlieh.

»Schön, Sie zu sehen, Frau Staatsanwältin«, sagte Patrick, während er uns lächelnd die Speisekarten reichte.

Wir bestellten die Getränke und gaben Patrick die Karten postwendend zurück. »Süßsaure Suppe, Früh-lingsröllchen, Shrimp-Dumplings, eine Peking-Ente und einen knusprigen Seebarsch«, bestellte Chapman, ohne eine Sekunde zu zögern. »Und wenn ich dann noch Hunger habe, bestellen wir nach. Habe ich etwas vergessen?«

»Keine Ahnung, worauf du Appetit hast, Alex, meinen Geschmack hat er jedenfalls getroffen«, sagte Mercer. »Wie geht’s jetzt in unserem Fall weiter?«

»Zuallererst gehe ich morgen Früh in die Gerichtsmedizin. Warum holst du Alex nicht in ihrem Büro ab und kommst gegen Mittag mit ihr vorbei?

Ich bin sicher, dass Kirschner uns bis dahin schon etwas sagen kann. Nachmittags übernehme ich ein paar 91

Befragungen im Krankenhaus. Ihr könntet unterdessen in Dogens Wohnung vorbeischauen.«

Ich trug meine Idee vor, Maureen Forester als ge-tarnte Patientin einzuschleusen. Chapman und Wallace sprangen sofort darauf an. Wir waren uns einig, dass – mit Petersons Erlaubnis – kein Mitarbeiter des Mid-Manhattan eingeweiht werden sollte.

Maureen und ich hatten in Dutzenden von Fällen zusammengearbeitet. Sie war die Tochter eines der ersten schwarzen Detectives des NYPD; ihre zierliche Figur und ihr hübsches Gesicht täuschten nur allzu leicht über die Entschlossenheit hinweg, mit der sie bei ihrer Arbeit vorging. Battaglia hatte vier Jahre zuvor höchstpersönlich beim Chief of Detectives eine Petition eingereicht, damit sie in besonders heiklen Fällen für seine Einheit arbeiten konnte. Oft war ich die Glückliche, die in den Genuss ihrer Fähigkeiten kam, und unsere Freundschaft hatte über alle gemeinsamen Fälle hinaus Bestand.

»Und wie bekommen wir sie rein?« fragte Wallace.

»David Mitchell.« Mein enger Freund und Nachbar war einer der bekanntesten Psychiater der Stadt. »Ich rufe ihn gleich morgen Früh an. Migräneartige Kopfschmerzen, doppelte Sicht, Gedächtnislücken – wenn er sie zur Beobachtung einweist, bekommt sie noch am selben Tag ein Bett im Mid-Manhattan.«

»Weiß Mo schon Bescheid?«

»Ich dachte, du könntest es ihr sagen, Mercer. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie ablehnt. Wahrscheinlich gefällt ihr der Gedanke, mal für eine Wo-92

che ihre Rasselbande zu verlassen und sich das Essen an Bett bringen zu lassen. Ihr Mann schluckt’s besser, wenn der Vorschlag von dir statt von mir kommt, was meinst du?«

»Wird gemacht. Aber dir ist doch klar, dass keiner von uns sie besuchen darf, oder? Wir sind dort schon als Ermittler bekannt.«

»Klar. Und wenn Charles nicht mitspielt, verheira-ten wir sie mit einem anderen Detective und teilen ihr Sarah und ein paar andere als treu sorgende Freunde zu. Ich denke, wir sollten sie verkabeln und eine versteckte Kamera in ihrem Zimmer installieren, so dass wir alles überwachen können, während sie schläft. Im Mid-Manhattan ist nachts viel zu viel Gesindel unterwegs, um sie unbeobachtet zu lassen.«

An kalten, feuchten Abenden, an denen ich so mü-

de war wie an diesem, hatte ich unbändige Lust auf heiße Suppe. Der Ober setzte eine dampfende Schale vor mir ab, und nach meinem Dewar’s bestellte ich ein Tsingtao-Bier. Die Wärme der dicklichen Brühe tat mir gut, und ihr pikanter Geschmack verscheuchte die Müdigkeit.

Ich zog mich aus der Unterhaltung der beiden Detectives zurück. Wer vermisst heute Abend Gemma Dogen, fragte ich mich. Wieder einmal rief ich mir in Erinnerung, welches Glück ich mit meinen Freunden und meiner Familie hatte – und insgeheim erhob ich mein Glas auf Mike und Mercer, die im Lauf der Jahre zu meinen guten Freunden geworden waren.

93

Ich hatte Mike fast zehn Jahre zuvor als Anfängerin in Paul Battaglias Abteilung kennen gelernt. Dank meines wohlhabenden Elternhauses war ich in den Genuss einer erstklassigen Ausbildung am Wellesley College und an der University of Virginia School of Law gekommen. Aber meine Eltern hatten in mir nichtsdestotrotz die Neigung gefördert, der Öffentlichkeit zu dienen. So kam ich zu meinem Job als Staatsanwältin. Nachdem ich die Prozessabteilung durchlaufen hatte, landete ich aufgrund meiner jugendlichen Unbekümmertheit und Paul Battaglias untrüglichem Instinkt in der neu gegründeten Abteilung zur Verfolgung von Sexualstraftaten. Diese he-rausfordernde Aufgabe und die Befriedigung, die es mir verschaffte, die Opfer durch den gesamten Prozess hindurch zu begleiten und dabei sehr viel größe-re Erfolge zu erzielen als im Strafjustizsystem üblich war, hatten zur Folge, dass ich viele Jahre länger als ursprünglich geplant in dem Job blieb.

Chapmans Hintergrund war das genaue Gegenteil von meinem. Sein Vater, Nachfahre irischer Einwanderer, hatte bei einem Besuch in Cork, der Heimat seiner Vorfahren, seine Frau kennen gelernt und sie in die Staaten geholt. Brian Chapman hatte sechsundzwanzig Jahre lang als Polizist für das NYPD gearbeitet und war zwei Tage nach seiner Pensionierung einer Herzattacke erlegen. Mike und seine drei älteren, Schwestern waren in Yorkville, einer Arbeitersied-lung in Manhattan, aufgewachsen, in der man im Gegensatz zu den schicken Restaurants und koreani-94

schen Schönheitssalons des südlich angrenzenden Viertels Lenox Hill einfache Eckkneipen und deutsche Metzgereien antraf.

Mike hatte sein Junior-College-Jahr in Fordham verbracht – dank eines günstigen Studentendarlehens, das er nach dem Tod seines Vaters zusätzlich zu seinen diversen Kellnerjobs aufgenommen hatte. Gleich nach dem Abschluss ging er auf die Polizeiakademie, fest entschlossen, in die Fußstapfen des Mannes zu treten, den er vergöttert hatte. Brian Chapman hatte quasi sein Leben in der Uniform verbracht und war durch Spanish Harlem patrouilliert, wo er jeden La-denbesitzer, jedes Schulkind und jedes Bandenmit-glied sowohl mit richtigem als auch mit Decknamen kannte. Mike hatte gleich als Anfänger einen großen Erfolg gefeiert: In seinem ersten Jahr bei der Polizei hatte er das mit einer Drogengeschichte in Verbindung stehende Massaker an einer kolumbianischen Familie in Washington Heights aufgeklärt – mit Hilfe von Informanten, die er durch seinen Vater von der Straße kannte. Acht Monate nachdem Mike ein schwangeres Mädchen, das sich von der George Washington Brücke gestürzt hatte, aus dem aufgewühlten Wasser gefischt hatte, wurde er vorzeitig in den gehobenen Dienst befördert.

Mit seinen fünfunddreißig Jahren war Mike ein hoffnungsloser Single; er lebte in einem winzigen Ein-Zimmer-Apartment, das er seinen »Sarg« nannte. Er und Mercer Wallace hatten bei der Mordkommission zusammengearbeitet, bevor Wallace zum 95

Special Victims Squad berufen wurde, wo er die meisten aufsehenerregenden Vergewaltigungsfälle von Manhattan übernahm.

Mercer war mit seinen neununddreißig fast fünf Jahre älter als ich. Die Mutter war bei seiner Geburt gestorben, und sein Vater hatte ihn allein in einer Mittelklasse-Wohngegend von Queens großgezogen.

Spencer Wallace, der als Mechaniker für Delta auf dem La Guardia-Flughafen arbeitete, ließ keine Gelegenheit aus, um seinen Sohn daran zu erinnern, dass es ihm fast das Herz gebrochen hätte, als sein Junge das Football-Stipendium an der University of Michigan abgelehnt hatte, um zur Polizei zu gehen.

