»Dienstlich oder privat?«

»Eine eher ungewöhnliche Dienstreise nach Chile. Er fliegt zum Mumienkongress.«

128

12

Mike Chapman hielt an der Laderampe auf der East Thirtieth Street einem Leichenschauhausbediensteten, der eine leere Bahre schob, die Tür auf. Ich kletterte aus dem Taxi und blinzelte in der grellen Sonne. Es war ungewöhnlich, am Eingang zu diesem grauen Tunnel, an dem die Toten der Nacht angeliefert wurden, Gesang zu hören.

»See the pyramids along the Nile …«, schnulzte Mike leise, eine etwas rhythmischere Version als Jo Staffords Aufnahme von 1956. Mike stützte sich mit einer Hand am Türrahmen ab, sodass ich unter seinem Arm hindurchgehen musste, und signalisierte dem wartenden Krankenwagenfahrer, als er zu der Ko-da des Songs kam: »She belongs to me.«

»Ich beiße gleich. Was ist der Mumienkongress?«

»Der vierte Weltkongress über Mumienforschung. Muss ein richtig unterhaltsamer Haufen sein, meinst du nicht auch? Dort findest du vielleicht einige Gastredner für McKinneys Killer-camp.«

Die Bezirksstaatsanwaltschaft veranstaltete jedes Jahr ein Fortbildungswochenende für die leitenden Mitglieder der Prozessabteilung, die mit Mordermittlungen zu tun hatten. Es war Pat McKinneys Lieblingsprojekt, und er verbrachte den größ-

ten Teil des Jahres damit, die schrulligsten Experten und die schlimmsten Unterkünfte zu organisieren, die eine Konferenz bieten konnte.

»Das gibt’s wirklich?«

»Wenn es nach Ms. Drexler geht, ist nur ein päpstliches Kon-sistorium wichtiger. Alle drei Jahre trifft sich eine lebhafte Gruppe von Paläopathologen und Ägyptologen, um über alte und neue Mumien zu diskutieren. Sie halten Referate, studieren 129

Techniken, vergleichen Hieroglyphen, wandeln wie die alten Ägypter. Dinge in der Art.«

»Ernsthafte Themen?«

»DNA bei Mumien, Menschenopfer im Hochgebirge der Anden, Parasiten, die mumifizierte Leichen befallen.«

»Kann Gaylord nicht eine Sitzung auslassen? Oder sie über Satellit verfolgen? Wenn Alan Dershowitz schon CNN Interviews vom Nacktbadestrand auf Martha’s Vineyard gibt, bin ich mir sicher, dass auch Gaylord geholfen werden kann.«

»Er hält dieses Wochenende den Hauptvortrag zum Thema

›Ethische Überlegungen beim Studium antiker Leichen‹. Anscheinend hat er die besten Referenzen in diesem Bereich.

Drexler sagt, dass das in der Museumsarbeit ein wichtiges Thema sei. Dinge, die man vor fünfzig oder hundert Jahren to-leriert hat, wie zum Beispiel das Öffnen geheiligter Gräber, sind jetzt tabu.«

»Warum Chile?«

»Eine Region namens Atacama, so ziemlich die verlassenste Wüstengegend der Welt.«

»Du kennst sie?« Dort musste einmal eine Schlacht stattgefunden haben.

»Nie davon gehört. Ms. Effizienz ist meine Verbindung zum Mumienmann. Ich weiß, dass es in Nordchile eine kleine Stadt namens Arica gibt, nahe der Wüste. Peru hat sie nach dem Salpe-terkrieg an Chile abgetreten. Friedensvertrag von Ancón, 1883.«

»Du weißt über Kriege Bescheid, von denen ich nicht einmal weiß, dass es sie gegeben hat.«

»Was ich nicht gewusst habe, ist, dass es in der Atacama-Region so trocken ist, dass eine Langzeitkonservierung des menschlichen Körpers praktisch garantiert ist. Ein wahres Mumienparadies. Wahrscheinlich gibt es dort mehr Mumien als im gesamten Niltal.«

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»Fliegt Gaylord dorthin, weil er etwas weiß oder weil er etwas lernen will?«

»Mir erscheint es offensichtlich, dass er diesen Termin nicht einhalten müsste, wenn er unser Mörder wäre. Wer auch immer Ms. Grooten eingewickelt hat, muss den Kurs bereits absolviert haben. Können wir ihn aufhalten, nur um sicherzugehen?«, fragte Mike.

»Auf welcher Grundlage? Wir haben nichts in der Hand.

Deutet irgendetwas darauf hin, dass er nicht zurückkommen wird?«

»Eve Drexler sagt, dass er ab Dienstag wieder im Büro sein wird.«

»Ich mache mir mehr Gedanken über Pierre Thibodaux.«

»Sie packt gerade seine Sachen. Willst du ihre DNA? Ich wette mit dir, dass überall Tränenspuren sind. Eve würde Pierre sicher gerne nach Paris folgen.«

Als wir in Dr. Kestenbaums Büro eintrafen, war auch er vom Tatort der Messerstecherei in Chelsea zurückgekehrt und zog sich gerade den Kittel an, den er den Rest des Tages im Obduk-tionssaal tragen würde.

»Also, was wissen Sie beide über Gift?«

»Fangen Sie ganz von vorne an, Doc. Wir sind Anfänger.«

»Katrina Grooten starb an einer Arsenvergiftung. Ich habe al-le Gewebe- und Haarproben für eine toxikologische und mitochondriale DNA-Analyse eingereicht, aber wie Sie wissen, wird es ein Weilchen dauern, bis wir die Resultate haben.«

»Gestern haben Sie nur geraten. Aber heute sind Sie sich sicher?«

»Einige klare Anzeichen, Alex. Die Mees-Streifen auf ihren Fingernägeln waren sehr verräterisch.«

»Die was?«

»Weiße Linien, die quer über die Nägel verlaufen und auf ei-131

nen toxischen Arsengehalt im Körper hindeuten. Dann dieser kräftige Geruch, den Sie beim Anheben des Sargdeckels gerochen haben. Erinnern Sie sich, dass ich Sie fragte, ob es Sie an etwas erinnerte, und Sie sagten, dass es ein beißender Geruch sei? Ich dachte sofort an Knoblauch. Die Alopezie, das heißt, der Haarausfall am Kopf und an den Augenlidern – all diese Spuren decken sich mit einer erhöhten Arsenaufnahme. Ich werde Ihnen bis Anfang nächster Woche den kompletten Bericht tippen, aber das waren meine Beobachtungen, noch ehe wir überhaupt zu schneiden angefangen hatten.«

»Haben Sie schon jemals einen so gut erhaltenen Leichnam gesehen, Doc?«

»Nein. Nicht auf natürliche Weise. Ich habe mich vergewis-sert, dass keinerlei chirurgische Eingriffe stattgefunden haben.«

»Also müssen wir herausfinden, ob der Mörder wusste, was er tat, als er die Leiche versteckte, oder ob es ein Zufall war auf Grund der klimatischen Bedingungen in ihrem Versteck, richtig?«

»Ich möchte nur so viel sagen, Mike: Wenn ich die toxikolo-gischen Ergebnisse bekomme, werden wir vermutlich sehen, dass Ms. Grootens Mörder nichts getan hat, um die Tatsache zu verschleiern, dass sie zu viel Arsen intus hatte.«

»Was meinen Sie damit?«

»Dass er nicht erwartet hat, dass man sie vor Ablauf von sechs Monaten, wenn überhaupt, findet.«

»Oder ein Jahr später auf einem anderen Kontinent.«

»Sogar noch besser für ihn. Es ist ja nicht, als ob er es ihr in kleinen, subtilen Dosen verabreicht hätte. Ich vermute, dass er damit rechnete, dass sie schon verwest wäre, wenn man sie fand.«

»Ist Arsen nicht in unserem Trinkwasser?«

»Da müsste man ganz schön durstig sein, um auf die Art und 132

Weise ins Gras zu beißen, Coop. Du musst unbedingt meine Mutter anrufen. Sie wird stolz darauf sein, wie sich mein Studium bei diesen Ermittlungen auszahlt. Zuerst stolpere ich über eine Unvergängliche. Jetzt kann ich auch noch mein ganzes Wissen über Albertus Magnus loswerden. Er war der Erste, der Arsen in ungebundener Form hergestellt hat. Richtig, Doc?«

»Ganz genau. Es ist seit dem Mittelalter ein beliebtes Tö-

tungsmittel, in Wirklichkeit und in der Literatur. Es gab mal eine Zeit, da war es so leicht erhältlich, dass es die Briten ›Erb-schaftspulver‹ nannten. Die beste Methode, das Familienmitglied aus dem Weg zu schaffen, das den Geldbeutel kontrollierte. Und, ja, Alex, Arsen gelangt durch die Auflösung von Mineralien und Erzen auf der Erdoberfläche in unser Trinkwasser.

Industrieabfälle machen es noch schlimmer. In Fisch und Fleisch ist oft Arsen. Aber falls das Wasser an Grootens Ar-beitsplatz oder in ihrer Wohnung vergiftet gewesen wäre, wäre sie nicht als Einzige krank geworden. Dann wäre das ganze Viertel eine Zeit lang nicht gut beieinander gewesen.«

»Wo denkst du hin, Blondie? Dass sie zu viel Leitungswasser trank, vornüber in die Sandsteinkiste kippte und der Deckel zufiel?«

»Du weißt, dass mich Battaglia fragen wird, ob die Möglichkeit besteht, dass ihr Tod ein Unfall war. Ich versuche nur, alles auszuschließen.«

»Natürlich hat es schon versehentliche Vergiftungen gegeben.

Wir hatten letztes Jahr einen Fall, in dem ein Kerl, der beruflich mit Holz arbeitete, die Dämpfe von dem chemisch behandelten Holz einatmete. Er hat das Zeugs durch seine Schleimhäute ab-sorbiert, weil er einfach zu stur war, einen Mundschutz zu tragen, wenn er Holz bearbeitete, das mit einer Arsenlegierung be-schichtet war. Arsen kann man einatmen, absorbieren und ver-dauen. Keine dieser Methoden ist zu empfehlen.«

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»Weist man im Laufe der Zeit irgendwelche Symptome auf?«

»Natürlich. Bei einer leichten Vergiftung wird der Patient wahrscheinlich über Übelkeit, Frieren, Appetitlosigkeit, Ver-dauungsstörungen, Apathie klagen. Von kleinen Dosen würde einem schlecht werden, aber man würde davon nicht sterben.

Bei schwereren Fällen kommt es zu krankhaften Veränderungen der Haut, chronischen Kopfschmerzen, Leberschäden, dazu der metallische Geschmack und knoblauchähnliche Geruch.«

»Können Sie in etwa sagen, wie lange das schon so ging?«

»Da sollte uns die Haarprobe eine große Hilfe sein. Sie wird uns Aufschluss über den Verlauf der Vergiftung geben.«

»Wie das?«

»Ein menschliches Haar wächst durchschnittlich eineinhalb Zentimeter pro Monat. Jeder Millimeter repräsentiert ungefähr zwei Tage. Sobald wir die Resultate haben, sollte ich in der Lage sein, zu sagen, wann Grooten zum ersten Mal größeren Dosen Arsen ausgesetzt war. So wie es momentan aussieht, werden wir wahrscheinlich nahe der Kopfhaut eine viel höhere Konzentration finden – fünf- oder sechsmal so viel.«

»Haben Sie irgendwelche Beweisspuren am Körper oder im Sarg gefunden, irgendwelche Indizien, die uns einen Hinweis auf den Täter liefern könnten?«

»Ich habe die Leinenbandagen aufgehoben. Sie haben schon ein paar Jahre auf dem Buckel. Wahrscheinlich stammen sie von einer antiken Mumie. Also werden darauf wahrscheinlich eher Spuren des ersten Subjekts sein als die des Mörders.«

»Fingerabdrücke?«

»Ich hätte Sie nie für einen Optimisten gehalten, Mike. Das Labor kann es sich ansehen. Meine Vermutung ist, dass der Täter Latexhandschuhe getragen hat, wenn er viel Zeit hatte, mit der Leiche zu hantieren. Dazu muss man kein Arzt sein. Die kann man in jeder Apotheke und jedem Eisenwarenladen kaufen.«

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»Und wo bekommt man Arsen?«, fragte ich.

»Es ist in Insektiziden wie beispielsweise Schweinfurter Grün und in Giftgas. Konnten Sie schon Ihre gestrige Vermutung überprüfen, dass sie etwas mit dem Metropolitan Museum zu tun hatte?«

»Ja.«

»Arsen ist ein weit verbreiteter Bestandteil von Pigmenten, Alex. Jedes Kunstmuseum hat einen erstaunlich großen Vorrat an tödlichen Giften. Lauge und Bleiweiß und Arsen ergeben brillante Farben, aber ein lausiges Essen, und sie finden sich wahrscheinlich in den Pigmenten eines jeden Künstlers, der etwas auf sich hält.« Kestenbaum wandte sich an Chapman.

»Ich habe ihre Klamotten in eine Tüte getan, Mike.«

Er warf jedem von uns ein Paar Latexhandschuhe zu und deutete auf einen Haufen brauner Papiertüten am anderen Ende des Tisches.

Ich stand auf und holte aus der ersten einen BH hervor. Er war alt und abgewetzt, und das Etikett war vom häufigen Waschen ausgebleicht. Es war eine kleine Größe. In der zweiten Tüte war der Slip der Toten. Wie der BH war auch er alt, abgewetzt und leicht gräulich.

Die dritte Tüte enthielt eine Damenhose Größe 34 aus grober Plaidwolle. Die Hosenaufschläge waren abgewetzt, und am Gesäß waren Fusseln. Die Marke war die eines billigen Ver-sandhauses.

In der vierten Tüte war ein Damenpullover mit engem, rundem Halsausschnitt.