In allen Abteilungen, in denen Mercer gearbeitet hatte, war er für seine akribischen Ermittlungen bekannt. Seine kurze erste Ehe mit einer Boutique-Besitzerin seines Heimatviertels endete mit Scheidung. Er behauptete, sie habe seinen Beruf mit den unregelmäßigen und ausgedehnten Arbeitszeiten und Nachtschichten niemals verstanden. Seine zweite Ehe mit einer Polizistin scheiterte ebenfalls – aus Gründen, die sie ihm nie mitgeteilt hatte. Und so war Mercer auf der Suche nach einer Frau, die ihm einerseits seine Freiheit ließ, aber andererseits dreimal täglich eine anständige Mahlzeit auf den Tisch brachte.

Meine Eltern lebten beide noch, erfreuten sich bester Gesundheit und genossen ihre Tage auf einer wunderschönen Insel in der Karibik. Plötzlich mit einem Krankenhaus als Tatort eines Mordes konfrontiert zu sein, war für mich äußerst ungewöhnlich, 96

denn ich hatte mich unter Ärzten, die in ihren weißen Kitteln Leben retteten, bislang immer sehr wohl und sicher gefühlt.

Mein Vater, Benjamin Cooper, war Kardiologe und gemeinsam mit einem Kollegen Erfinder eines Röhrchens, das die Operation am offenen Herzen revoluti-oniert hatte. Es wurde seit fünfzehn Jahren bei beinahe jeder Herzoperation eingesetzt, und ich war mir sehr wohl der Tatsache bewusst, dass ich diesem winzigen Kunststoffteil meinen Lebensstil verdankte.

Anders als bei vielen meiner Freunde sind meine Kindheitserinnerungen nicht mit köstlichen Küchendüften verbunden; meine einprägsamste olfaktorische Erinnerung ist die an den strengen Geruch von Äther, der meinen Vater umschwebte, wenn er sich nach einem langen Tag im Operationssaal spätabends über mein Bett beugte, um mir einen Gutenachtkuss zu geben. Das war noch in der Zeit, bevor man in der Anästhesie moderne Mittel einsetzte, aber ich liebte den abstoßenden Äthergestank, weil er die allabendli-che Heimkehr meines geliebten und viel beschäftigten Vaters signalisierte.

Wenn mein Vater es ausnahmsweise einmal schaffte, rechtzeitig zum gemeinsamen Abendessen mit der Familie zu Hause zu sein, drehte sich das Gespräch nur um medizinische Themen. Meine Mutter war als ausgebildete Krankenschwester eine adäquate Gesprächspartnerin, und so bekamen meine Brüder und ich während der Mahlzeiten eine Menge medizinischer Details mit. Oft durfte ich an den Wochenenden 97

meinen Vater in sein Büro im Krankenhaus begleiten, und auf diese Weise war ich schon früh mit den Ge-rüchen und Details einer Klinik vertraut.

»Sieh mal, wie der Junge mit der Machete umgeht«, stieß mich Mike an.

Ich beendete meinen Tagtraum und tauchte wieder in die Unterhaltung mit Chapman und Wallace ein, während der Kellner mit beeindruckender Geschwindigkeit und Präzision den Brustkorb der Ente zerteil-te; die zarten Fleischstückchen stopfte er in hauch-dünne Pfannkuchen, die bereits mit Schalotten und Hoisin-Sauce gefüllt waren.

»So was hab’ ich noch nie gesehen, Mercer, du et-wa? Ich meine, ich hatte schon ‘ne Menge Latinos, die sich gegenseitig mit Macheten niedergemacht haben, aber ‘ne Machete zum Tranchieren einer Peking-Ente ist mir neu. Der Junge ist wirklich gut.« Mike biss herzhaft in seinen gefüllten Pfannkuchen, ohne ab-zuwarten, bis Mercer und ich unsere Portionen auf dem Teller hatten.

»Was gibt’s Neues aus Ihrem Liebesleben, Miss Cooper? Irgend etwas, das uns interessieren könnte?«

erkundigte sich Mercer.

»Ich warte noch auf die Frühlingsgefühle.«

»Ich geb’ ihr noch ein paar Monate, bevor ich sie im Kloster anmelde. Sie wäre ‘ne tolle Nonne, findest du nicht auch, Mercer? Die kleinen Klosterschüler würden dich bestimmt an mich und McGraw erinnern, was, Blondie? Stell dir nur vor, wie viel Spaß es 98

dir machen würde, ihnen mit dem Lineal den Hintern zu versohlen. Dann bräuchtest du dir keine Sorgen mehr um irgendwelche Ermittlungen zu machen, und außerdem wärst du nicht mehr traurig, wenn dich am Samstagabend niemand anruft. Oscar de la Renta würde bestimmt ‘ne schicke Tracht für dich kreieren, und …«

»Lach nicht, Mercer, sonst hört der Quatschkopf gar nicht mehr auf. Was ist eigentlich mit dir und Francine?«

Seit einiger Zeit traf sich Wallace mit Francine Johnson, einer meiner Kolleginnen aus der Spezialab-teilung für Drogendelikte.

»Läuft prima, Coop, wirklich prima. Wenn ich nicht wieder Mist baue, wirst du Brautjungfer, einverstanden?«

Mike war eifrig bemüht, das Thema zu wechseln, bevor sein Privatleben an die Reihe kam. »Was weißt du über Neurochirurgie? Wir müssen herausfinden, was Dr. Dogen genau gemacht hat und was ihre Aufgaben waren, damit wir Bescheid wissen, bevor wir mit den anderen Ärzten sprechen. Dabei müssen wir ihre unterschiedlichen Rollen im Krankenhaus und in der Uni sehr genau trennen.«

»Mit wem sprichst du morgen nach der Autopsie zuerst?« fragte ich.

»William Dietrich, der Leiter des Krankenhauses, der mich heute rumgeführt hat, hat die ersten Vernehmungen organisiert. Die meisten Informationen habe ich bisher von ihm. Dann treffe ich mich mit 99

Spector – dem Knaben, dessen Operation Gemma Dogen beiwohnen sollte.«

»Neurochirurgen neigen im allgemeinen dazu, sich als Crème de la Crème des Berufsstandes zu betrachten«, begann ich. »Als Gehirnspezialist genießt man ein ganz besonders hohes Ansehen – außerdem gehö-

ren die Jungs innerhalb der Medizin zu den bestbe-zahlten Ärzten.«

»Nach Spector sind noch ein paar andere Professoren dran und danach Studenten und Praktikanten.

Dietrich will, dass ich auch mit den beiden spreche, die als Hilfsoperateure eingesprungen sind, nachdem Dogen nicht auftauchte.«

Er schlug seinen Block auf und ließ seinen linken Zeigefinger über die langen Namenslisten gleiten, während er mit den Stäbchen in seiner Rechten den Seebarsch bearbeitete. »Ah, hier haben wir sie. Ein Pakistani und einer von den feinen Pinkeln mit zwei Nachnamen. Ich schwöre dir, dass jeder zweite Arzt auf meiner Liste ‘nen Turban trägt.«

»Wann wirst du endlich mit deinen diskriminie-renden Kommentaren aufhören?« Mikes ethnische Verunglimpfungen störten unsere Unterhaltungen immer wieder.

»Reg dich nicht auf, Coop. Du weißt doch, dass ich für Chancengleichheit bin. Der andere Knabe heißt Coleman Harper – ist das nicht einer der feinen Namen, die du gefressen hast? Ist wahrscheinlich nach der Urgroßmutter väterlicherseits benannt.«

»Mein Liebling ist der Orthopädiechirurg, dessen 100

Büro neben dem von Gemma Dogen liegt«, schaltete sich Mercer ein. »Ein ziemlich junger Bursche mit schwarz glänzendem Haar und dem falschesten Grinsen, das ich jemals gesehen habe. Ist er euch schon über den Weg gelaufen? Hält sich für den Schönsten.

Ich wette, das einzige, worüber der sich Sorgen macht, ist, ob die Blutflecken aus Dogens Büro verschwinden, so dass er dorthin umziehen kann. Dann ist er ein Zimmer näher am Dekan. Wirklich sehr ehrgeizig, der junge Mann.«

Unterdessen hatte ich Patrick meine American Express Karte zugeschoben und ihn gebeten, alles, was die Jungs noch konsumierten, auf meine Rechnung zu setzen und zwanzig Prozent Trinkgeld zu addieren.

»Bis morgen«, sagte ich und stand auf.

»Kein Absacker mehr heute?«

»Nein, danke, ich bin reif fürs Bett.«

»Vergiss aber deinen Glückskeks nicht. Hey, Patrick, geben Sie Miss Cooper aber bitte einen guten.«

»Im Shun Lee gibt’s nur gute Glückskekse, Mr.

Mike. Keine schlechten Prophezeiungen.«

Ich entfernte das Zellophanpapier, brach den knusprigen Keks in der Mitte durch und zog das Pa-pierröllchen heraus, das mir mein Schicksal verriet.

»Danke Mike, genau das, was ich gebraucht habe:

›Die Dinge verschlechtern sich, bevor sie besser werden. Haben Sie Geduld.‹« Na prima.

»Soll ich dich zum Wagen bringen?« erbot sich Mercer.

»Danke, geht schon. Er steht gleich vor der Tür.«

101

»Ich hol’ dich morgen gegen Mittag in deinem Bü-

ro ab. Bis dann, Ciao.«

Ich teilte dem Nachtwächter in der Parkgarage mit, dass ich meinen Wagen am nächsten Morgen nicht brauchte, und stieg die Stufen von der Tiefgarage in die Lobby des Apartmentgebäudes hoch. Einer der Pförtner reichte mir den großen Plastiksack mit den Klamotten aus der Reinigung und einen Stapel Zeitschriften, die zu sperrig für den Briefkasten gewesen waren. Ich klemmte meine Mappe unter den Arm, um den Packen Papier zu balancieren, und nahm mit der Linken die schwer beladenen Kleiderbügel im Empfang, bemüht, mir davon nicht die Finger zer-quetschen zu lassen. Dann drückte ich den Knopf für den zwanzigsten Stock.

Nachdem ich beide Türschlösser geöffnet und die Tür aufgestoßen hatte, fiel mein Blick in der Diele auf ein Blatt Papier, das mir David Mitchell unter der Tür durchgeschoben hatte.

Ich entledigte mich meiner Lasten, hob die Nachricht auf und las. »Habe das Wetter satt und fliege übers Wochenende auf die Bermudas. Kannst du dich um Prozac kümmern, oder soll ich ihn in die Hunde-pension geben? Ich ruf dich morgen im Büro an.

Gruß, David.«

Das traf sich gar nicht schlecht: Ich hütete Zac, den Weimeraner, während sein Herrchen – höchstwahr-scheinlich in Begleitung seiner neuesten Eroberung –

am Strand ausspannte. Und im Gegenzug würde ich 102

David bitten, Maureen ins Mid-Manhattan einzuwei-sen.

Während ich die Post durchsah, schlüpfte ich aus meinen Schuhen. Mode-, Einrichtungs- und Garten-magazine machten wie immer zu Beginn des Frühlings den Löwenanteil der Post aus; die vier Bestellkataloge landeten umgehend beim Altpapier; die Rechnungen von diversen Geschäften und Restaurants legte ich auf die Anrichte; und die Postkarte von Nina nahm mit ins Schlafzimmer, wo ich aus meiner Strumpfhose stieg.

Während ich auf der Rückseite der von Winslow Homer gemalten Seelandschaft von Ninas Wochenende in Malibu las, überkam mich die Sehnsucht nach einem Plausch mit meiner besten Freundin. Wir hatten uns im College ein Zimmer geteilt, und obwohl uns drei Zeitzonen trennten, versuchten wir, täglich wenigstens eine kurze Nachricht in Form von Anrufen oder Kunstpostkarten, die wir beide sammelten, auszutauschen. Darauf teilten wir uns Gedanken und Erfahrungen mit. Vor Jahren hatte sie sich in gespiel-tem Ernst einmal darüber beklagt, dass mein Leben so viel interessanter sei als ihres. Wir berichteten uns gegenseitig von unseren Romanzen und Affairen, und sie war es, die mir im Jahr meines Juraexamens in meiner Trauer über meinen bei einem Verkehrs-unfall ums Leben gekommenen Verlobten zur Seite gestanden hatte.

In letzter Zeit hatten mir die Nachrichten von ihren Wochenenden mit Jerry und ihrem Sohn in ihrem ka-lifornischen Strandhaus meinen Winter in New York 103

noch trister und einsanier erscheinen lassen. Aber an diesem Abend, in der Euphorie, die die Aussicht auf einen neuen, spannenden Fall in mir ausgelöst hatte, wollte ich Nina wissen lassen, dass es mir gut ging.

Ich hörte die drei Nachrichten auf meinem Anrufbeantworter ab. Die Erste war von meinem Vater. Er hatte von seinem Haus auf St. Barth’s aus angerufen, um mir mitzuteilen, dass ihm ein ehemaliger Kollege von dem Mord im Mid-Manhattan berichtet hatte und ich jederzeit auf seine Hilfe zählen könne. Die zweite Nachricht stammte von Nina; es war die Antwort auf meinen Rush-Hour-Anruf. Sie wollte Näheres über meinen Fall wissen. Die letzte Nachricht hatte Joan Stafford hinterlassen, die mich an die Dinner-Party am kommenden Samstag um acht erinnerte.

»Und bitte keine so abwegigen Ausreden wie Mord oder ähnliches.«

Ich versuchte, mich zu entspannen und den Tag hinter mir zu lassen, und griff nach dem Buch von Trollope, das neben meinem Bett lag. Ich hatte The Eustace Diamonds am Wochenende in Angriff genommen und wusste, dass ich nur zehn, elf Seiten in dem herrlichen Krimi aus dem vorigen Jahrhundert lesen musste, bis meine Lider schwer wurden und ich das Licht löschte.

Ich hatte gehofft, Gemma Dogen für den Rest des abends aus meinen Gedanken verbannt zu haben, doch immer wieder kreiste in meinem Kopf die Frage, ob ihr Tod außer mir selbst noch jemandem den Schlaf raubte – sei es aus Trauer oder aus Schuld.

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Don Imus entsprach vielleicht nicht jedermanns Traum vom Aufwachen, aber auf mich wirkte er Wunder.

Um sieben klingelte mein Wecker, und automatisch ging das Radio an. Imus verlas die Nachrichten; sie wurden eingeleitet von einer Kurzreportage über das Mid-Manhattan, in der, angefangen bei dem Mord bis hin zu den unterirdischen Bewohnern, nichts fehlte.

»Scheint so, als wäre das Bates Motel dagegen harmlos«, bemerkte er und imitierte im nächsten Augenblick einen Patienten der Stuyvesant-Psychiatrie, der die Hörer auf einem Rundgang durch die Klinik begleitete. Nur widerwillig schaltete ich das Radio aus, als ich das Schlafzimmer verließ, und hoffte inständig, dass Imus und seine Redakteure, die im Prozess gegen Simpson besser als die gesamte Presse des Landes berichtet hatten, dem Täter nicht vor uns auf die Spur kamen.

Ich schlüpfte in meinen schwarzen Mantel, trat wenig später in die Kälte hinaus und winkte ein Taxi herbei. Da der Fahrer den Weg nach Lower Manhattan zum Gerichtsgebäude kannte, konnte ich mich meiner Times widmen.

Der Mord an Gemma Dogen nahm die Titelseite ein und wurde nicht im Lokalteil abgehandelt. Zum Teil hing das sicher mit der Bekanntheit ihrer Person 105

zusammen, ausschlaggebend war aber wohl die Tatsache, dass sich der Mord in einem Krankenhaus abgespielt hatte. Die Leser der Times waren in der Regel sowohl räumlich als auch geistig ein gutes Stück entfernt von den Wohnvierteln, in denen die meisten Morde geschahen – weit entfernt von jener Umgebung, in der Gewalt, Bandenkrimininalität und Mord an der Tagesordnung waren. Aber kaum trug sich ein derartiges Verbrechen in einem Milieu zu, das auch

»wir« frequentierten – etwa in einem großen Krankenhaus, im Central Park oder in der Metropolitan Opera –, bekam der Tod eine andere Dimension. Und das bedeutete einen Platz auf der Titelseite, und zwar ganz ganz oben.

Ich las den Bericht sehr aufmerksam, um zu sehen, wie akkurat die Fakten wiedergegeben wurden und ob jemand aus dem NYPD etwas ausgeplaudert hatte.

Letzteres schien nicht der Fall zu sein; niemand hatte sich dazu hinreißen lassen, die Namen möglicher Verdächtiger – auch nicht die unserer acht »Revier-gäste« – oder sonstige interne Informationen preis-zugeben.

Nachdem ich die Kommentare, die Bücherrezensi-onen und die Donnerstagsbeilage über eine bevorstehende Versteigerung antiker Stickereien studiert hatte, hielt mein wortkarger Fahrer vor dem Gebäude 100 Center Street, öffnete die Kunststoffkassette und kassierte seine vierzehn Dollar und dreißig Cent.