»Was ist so faszinierend, Coop?«

»Der gehört nicht der gleichen Frau, die die anderen Stücke gekauft hat.«

»Wie das?«

»Erstens ist er aus Kaschmir. Zweitens hat er nicht ihre Grö-

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ße.« Ich hielt den Pullover hoch. Er war viel zu groß für die zierliche Grooten.

»Und drittens ist das Etikett von einem der teuersten Läden auf der Madison Avenue. Wo ist Ihre Polaroidkamera?«

Kestenbaum deutete auf die Tür. »Nach rechts den Gang hinunter, in der Abstellkammer.«

»Geben Sie alle diese Sachen ins Labor, aber ich möchte den Pullover überprüfen. Vielleicht können wir herausfinden, ob sie ihn selbst gekauft oder ob ihn ihr jemand geschenkt hat.«

Ich reichte ihn Mike, damit er ihn fotografieren und das Ka-belmuster sowie den Kragen- und Manschettenstil skizzieren konnte. Der Pullover war nicht von der Stange. Ich bezweifelte, dass von diesen zartpfirsichfarbenen Strickpullovern viele Stü-

cke verkauft worden waren.

»Der hier kostet wahrscheinlich über fünfhundert Dollar.«

»Von dem Gehalt einer Museumspraktikantin? So viel hat wahrscheinlich meine gesamte Garderobe bis zu meinem drei-

ßigsten Lebensjahr nicht gekostet«, sagte Mike.

Kestenbaum nahm einen weißen Briefumschlag von seinem Schreibtisch. »Sie werden das hier auch sicherstellen wollen.

Ich fand es in einer ihrer Hosentaschen. Vielleicht sagt Ihnen das, wo Ms. Grooten ihre Habseligkeiten gelassen hat, als sie zu ihrem letzten Essen aufbrach.«

Ich machte den Umschlag auf und nahm ein quadratisches, circa drei auf drei Zentimeter großes rotes Ticket mit der Nummer 248 heraus. Es sah aus wie eine Garderobenmarke, von einer Garderobe irgendwo zwischen dem Leichenschauhaus und Kairo.

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»Siehst du irgendwelche Hessen?«, rief Mike Chapman Mercer Wallace zu, der an einer massiven Granitmauer lehnte, die die Klostergruppe umfasste, die vor einem Dreivierteljahrhundert aus Europa gebracht und auf diesem felsigen Kliff wieder aufgebaut worden waren. Es war kurz nach zwölf Uhr mittags an einem sonnigen Maitag, und wir gingen die Kreisauffahrt hinauf zu Mercer, der von seinem Standpunkt aus den Hudson River überblicken konnte.

»Freunde, wir befinden uns hier auf dem höchstgelegenen Stück Land auf der Insel Manhattan, erreichbar mit der tiefsten U-Bahn der Stadt – nicht dass du dir jemals über öffentliche Verkehrsmittel Gedanken machen würdest, Coop«, fuhr Mike fort. »Die Briten hätten es beinahe in der Außenposten-Affäre verloren.«

Mercer drehte sich um, um der Militärgeschichte dieses au-

ßergewöhnlichen Fleckens Land am nördlichen Ende Manhattans zuzuhören. Seine riesige Gestalt hob sich gegen den breiten Fluss unter ihm ab.

»General Washington verließ hier die Garnison und zog nach Norden, während Cornwallis diesen Ort von Kriegsschiffen, schottischen Hochländern, britischen Truppen und Hessen um-zingeln ließ. Sie eroberten das Fort, töteten die Mehrzahl der Amerikaner und bezogen hier ihr Lager, bis diese Anhöhe wieder befestigt war. Deshalb wurde das Long-Hill-Vorwerk nach William Tryon umbenannt, dem letzten englischen Gouverneur von New York.«

Das Cloisters-Museum stand auf einer atemberaubenden An-höhe im Fort-Tryon-Park, dem letzten der von Frederick Law Olmsted gestalteten Stadtparks. John D. Rockefeller hatte der 137

Stadt die Gebäude und über sechzig Morgen Land mit gepflasterten Wegen, Terrassen und felsigem Terrain gestiftet, von der Stelle, wo die alten Schutzwälle des ursprünglichen Forts gewesen waren, bis zu dem Hügel, auf dem man die importierten Ruinen wieder aufgebaut und in eine zeitgenössische Umgebung integriert hatte.

Ich wandte meinen Blick vom Fluss ab und sah den Weg entlang, der von dort, wo wir standen, abwärts durch einen dicht bewaldeten Park führte. Katrina Grooten hatte letzten Juni eines Abends das Museum verlassen und war auf einem dieser abschüssigen Wege einem neuzeitlichen Wegelagerer in die Arme gelaufen, der sie in das Dickicht gezerrt und in dessen Schutz vergewaltigt hatte.

»Hiram Bellinger wartet in seinem Büro auf uns.« Detective Wallace führte uns um das Gebäude herum hinab zum Haupteingang gegenüber dem Parkplatz. Der Eingangsbogen im ro-manischen Stil, auf dem zahlreiche reale und imaginäre Tiere und Vögel abgebildet waren, führte zu einem Treppengewölbe.

Außer uns waren nur noch eine Hand voll andere Besucher da, und während ich nach oben ging, vorbei an Fenstern, die von winzigen Bleiglasscheiben eingefasst waren, kam ich mir vor, als hätte ich eine Zeitreise durch einige Jahrhunderte in eine mittelalterliche Kirche angetreten. Das maschinell produzierte, schmiedeeiserne Treppengeländer war das Einzige, was uns daran erinnerte, dass wir uns im einundzwanzigsten Jahrhundert befanden.

»Kühl hier drinnen«, sagte Mike.

Die dicken, aus riesigen Steinen erbauten Mauern sorgten da-für, dass es drinnen um mindestens fünf Grad kälter war als draußen. Sicher überlegte Mike genau wie ich, ob die Kälte in diesen wiedererrichteten Klosterbauten dazu geeignet wäre, einen Leichnam zu konservieren.

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Oben auf der Treppe wies uns ein Museumswärter den Weg ins Büro des Kurators. Vorbei an den wunderschönen Marmor-kapitelen des Kreuzgangs des Cuxa-Klosters, eines der fünf hier wieder aufgebauten französischen Klöster, durchquerten wir einen ruhigen Garten und gingen zu dem Turm, in dem die Verwaltungsbüros des Museums untergebracht waren.

Ich klopfte an die Tür mit dem Schild HIRAM BELLIN-GER, KURATOR – MITTELALTERLICHE KUNST und erwartete, dass sie von einem griesgrämigen alten Einsiedler ge-

öffnet werden würde, der seine Nase seit Jahrzehnten in alte Handschriften steckte. Aber diese Beschreibung traf auf Hiram Bellinger nicht zu. Er konnte nicht viel älter sein als Mercer, höchstens Anfang vierzig. In seiner Khakihose, den Colleges-lippern und dem Baumwollrolli unter einem Button-down-Hemd mit offenem Kragen wirkte er wie ein Gutsherr.

In dem großen Raum stapelten sich überall Bücher, und von hier oben im Turm konnte man meilenweit den Hudson hinauf-sehen.

»An einem Tag wie heute fällt das Arbeiten schwer, also bin ich froh über diese Unterbrechung. Die mittelalterlichen Mönche liebten die Isolation, Ms. Cooper. Fast so sehr wie ich. Die Benediktiner bevorzugten Berggipfel, wohingegen die Zister-zienser abgelegene Flusstäler wählten. Ich habe das große Glück gehabt, mitten in einer Großstadt eine beinahe klösterli-che Umgebung zu finden.«

Bellinger bat uns, an einem runden Tisch in der Mitte des Raums Platz zu nehmen. Er legte einige aufgeschlagene Bü-

cher auf das Fensterbrett und schob ein paar andere Büchersta-pel zur Seite.

»Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Wir würden uns gerne mit Ihnen über Katrina unterhalten.

Katrina Grooten.«

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»Ich kann noch immer nicht glauben, was ich gehört habe«, sagte er, während er einige Papiere ordnete und sich neben mich setzte.

»Was genau haben Sie denn gehört?«

»Dass sie tot ist. Dass sie nie New York verlassen hat und nach Hause zurückgegangen ist, wie sie uns erzählt hatte.«

Er schüttelte den Kopf. »Dass jemand sie umgebracht hat.«

»Wir wollen herausfinden, wer das getan hat. Und warum.

Dazu brauchen wir zuerst einige Informationen über Katrina.

Was sie gemacht hat, wen sie kannte, wie sie lebte …«

»Und wem sie auf den Schlips getreten ist.« Mikes Wortwahl vertrug sich schlecht mit der kultivierten Atmosphäre in Bellingers Horst.

»Letzteres wäre eine sehr kurze Liste. Aber ich werde dar-

über nachdenken. Katrina konnte einem unter die Haut gehen, wenn sie ein Thema entdeckt hatte, für das sie sich leidenschaftlich engagierte. Aber die meiste Zeit war sie sehr ruhig, beinahe schon verschlossen.«

»Wie lange haben Sie sie gekannt?«

»Ich habe sie eingestellt. Vor fast drei Jahren.«

»Wo haben Sie sie kennen gelernt?«

»Sie sprach mit ihrem Lebenslauf am Met vor, wie die meisten Studenten mit einem Abschluss in Kunstgeschichte. Sie unterrichten, sie machen noch mehr Abschlüsse, sie arbeiten in Museen.«

»Im Hauptgebäude gibt es auch eine Sammlung mittelalterlicher Kunst, nicht wahr?«

»Natürlich. Eine sehr gute. Deshalb hat sich Katrina dort beworben. Als ihre Bewerbung herumgereicht wurde, landete sie auf meinem Schreibtisch. Ihre Interessen deckten sich perfekt mit meinen Bedürfnissen.«

»Warum das?«

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»Sie hatte gerade ein Praktikum am Musée des Augustins absolviert. Kennen Sie das?«

Wir verneinten alle drei.

»In Toulouse, in Frankreich. Es ist den Cloisters sehr ähnlich, nur dass es noch an seiner ursprünglichen Stelle steht.

Das prächtige Museum war früher ein Konvent und beherbergt eine bemerkenswerte Kunstsammlung. Rubens, van Dyck, Ingres, Corot. Die meisten Leute zieht es zu den Ge-mälden. Katrina interessierte sich für die gotischen und roma-nischen Skulpturen. Sie hatte einen wunderbaren Blick für mittelalterliche Kunstschätze. Also habe ich ihr angeboten, bei uns zu arbeiten.«

»Wie viele Mitarbeiter haben Sie hier oben?«

»Alles in allem etwas über einhundert. Bibliothekare, Souve-nirshop-Personal, Sicherheits- und Hausmeisterdienst. Ich habe einen stellvertretenden Kurator, einige Restauratoren und ein halbes Dutzend Praktikanten wie Katrina.«

»Stand sie den anderen Praktikanten nah?«

»Beruflich ja. Ich würde Ihnen ja raten, sie selbst zu fragen, aber die Praktikanten kommen und gehen. Das Gehalt ist niedrig, dieses Museum bedeutet eine Rückkehr in ein anderes Zeitalter – für die Kids, die gerade von der Uni kommen, ist hier tote Hose –, und es liegt ungünstig. Ich müsste nachsehen, wer mit Katrina hier gewesen war.«

»Sind Sie Single?« Mike konnte keinen Ehering an Bellingers linker Hand entdecken.

»Nein, ich bin verheiratet.«

»Ihre Frau?«

Bellinger lächelte. »Arbeitet für eine Musikproduktionsfirma.«

»Klassische Musik?«

»Nein, Pop, Rock’n’Roll, Rap, was immer gerade angesagt ist.«

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»So nach dem Motto ›Gegensätze ziehen sich an‹, hm?«, sagte Chapman.

»Das lässt mich die Ruhe hier nur noch mehr schätzen.«

»Haben Sie mit Katrina auch privat Zeit verbracht?«

»Nur beruflich. Auf königlichen Befehl, wenn uns Thibodaux dem Kuratorium vorführen wollte. Nichts Privates.«

»Scheint so, als müssten Sie Pierres Anweisungen nicht länger Folge leisten.«

»Sie haben wahrscheinlich gehört, dass ich kein Mitglied seines Fanclubs war. Zu viel P.T.-Barnum-Getue und nicht genug Betonung auf Forschung und Vermittlung. Ich bin ihm für einige wunderbare Akquisitionen, die er für die Cloisters getätigt hat, sehr dankbar, aber ansonsten hatten wir nicht sehr viel gemeinsam.«

»Haben Sie deshalb Ms. Grooten als Ansprechpartnerin für die Ausstellung abgestellt, die für nächstes Jahr zusammen mit dem Naturkundemuseum geplant war? War das nicht viel Ver-antwortung für eine Praktikantin?«

»Katrina war äußerst sachkundig, Detective. Sie war weitaus belesener als viele ihrer Altersgenossen, und ich habe für das Projekt ziemlich eng mit ihr zusammengearbeitet. Mir ist bewusst, dass die Ausstellung eine wichtige Einkommensquelle für beide Museen sein wird. Für mich ist alles, was mich von meiner Forschung abhält, Zeitverschwendung. Ich dachte, dass es eine gute Gelegenheit für Katrina wäre, andere Leute kennen zu lernen und ihren Bekanntenkreis hier in der Stadt zu erweitern. Ich wollte, dass man in höheren Positionen von ihr Notiz nahm.«

»Gefiel es ihr?«

»Schien so. Ich glaube, es machte ihr Spaß, unsere Schätze nach Tieren zu durchforsten, die für die Ausstellung geeignet waren. Bestiarien waren ursprünglich Werke mittelalterlicher Kunst, also tauchen sie in unserer Arbeit an allen Ecken und 142

Enden auf. Ich hatte auch den Eindruck, dass sie sich auf die Meetings freute. Sie schloss Freundschaften, verbrachte Zeit downtown und kam ein wenig aus ihrem Schneckenhaus heraus.«

»Hat eine andere Praktikantin ihre Arbeit übernommen?«

»Das war mein Plan gewesen«, sagte Bellinger. »Aber die Zeit wurde knapp, also habe ich, wie Sie sehen können, selbst das meiste davon übernommen. Das schien weniger Aufwand zu sein, als wieder jemand anderen einzuarbeiten.«

In der hinteren Ecke des Raums standen auf einem Tisch eine Anzahl von Objekten, die verschiedene Tiere und Fabelwesen darstellten. »Dieses Fresko eines Löwen ist aus Spanien. Laut den alten Bestiarien schliefen Löwen mit offenen Augen, als Inbegriff der Wachsamkeit. Und das hier«, sagte er und ging zu dem Tisch, um eine bizarre Messingfigur in die Hand zu nehmen, »war eines von Katrinas Lieblingsstücken.«

»Was ist das?«

»Ein Aquamanile. Die Priester wuschen sich während des Gottesdienstes die Hände darin. Das hier ist ein Wyvern.«

»Ein was?«

»Ein zweibeiniger Drache. Sein Schwanz biegt sich über seine Flügel und bildet den Henkel.« Er ließ seinen Blick über die Menagerie schweifen. »Zweiköpfige Adler, Teufelshelfer mit Klumpfüßen, Löwen, die von Affen gebändigt wurden, Harpy-ien, die mit ihren Engelsgesichtern und ihrer gekünstelten Musik die Seeleute in den Tod lockten. Katrina liebte diese Fabelwesen.«

»Also, wann haben Sie die Projektkoordination für die Ausstellung übernommen?«

»Nachdem Katrina Ende letzten Jahres kündigte.«

»Hat es Sie denn eigentlich nicht überrascht, dass sie kündigte, wenn ihr die Arbeit hier angeblich so großen Spaß machte?«

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»Ich habe gelernt, nicht zu viel emotionale Energie in Beziehungen zu Studenten zu investieren. Sie bleiben normalerweise nur für kurze Zeit, bevor sie wieder an die Uni gehen und ihren Doktor machen. Außerdem ist es hier einfach nicht aufregend genug für sie. Katrina hatte wenigstens einen triftigen Grund.

Ich meine, was sollte ich schon sagen, nachdem sie mir erzählt hatte, dass sie vergewaltigt worden war?«

Mercer und ich sahen uns an. »Wann genau hat Sie Ihnen davon erzählt?«

»Nicht sofort. Erst etwa einen Monat später. Aber die ganze Sache belastete sie stärker, als sie erwartet hatte. Es begann, sich auf ihre Arbeit und sogar auf ihre Beziehungen zu den Leuten hier auszuwirken.«

»Und deshalb hat sie Ihnen von der Vergewaltigung erzählt?«

»Ja, im Vertrauen. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Ich zeige Ihnen, wo sie gearbeitet hat, Ms. Cooper. Dieses Museum ist eine Abfolge von Kapellen, Gärten und Arkaden. So schön es auch ist, mit seinen grotesken Statuen und Totenbild-nissen überall kann es auch sehr gespenstisch sein. Wir haben nicht denselben starken Besucherandrang wie das Met. Es kann ziemlich – wie soll ich sagen? – unheimlich sein hier oben, vor allem nachts, wenn man allein hier ist. Ich glaube, Katrina ist vor ungefähr einem Jahr vergewaltigt worden, oder?«

»Im Juni.«

»Nun, eines Nachts im August, während sie allein an einer Skizze eines steinernen Ungeheuers in der Langon-Kapelle arbeitete, wurde sie von einem der Sicherheitsdienstleute erschreckt, der wie üblich seine Runde drehte. Sie hatte ihn wohl nicht kommen hören, und als sie aufsah, stand er vor ihr. Sie stieß einen Schrei aus und jagte ihm einen ebenso großen Schrecken ein wie er ihr.«

»Hat sie ihn denn nicht erkannt?«

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»Das ist es ja gerade. Er hatte die Uniform ausgezogen, weil seine Schicht zu Ende war, und war zurückgekommen, um ein letztes Mal nach dem Rechten zu sehen. Katrina hatte ihn noch nie in Jeans und T-Shirt und mit einer Baseballmütze auf dem Kopf gesehen. Sie hat ihn nicht gleich erkannt. Am nächsten Morgen wartete sie schon bei Tagesanbruch hier auf mich, um mir zu erklären, was passiert war.«

»Warum?«

»Sie wollte kündigen. Sie fühlte sich furchtbar schuldig. Der Mann war Afroamerikaner, und sie wusste, dass sie ihn durch ihre ängstliche Reaktion schrecklich beleidigt hatte. An dem Tag hat sie mir erzählt, dass sie vergewaltigt worden war. Und wie sehr sie sich schämte, weil sie jedes Mal, wenn sie ein fremdes schwarzes Gesicht sah, furchtsam reagierte und Angst hatte, dass es ihr Vergewaltiger war.«

Diese Reaktion war nur allzu normal. Wenn die Täter nicht gefasst werden konnten, empfanden die Opfer eine verallge-meinerte, sogar ihnen selbst irrational erscheinende Angst, dass ein Fremder, der derselben Rasse angehörte wie der Vergewaltiger, der Täter sein könnte. Sie wussten, dass er irgendwo da draußen war, und sie erschraken beim Anblick eines jeden, den sie nicht kannten.

»Hat sie Ihnen gesagt, ob sie ihren Vergewaltiger identifizieren konnte?«

»Ihrer Aussage nach hat er eine Skimaske getragen. Deshalb war sie ja so nervös. Katrina hatte keine Ahnung, ob der Vergewaltiger jemand war, den sie kannte oder nicht. Sie hatte nur seine Hände und seinen Nacken deutlich gesehen. Der arme Lloyd war noch mal in die Kapelle zurückgegangen, um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung war, und erschreckte sie beinahe zu Tode.«

»Hat sie gekündigt?«

145

Bellinger antwortete mit leiser Stimme. »Ich ließ es nicht zu.

Ich bat sie, mir von der Vergewaltigung zu erzählen. Ich sprach noch am selben Tag mit Lloyd darüber, und er ging zu ihr, um sie zu beruhigen. Er sagte ihr, dass er vollstes Verständnis hät-te. Ehrlich gesagt hatte es wahrscheinlich viel damit zu tun, dass sie in Südafrika aufgewachsen war. Katrina versuchte sich einzureden, dass sie keine rassistischen Vorurteile hatte. Ihre Familie lebte seit Generationen in Kapstadt, und sie sprach hin und wieder über die schrecklichen Folgen der Apartheid für ih-re Gesellschaft. Sie hätte wahrscheinlich nie in einem Fall als Zeugin aussagen können, in dem ein Schwarzer ins Gefängnis gewandert wäre, egal, was er ihr angetan hatte.«

»Aber letztendlich hat sie doch gekündigt?«

»Einige Monate später, um die Weihnachtsfeiertage herum.

Ich habe ihr Kündigungsschreiben in ihrer Akte gefunden.« Er ging an seinen Schreibtisch. »Sie wollte unbedingt noch vor Neujahr die Stadt verlassen. Wenn mich nicht alles täuscht, wurde für die Tage, an denen sie abreisen wollte, ein heftiger Schneesturm vorhergesagt. Es überraschte uns nicht, dass sie abfliegen wollte, bevor sie hier festsaß.«

Mike Chapman sah mich an und verdrehte die Augen.

»Ja, Ms. Cooper beschloss, währenddessen ihren Winter-schlaf zu halten, richtig? Sie wäre beinahe nicht mehr aufge-wacht.«

Ich hatte versucht, die Erinnerungen an meine Begegnung mit einem eiskalten Mörder im letzten Dezember aus meinem Ge-dächtnis zu verbannen. Mercer lenkte das Gespräch wieder in die richtige Bahn. »Haben Sie von August, als sie Ihnen von der Vergewaltigung erzählt hat, bis Jahresende eine Veränderung in ihrem Verhalten festgestellt?«

»Jeder, den ich kannte, änderte sein Verhalten, Mr. Wallace.

Nach dem elften September.«

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Ich sog die Luft ein und biss mir auf die Lippen, als ich an die Terroranschläge und ihre verheerenden Folgen dachte.

»Vielleicht habe ich deswegen Katrinas Sorgen bagatellisiert.

Wir waren alle so geschockt, so ängstlich und mit uns selbst beschäftigt. Nur dass sie sich nie erholte. Dieser Vorfall mit Lloyd. Ihr mangelnder Elan, ihre allgemeine Malaise.«

»Welche Malaise?«

»Ihnen muss ich sicherlich nicht erzählen, was nach einer Vergewaltigung passiert. Katrina war danach nicht mehr dieselbe. Sie vertraute niemandem mehr. Sie konnte nicht mehr bis spät abends hier bleiben und arbeiten. Der Weg zur Arbeit fiel ihr schwer, weil sie nicht mehr durch den Park gehen oder radeln wollte, aber sie hatte auch kein Geld, um jeden Tag mit dem Taxi zu fahren. Wie nennt man das? PTSD?«

Posttraumatische Belastungsreaktion, posttraumatic stress di-sorder. Viele Opfer von Gewaltverbrechen litten monate- oder sogar jahrelang darunter. Die Symptome reichten von Schlaflo-sigkeit und Essstörungen bis hin zu Gewichtsverlust und Funk-tionsstörungen jeglicher Art. Dutzende von Überlebenden er-holten sich schnell; die Erinnerung blieb, aber sie hatten die emotionalen und körperlichen Ressourcen, um ihr Leben wei-terzuleben. Viel zu viele Menschen blieben ohne psychischen Beistand und erlangten auch Monate oder sogar Jahre nach der Tat die Stabilität ihres früheren Lebens nicht wieder.

»Wer hat Ihnen davon erzählt?«

»Ihre Therapeutin. Sobald Katrina sich mir anvertraut hatte, fragte ich sie, ob ich mit der Frau sprechen könnte, die ihr half, mit der Vergewaltigung fertig zu werden.«

»Wissen Sie, wie sie heißt?« In der Akte, die Mercer einge-sehen hatte, stand, dass Katrina Grooten keinen psychologischen Beratungstermin zur Nachsorge haben wollte.

Bellinger stand noch immer am Schreibtisch und blätterte in 147

seiner Rolodex-Kartei. »Loselli. Harriet Loselli. Möchten Sie Ihre Nummer?«

»Die hab ich«, sagte Mike. »Ich würde gerne einmal etwas anderes von ihr hören als dieses weinerliche ›Ihr Polizisten seid alles unsensible Mistkerle‹-Gewäsch, das jedes Mal aus ihrem kleinen Rattenmund kommt, wenn einer von uns mit einem Opfer in der Notaufnahme erscheint.«

Fast alle Krankenhäuser der Stadt verfügten über hervorragende Beratungsstellen für Vergewaltigungsopfer, die von er-fahrenen Psychologen und Sozialarbeitern geleitet wurden und rund um die Uhr von ehrenamtlichen Helfern besetzt waren.

Wie war Katrina ausgerechnet an Harriet geraten? Sie war eine unsympathische und unwissende Egoistin und hatte sich wahrscheinlich nicht mit der nötigen Sorgfalt um Katrina Grootens Probleme gekümmert.

»Haben Sie tatsächlich mit Loselli gesprochen?«

»Ja, Katrina erteilte mir die Erlaubnis.«

»Über ihre psychologischen Probleme?«

»Nicht wirklich. Meine Hauptsorge galt ihrem körperlichen Zustand.«

Mercer setzte den Stift ab, und wir sahen Bellinger neugierig an. »Was meinen Sie damit?«

»Ab dem Zeitpunkt, als sie mir von der Vergewaltigung er-zählt hatte, hatte ich ein wachsames Auge auf sie. Wenn ich wusste, dass sie bis spät abends arbeitete, schickte ich sie mit dem Auto nach Hause. Wenn mir auffiel, dass sie nichts aß, dann brachte ich ihr zum Mittagessen ein Sandwich mit. Im Herbst, spätestens im Oktober, fand ich, dass sie gar nicht gut aussah.«

»Haben Sie mit ihr darüber gesprochen?«

»Ich weiß nicht, wie es bei Ihnen ist, Ms. Cooper, aber wir haben ziemlich strenge Vorschriften, was sexuelle Belästigung 148

angeht. Als Vorgesetzter ist man dadurch in der Zwickmühle.

›Sie sehen heute nicht sehr gut aus, Katrina. Mir scheint, Sie haben ein paar Pfund abgenommen. Dieses Funkeln, das Sie in den Augen hatten, als wir über den Ankauf eines ein paar Millionen teuren Wandteppichs aus Bordeaux sprachen, ist verschwunden.‹ Um Himmels willen. Da bekommt man nur Schwierigkeiten. Ich habe mit meiner Frau darüber gesprochen, und sie hat mir gesagt, dass mich das nichts angeht und dass ich mich da raushalten soll.«

»Haben Sie noch mit jemand anderem darüber gesprochen?«

»Sicher. Mit Pierre Thibodaux. Er ist der Boss. Ich habe es bei ihm abgeladen. Ich sagte ihm, dass eine unserer hoffnungs-vollsten Nachwuchswissenschaftlerinnen meiner Ansicht nach ein Problem hatte und unsere Hilfe brauchte, damit sie bei uns blieb.«

»Was hat er getan?«

»Nichts. Gar nichts. Wissen Sie, was er geantwortet hat? Als ich ihm von der Vergewaltigung erzählte, sagte er mir, dass ich das Telefonat vergessen solle. Er wollte, dass ich alle Unterlagen zerstöre, aus denen hervorging, dass sie vergewaltigt worden war.«

»Was?«, fragte Chapman.