»Wie immer?« fragte mich der Mann hinter dem ambulanten Kaffeestand.

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»Heute das Ganze zweimal, bitte. Geben Sie mir zwei große schwarze Kaffee.«

Die meisten Kollegen kamen erst nach neun, aber vereinzelt trudelten bereits einige Anwälte aus allen möglichen Richtungen ein, da in den Straßen rund um das Gerichtsgebäude verschiedene U-Bahn- und Bus-Strecken ihre Haltestellen hatten.

Hinter mir betrat Johanna Epstein den Aufzug. Sie war noch nicht lange in meiner Abteilung, bearbeitete aber ihre Fälle sehr energisch. »Haben Sie heute Zeit, um mit mir eine Anklageschrift durchzusehen? Es geht um den Fall, den ich am vergangenen Wochenende übernommen habe. Erinnern Sie sich an die Einzelheiten?«

»Der Einbruch in der East Ninth Street – das weibliche Opfer ist crackabhängig?«

»Genau.«

»Ist sie vor der Jury erschienen?« Ein anderer Drogenabhängiger, der wusste, dass die Frau aufgrund ihrer eigenen Abhängigkeit nichts mit der Polizei zu tun haben wollte, war in die Wohnung des Opfers eingedrungen. Aber die Rechnung des Täters war nicht aufgegangen; die Frau hatte Anzeige gegen ihn erstattet. Am Vortag hatte sie vor der Grand Jury ausgesagt, so dass wir Anklage erheben konnten.

»Ja, sie war sehr gut. Ich bin nur noch nicht sicher, ob wir den Typen der mehrfachen Vergewaltigung anklagen sollen. Ich meine, er ist über sie hergefallen, dann hat er sich aus der Küche ein Bier geholt, um sie anschließend noch mal zu vergewaltigen. Sind das 107

einzelne Taten oder handelt es sich um eine Vergewaltigung?«

»Kommen Sie gegen elf mit Ihren Unterlagen vorbei, dann können wir in Ruhe über den Fall sprechen.

Es ist nicht unbedingt klug, eine Anklage zu über-frachten, aber wenn es sich um unterschiedliche sexuelle Aktionen handelt, die von anderen Handlungen unterbrochen wurden, müssen Sie den Mann definitiv der mehrfachen Vergewaltigung anklagen.«

Sie stieg im sechsten Stock aus, während ich bis zum achten weiterfuhr. Mein Büro befand sich gegenüber von Battaglias Räumen, auf demselben Flur wie die Zimmer anderer führender Mitarbeiter der Prozessabteilung, die sich um die Tausenden von Straßenverbrechen kümmerten, die die Polizei Tag für Tag, Nacht für Nacht aufnahm.

Im winzigen Büro meiner Sekretärin, meinem Vorzimmer, schaltete ich das Licht an; dann schloss ich die Tür zu meinem Büro auf. Erfreut stellte ich fest, dass es in meinem Zimmer aufgeräumter als gewöhnlich aussah. Nur zu gut wusste ich, welche Unordung bald mit den unterschiedlichsten Berichten, Unterlagen, Akten, Diagrammen, Notizen und Zeitungsaus-schnitten einziehen würde, die das Hauptprodukt einer Ermittlung waren. Aber wenigstens am Morgen wollte ich zwischen den Stapeln von Papier das eine oder andere Eckchen der grünen Schreibunterlage er-spähen, um das Gefühl zu haben, den Überblick zu bewahren und nichts zu übersehen.

Mein erster Anruf galt David Mitchell.

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Er hatte bereits aus der Zeitung erfahren, dass ich im Mid-Manhattan-Mordfall ermittelte. »Ich hätte dich nie gebeten, dich um Zac zu kümmern, wenn ich das vorher gewusst hätte«, entschuldigte er sich. »Du hast jetzt wahrscheinlich Wichtigeres um die Ohren.«

»Ach, Unsinn. Ich freue mich jetzt schon auf Zacs abendliche Begrüßung. Außerdem wird’s mir gut tun, am Wochenende mit ihr joggen zu gehen. Du weißt genau, dass ich ihre Gesellschaft sehr schätze. Falls ich nicht da bin, wenn du abreist, bring sie einfach zu mir rüber und lass deinen Schlüssel da.«

»Toll. Ich geh’ morgen Früh noch mit ihr Gassi und bring sie dann rüber zu dir.«

»Kannst du mir vor deiner Abreise noch einen Gefallen tun?«

»Aber klar. Worum geht’s denn?«

In knappen Worten berichtete ich, was im Krankenhaus vor sich ging und dass wir Maureen als stille Beobachterin einschleusen wollten – ohne das Wissen der dortigen Ärzte.

»Sollte kein Problem sein, sofern sie freie Betten haben. Und solange ich auf deine Unterstützung zählen kann, falls mir die AMA die Zulassung entziehen will …«

»Kein Problem. Der Police Commissioner muss das Ganze ohnehin absegnen, also handelst du sozusagen auf seine Anweisung hin und bist auf jeden Fall au-

ßen vor. Außerdem weiß ich, dass Betten frei sind.

Zwei Obdachlose haben in den letzten vier Tagen Pri-109

vatzimmer bewohnt. Jedenfalls gab’s keine Beschwerden übers Essen.«

»Okay, Maureen soll mich anrufen; dann besprechen wir ihre Symptome. Anschließend rufe ich einen Neurologen an, der mir noch was schuldig ist …«

»Nein, David. Dogen war Neurochirurgin. Mo muss in ihre Abteilung.«

»Keine Sorge, das ist im Mid-Manhattan dieselbe Abteilung. Die erste Anlaufstelle ist in Maureens Fall ein Neurologe.«

»Kapier’ ich nicht. Kannst du mir den Unterschied erklären?«

»Klar. Ein Neurologe ist der Arzt, der Struktur und Erkrankungen des Nervensystems studiert und heilt.

Ein Neurochirurg wäre erst dann nötig, wenn Maureen auf der Bahre in den OP gerollt werden müsste.«

»Arbeiten Neurologen und Neurochirurgen zusammen?«

»Ja, aber ein Neurologe darf nicht operieren.«

»Dogen hat in erster Linie Gehirnoperationen durchgeführt.«

»Das habe ich in den Nachrufen gelesen. Vergiss nicht, Alex, dass das Gehirn, die Wirbelsäule und sogar das Auge Teil des zentralen Nervensystems sind.

Deshalb gibt es auf dem Fachgebieten Psychiatrie, Augenheilkunde und Orthopädie auch so viele Über-schneidungen. Keine Sorge, wir werden Mrs. Forester mit ausreichend vielen Wehwehchen und Ticks einde-cken, um sämtliche Ärzte auf Trab zu halten, bis ich am Montag wieder da bin. Ist dir damit geholfen?«

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»Ja, vielen Dank, David. Mercer setzt sich heute mit Mo in Verbindung, um sie für die Idee zu gewinnen, und sobald sie zugestimmt hat, wird sie sich bei dir melden. So, nachdem wir das Geschäftliche hinter uns gebracht haben, nun zum Privatem. Wer begleitet dich denn auf die Bermudas?«

»Ich stelle sie dir vor, sobald wir zurück sind. Ihr Name ist Renee Simmons – sie ist Sex-Therapeutin.

Du wirst sie mögen.«

»Hört sich ja interessant an. War sie zufällig die schlanke Brünette, die dich am vergangenen Dienstag im Lumi an der Bar erwartet hat?« Beim Verlassen meines Lieblingsitalieners war mir in der vergangenen Woche David zu einer Verabredung über den Weg gelaufen.

»Genau das ist sie. Ihr beiden könnt wahrscheinlich jede Menge Informationen über die Gestörten dieser Stadt austauschen.«

»Ich freue mich darauf, sie kennen zu lernen. Wir beide sprechen uns heute bestimmt noch mal.«

Nachdem ich aufgelegt und die beiden geleerten Kaffeebecher in den Papierkorb geworfen hatte, kamen Marisa Bourgis und Catherine Dashfer in mein Büro geschneit. Beide waren schon lange in der Abteilung, und wir verstanden uns gut. ebenso wie Sarah waren sie ein paar Jahre jünger als ich. beide waren verheiratet und hatten ebenfalls jeweils ein Kind, und allen dreien gelang es erstaunlich gut, Privat-und Berufsleben unter einen Hut zu bekommen.