Ich flüsterte Mercer das Gleiche zu, das Bellinger laut aus-sprach: »Er hatte Angst vor einem Prozess. Alles, was ihm Sorgen machte, war die potenzielle Haftung des Museums. ›Pierre‹, sagte ich, ›dieses Mädchen leidet. Irgendetwas stimmt nicht mit ihr, und jemand muss etwas unternehmen.‹ Er weigerte sich, sich mit der Sache zu befassen. Ihm geht es immer nur ums Geld. Er beharrte darauf, dass Katrina wahrscheinlich nur darauf abzielte, das Museum zu verklagen.«

»Kapier ich nicht«, sagte Mike und sah mich an.

»Natürlich tust du das. Eine Angestellte der Cloisters arbeitet 149

spät, um einen Termin für ein Forschungsprojekt oder eine Ausstellung einzuhalten.« Bellinger nickte, während ich sprach. »Sie verlässt das Museum allein und wird auf dem Grundstück vergewaltigt. Niemand wird festgenommen oder des Verbrechens angeklagt. Das Opfer hat ein Trauma. Vielleicht wird sie sich eines Tages, nach einer teuren Therapie, besser fühlen. Vielleicht auch nicht. Das Museum stellt ihr eine halbe Million Dollar in Aussicht, damit sie den Mund hält, um die Touristen nicht zu verschrecken und die Kollegen nicht zu verunsichern.«

»Wusste Thibodaux, dass es sich bei der jungen Frau, von der Sie sprachen, um Katrina Grooten handelte? Ich meine, haben Sie ihren Namen erwähnt?« Mike erinnerte sich daran, dass Thibodaux behauptet hatte, sie nicht zu kennen, als er das Foto gesehen hatte.

Bellinger dachte eine Weile nach. »Ich bin mir nicht sicher.

Pierre hatte sie ein paarmal getroffen. Aber das war bei Gruppenmeetings oder größeren gesellschaftlichen Anlässen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich der Meinung war, dass er sie kennen würde. Ehrlich gesagt sollte es keine Rolle gespielt haben, wer sie war, nachdem ich ihm den Ernst der Lage geschildert hatte.«

»Haben Sie es noch jemandem erzählt?«

»Ja. Ich versuchte es als Nächstes bei zwei Frauen. Ich dachte, als Frauen würden sie besonderes Verständnis für sie aufbringen.« Bellinger schüttelte den Kopf. »Eve Drexler, Thibodaux’ Assistentin, und Anna Friedrichs, eine der Kuratorinnen am Met. Sie kannten Katrina von den Planungstreffen für die große Ausstellung.«

»Ja, wir haben gestern mit beiden gesprochen. Wie haben sie reagiert?«

»Ich war so naiv zu denken, dass Eve irgendetwas tun wür-150

de, was Thibodaux nicht in den Kram passte. Sie hörte sich alles an und bat mich, sie auf dem Laufenden zu halten. Aber im Prinzip gab sie mir den Rat, mir keine Sorgen zu machen.

Es sei ein ›Frauenproblem‹, und Katrina würde damit fertig werden.«

»Und Anna?«

»Sie war anders. Sie drängte mich, die Psychologin zu kontaktieren. Anna waren die Veränderungen auch aufgefallen. Sie dachte, dass es besser wäre, wenn der Anruf von mir als Katrinas direktem Vorgesetzten käme. Also habe ich angerufen.«

»Was hat Harriet gesagt?«

»Ich habe ihr meine Sorgen geschildert und beschrieben, wie sich Katrina seit dem Sommer verändert hatte. Dass sie abgenommen hatte und antriebslos wirkte. Dass sie sich in letzter Zeit nicht mehr für die Arbeit interessierte, was sehr untypisch war für sie.«

Es hörte sich nicht nur nach posttraumatischem Stress an, sondern auch wie das Anfangsstadium einer Arsenvergiftung.

»Ich fragte Harriet, ob sie der Meinung war, dass Katrina einen Arzt aufsuchen sollte, und ob ihr körperlicher Verfall vielleicht medizinische Gründe haben könnte. Sie haben mir nicht gesagt, wie Katrina gestorben ist«, sagte Bellinger und sah Mi-ke an, »also erübrigen sich meine Überlegungen vielleicht im Nachhinein.«

Mike antwortete nicht. »Was hat sie gesagt?«

»Harriet? Dass sie sich selbst darum kümmern würde. Dass eine derartige Betreuung ihr Spezialgebiet sei. Sie kannte Katrina erst seit dem Spätsommer, also fielen ihr die Unterschiede wahrscheinlich nicht so stark auf wie manchen von uns, die wir sie schon vor der Vergewaltigung gekannt hatten.

Aber sie machte mich glauben, dass sie die Expertin sei, also gab ich Ruhe. Harriet sagte mir, dass alle von mir erwähnten 151

Symptome mit dem Traumasyndrom nach Vergewaltigungen übereinstimmten.«

»Haben Sie und Katrina weiter darüber gesprochen?«

»Nicht wirklich. Anfang November deutete sie mir gegen-

über bereits an, dass sie überlegte, nach Kapstadt zurückzugehen. Ihr Vater «

»Haben Sie seine Telefonnummer?«

»Sie ist hier in der Personalakte. Ich glaube nicht, dass Ihnen das viel nützen wird. Sie sagte mir, dass ihr Vater in einem Pflegeheim sei. Alzheimer, frühes Stadium, wenn ich mich recht erinnere. Ich sagte ihr, dass es meiner Ansicht nach verrückt sei zurückzugehen. Aus zweierlei Gründen.«

»Und welche waren das?«

»Ich fand, dass sie erst wieder gesund werden müsse, doch das brachte nur den Dickschädel in ihr zum Vorschein. Sie hielt mir Vorträge über das südafrikanische Gesundheitswesen und wie fortgeschritten es war. Falls etwas Psychologisches ihrer Besserung im Wege stand, würde es ihr gut tun, hier, wo die Vergewaltigung passiert war, wegzukommen. Und falls es etwas Medizinisches war, wie ich vermutete – sie bezweifelte das übrigens, weil sie so großes Vertrauen in Harriet hatte –, dann gäbe es in Kapstadt die besten Ärzte der Welt.«

»Und der zweite Grund, warum sie Ihrer Meinung nach nicht weggehen sollte?«

»Ihre Arbeit.«

»Gibt es in Afrika keine Gräber?«, fragte Mike. »Keine Museen?«

»Natürlich. Aber nicht auf ihrem Spezialgebiet. Sie hatte sich schon für einen Job beworben. Ich habe ihr ein Empfehlungsschreiben geschrieben, das Sie ebenfalls in der Akte finden werden.«

»Für welche Position?«

152

»Das McGregor Museum in Kimberley, Südafrika.«

»Gibt es dort eine Abteilung für mittelalterliche Kunst?«, fragte ich.

»Botanik, Archäologie, Kulturgeschichte, Zoologie, Naturkunde, Wissenschaft. Keine mittelalterliche Kunst. Das war genau der Punkt, Ms. Cooper. Katrina war eine viel verspre-chende Nachwuchswissenschaftlerin in diesem heiß umkämpften Bereich. Aber alle Mediävistik-Programme beschränken sich auf europäische und amerikanische Institutionen. Sie verschenkte zehn Jahre ihrer Ausbildung.«

»Aber es war ihr Zuhause, Mr. Bellinger.«

»Ihre Mutter war tot. Ihr Vater erkannte sie nicht mehr. Sie war in England auf die Universität gegangen, also waren ihre Freunde auf dem ganzen Erdball verstreut. Südafrika war nicht ihr Zuhause. Sie war dabei, sich hier zu etablieren.« Bellinger ging in seinem Büro auf und ab und sprach immer aufgeregter über seine Versuche, Katrina daran zu hindern, New York zu verlassen. »Anna Friedrichs und ich hofften, dass es uns gelingen würde, ihr Wohlbefinden und ihre Gesundheit wiederherzustellen. Ich hatte mit Eve darüber gesprochen, Katrinas Arbeit ans Met zu verlegen, sodass sie nicht jeden Tag durch den Fort-Tryon-Park gehen musste.«

»Hört sich an, als ob Sie sie hier behalten wollten«, sagte Mike.

»Unbedingt. Ich habe ihr sogar vorgeschlagen, sich beurlauben zu lassen. Ich fand, sie solle über die Feiertage nach Hause fliegen, ihren Vater besuchen und sich selbst überzeugen, dass es für sie in Kapstadt nichts zu holen gab. Aber jetzt kann ich mir vorstellen, unter welchem Druck sie stand, falls die ganze Zeit jemand versucht hat, sie zu ermorden.« Bellinger zögerte, dann sah er Mike und Mercer an. »Sagen Sie es mir? Darf ich wissen, wie sie gestorben ist?«

»Höchstwahrscheinlich Gift.«

153

Er zog einen Stuhl heraus, setzte sich, legte den Kopf in den Nacken und studierte einen Wasserspeier in der Deckenwölbung. Das Letzte, womit ich gerechnet hatte, war, dass er zu lachen anfing.

»Ich hoffe nur, dass es nicht Arsen war. Ich habe genug von dem Zeugs hier, um uns alle unter die Erde zu bringen.«

154

14

»Wollen Sie damit sagen, dass Katrina Grooten hier am Museum mit Arsen gearbeitet hat?«

Jetzt wurde Bellinger nervös und sah aus dem Fenster, als würde er nördlich des dichten Verkehrs auf der George-Washington-Brücke nach etwas suchen.

»Nein, nein, ich könnte nicht sagen, dass das der Fall war.«

»Aber viele der anderen Mitarbeiter?«, fragte Chapman.

Er überlegte. »Nicht viele. Höchstens vier, die meiner direkten Aufsicht unterstehen. Sie werden Ihnen alle erzählen, dass ich derjenige bin, der es am häufigsten verwendet.«

»Warum? In welcher Form?«

»Mein Spezialgebiet sind illustrierte Handschriften.« Er stand auf und ging zu den aufgeschlagenen Büchern, die er bei unserem Eintreffen beiseite geräumt hatte. »Seit den Anfängen der Klöster war die Herstellung von Büchern eine der Hauptaufga-ben, die die Mönche für die Kirchengemeinde leisteten. Jedes Kloster hatte ein so genanntes Scriptorium, eine Schreibstube, wo Kopisten und Illustratoren die Klassiker abschrieben und illustrierten. Wir haben hier in unserer Schatzkammer eine einzigartige Sammlung dieser exquisiten Bücher.«

Bellinger nahm ein Buch und kam damit an unseren Tisch.

»Mit Sicherheit unser wertvollster Besitz. Vielleicht haben Sie schon davon gehört. Die Belles Heures. «

»Nur aus dem Museumskatalog.«

»Dieses hier wurde im Inventar des Herzogs von Berry von 1413 beschrieben. Diese Bücher wurden von Mönchen für reiche Förderer und Königsfamilien hergestellt, die ihre Gebete zu den gleichen Stunden sagen sollten wie die Mönche – deshalb Stundenbücher.«

155

Die zwei Seiten, die er uns zeigte, waren am Rand des Texts reichhaltig mit Goldblatt verziert. Es waren herrliche Zeichnungen in lebhaften Farben, und ich studierte die Seiten, bevor ich Mike und Mercer einen Blick darauf werfen ließ.

»Wie kommt es, dass dieses Buch in so gutem Zustand ist?«, fragte ich.

»Bücher erlitten immer weniger Schaden als beispielsweise Wandteppiche. Man konnte sie nicht zu Bouillon einschmelzen wie Juwelen oder Goldstücke, also hatten sie in den Augen von Dieben und Banditen wenig Wert. Nur ihre Farben verblassen im Laufe der Zeit, und wir restaurieren sie hier. Das ist meine Lieblingsbeschäftigung.«

»Und die Materialien?«

»Wir versuchen zu imitieren, was man im Mittelalter gemacht hat.« Bellinger deutete auf einen Abschnitt der eleganten Seite. »Das Goldpulver für diese ausgefeilten Zeichnungen wurde hergestellt, indem man Gold mit Honig verrieb und dann mit Eiweiß vermischte. Schwarz kam von einer Tinte auf Koh-lenbasis. Blau wurde auf verschiedene Arten hergestellt. Das teuerste Blau war natürlich gemahlener Lapislazuli oder Indigo gemischt mit Bleiweiß – was selbst sehr giftig ist. Und Gelb –

da kommt das Operment ins Spiel. Anfänglich verwendeten die Mönche Safran zur Herstellung eines gelben Pigments. Aber es war nicht sehr beständig.«

»Was ist Operment?«

»Eine Arsenverbindung, Detective. Sehr verbreitet, um ein kräftiges Gelb zu erzeugen. Auf der Seite, die Sie sich gerade ansehen, können Sie sehen, wie effektiv es ist. In unserer Werkstatt unten haben wir mehr als genug, um jemanden ziemlich krank zu machen.«

»Ist es weggeschlossen?«

»Sie meinen, hinter Schloss und Riegel? Natürlich nicht.

156

Niemand interessiert sich großartig für unseren kleinen Restau-rierungsbereich. Diese Art von konzentrierter Arbeit begeistert die wenigsten.«

»Hatte Ms. Grooten Zugang zu diesem Raum?«

Bellinger dachte kurz nach. »Natürlich. Aber sie hatte normalerweise nicht die Angewohnheit, Pinsel abzulecken, Mr.

Chapman.« Er wurde langsam ungeduldig.

»Napoleon hat auch nicht an seiner Tapete gekaut.«

»Wie bitte?«, fragte der verdutzte Kurator.

»Man fand Arsen in Napoleons Haarlocken. Eine ganze Menge. Es gab Vermutungen, dass er vergiftet worden ist, aber auch abenteuerliche Theorien, dass er von den Dämpfen der Tapetenfarbe in seinem Zimmer im Exil auf Sankt Helena umgebracht wurde. Kupferarsenit.«

»Wahrscheinlich Scheeles Grün. Ein brillantes Pigment. Wir haben auch davon etwas hier im Museum. Wir verwenden nicht viel davon, weil es erst nach der Renaissance hergestellt wurde, also wäre es in unseren Stücken nicht authentisch.«

»Genau deshalb müssen wir wissen, woran Grooten arbeitete und mit wem sie zu tun hatte«, sagte ich. Mike wusste mehr über den großen französischen General als Pat McKinney über das Gesetz. Wenn er erst einmal von Napoleon anfing, würden wir bis Mitternacht hier sitzen. »Ich nehme an, dass Sie in der Lage sind, uns zu sagen, ob irgendwelche Tuben oder Fläschchen fehlen?«

»Mit Sicherheit nicht. Wir bestellen direkt vom Met. Fragen Sie Pierre Thibodaux oder Erik Poste oder die anderen Mediä-

visten.«

»Warum Thibodaux? Warum Poste?«

»Ich bin mir sicher, dass das Büro des Direktors alle Rechnungen hat für die Materialien, die für uns gekauft werden. Die allzeit strenge Ms. Drexler kann das sicher herausfinden. In 157

Farben und Pigmenten, Lacken und Reinigungsmitteln sind haufenweise giftige Substanzen. Und wir sind nicht die Einzigen, die alte Kunstwerke restaurieren, Ms. Cooper. Mr. Postes europäische Sammlung betreibt weitaus umfangreichere Res-taurierungsprojekte als wir.«

Ich hatte nicht den Eindruck, dass er seine Kollegen ins schlechte Licht rücken wollte. Vielmehr wollte er betonen, wie frustrierend unsere Suche sein würde in einer Institution, die anscheinend Gifte brauchte, um ihre wunderbaren Bestände für die Museumsbesucher lebendig zu erhalten.

»Könnten wir diese Kopie von Ms. Grootens Personalakte mitnehmen?«, fragte ich.

»Ich habe Ihnen eine Kopie der gesamten Akte gemacht.«

Ich schlug die Akte von hinten auf und sah als Erstes das Kündigungsschreiben. Es war computergetippt und datiert vom 24. Dezember letzten Jahres. Statt einer Unterschrift stand da nur der Großbuchstabe K, mit einem Marker geschrieben, sodass er fast wie eine Strichmännchenzeichnung aussah.

»Ist das ihre normale Unterschrift? Schrieb sie ihren Namen nicht aus?«

Bellinger nahm mir das Dokument aus der Hand. »Einfach und simpel, genau so. Sie verwendete normalerweise beide Initialen, aber ihr G war gotischer, wenn man so will.« Er schloss die Augen, als wolle er sich an ihre Unterschrift erinnern.

»Was das betrifft, wäre ihr G schwieriger nachzumachen gewesen, falls jemand daran interessiert gewesen wäre.«

Ich hatte nicht unterstellt, dass der Brief gefälscht war.

»Warum denken Sie, dass sie das nicht selbst geschrieben hat?«

»Ich – äh, ich weiß nicht. Wann ist sie gestorben? Ich meine nur, dass sie nach dem Zwanzigsten nicht mehr bei der Arbeit erschien, wenn ich mich recht erinnere. Vielleicht war sie da 158

schon ermordet worden, und der Mörder schickte mir dieses Schreiben, damit ich mir über ihr Verschwinden keine Gedanken machen würde.«

»Haben Sie sich über ihr Verschwinden Gedanken gemacht?«

»Ich war in der Zeit verreist, weil wir über die Feiertage meine Schwiegereltern besucht haben. Ich erfuhr erst bei meiner Rückkehr im Januar, dass Katrina gekündigt hatte. Sie war weg, und ich dachte, sie hätte das Land verlassen. Ich konnte nicht viel tun, bis sie mir ihre neue Adresse schickte.«

»Hatte sie einen Computer, als sie hier gearbeitet hat?«

»Ja, natürlich.«

»Und eine E-Mail-Adresse?« Ich wusste, worauf Mike hinaus wollte.

»Soweit ich weiß, hatte Katrina nur eine E-Mail-Adresse im System des Museums. In ihrer Akte sehen Sie ein paar Mails, die sie erhielt, nachdem sie nach Südaf…« – er korrigierte sich

– »nachdem sie gekündigt hatte. Wir haben Anfang Januar ein völlig neues Computersystem, Hardware und Software, installiert. Als man Katrinas Computer abbaute, habe ich dem Leiter unserer EDV-Abteilung die Erlaubnis gegeben, mit ihrem Passwort in ihren Account zu gehen, um zu prüfen, ob Mails hereingekommen waren, die für das Museum von Bedeutung waren.«

»Hat man etwas gefunden?«

»Nichts Wichtiges. Es gab ein paar Antworten auf Anfragen in ausländischen Museen. Viele unserer Objekte, die sie eventuell in der Bestiariumsausstellung verwenden wollte, sind an andere Museen ausgeliehen, und sie wollte Fotos sehen. Ich habe die entsprechenden Mails dem Ausstellungskomitee weitergeleitet. Gaylord, Friedrichs, Poste und den anderen.«

»Irgendwelche privaten Mails?«

»Die sollten in dem Ordner sein, den Sie in der Hand halten.

159

Einige Weihnachts- und Neujahrsglückwünsche von Bekannten hier und aus der ganzen Welt.«

Ich schlug die Akte von vorne auf, um diese Mails zu suchen.

Ich hielt inne, als ich das Foto einer jungen Frau auf einem fast drei Jahre alten Museumsausweis sah. Der Kontrast zu der Polaroidaufnahme von der Nacht, in der wir ihre Leiche gefunden hatten, war enorm. Grooten hatte in die Kamera gelächelt, als sie hier zu arbeiten begonnen hatte. Mit ihrem vollen Gesicht und ihren hellbraunen Haaren mit den kastanienbraunen Strähnchen wirkte sie so munter wie eine Werbung für Dauer-wellen.

Ich zeigte Mercer die Aufnahme; er schüttelte den Kopf.

»Stimmt etwas nicht?«, fragte Bellinger.

»Ich hatte bis auf die Aufnahme von vorletzter Nacht noch kein Foto von ihr gesehen. Mir ist bewusst, dass dieses hier vor einigen Jahren entstanden ist, aber hatte es Ähnlichkeit?«

Bellinger nahm das Foto und sah es an. »Ja, sehr große. Bis zum letzten Herbst. Ab da nahm sie immer mehr ab und wurde immer blasser.«

Mike zog das neuere Foto aus seiner Jackentasche. Bellinger warf einen Blick darauf und schloss die Augen. »Ich behalte sie nur ungern so in Erinnerung, aber so hat sie seit Oktober ausgesehen.«

Vielleicht hatte uns Thibodaux nicht angelogen. Die äußerliche Veränderung, die diese junge Frau in den Monaten vor ihrem Tod durchlaufen hatte, war schwer nachzuvollziehen.

»Was war mit ihrer Wohnung?«, fragte Mercer. »Haben Sie sich jemals erkundigt, was mit ihren Sachen passiert ist?«

»Meine Frau und ich – warten Sie, lassen Sie mich nachdenken, es muss Mitte Januar gewesen sein – wir haben mit dem Hausmeister gesprochen. Als die Miete zehn Tage überfällig war, hat er hier im Museum angerufen. Sie war seit Wochen 160

verschwunden, und meine Sekretärin sagte, dass sie gekündigt und das Land verlassen hatte. Er räumte die Wohnung leer und vermietete sie wieder, bevor –«

Mike unterbrach ihn. »Was ist mit ihren Sachen? Wo sind die?«

»Katrina besaß nicht viel. Er dachte, sie hätte ihn um die letzte Monatsmiete betrogen. Sie hinterließ keine Nachsendeadres-se, also hat der Hausverwalter einiges an die anderen Mieter im Haus verscherbelt und den Rest einfach auf den Gehsteig geworfen.«

Mike dachte an potenzielles Beweismaterial. Ich dachte an das spärliche Hab und Gut der jungen Frau. Familienfotos, Lieblingsbücher, vielleicht ein Erbstück – ein Ring oder ein Armband von einem Familienmitglied oder einer Freundin. Alles weggeworfen oder verkauft wegen einer um ein paar Tage überfälligen Miete, von einem Vermieter, der sich keine Gedanken über ihr Verschwinden machte.

»Katrinas Arbeitsgebiet – mittelalterliche Grabstätten und Skulpturen –, was genau hat sie da getan?«, fragte Mike. » Wollte sie das tun, oder haben Sie ihr diese Arbeit zugewiesen?«

»Es war ihr selbst gewähltes Spezialgebiet, Detective.«

»Trostlos, würden Sie nicht auch sagen?«

»Nicht so trostlos wie Ihr Job, Mr. Chapman. Das würden wenigstens die meisten Leute in meinem Metier denken.

Möchten Sie sehen, was sie hier gearbeitet hat? Ich kann es Ihnen beim Hinausgehen zeigen.«

Mercer nahm die Grooten-Akte, und wir folgten Bellinger zu den Aufzügen und fuhren nach unten.

Am Himmel bildeten sich Wolken und warfen Schatten auf die Wege, die den Klostergarten durchzogen. Als wir das Ge-bäude auf der gegenüberliegenden Seite erneut betraten, kam es mir vor, als wäre jeder Arkadenbogen mit Fabeltieren bedeckt.

161

»Die liebte sie, Ms. Cooper. Katrina saß bei jedem Wetter hier draußen, um diese seltsamen Tiere zu zeichnen.«

Ich ging langsamer, um mir die steinerne Menagerie anzusehen. »Das hier ist ein Mantikor – das Gesicht eines Menschen, der Körper eines Löwen und der Schwanz eines Skorpions.

Was für eine Kombination, nicht wahr! Und von diesem Peli-kan hatte sie für die große Ausstellung einen Abguss anfertigen lassen. Er durchstößt sein eigenes Herz, damit sein Blut auf seine tote Brut fällt, um diese wieder zum Leben zu erwecken.«

Wir folgten ihm in ein zweistöckiges Gebäude an der südwestlichen Ecke des Museums. Mike flüsterte mir zu: »Sieht aus wie ein steinernes Totenhaus.«

Mich fröstelte bei der Erwähnung dieses Wortes, eines alten Namens für eine Leichenhalle. Außerdem war es kalt in der gotischen Kapelle, die voller Grabdenkmäler war.

Bellinger fühlte sich hier offensichtlich zu Hause. »Im elften Jahrhundert war es in Europa für Adelige in Mode gekommen, sich und ihre Familien in Stein zu verewigen. Katrina hat diese Grabskulpturen in Frankreich studiert. Berühmte zeitgenössische Steinmetze entwarfen diese Skulpturen und führten das Wappen des Auftraggebers und die Kostüme und Besitztümer ihrer Damen absolut detailgetreu aus.«

»Was genau hat Katrina gemacht?«

»Alles hier im Museum, einschließlich der Mauern dieser Kapelle, wurde als Ruinen in Europa gekauft und hier wieder aufgebaut. Von einigen Stücken lässt sich die Herkunft leicht bestimmen, wohingegen andere nur einzelne Steinbrocken waren aus der Zeit, als die Klöster im Laufe der Jahrhunderte geschlossen wurden. Dieser arme Kerl hier«, sagte Bellinger und bückte sich, »wurde mit dem Gesicht nach unten gefunden.

Man benutzte ihn als Teil einer Brücke zur Überquerung eines Alpenflusses.«

162

Ich kniete mich neben Bellinger und strich mit der Hand über die riesige schwarze Platte, die die Figur eines betenden Mannes trug.

»Katrina studierte die Kunstform, ermittelte, wer die Bildhauer waren und wie man einen bestimmten Stil erkennen oder verwandte Merkmale identifizieren konnte. Wir müssen andauernd unsere Bestände verifizieren, um zu wissen, wann wir wertvolle Stücke kaufen sollen, falls sie in Europa zum Verkauf angeboten werden.«

Ich ging im Raum umher und besah mir die Figuren, in deren Gesellschaft Katrina Grooten ihre Tage verbracht hatte.

»Diese Sarkophage«, sagte ich und deutete auf die vielen, teilweise übereinander angeordneten Särge an den Wänden.

»Sind davon noch mehr im Lager?«

»Haufenweise.«

»Hier?«

»Manche hier und manche im Met. Das Untergeschoss dort ist riesig.«

»Gäbe es einen Grund, dass Katrina einen Sarkophag hier he-raufbringen ließ? Ich meine, von Perioden außerhalb des Mittelalters.«

»Sie hat es getan, um einen Stilvergleich machen zu können.

Um Wissenschaftlern zu helfen, die erforschen, wie sich die Grabkunst im Laufe der Jahrhunderte verändert hat.«

»Haben Sie jemals ägyptische Stücke hier gehabt?«, fragte Mike.