»Wird wohl nichts aus unserem gemeinsamen Mit-111

tagessen bei Forlini’s«, bemerkte Marisa, während sie auf die Schlagzeile der Zeitung deutete, die auf meinem Schreibtisch lag.

»Der Einzige, aber nicht zu vernachlässigende Vorteil eines spektakulären Falls: Blitzdiät mit Erfolgsga-rantie.« Ein paar Bissen zwischen Tür und Angel, Flüssignahrung in Form von Kaffee und Cola, ständig auf Achse, von einem Termin zum nächsten hetzen –

und das über Wochen oder gar Monate hinweg. »Um am Ende, wenn ich dann wieder in dieselbe Größe wie vor zehn Jahren passe, werde ich mich mit einem netten Einkaufsbummel belohnen. Ist das etwa nichts?«

»Doch, ganz prima. Falls du bis dahin Unterstützung brauchst, könnten Marisa und ich Sarah dabei helfen, all das Liegengebliebene zu erledigen.«

»Tolles Angebot. Ich schau noch heute Vormittag meine Termine durch. Nächste Woche könntet ihr mir ein paar Befragungen abnehmen. Wenn wir na-türlich übers Wochenende keine heiße Spur entdecken, macht die Sonderkommission allein weiter.«

Laura Wilkie, meine langjährige Sekretärin, warf einen kurzen Blick in mein Büro und teilte mir mit, dass Phil Weinberg mich sehen wollte, bevor er ins Gericht musste. Dringend.

Als Weinberg »der Winsler« in mein Büro geschlichen kam, verdrehten Marisa, Catherine und ich die Augen. Bei Phil war immer alles schrecklich kompliziert. Obwohl er ein guter und leidenschaftlicher Anwalt war, brauchte er während einer Verhandlung mehr Streicheleinheiten als die meisten Opfer.

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Phil war nicht gerade erfreut, mich in Gesellschaft anzutreffen. Er wusste genau, dass wir uns den Mund über ihn zerreißen würden, sobald er den Raum wieder verlassen hatte, aber trotzdem trug er sein Anliegen vor.

»Sie werden es nicht glauben, was gestern Nachmittag mit einem meiner Geschworenen passiert ist.«

»Raus mit der Sprache.« Insbesondere über die Manhattaner Geschworenen gab es unzählige, nie enden wollende Geschichten.

»Wie Sie wissen, stecke ich gerade mitten in der Tuggs-Verhandlung.«

Sarah und ich hatten Phil am Montag und Dienstag abwechselnd im Gerichtssaal beobachtet. Das taten wir bei den jüngeren Mitarbeitern der Abteilung meistens, so dass wir ihnen im Nachhinein Tips zu einer besseren Vorgehensweise geben konnten.

Mir war der Fall bestens vertraut. Es ging um eine Vergewaltigung; das Opfer hatte nach einer Party die Einladung in die Wohnung des Angeklagten angenommen. Die dreiundzwanzigjährige Fotografin hatte glaubhaft geschildert, dass sie der Einladung von Ivan Tuggs ohne jeglichen sexuellen Absichten gefolgt sei.

Auch wenn unsere Abteilung in den letzten zehn Jahren hunderte solcher Fälle verfolgt hatte, waren sie nicht einfach gelagert und machten immer wieder Schwierigkeiten. Daran ist nicht das Gesetz schuld, sondern vielmehr die allgemeine Verfassung der Gesellschaft in Bezug auf diese Art von Verbrechen, was sich häufig im Verhalten von unsensiblen Geschwo-113

renen ausdrückte, die diese Taten nicht ernst genug nahmen.

Das größte Problem für eine Frau, die von einem Bekannten vergewaltigt worden war, war eine Verteidigung, die das Opfer als Lügnerin oder Spinnerin darstellte und argumentierte, das Verbrechen sei nie geschehen, und deshalb phantasiere sich die betroffene Frau die ganze Sache zusammen. Wie es sei »etwas« zwischen den beiden passiert, und die Frau wolle nicht wahrhaben, dass sie der sexuellen Handlung gestimmt habe.

In einem solchem Fall kam es für die Staatsanwaltschaft auf verständnisvolle Geschworene an – auf intelligente Bürgern, die mit beiden Beinen im Leben standen, über einen gesunden Menschenverstand und eine Portion liberales Denken verfügten. So war die halbe Schlacht gewonnen. Doch ein bestimmter Schlag von Frauen, die bei der Beurteilung des Verhaltens anderer Frauen oft weitaus strengere Maßstä-

be anlegten als so mancher Mann, waren in Vergewaltigungsfällen, bei denen sich Opfer und Täter nicht kannten, besser als Geschworene geeignet. Diese Erfahrung hatte ich unzählige Male gemacht, und ich hatte versucht, dieses Wissen innerhalb meiner Abteilung weiterzugeben.

»Sie haben doch die Geschworenen gesehen, Alex, nicht wahr?«

»Ja, warum?«

»Wie fanden Sie sie?«

»Mehr Frauen, als in einem solchen Fall von Nut-114

zen sind, aber Sie haben mir doch gesagt, dass Ihre Chancen trotzdem nicht schlecht stünden.«

»Ich schwöre es, Alex, es war eine reine Frauenin-vasion, und ich konnte nichts dagegen unternehmen.«

Hör schon auf zu winseln, Phil, dachte ich. »Und wo ist das Problem?«

»Alles lief ganz gut. Im Verhandlungssaal war es allerdings so kalt, dass die Geschworenen die Richterin baten, die Heizung hochdrehen zu lassen, noch bevor der erste Polizist in den Zeugenstand trat. Eine Stunde später war es derart warm im Raum, dass uns allen der Schweiß auf der Stirn stand. Die Geschworene Nummer drei stand auf, entschuldigte sich kurz und zog vor sämtlichen Anwesenden ihren Pulli aus.

Was trug sie darunter? Ein T-Shirt mit den Ausma-

ßen eines Zirkuszelts, auf dem in lila Buchstaben stand: Freiheit für Mike Tyson.«

Ich konnte mich gerade noch bemühen, mein Lachen zu unterdrücken, aber Marisa und Catherine platzten lauthals heraus.

»Das ist wirklich nicht lustig. Wann ist Tyson ein-gelocht worden? 1991. Das heißt, diese Frau konnte sich in einem halben Dutzend Jahren kein anderes T-Shirt als dieses verdammte Ding leisten und hatte keine andere Wahl, als ausgerechnet dieses anzuzie-hen – oder sie glaubt wirklich an den blöden Spruch.

Falls letzteres zutrifft, sind wir aufgeschmissen.«

»Was hat die Richterin gesagt?« fragte Marisa.

»Nichts. Wir haben uns ziemlich verblüfft ange-glotzt, aber …«

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»Das heißt, Sie haben sie nicht aufgefordert, die Geschworenen zu überprüfen? Ich hab’ doch noch Ih-re Stimme im Ohr, Phil, als Sie die Geschworenen befragten, ob sie glaubten, dass die Tatsache, dass sich Opfer und Angeklagter kannten, das Verbrechen zu einer reinen Privatsache machen würde. Sie haben die richtigen Antworten bekommen. Außerdem haben Sie eine in solchen Angelegenheiten wirklich gute Richterin erwischt. Bitten Sie sie, dass sie der Geschworenen Nummer drei vor der Fortsetzung der Verhandlung ein paar Fragen stellt.«

»Sollte ich nicht derjenige sein, der ihr die Fragen stellt?«

»Eindeutig nicht. Wir besprechen jetzt gemeinsam die Fragen, Sie schreiben sie auf und geben Sie der Richterin. Das letzte, was in unserem Interesse liegt, ist, dass bei den anderen Geschworenen der Eindruck entsteht, Sie würden auf einer von ihnen herumha-cken. Wenn sie die Fragen übersteht und Geschworene bleibt, soll sie ruhig glauben, die Richterin hätte sich an ihrem lässigen T-Shirt gestoßen, nicht Sie.

Sonst sähe ihr Urteil vielleicht entsprechend ungünstig für uns aus.«

Catherine erbot sich, gemeinsam mit Phil die richtigen Fragen zu formulieren, so dass ich an meine Arbeit gehen konnte.