»Es würde mich nicht wundern. Es werden laufend Sachen vom Met angeliefert.«

Mercer wollte in eine andere Richtung. »War Ms. Grooten während ihrer Zeit hier in irgendwelche Kontroversen verwi-ckelt gewesen?«

Bellinger drehte sich um, um uns wieder zum Ausgang zu ge-163

leiten. »Nicht dass ich wüsste. Sie bewegte sich normalerweise nicht auf der Ebene, um sich mit den hohen Tieren am Met an-legen zu können. Das Bestiariumsprojekt war eine Ausnahme, und da war sie ja nur an meiner Stelle in dem Komitee. Ich hät-te nicht erwartet, dass sie jemandem auf den Schlips treten würde.«

Mercer blätterte im Gehen in der Akte. »Was bedeutet dieser Hinweis hier auf das ›Flohmarktfiasko‹ vor zwei Jahren in einem Memo, das Sie an Thibodaux adressiert haben?«

Bellinger blieb stehen. »Die jungen Wissenschaftler sind so idealistisch. Es war keine große Sache. Katrina musste nur da-zu gebracht werden, die wirtschaftliche Seite der Museumsarbeit zu verstehen.«

Ich wiederholte Mercers Frage. »Worum genau ging’s in dem Fiasko?«

»Wir erfuhren –«

»Wer ist wir?«

»Ich war mit Pierre Thibodaux und Erik Poste auf einer Tagung in Genf gewesen. Dort ging das Gerücht um, dass auf einem örtlichen Flohmarkt ein ungewöhnlicher Fund gemacht worden war. Eine kleine mittelalterliche Elfenbeinschnitzerei von einem Hund, der ein Kaninchen jagt, sehr ähnlich der gro-

ßen Version da draußen im Mauerwerk.«

Bellinger ging ein paar Schritte. »Ich wollte es natürlich haben. Und Thibodaux war willens, den Preis zu zahlen.«

»War Katrina auch dabei?«

»Nein, aber die Museumswelt ist klein. Sie hörte von dem Gerücht, noch ehe ich zurückkam. Jedenfalls versuchten wir, die Elfenbeinschnitzerei zu kaufen, aber es war zu spät. Sie war dem Kopenhagener Museum versprochen worden.«

»Welche Rolle spielte Erik Poste dabei?«

»Er war nur wütend wegen der ganzen Feilscherei um das 164

Stück. Poste wollte, dass Pierre das Geld für seine Abteilung ausgab, für ein großes Porträt oder einen Künstler wie Bazille, der in der Sammlung des Met unterrepräsentiert ist. Nicht für ein fünfzehn Zentimeter großes Stück Walrossstoßzahn, für ein kleines Kaninchen, das mir wichtig war. Wir stritten uns, aber das tun wir die meiste Zeit. In unserem Geschäft kann man nicht nachtragend sein, Ms. Cooper.«

»Und die Schnitzerei?«

Der einsiedlerische Gelehrte lächelte. »Einer von Thibodaux’

Lieblingsschmugglern –«

»Schmugglern?«

»Ja, Ms. Cooper, Sie haben richtig gehört. Pierre hat ein paar Lieblinge, auf die er sich verlässt, wenn er mit seinem Scheck-buch nicht mehr weiterkommt. Das hat Tradition in unserem Metier. Wie dem auch sei, es gelang Pierres Mann, das Stück innerhalb von wenigen Tagen aus der Schweiz herauszuschaf-fen, noch bevor man Vorkehrungen traf, es nach Kopenhagen zu verschiffen. Er erhielt dafür seine üblichen vier Prozent Kommission. Einen Monat später war es in einem unserer Lagerräume tief unter der Fifth Avenue.«

»Sie haben die Schnitzerei gestohlen.«

»Sie verfolgen doch sicher keine Verbrechen, die in Europa passieren, oder?« Bellinger lachte. »Das liegt in der Natur der Sache, seit es Museen gibt. Manche Schätze wurden in großem Stil geschmuggelt, wie die griechischen Marmorskulpturen, die Lord Elgin gestohlen und dem Britischen Museum vermacht hat. Andere wurden im Stillen weggeschafft und verschachert.

Ohne Grabräuber und Kleinkriminelle, befürchte ich, würde es auf der ganzen Welt viel weniger Kunstwerke in öffentlichen Einrichtungen geben.«

»Und Ihr wertvolles kleines Objekt?«

»Wird im Herbst ausgestellt werden. Es gab keinen großen 165

Skandal. Wir haben den Dänen etwas von uns geschickt, worauf sie schon lange spekuliert hatten, und ich bekam meine Elfenbeinschnitzerei. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sich die erhitzten Gemüter wieder abgekühlt hatten. Menschen vergessen nach einiger Zeit und beruhigen sich.«

»Und Grooten?«

»Sie lernte wie wir alle. Wenn Sie der Menschheit auf selbst-lose Art und Weise helfen wollen, Detective, dann treten Sie dem Roten Kreuz bei. Wenn Sie in einem Museum arbeiten, dann gewöhnen Sie sich besser an die Tatsache, dass das meiste von dem, was Sie sehen, jemandem unter der Nase weggeklaut wurde. Die großen Archäologen, die in Ägypten, der Türkei und Pompeji gruben, glaubten alle, dass das, was sie entdeckten, ihnen persönlich gehörte. Sie nahmen die Urnen und Münzen und Juwelen mit nach Hause, um sie auf ihren Kaminsimsen auszustellen und sich vor ihren Freunden damit zu brüsten, und verschenkten oder verkauften sie an den Meist-bietenden.«

Ich sah mir die Sammlung von Grabsteinen aus Frankreich, Belgien, Spanien und England in dem Raum an. Lords und Ladys, die weit weg von ihren beabsichtigten Grabstätten ruhten.

»Die Kriegs- und Diebesbeute imperialer Herrschaft, Ms.

Cooper. Die Trojaner taten es, die Briten, die Deutschen und auch die Amerikaner während des Zweiten Weltkriegs in Europa und im Pazifik. Das einzig Nette an der Museumsarbeit ist das, was Sie zu guter Letzt in den Vitrinen sehen.«

Ich stand neben einer solchen, auf ein Podest montierten Vitrine. Darin befand sich die Statue eines männlichen Arms, komplett versilbert und mit Juwelen bedeckt, die langen goldenen Finger zu einer segnenden Geste erhoben. Die Legende am Sockel identifizierte das Ganze als Reliquiar eines Bischofs, und ich konnte die Kristallfenster in dem Arm sehen, in denen 166

einst seine geheiligten Gebeine ausgestellt waren. Ich fragte mich, was aus den restlichen Überresten des armen Mannes geworden war.

Gegenüber dem Museumsladen und der Garderobe, am Ende der Treppe, über die wir hereingekommen waren, wollte sich Bellinger von uns verabschieden.

Mike zog einen kleinen durchsichtigen Umschlag aus der Tasche. »Was für Garderobenmarken verwenden Sie hier?«

Bellinger warf einen Blick über die Schulter, aber es hing kein Mantel an der Garderobe. Das Wetter war heute zu mild.

»Die üblichen. Ein kleines Quadrat mit einer Nummer darauf.«

»Wie das hier?«, fragte Mike und zeigte ihm den Abriss, den uns Dr. Kestenbaum gegeben hatte.

»Ja, genau die gleichen, nur sind unsere blau. Alle Partner-museen der Stadt verwenden das gleiche System, aber mit verschiedenen Farben.«

»Wer hat rote? Das Met?«

»Nein, das Met hat weiße, wenn mich nicht alles täuscht. Das hier ist vom Naturkundemuseum.«

167

15

Mercer führte uns den steilen Weg vom Ausgang hinunter zu dem kopfsteingepflasterten Parkplatz. Mit Hilfe einer Karte, die die Polizistin gezeichnet hatte, die Katrina Grooten vor einem Jahr vernommen hatte, versuchte er zu rekonstruieren, welchen Weg die junge Frau am Abend ihrer Vergewaltigung entlanggegangen war.

»Was hältst du von Hiram Bellinger?«, fragte Mike.

»Er ist anders, als ich erwartet habe. Ich dachte, er wäre alt und spießig.« Sobald wir die flachen Stufen hinabgegangen waren, über die Grooten ihr Fahrrad geschoben hatte, befanden wir uns in dichtem Gestrüpp.

»Jemand hätte dort hinten auf sie warten können«, sagte Mercer und zeigte auf eine Stelle, wo das Gebüsch bis zu den Schultern reichte.

»Du meinst, jemand hatte es speziell auf Grooten abgesehen?«

»Ja, falls der Täter oder Anstifter jemand vom Museum war.«

»Ich dachte, es hätte noch andere Überfälle mit Skimasken im Fort-Tryon-Park gegeben.«

»Also war sie entweder ein willkürliches Opfer, oder jemand versuchte, es so hinzustellen, dass es aussah wie die Tat eines anderen.«

»Was ist mit Lloyd, dem Wächter, der sie so erschreckt hat?«

Mercer gab Mike einen Klaps auf den Hinterkopf und ging weiter den Hügel hinab. »Lass den armen schwarzen Kerl aus dem Spiel, Chapman.«

»Es steht außer Frage, dass der Vergewaltiger ein Schwarzer war. Jeder ist verdächtig, bis wir ihn ausschließen können. Und außerdem gefiel mir dieser Bellinger nicht annähernd so gut wie Coop.«

168

»Er ist weiß, Mike.« Mercer lachte.

»Zu weiß für meinen Geschmack. Woher willst du wissen, dass er ihr keine Falle gestellt hat? Er behauptet, sie nicht gut gekannt zu haben, aber mir scheint, dass ihm unheimlich viel daran gelegen hat, sie hier zu behalten. Was hatte das zu bedeuten? Also los, wir haben einiges zu tun. Ich fahre direkt hinunter zu Central Park West und überprüfe diese Sache mit der Garderobenmarke. Kommt ihr mit?«

Ich nickte. »Wer hat dich angepiept?«

Mercer war gegen Ende unseres Meetings angepiept worden und hatte den Anruf erwidert, als wir aus dem Museum kamen.

»Beth Israel North. Eine Krankenschwester kam in das Zimmer einer einundneunzigjährigen Patientin und ertappte einen Mann bei ihr im Bett. Er hatte die Hosen unten und der alten Frau das Nachthemd ausgezogen. Als die Krankenschwester Alarm schlug, zog der Täter einfach seine Hosen hoch und machte sich aus dem Staub. Sie denken, dass es ein Lieferant ist, der im Zimmer nebenan Blumen abgegeben hat. Die Spurensicherung hat die Vase auf Fingerabdrücke untersucht, und wir haben den Floristen kontaktiert. Ich schau im Krankenhaus vorbei, um zu sehen, ob ich von den Angestellten irgendwelche Aussagen bekommen kann.«

»Und die Patientin?«

»Ist unzurechnungsfähig.«

»Rufst du den Floristen an?«

»Das hat der Sicherheitsdienst des Krankenhauses bereits getan. Der Kerl heuert Obdachlose aus den hiesigen Unterkünften als Lieferanten an.«

»Wie beruhigend!« Ich sah auf meine Uhr. »Es ist beinahe halb fünf. Wollen wir uns später bei mir zu Hause treffen? Wir sehen uns Katrinas Personalakte an und überlegen, wie wir weiter vorgehen sollen. Ich sage Sarah Bescheid, dass sie dir für diesen neuen Fall jemanden zuweist.«

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Ich stieg in Mikes Dienstwagen ein, und wir fuhren die Kreisauffahrt hinunter in Richtung des West Side Highway. Ich wählte Ryan Blackmers Nummer auf meinem Handy.

»Noch mehr E-Mails von unserem Cybermonster?«

»Alles ruhig. Harry arbeitet heute von vier bis zwölf. Das heißt, Brittany kommt erst kurz vorm Abendessen nach Hause.«

»Ich habe eine Idee. Schlagt doch als Treffpunkt das Naturkundemuseum vor. Welchem Kind gefällt es dort nicht? Dino-saurierknochen, Schmetterlinge, das Planetarium. Sie könnten sich an der Teddy-Roosevelt-Statue treffen. Das gibt den Cops genug Deckung bei all den Leuten. Und ich bin mir sicher, dass sich im Umkreis von ein paar hundert Metern, zwischen der Columbus und Amsterdam Avenue, ein schmuddeliges Hotel finden lässt.«

»Gute Idee. Ich werd’s vorschlagen.«

Es gab ein paar Plätze in der Stadt, an der sich Pädophile mit Vorliebe herumtrieben. Im Winter zogen der Weihnachtsbaum und die Eislaufbahn am Rockefeller Center Männer an, die sich an den Hinterteilen kleiner Mädchen reiben wollten, die von den Lichtern des riesigen Tannenbaums und den gekonnten Drehungen der Schlittschuhläufer in den Bann gezogen waren.

Im Sommer waren es die öffentlichen Schwimmbäder, wo sich Mädchen und Jungs balgten und rangelten.

Zu den Orten, die das ganze Jahr über beliebt waren, gehörten die Museen und Zoos der Stadt, wo jeden Tag ganze Busladungen an Kindern abgeladen wurden, die in der Regel von den geilen Blicken der Erwachsenen, die sich auf den Toiletten oder bei den Kiosken herumtrieben, keine Notiz nahmen.

»Kannst du mich mit Sarah verbinden?«

Ryan legte mich in die Warteschleife. »War’s schlimm bisher?«

»Alles im Griff«, antwortete sie. »Machst du Fortschritte?«

170

»Wir sammeln noch immer Hintergrundinformationen. Gibt’s was Neues?«

»Schrecklicher Fall oben im Krankenhaus.«

»Mercer war bei uns. Er ist gerade auf dem Weg dorthin. Ich habe ihm gesagt, dass ich dich bitten würde, jemanden auf den Fall anzusetzen, aber du bist mir offenbar schon weit voraus.«

»Ich habe den Namen und die Sozialversicherungsnummer überprüft, die der Kerl dem Floristen nannte, der ihn tageweise bezahlt. Sie stimmen nicht überein. Also haben wir keine Ahnung, wer der Kerl ist. Wir lassen die Unterkunft überwachen, aber er ist noch nicht lange dort gewesen, also erwarten wir nicht, dass er heute Abend dort aufkreuzt. Und jemand war hier im Büro; ich dachte, du solltest darüber Bescheid wissen. Eine neununddreißigjährige Frau, die behauptet, seit zwei Jahren ei-ne SM-Beziehung zu einem Kerl zu haben. Ich tippe gerade einen Durchsuchungsbeschluss für seine Wohnung.«

»Für die Ausrüstung?«

»Peitschen, Ketten, einen versenkbaren Flaschenzug an der Decke mit Hand- und Fußschellen. Und Videokassetten.«

»Was ist darauf zu sehen?«

»Sie, während er sie auspeitscht. Ich glaube nicht, dass wir ein Sexualverbrechen haben, weil sie in alle sexuellen Handlungen eingewilligt hat. Aber die Anklage wegen Misshandlung wird durchkommen.« New Yorks höchstes Gericht hatte deutlich gemacht, dass man keine Einwilligung dazu geben konnte, misshandelt zu werden. »Sie hat überall auf ihrem Rü-

cken und ihrem Hinterteil Narben und blaue Flecken. Es tut weh, ihren Körper bloß anzusehen.«

»Brauchst du Hilfe?«

»Hast du morgen früh Zeit, dir die Videobänder anzusehen, falls Lieutenant West bei der Durchsuchung welche sicher-stellt?«

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»Ich werde mich gleich als Erstes darum kümmern.«

»Ich will keine Verhaftung autorisieren, bis du grünes Licht gibst. Du hast beim letzten Mal so viel Kritik einstecken müssen. Was dich wirklich anekeln wird, ist, dass der Täter Anwalt ist. Jurastudium an der Brooklyn Law School, Master in Steu-errecht von der NYU.«

Wir waren vor kurzem gerichtlich gegen einen Sadomasochisten vorgegangen, und trotz der Tatsache, dass er sein Opfer mit Holzstöcken geschlagen und heißes Kerzenwachs auf ihren Körper getropft hatte, hatte es ein für seinen übermäßigen Al-koholkonsum bekannter Revolverblattjournalist für angebracht gehalten, unsere Einheit und die Collegestudentin, die über Nacht in der Wohnung des Täters gefesselt gewesen war, zu kritisieren.

»Bis morgen früh.«

Es gab keinen Parkplatz an Central Park West. Das beeindruckende alte Museum, das aus dreiundzwanzig miteinander verbundenen Gebäuden bestand, war von Bussen umringt, die am Ende des Tages die Schüler abholten. Mike bog rechts in die Seventy-seventh Street, parkte vor dem ursprünglichen Muse-umsgebäude und warf seinen Parkausweis hinter die Wind-schutzscheibe.

Da es schon spät war, gingen wir zügig den Weg entlang und unter dem riesigen Torbogen hindurch, in den die Inschrift AMERICAN MUSEUM OF NATURAL HISTORY einge-meißelt war.

Das hier war wahrscheinlich die erste Institution, die jedes Kind, das in oder in der Nähe von New York City aufwuchs, besuchte. Indianische Artefakte, Dioramen mit Säugetieren aller Art, Fossilien, Skelette, Käfer, Weichtiere, Meteoriten, Mineralien, Edelsteine und neuerdings ein Saal für Artenvielfalt.

Es war unterhaltsamer als jede andere riesige Sammlung von 172

Dingen, und wahrscheinlich würde es jedes Kind als seinen Lieblingsort in der Stadt angeben.

Als ich an dem Aufseher am Eingang vorbeieilte, streckte er den Arm aus, um mich aufzuhalten. »Wir schließen um Viertel vor sechs, junge Frau. Da bleibt Ihnen weniger als eine halbe Stunde.«

Mike erkundigte sich am Informationsschalter nach der nächstgelegenen Garderobe.

»Sind Sie Mitglied?«

»Ich bin Polizist.« Er zückte seine Dienstmarke.

Die ältliche ehrenamtliche Museumsmitarbeiterin wurde bleich. »Oh, nun, äh, folgen Sie einfach dem blauen Pfeil dort drüben auf der anderen Seite.«

Die Wege innerhalb des Museums waren lang. Wir schlängelten uns durch Horden von Schülern und Pfadfindern, vorbei an dem ein Meter achtzig langen Kriegskanu mit den halb nackten Indianern aus Britisch-Kolumbien, die noch immer gegen denselben Strom anpaddelten, seit ich als Kleinkind das erste Mal hierher gekommen war.

An der Garderobe war eine lange Schlange von ungeduldigen Kindern, die ihre Rucksäcke und Lunchboxes wiederhaben wollten. Mike hatte keine Geduld. Er hielt dem Mann, der die Sachen zurückgab, seinen Dienstausweis unter die Nase.

»Zeigen Sie mir bitte Ihre Garderobenmarken!«

»Ich verstehe nicht.«

»Die Kontrollabschnitte. Ich würde sie gerne sehen.«

Der Angestellte hielt ihm mit der linken Hand eine riesige Rolle mit nummerierten Tickets hin. »Die hier?«

Mike griff sich das lose Ende der Rolle und riss es ab. Er verglich es mit dem Ticket, das Kestenbaum in Katrinas Hosentasche gefunden hatte. Sie stimmten genau überein.

»Wo ist die Fundstelle?«

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»Haben Sie heute etwas verloren, Sir?«

»Nein. Meine Freundin hier ist etwas zerstreut. Sie hat letztes Jahr ihre Handschuhe hier im Museum vergessen und will sie noch rechtzeitig vor Winterbeginn wiederhaben.«

»Dann müssen Sie zum Sicherheitsdienst gehen. Folgen Sie den Schildern vorbei am IMAX-Kino zur Vorderseite des Ge-bäudes. Er ist direkt vor der Halle des Planeten Erde.«

Mike rannte jetzt fast, und ich eilte hinter ihm her. Die Halle der Nordwestküsten-Indianer mit ihren Figuren von Männern in Lendenschurzen und Frauen in Tierhäuten, die über offenen Feuerstellen kochten und auf hohen Gestellen Fleisch pökelten, schien schier endlos.

»Weißt du, was hier anders ist als im Met? Zum einen schon mal das Licht.«

Mir war noch nie bewusst geworden, wie dunkel es in diesen riesigen Korridoren war. In den Ausstellungsräumen gab es kein natürliches Licht, und sie hatten auch nicht die Weite des Kunstmuseums. Obwohl die Vitrinen von hinten angestrahlt waren, herrschte überall eine kühle Dunkelheit.

Ich folgte Mike um eine Ecke in den riesigen Ausstellungsraum, der den Säugetieren Nordamerikas gewidmet war. Wieder war es in dem Saal mit den düsteren Glasvitrinen voller Karibu- und Bisonherden auffallend finster.

Wir gingen vorbei an den Aufzügen zu einem anderen Informationsschalter, hinter dem eine Dame gerade ihre Papiere weg-schloss. Sie zeigte auf die Tür des Büros des Sicherheitsdiensts.

Mike hielt sie mir auf. Wie in den meisten Finanz- oder phi-lanthropischen Einrichtungen der Stadt wurden auch die Sicherheitsdienste in den Museen von pensionierten NYPD-Bossen geleitet. Häufig quittierten sie ihren Job jung und gesund genug, um eine volle Rente zu kassieren, und schlugen dann eine zweite Laufbahn mit gutem Gehalt und Sozialleistungen ein.

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Mike wies sich bei dem Sicherheitsbeamten hinter dem Schreibtisch aus. »Wer ist hier der Boss?«

»Sitzt vor Ihnen.«

»Ich bin dienstlich hier.« Wieder einmal wirkte das blaugol-dene Detective-Abzeichen seine Wunder. »Gibt es hier ein Fundbüro?«

»Sitzt vor Ihnen.«

»Das hier ist eine Garderobenmarke für etwas, was vor Monaten hier abgegeben wurde.«

»Vor wie vielen Monaten?«

»Vielleicht fünf oder sechs.«

»Bei fünf hab ich’s. Bei sechs ist es vom letzten Jahr.«

Mike reichte ihm den durchsichtigen Umschlag mit dem Kontrollabschnitt. Der Wächter sah ihn genau an, dann griff er zum Telefon und bat jemanden am anderen Ende der Leitung, nach einem Gegenstand mit der Nummer 248 zu suchen.

»Sie werden mir gleich Bescheid sagen, ob sie es finden können, Detective.«

»Können Sie mir auch das genaue Datum sagen, wann es abgegeben worden ist?«

Der Aufseher zog die Stirn in Falten und dachte ein paar Sekunden nach. »Wahrscheinlich nicht. Das heißt, nicht genau. Die Tickets gehen bis zehntausend, dann fangen sie wieder bei eins an. Wir können es eventuell auf eine Woche oder so datieren.«

»Gibt es eine separate Garderobe für Museumsangestellte?«

»Dieses Museums? Ja.«

»Und für Angestellte eines anderen Museums wie beispielsweise des Met oder der Cloisters?«

Der Wächter sah Mike an und versuchte, uns von seiner Effizienz zu überzeugen. »Nach dem elften September musste jeder, der hier reinwollte, seinen Mantel oder seine Tasche am 175

Eingang abgeben. Wie jede andere öffentliche Einrichtung mit großem Publikumsverkehr waren wir letzten Herbst und Winter in höchster Alarmbereitschaft. Es spielte keine Rolle, wo jemand arbeitete oder was für Ausweise er oder sie hatte. Alles musste abgegeben werden. Wir privaten Sicherheitskräfte hatten genauso viel zu tun wie ihr.«

Während wir warteten, rief Mike vom Museumstelefon aus in seiner Dienststelle an, um den Sergeant auf dem Laufenden zu halten, und ich erkundigte mich bei Laura nach den Nachrichten, die heute eingegangen waren.

Als ich auflegte, kam ein Mädchen, das eine Anstecknadel mit dem Musuemslogo am Revers trug, in das Büro.

»Suchen Sie das hier?«

Sie hielt eine ausgewaschene blaue Uniformjacke aus dem Army Store hoch, um deren Kragen ein Wollschal gewickelt war. Es war genau Katrina Grootens Stil.

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»Wie lautet die Durchwahl des Büros des Museumsdirektors?«

Der Aufseher zog die oberste Schublade auf und kramte zwischen den Papieren nach dem Telefonbuch. Er hatte eindeutig nicht oft mit der Chefetage zu tun.

Er reichte Mike den Hörer, der wählte und sagte: »Ich würde gerne mit« – er sah auf die Liste der Namen auf der Titelseite –

»Präsidentin Raspen sprechen.«

»Entschuldigen Sie, dass wir Sie aufhalten«, sagte ich zu dem Aufseher, der immer wieder ungeduldig auf die Uhr sah.

»Ach ja? Für wie lange?« Mike gefiel die Antwort nicht, die er bekam. »Nun, wer hat dann das Sagen? Können Sie ihn an den Apparat holen?« Noch eine schlechte Antwort.

»Morgen Vormittag, elf Uhr? In Ordnung, sagen Sie ihm einfach, dass ich da sein werde, wenn er kommt. Michael Chapman, NYPD.« Was als Nächstes gesagt wurde, gefiel ihm scheinbar noch weniger. »Nein, aber wenn Sie das Wort Mord erwähnen, nimmt er sich vielleicht ein oder zwei Minuten Zeit für mich.«

Er wandte sich mir zu. »Die Museumspräsidentin ist eine Woche auf den Galapagos-Inseln, um mit einem Trupp Sponsoren Schildkröten zu begaffen. Die armen Dinger werden wahrscheinlich neben diesem verdammten Fiberglaswal, der schon ewig unten in der Halle hängt, an einem riesigen Haken baumeln.«

»Wer, die Sponsoren oder die Schildkröten?«

»Die Sponsoren werden wahrscheinlich unsterblich werden.

Sie pflastern einfach einen ganzen Gebäudeflügel, ein Audito-rium oder eine Echsenart mit ihrem Namen voll. Die armen Schildkröten sind jedes Mal die Gelackmeierten.«

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»Mit wem werden wir morgen Vormittag sprechen?«

Mike sah auf den Namen, den er auf ein Stück Papier gekrit-zelt hatte. »Elijah Mamdouba. Stellvertretender Museumsprä-

sident und Direktor der Sammlungen. Er hat einen vollen Ter-minkalender, aber er wird versuchen, uns reinzuquetschen. Das übliche Bürokratenblabla.«

Wir gingen zurück durch die ruhigen Gänge und wurden von einem Aufseher nach draußen geleitet. Mike fuhr einmal um den Block und dann auf der Eighty-first Street Richtung Osten durch den Central Park.

»Setz mich vor Grace’ Marketplace ab. Ich hol uns einige Horsd’œuvres, und dann treffen wir uns bei mir in der Lobby.«

Ich stieg an der Ecke zur Seventy-first Street aus und kaufte verschiedene Käsesorten und Pasteten, mit denen wir die Zeit bis zum Abendessen überbrücken könnten. Als ich nach Hause kam, plauderten Mike und Mercer gerade mit den beiden Portiers. Mercer nahm mir die Einkaufstüte aus der Hand, und ich drückte den Aufzugknopf für das zwanzigste Stockwerk. »Wie geht es Vickee?«

»Müde, gereizt, nervös. Sie war heute Nachmittag bei ihrer Ärztin, die sagt, dass sie in ungefähr zwei Wochen entbinden wird. Beim ersten Baby kann’s auch ein paar Tage später sein.«

»Wie kannst du dich überhaupt noch auf irgendetwas anderes konzentrieren? Dieses neue Lebewesen –«

»Ja«, sagte Mike und lehnte sich gegen die Aufzugswand.

»Unser erstes Kind.«

Mercer strahlte übers ganze Gesicht.

»Zumindest fürs Erste. Ich scheine Blondie nicht für die Do-it-yourself-Anleitung interessieren zu können, wie man so was zu Stande bringt. Ich erinnere mich, als ich einmal mit vierzehn oder fünfzehn im Naturkundemuseum gewesen bin. Sie hatten diese Käfer, die Federflügler hießen. Die ganze verdammte 178

Spezies ist weiblich. Sie pflanzen sich ohne männliche Be-fruchtung fort. Ich schau morgen nach, ob sie sie noch haben.