Laura piepte mich an. »Mo hat angerufen, während Phil bei Ihnen war. Ich glaube, Sie können auf sie zählen. Seit dem Gespräch mit Mercer ist sie schon ganz aufgeregt.«

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Ich griff nach meinem Block, warf einen Blick auf die Uhr und teilte Laura mit, dass ich hoch zu den Räumen der Grand Jury in den neunten Stock ginge, um offiziell die Aufnahme der Ermittlungen im Mordfall Gemma Dogen zu beantragen. Bevor ich die ersten Gedanken an die Fragen verschwendete wie und wann wir wohl den ersten Tatverdächtigen ausfindig machen würden, musste ich vor die dreiund-zwanzigköpfige Grand Jury treten. Durch sie wird die Staatsanwaltschaft per Gesetz ermächtigt, in einer Strafermittlung Vorladungen zum Zwecke der Beweisaufnahme auszusprechen. Obwohl dieses System schon vor Jahren in der Hälfte aller amerikanischen Bundesstaaten abgeschafft worden war, galt es in New York immer noch. Hier lag es nicht in der Macht des Bezirkssaatsanwalts, Papiere auszustellen oder das Erscheinen eines Zeugen anzuordnen. Polizeiberichte und Autopsieergebnisse wurden telefonisch an mich weitergegeben, aber medizinische Daten, Aufzeichnungen von Telefongesprächen und Unterlagen, die möglicherweise als Beweise dienen konnten, liefen in einem Fall wie dem Mord an Gemma Dogen über die Grand Jury.

Die meisten Bürger wissen weder etwas über den Zweck noch die Funktionsweise dieser Einrichtung, die »Grand Jury« genannt wird, um sie von der zwölfköpfigen »Petit Jury« zu unterscheiden. Die Grand Jury leitet sich aus dem britischen Rechtssys-tem her und wurde geschaffen, um Staatsanwälte an die Kette zu nehmen, deren Ermittlungen politisch 117

motiviert oder sachlich ungerechtfertigt sind, und ih-re Funktionsweise unterscheidet sich komplett von der einer Geschworenen-Jury, die während einer Verhandlung auftritt. Die Grand Jury tagt unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Der Angeklagte darf aussagen, auch wenn dieses Recht nur selten in Anspruch genommen wird; die Verteidigung darf keine Zeugen aufrufen, und die Zeugen der Staatsanwaltschaft müssen sich keinem Kreuzverhör unterziehen.

Die Aufgabe der Grand Jury besteht darin, nach Sich-tung der Beweislage zu entscheiden, ob Anklage erhoben wird, das heißt zu entscheiden, ob ausreichend Beweise vorliegen, um eine Verhandlung durchzuführen.

Im Warteraum wimmelte es vor Staatsanwälten und deren Zeugen. Die Ersteren warteten mit leuch-tenden Augen begierig darauf, den ersten Schritt in Richtung einer Verhandlung zu tun. Denn genau aus diesem Grund drängten ja so viele junge Juristen in Abteilungen wie die Battaglias, und je mehr Verhandlungen sie gleichzeitig führten, desto glücklicher waren sie – wie Zirkusjongleure, die möglichst viele bunte Bälle gleichzeitig in der Luft halten wollten.

Die Stimmung der Zeugen war im Allgemeinen etwas gedämpfter. Es waren Leute, die niedergeschla-gen oder -gestochen worden waren, denen man die Brieftasche oder den Wagen gestohlen hatte, die von einem Wildfremden oder der eigenen Sippe übers Ohr gehauen worden waren. Sie fühlten sich weder in ihrer Rolle als Opfer wohl, noch beglückte sie die 118

Aussicht, sich nun in die Mühlen der Justiz zu begeben.

Nur zwei meiner zahlreichen wartenden Kollegen verliehen ihrem Unmut lautstark Ausdruck, als ich mich an den Verwaltungsangestellten wandte, der über die Abwicklung der Anträge in der richtigen Reihefolge wachte. Die Tatsache, dass ich einen brisanten Fall übernommen hatte, rechtfertigte, dass ich außer der Reihe vorgelassen wurde und mich über sämtliche in Sachen Einbrüche, Diebstähle und Drogengeschäfte anwesenden Staatsanwälte hinwegsetz-te, auch wenn diese schon seit geraumer Zeit warteten.

»Reg dich nicht auf, Gene. Es dauert nur eine Minute, und ich bin ohne Zeugen da. Ich muss lediglich die Eröffnung der Ermittlungen beantragen, damit ich einige Vorladungen ausstellen kann. Keine Angst, geht wirklich ganz schnell.«

»Hör mal, Debbie hat unten in ihrem Büro ‘ne Fünfjährige. Die Freundin ihres Vaters hat sie mit ko-chendem Wasser übergosssen, weil sie nicht aufhören wollte zu weinen. Der Kleinen geht’s wirklich nicht gut …«

»Das hat natürlich Vorrang, keine Frage. Ich geh’

danach …«

Als der Verwaltungsangestellte den nächsten auf-rief, klingelte ich schnell Debbie an, damit sie das Mädchen zur Zeugenaussage vorbeibrachte. Das ver-

ängstigte Kind, dessen linke Kopfhälfte schlimm verbrüht war, klammerte sich an die Hand der Staatsan-119

wältin, während sie an den wartenden Zivilisten, Polizisten und Zeugen vorbeiging. Vor der schweren Holztür machten die beiden halt, und Debbie beugte sich zu der Kleinen hinunter, um sich zu versichern, dass sie bereit zur Aussage war.

Das Mädchen nickte entschlossen, und Debbie öffnete die Tür und führte sie vorbei am Stenographen zum Zeugenstuhl im vorderen Teil des Raumes. Ich war diesen Weg im Lauf des vergangenen Jahrzehnts Hunderte von Malen gegangen – mit Frauen, Männern, Jugendlichen und Kindern. Unzählige Male hatte ich beobachtet, wie sich die Münder der dreiundzwanzig Juroren angesichts der Grausamkeiten, zu denen Menschen fähig waren, entsetzt öffneten. Ich erkannte die Bedeutung der Grand Jury an und respektierte ihre Macht. Aber andererseits wusste ich auch, wie ein ma-nipulativer Staatsanwalt das zerbrechliche Gleichgewicht zu seinen Gunsten verschieben und ein unschuldiges Schinkensandwich anklagen konnte, wenn er es darauf anlegte.

Sechs Minuten später verließ das Kind den Raum wieder. Danach war der Vater an der Reihe, gefolgt von zwei Polizisten, die am Tatort erschienen waren und die Verhaftung vorgenommen hatten.

Debbie und der Stenograph kam zu uns in den Warteraum, so dass die Geschworenen sich beraten und abstimmen konnten. Schon nach wenigen Sekunden ertönte der Summton – das Zeichen, dass die Entscheidung gefallen war. Keiner, der das Kind gesehen hatte, konnte daran zweifeln, dass Anklage er-120

hoben wurde – und tatsächlich beschuldigte man die Freundin des Vaters des versuchten Mordes.

Jetzt winkte mich der Verwaltungsbeamte in den Raum. Ich ging vor und legte meinen Block und das Strafgesetzbuch auf den dafür vorgesehenen Tisch.

»Guten Morgen, meine Damen und Herren. Mein Name ist Alexandra Cooper. Ich bin Staatsanwältin und möchte die Eröffnung der Ermittlungen im Mordfall Gemma Dogen beantragen.«

Der Groschen schien noch nicht gefallen zu sein.

Ich musterte die Geschworenen, die mir gegenüber auf einer im Halbrund angeordneten Tribüne saßen, zwei Reihen à zehn Personen, und darüber nochmal drei: der Obmann, sein Vertreter und die Sekretärin.

Normalerweise lag so früh am Morgen vor ihnen noch die Zeitung, und sie kauten an ihren Muffins und Bagels, die sie trotz der Hinweisschilder, dass der Verzehr von Speisen im Saal verboten sei, mitgebracht hatten.

»Ich kann noch keine Beweismittel vorlegen, aber das wird in Kürze der Fall sein. Ich möchte Ihnen ein Kennwort geben, mit dem ich den Fall bezeichnen werde, sobald ich das nächste Mal hier erscheine, und das wird sicher innerhalb Ihrer Geschworenenzeit sein. Da Ihnen so viele verschiedene Fälle zu Gehör gebracht werden, können Sie sich anhand des Kennworts besser daran erinnern. Es lautet ›Mid-Manhattan-Krankenhaus‹.«

Das war wohl eindeutig genug. Die Geschworenen strafften die Schultern und machten einen aufmerk-121

sameren Eindruck. Manche von ihnen unterrichteten ihren Nachbarn flüsternd davon, dass es sich bei meinem Fall wohl um den jener Ärztin handelte, von deren gewaltsamem Tod sie aus der Zeitung oder den Nachrichten erfahren hatten. Die braunen Papiertü-

ten mit den Frühstücksresten wurden eiligst unter den Sitzen verstaut. Zwei Männer in der ersten Reihe musterten mich aufmerksam von Kopf bis Fuß und versuchten sich wohl vorzustellen, wie ich ihnen noch vor Ablauf des Monats den mutmaßlichen Mörder präsentieren würde.

»Ich möchte Sie ausdrücklich daran erinnern, dass Sie als Geschworene die Medienberichterstattung im Fall Gemma Dogen nicht mitverfolgen dürfen.«

Lächerlich, schoss es mir bei meinen belehrenden Worten durch den Kopf. Jetzt, wo sie wussten, dass sie mit diesem Fall zu tun hatten, würden die meisten von ihnen erst recht von einer Nachrichtensendung zur nächsten schalten, um ja keine Einzelheit zu verpassen.

»Die einzigen Beweismittel, die Sie in diesem Fall zu Ihrer Entscheidungsfindung benutzen dürfen, sind die, mit denen Sie in diesem Raum konfrontiert werden.

Presseberichte und Meinungen von Verwandten und Freunden dürfen keine Rolle spielen. Und selbstver-ständlich ist es Ihnen nicht erlaubt, untereinander über diesen Fall zu sprechen. Ich lasse die Vorladungen hier, damit der Obmann sie unterschreiben kann, und werde in der nächsten Woche wieder vor Ihnen erscheinen. Vielen Dank.« Wenn die Ermittler nicht in ein, 122

zwei Tagen einen überraschenden Durchbruch landeten, würde ich die ersten Beweisstücke wohl erst dann präsentieren, wenn ein Verdächtiger gefunden war.

Zügig räumte ich für meine draußen wartenden Kollegen das Feld. »Kommst du heute Abend auf Bro-dericks Party?« fragte mich Gene, als ich an ihm vor-beieilte. Ein Kollege machte sich selbständig und feier-te seinen Ausstand.

»Klar. Ich halte zwar um halb acht eine Vorlesung, aber ich schau danach noch mal kurz vorbei. Es sei denn, in meinem Fall tut sich etwas Unerwartetes.«

Kurz vor der Treppe traf ich auf Laura, die mir mitteilte, dass Battaglia mich sofort in seinem Büro sehen wollte.

»Hallo Rose, tolles Kostüm. Die Farbe steht Ihnen ausgezeichnet.«

»Guten Morgen, Alex. Danke für die Blumen.

Warten Sie noch einen Augenblick; er telefoniert.«

Rose saß vor ihrem PC und bearbeitete die Tasten.

Ich warf einen Blick auf die Berge von Korrespondenz, die sich auf ihrem Schreibtisch türmten, und versuchte dabei, nicht den »Covington« zu machen.

Rod Squires machte sich des öfteren über unseren Kollegen Davy Covington lustig, der die verstohlene Lektüre von Battaglias Post zu einer Kunstform erhoben hatte. Dazu verwickelte er Rose in eine nette Unterhaltung und schielte mit einem Auge auf die Briefe, die zuoberst lagen. Battaglia hatte ihn mehr als einmal auf frischer Tat ertappt. Als Covington eines Tages die Ermittlungen wegen Betrugs gegen einen 123

Kongressabgeordneten öffentlich ins Gerede gebracht hatte, bevor die Nachricht offiziell war, hatte ihn der Bezirksstaatsanwalt hochkant rausgeworfen. Die Ver-suchung, einen Blick zu riskieren, war zwar fast un-widerstehlich, aber die Aussicht auf eine drakonische Strafe war letztlich doch abschreckend genug.

Ich griff nach der aktuellen Ausgabe des Law Journal und überflog die Entscheidung, der die Schlagzeile galt. Da mir das Urteil des Berufungsgerichts be-züglich der Suche eines Polizisten nach einem verlo-renen Koffer interessant erschien, machte ich mir ei-ne Notiz, Laura zu bitten, diese Rechtsmeinung für meine Akten auszuschneiden.

Wenig später kündigte der vertraute Geruch der Monte Cristo No. 2 an, dass Battaglia mich im nächsten Augenblick in sein Büro rufen würde. Rod und ich waren ausgesprochen dankbar, dass Battaglia der un-verkennbare Duft seiner Zigarre stets einige Sekunden vorauseilte – besonders dann, wenn Rod es sich mit den Füßen auf dem Schreibtisch bequem gemacht bzw.

ich meine Schuhe unter meinem ausgezogen hatte.

»Gibt’s Neuigkeiten, Alex? Kommen Sie rein.«

Er verfügte über die erstaunliche Gabe, vier Dinge gleichzeitig machen zu können. Er würde keines meiner Worte überhören oder vergessen, während er die Briefe überflog, die Rose ihm zur Unterschrift ausge-druckt hatte, und außerdem seine Telefonanlage mit den beiden Gesprächen in der Warteschleife im Auge behielt.

»Wenn Sie erst die beiden Gespräche annehmen 124

wollen, Paul – kein Problem, ich kann warten.«

»Ach was, der Senator kann später noch mal anrufen. Das andere dauert nur noch ‘ne Minute. Setzen Sie sich.«

Battaglia drückte den einen der beiden blinkenden Knöpfe und nahm das Gespräch wieder auf. »Sie ist jetzt da. Was willst du wissen?« Schweigen. »Warte.«

Er schaute mich an. »Was wissen Sie bereits über Dogens Ehemann und ihre Familie?« Es folgten drei ähnliche Fragen, alle harmlos.

Ich gab ihm die Informationen, die ich hatte, und fragte mich, welcher Herausgeber wohl am anderen Ende der Leitung hing. Er beherrschte es meisterhaft, niemals zu viel Wissen herauszurücken und den Journalisten doch einige Informationsbrocken zuzuwer-fen, die kurz darauf ohnehin in den Medien auftauchten. Er behielt im Gespräch die Oberhand und steuerte es nach Belieben. Eine Schmeichelei des Anrufers ließ auf seinem Gesicht ein breites Grinsen erscheinen, und ich ich musste lächeln. Battaglia hatte schmale Züge, eine ausgeprägte Adlernase und dickes, bereits ergrauendes Haar. Der Mann war im Umgang mit der Presse ein wahres Genie.

»So, das sollte denen fürs Erste genügen. Irgendwelche Spuren, von denen ich noch nichts weiß?«

Ich berichtete ihm vom Vorabend und davon, was ich den Tag über zu tun gedachte.

»Wissen Sie, die vom Krankenhaus sind nicht gerade begeistert über die Artikel, in denen die Sicherheitsmängel beschrieben werden.«

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»Aber Paul, Sie müssen doch zugeben, dass …«

»Versuchen Sie, diese Berichterstattung in Grenzen zu halten, Alex. Die Kranken flüchten aus der Klinik, als wäre die Lepra ausgebrochen. Das gilt nicht nur für das Mid-Manhattan – ich habe bereits Anrufe aus dem Columbia-Presbyterian und dem Mount Sinai bekommen. Man hat den Eindruck, es würde über die Grand Central Station oder die Bowery Mission geschrieben und nicht über ein Krankenhaus. Noch etwas: eben war Pat McKinney bei mir und hat mir er-zählt, Chief McGraw habe angerufen und sich über irgendwas aufgeregt, was Sie gestern Abend auf dem Revier ausgefressen haben.«

Ein Arschloch traf offenbar immer ein anderes.

Und McKinney, einer meiner Supervisoren, hatte nichts Besseres zu tun, als zum Chef zu rennen und mich anzuschwärzen. Zähneknirschend schwieg ich, denn ich wusste, dass Battaglia nichts mehr hasste als Grabenkämpfe unter seinen Leuten.

»Wahrscheinlich haben Sie das Richtige getan, Alex.

McGraw ist eine Landplage. Wir haben uns vor zwölf Jahren kennen gelernt, als er Manhattan-Süd unter sich hatte. Er war noch nie in der Lage, mit Frauen zusammenzuarbeiten. In dieser Hinsicht ist er ein richtiger Neandertaler. Lassen Sie sich nur nicht von ihm auf die Palme bringen.«

Er stand auf, ging zur Tür und beendete somit die Audienz. Die Zigarre zwischen den Zähnen, verabschiedete er mich mit breitem Grinsen. »Wenn er Ihnen das Leben schwer macht, richten Sie ihm viele 126

Grüße von mir aus. Sagen Sie ihm, er soll seine Hosen hochziehen und Ihnen den Weg freimachen.«

Ich nahm die Telefonnotizen von Lauras Schreibtisch und blätterte sie durch, bis ich die gesuchte fand. David Mitchell hatte hinterlassen, dass er Maureen Forester an einen Neurologen überwiesen hatte. Aufgrund der Beschwerden, die sie gegenüber David angegeben hatte, würde sie am Freitagvormittag um zehn ins Mid-Manhattan eingewiesen. Dr. Mitchell hatte natürlich darauf bestanden, dass vor seiner Rückkehr Anfang der kommenden Woche keine weiterführenden Untersuchungen durchgeführt würden.

Maureen stand also lediglich unter Beobachtung.

Ich rief Sarah an, um ihr die Neuigkeit mitzuteilen, und fragte sie, ob sie Mo am Freitagnachmittag besuchen konnte. Dann rief ich bei Bergdorf’s Personal Shopping an und bestellte einen mokkafarbenen Morgenmantel, der am nächsten Tag mit einem Begleit-schreiben in die neurologische Abteilung geliefert werden sollte: »Für unseren Wolf im Schafspelz –

mach’s gut, alles Liebe von Deinen Kollegen Mike, Mercer und Al.«

Nachdem ich aufgelegt hatte, betrat Gina Brickner, ausgerüstet mit ihren Notizen und einem Kassetten-recorder, den Raum. Sie schaute trübselig aus der Wäsche.

»Laura hat mir gesagt, du würdest gegen Mittag verschwinden. Aber bevor du weg bist, solltest du dir das hier anhören. Ich hab’ eine Anklageschrift in der 127

Party-Vergewaltigung an der Columbia University im letzten Monat erwirkt. Heute Morgen hab’ ich die Aufzeichnung des Notrufs samt Niederschrift bekommen. Jessy Pointer, das Opfer, hat mir erzählt, sie habe an jenem Abend nur ein oder zwei Bier getrunken und sei absolut nüchtern gewesen, als sie die 911

wählte, ich hab’ mir das Band angehört, Alex, und sie war so sturzbesoffen, dass sie ununterbrochen ge-hickst hat.«

»Unglaublich.«

»Und es kommt noch schlimmer. Jedes Mal, wenn der Mann am anderen Ende nach ihrer Adresse fragt, weiß sie die Antwort nicht. Ihr fällt nicht einmal mehr der Name ihres Wohnheims ein. Und als er sie um eine Rückrufnummer bittet, für den Fall dass die Adresse, die sie schließlich angegeben hat, nicht richtig sei, nennt sie ihm eine sechsstellige Zahl, woraufhin die beiden darüber in Streit geraten, ob die Tele-fonnummern in der Stadt sechs oder sieben Stellen haben. Ich konnte kaum glauben, wie betrunken sie war.«

»Bestell sie für morgen her und lies ihr die Leviten.

Spiel ihr das Band vor und mach ihr klar, dass sie nur eine einzige Chance hat – nämlich ihre Geschichte zu korrigieren. Und sag ihr, sie muss in der Verhandlung den Geschworenen mitteilen, dass sie in Bezug auf ihren Zustand nicht die Wahrheit gesagt hat. Ich werde nie verstehen, warum manche Frauen uns was vorlü-

gen, wenn’s um die Umstände geht, die zum Verbrechen geführt haben, und gleichzeitig erwarten, dass 128

wir ihnen den Rest der Geschichte abnehmen. Wir sind schließlich da, um ihnen zu helfen – glauben die denn, wir wären so dumm, nicht herauszufinden, was wirklich passiert ist? Wenn sie will, dass wir ihren Fall durchfechten, müssen wir jetzt jede andere noch so kleine Einzelheit ihrer Geschichte nachprüfen.«

Nichts machte mich wütender als Opfer, die ihre eigene Glaubwürdigkeit beschädigten, indem sie versuchten, die Tatsachen zu verschleiern und ihre Rolle zu beschönigen. Und das Schlimme war, dass die wenigen, die das taten, nicht nur ihre eigene Glaubwürdigkeit reduzierten, sondern automatisch auch die aller anderen Opfer.

Als ich alle Rückrufe erledigt hatte, erschien auch schon Mercer, um mich abzuholen.

»Piepsen Sie mich an, Laura, falls Sie mich brauchen. Wir sind im Leichenschauhaus.«

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Mercer manövrierte seinen Dienstwagen um die Bau-stelle auf der First Avenue herum, einen Block südlich von dem blaugrauen Gebäude, in dem sich das Büro des Gerichtsmediziners befand. Nachdem Mercer mich hatte aussteigen lassen und ich über einen Berg aus Eis und festgefrorenem Schneematsch auf den Gehweg geklettert war, stellte er das Auto an einer Parkuhr ab.

»Sieh dir nur den Idioten an«, bemerkte Mercer und deutete hinüber zur anderen Straßenseite auf Chapman. »Der Mann hat wohl noch nie was von

‘nem Wintermantel gehört.«

Mike kam aus einem Supermarkt; bekleidet mit Blazer und Jeanshemd, dessen oberster Knopf offen stand, schien ihm die bittere Kälte nicht das Geringste auszumachen.

Ich winkte ihm zu, woraufhin er eine große Tüte hob und uns »Lunch« zurief. Mercer schaute mich kopfschüttelnd an. Niemand von uns war im Leichenschauhaus so zu Hause wie Chapman. Für ihn und seine Kollegen war es die normalste Sache der Welt, Autopsien beizuwohnen, wohingegen wir von der Sex Crimes Prosecution Unit das Glück hatten, es in den meisten Fällen mit Überlebenden zu tun zu haben –

mit Verletzten zwar, aber solchen, die lebten und at-meten.

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»Nicht durch den Haupteingang«, rief Chapman uns zu, als ich mich anschickte, die Treppe des Ge-bäudes zu betreten. »Kirschner ist noch unten im Keller.«

Ich hatte noch nie den Seiteneingang an der Dreiunddreißigsten Straße benutzt, also folgte ich Mike und Mercer um die Ecke bis zu der Parkbucht, in der Kranken- und Notarztwagen ihre toten Passagiere ab-lieferten. Ein Polizist prüfte unsere Dienstausweise und ließ uns eintreten. Auf der gewundenen Rampe gingen wir runter zu den Autopsiesälen.

Mike bemerkte, wie ich die grün getünchten Wän-de musterte; auf Hüfthöhe waren sie ziemlich rampo-niert, an vielen Teilen fehlte große Stücke des Putzes.

Besonders schlimm sah es in der letzten Kurve am Ende der Rampe aus.

»Ich weiß schon, was du jetzt denkst. Am liebsten würdest Du das ganze Ding neu streichen und hübsch dekorieren lassen. Vergiss es. Hier wird’s nie anders aussehen, Blondie. Oben packen sie die Leichen auf Bahren und geben ihnen dann einen Schubs, so dass sie die Rampe runtersausen. Dabei lassen sich Kollisi-onen mit der Wand leider nicht vermeiden, aber keine Sorge – die Patienten bekommen davon nichts mehr mit.«

»Ist er nicht ein sensibles Bürschchen«, murmelte Mercer.

Mike führte uns in ein kleines Besprechungszimmer am Ende des Korridors. Darin befanden sich ein drei Meter langer Tisch, ein Dutzend Stühle, eine Ta-131

fel und ringsum an den Wänden Schienen, an denen sich Röntgenbilder und Fotos befestigen ließen.

Noch bevor Mercer und ich unsere Mäntel ausziehen konnten, betrat Dr. Chet Kirschner den Raum.

Wir hatten im Lauf der vergangenen fünf Jahre, seitdem er vom Bürgermeister zum Chief Medical Examiner berufen worden war, bereits einige Male zusammengearbeitet, und ich schätzte ihn sowohl wegen seiner ruhigen, besonnenen Art als auch wegen seiner enormen Fachkenntnis. Chet war ein gro-

ßer, spindeldürrer Mann mit dunklem Haar, einer ruhigen Stimme und einem verbindlichen Lächeln, das er allerdings während seiner Arbeit im Autopsie-saal nur selten zeigte.

Nach der Begrüßung setzten wir uns an den langen Tisch, und Mike förderte aus seiner Tüte Sandwiches und Erfrischungsgetränke zutage.

»Was ich Ihnen bis jetzt mitteilen kann, Alexandra, sind lediglich die allerersten Erkenntnisse. Es wird noch ein Weilchen dauern, bis wir die Laborergebnisse der toxikologischen und serologischen Proben bekommen. Beginnen wir also mit den allgemeinen Dingen.«

»Selbstverständlich.«

»Die vier Truthahn-Sandwiches sind Vollkorn mit Russischem Dressing. Wollt ihr?«

»Bitte nicht jetzt, Mike«, antwortete ich. Die sterile Umgebung, der Hauch von Formaldehyd in der Luft und die hässliche Aufgabe, die vor uns lag, verschlu-gen mir gründlich den Appetit.

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