So muss es Coop auch planen.«

Mercer versuchte mir beizustehen. »Jake wird das Programm schon unter Kontrolle haben.«

Ich holte meine Schlüssel aus der Tasche und schloss die Tür auf. Mike fuhr fort: »Mal ist der Kerl in Washington, dann wieder in Jerusalem oder Hongkong oder Moskau. Wie kann er da aus der Ferne einen Treffer landen? Und jetzt versucht Ms. Cooper auch noch, mir meine Streicheleinheiten wegzu-nehmen.«

»Ein Frauenwochenende auf dem Land.« Ich lächelte Mercer an. »Nina Baum hat es so eingefädelt, dass sie ihren Chef auf dieser Dienstreise begleiten konnte, damit sie übers Memorial-Day-Wochenende mit nach Martha’s Vineyard kommen kann.

Ich habe Val eingeladen mitzukommen«, sagte ich. Val war Mikes Freundin. »Leckeres Essen, guter Wein, Massagen, Spa-ziergänge am Strand, Frauengespräche. Kein Testosteron.« Ich schaltete das Licht ein und ließ meine Sachen auf die Ottomane im Wohnzimmer fallen.

»Ich hole das Eis.«

»Denkst du, dass sich die Leute nicht fragen, warum es dir gefällt, die Abteilung für Sexualverbrechen zu leiten? Du solltest die blöden Fragen hören, die sie mir stellen. ›Hasst sie Männer?‹ ›Denkst du, sie denkt daran, wenn sie mit einem Kerl im Bett ist?‹, ›Meinst du, es macht sie an, den ganzen Tag solche Geschichten zu hören?‹«

Ich ging mit einem Eimer Eiswürfel von der Küche ins Fernsehzimmer. »Nicht auszudenken, was für kluge Antworten du dir einfallen lässt.«

»Früher habe ich einige zum Schweigen gebracht, indem ich ihnen sagte, dass wir ein Paar wären, aber dann haben sie mich 179

angesehen, als ob ich ein Problem hätte, also hab ich das aufgegeben.«

Mercer schenkte uns Drinks ein, während ich mir etwas Bequemeres anzog. Als ich wieder ins Wohnzimmer kam, lief der Fernseher ohne Ton, und Mercer erzählte Mike gerade, was er bei seinen Vernehmungen im Krankenhaus in Erfahrung gebracht hatte. Obwohl das Opfer nicht in der Lage war, eine Zeugenaussage zu machen, würde es ein leichter Fall sein, da die Krankenschwester Zeugin gewesen war. Man müsste nur den Täter finden und dann den Geschworenen verständlich machen, warum eine inkontinente, neunzigjährige, bettlägerige Patientin das Objekt sexueller Lust beziehungsweise sexuellen Frusts geworden war.

Ich wählte Hal Shermans Handynummer und ließ es klingeln, bis der Spurensicherungsexperte abhob. »Stör ich gerade?«

»Wen? Mich oder die Leiche?«

»Wo sind Sie?«

»Nicht in Chapmans Revier, falls Sie das meinen, Alex. Süd-Manhattan. Ein armer Schlucker aus den Vororten gabelte in dem neuen BMW seiner Frau eine Prostituierte auf. Muss ein ziemlich heftiger Streit gewesen sein. Fünf Stichwunden in der Brust.«

»Wer heult da so im Hintergrund?«

»Die Witwe. Nicht, weil sie trauert. Sie schreit wie eine Irre, weil der Chief of Detectives das Auto nicht freigeben will. Sie sagt immer und immer wieder: ›Aber es gehört mir. Es ist auf meinen Namen registriert.‹ Irgendwie kapiert sie nicht, dass es sich um den Mordtatort handelt. Ich bin gleich fertig. Was brauchen Sie?«

»Mike ist bei mir. Ich möchte nur wissen, ob Sie schon die Fotos vergrößert haben, die Sie für uns mittwochnachts in dem Truck gemacht haben.«

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»Sind morgen auf Ihrem Schreibtisch. Sind gut geworden.«

»Konnten Sie irgendwelche Markierungen auf dem Sarkophag erkennen?«

»Wie zum Beispiel Hieroglyphen?«

»Genau.«

»Ja, die sind überall. Er ist über und über verziert.«

»Erinnern Sie sich an irgendwelche Symbole? Ich kam auf dem Truck nicht nah genug ran.«

»Machen Sie Witze? Ich fotografiere nur. Ich airbrushe die Blutflecken oder Schusslöcher nicht raus, und ich bin kein Übersetzer.«

»Was ich meine, ist, sind nur Schriftzeichen drauf oder auch irgendwelche Figuren?«

»Haufenweise kleine Ägypter.«

»Irgendwelche Tiere?«

»Mehr als im König der Löwen. Alle möglichen Arten von Affen, genug Katzen, damit meine Allergien verrückt spielen, Widder und Lämmer, Enten und Falken und –«

»Großartig. Danke, dass Sie gekommen sind. Ich schulde Ihnen was.«

»Ich schreib’s auf Chapmans Liste. Wenn ihr Clowns mal zahlen würdet, könnte ich eines Tages ein sehr reicher Mann sein.«

Mike schaltete den Ton des Fernsehers ein, als ich aufgelegt hatte. »Hal sagt, dass auf Katrinas Sarkophag haufenweise Tiersymbole sind.«

»Das hätte ich dir auch sagen können. Ich hab ja mit der Taschenlampe direkt darauf geleuchtet. Pscht.«

Alex Trebek hatte gerade verkündet, dass die Final-Jeopardy!-Kategorie des heutigen Abends »Die größten Hits«

lautete.

»Ist jeder mit zwanzig dabei?«

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»Ich wünschte, du hättest es mir gesagt. Es bedeutet, dass der Sarg eventuell für die Ausstellung vorgesehen war. Katrina hat ihn vielleicht oben an den Cloisters oder im Naturkundemuseum studiert.«

»Offensichtlich.« Mike ahmte Alex Trebek nach. »›Laut AS-CAP ist dieser Song der von amerikanischen Radiosendern am meisten gespielte Hit.‹ Wie lautet deine Frage, Coop? Wie steht’s mit Ihnen, Mr. Motown?«

Mercer streckte den Arm aus und klappte die Hand auf.

»Ich tippe auf die frühen Supremes. ›Stop, in the Name of Love.‹«

»Wir werden in der ganzen Stadt nach diesem zwei Tonnen schweren Sarkophag suchen müssen. Wie ist das möglich?«

Ich konnte mir nicht vorstellen, dass etwas so Schweres und Großes wie dieser alte Sarg so schwer zu finden war. »Muss was von Sinatra sein. ›Strangers in the Night‹?«

»Genau das meine ich, Coop. Viele Leute würden in die Antwort, die du gerade gegeben hast, etwas hineinlesen. Strangers in the Night, One-Night-Stands. Zu viel Sex im Kopf. Ich für meinen Teil sage Elvis, ›Love Me Tender.‹ Natürlich ›Was ist‹?«

»Es tut mir Leid, Ladys.« Trebek täuschte Bestürzung über die drei falschen Antworten vor. »Und damit endet unsere Campus Winners Week. Die richtige Antwort wäre gewesen:

›Was ist‹ You’ve Lost That Lovin’ Feeling ›von den Righteous Brothers?«

Mike schaltete den Fernseher aus, während Mercer sang:

»Now it’s gone, gone, gone …‹ Nicht zu fassen, dass dieser Schnulzen-Soul so viel Sendezeit bekommt.«

»Schlachtplan. Ich sehe schon, dass wir heute Abend hier nichts zu essen bekommen werden. Du hast zu Hause zwei Mäuler zu füttern, Val wartet darauf, dass ich sie ins Kino entführe, und Blondie ist in Gedanken noch immer bei dem Mord.

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Wie lauten deine Anweisungen? Muss ich irgendwas erledigen, bevor ich morgen früh in dein Büro komme?«

»Während du dich dieses Wochenende nach Val und mir ver-zehrst, könntest du Bellingers Geschichte überprüfen. Sprich mit seiner Frau, finde heraus, von wann bis wann sie im Dezember verreist waren und was sie über die Beziehung zwischen ihrem Mann und seinem Schützling dachte.«

»Ich werde auch versuchen, alles in die Finger zu kriegen, was Katrina unterschrieben hat. Eigenartig, dass Bellinger sofort meinte, die Unterschrift auf ihrer Kündigung könnte ge-fälscht sein.«

Ich musste Mike nicht sagen, was er im Laufe einer schwierigen Ermittlung zu tun hatte, aber es half, wenn wir die Aufgaben untereinander aufteilten. Er fuhr fort: »Ich werde diese Museumsdokumente überprüfen, um zu sehen, ob sie uns verraten, wo sie zwischen Juni und Dezember ihre Zeit verbracht hat und warum sie in der Nähe des Sarkophags gewesen sein könnte.«

»Ich werde morgen die privaten E-Mails kopieren und sie mit auf Martha’s Vineyard nehmen. Ich möchte sehen, was sie ihren Freunden über ihre Gesundheit, ihren Job und ihre Entscheidung, nach Südafrika zurückzugehen, erzählt hat.« Das Telefon klingelte, und ich hob nach dem zweiten Klingeln ab.

»Hey, Joe, haben Sie was?« Es war der Detective bei der Bezirksstaatsanwaltschaft, der den Speicherausdruck meines Bü-

rotelefons anordnen sollte, damit wir herausfinden konnten, woher meine Verfolgerin Shirley Denzig anrief. Ich wandte Mike und Mercer den Rücken zu in der Hoffnung, dass sie nichts von meinem immer wiederkehrenden Problem mitbe-kommen würden, während sie sich über das Wochenende unterhielten.

Joe teilte mir mit, dass die Telefonfirma auf Grund des Feier-183

tags und der Tatsache, dass die Anrufe in der Telefonzentrale der Bezirksstaatsanwaltschaft eingingen, in der Hunderte von Durchwahlnummern zusammenliefen, vor Anfang nächster Woche keine Resultate für mich haben würde.

»Das geht in Ordnung. Ich bin ab morgen mit ein paar Freunden auf dem Land.«

»Sie werden nicht allein sein?«, fragte er. »Sie versprechen mir, dass Sie nicht in der Stadt sein werden?«

»Sie haben meine Nummer auf dem Vineyard. Rufen Sie mich an, falls es was Neues gibt.«

Ich legte auf und brachte die Jungs zur Tür, gerade als Jake sie von außen aufschloss. Ich nahm ihm seine Einkaufstüte mit den Zutaten fürs Abendessen ab, das er kochen würde, und er begrüßte Mike und Mercer, die er das letzte Mal vor einigen Wochen gesehen hatte.

»Heute Abend gibt’s Fettucine für die überarbeitete Staatsanwältin. Ich habe genug Essen für alle. Wollt ihr bleiben?«

»Ich muss los. Wirst du am Wochenende auch rausgeschmissen?«

»Sogar noch länger. Ich fliege am Samstag wegen der Mission des Verteidigungsministers nach Australien und Südost-asien. Neun Tage.«

»Mercer und ich werden auf die kleine Prinzessin aufpassen.

Sei heute Nacht gut zu ihr. Vielleicht erzählt sie dir von der Leiche, die wir heute in einer Rüstung im Met gefunden haben.

Muss der gefährlichste Ort der Stadt sein.«

Jakes Kopf wirbelte herum, während Mike die Tür hinter sich schloss. »Meint er –?«

Ich legte meine Arme um seinen Hals, gluckste angesichts seiner Leichtgläubigkeit und küsste ihn auf die Nasenspitze.

»Er zieht dich nur auf. Keine neuen Leichen. Keine Fortschritte in dem Fall.«

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»Er denkt wohl wirklich, dass ich die undichte Stelle war.

Vielleicht kann ich mir ein bisschen Goodwill zurückkaufen.«

»Hast du den Fall für uns gelöst? Das wäre ein guter Anfang.« Ich suchte im Weinschränkchen nach einer guten Flasche Rotwein zum Abendessen.

»Ich hatte heute eine Nachricht auf meiner VoiceMail im Bü-

ro. Der Anruf muss reingekommen sein, während ich meinen Beitrag für die Abendnachrichten aufnahm. Erinnerst du dich an die Frau, die sich am Dienstag an mich hängte, während du dich mit Nina unterhalten hast?«

»Die attraktive alte Dame mit der silbrigen Haartönung?«

»Ruth Gerst. Mitglied des Museumskuratoriums. Sie wollte wissen, ob ich gute Kontakte bei der New Yorker Polizei hätte.

Sie will ihnen einige Informationen über Pierre Thibodaux zukommen lassen.«

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»Sie haben bereits die Cartoons und den Vorfilm verpasst, Alex. Holen Sie sich einen Stuhl und schnallen Sie sich an. Das hier wird ziemlich ungemütlich.« Colin West war Lieutenant im ersten Revier, das hauptsächlich den Finanzbezirk der Stadt

– Wall Street – und eine rapide wachsende Wohngegend umfasste, in der ältere Gebäude in Lofts und Wohnungen umge-wandelt wurden. Er war ein großer Mann mit einem breiten, attraktiven Gesicht, glatt rasiertem Schädel und einem unglaublich scharfen Verstand.

»Der Dezernatsleiter höchstpersönlich? Was verschafft mir die Ehre?« West, einer seiner Detectives und ein Techniker von unserer Videoabteilung hatten sich in dem kleinen Konferenzraum gegenüber von meinem Büro eingerichtet, einen Stapel Videokassetten auf dem Tisch. Ein Band lief gerade, als ich kurz nach acht Uhr das Zimmer betrat. »Entschuldigt bitte die Verspätung.«

»Kein Problem. Wir haben mit Hilfe von Sarahs Durchsuchungsbeschluss sechsundvierzig Kassetten beschlagnahmt.

Wir sind schon seit einer Stunde hier, damit ich die Bänder durchsehen und Ihnen die Highlights heraussuchen konnte.«

»Wie steht’s mit den Waffen?«

»Eine wahre Folterkammer. Mehr als zwanzig Peitschen, eine Sammlung von Dingern, die wie Haarbürsten mit Metallspikes aussehen, Fesseln am Fuß- und am Kopfende des Betts, Sex-spielzeug, das Sie sich gar nicht vorstellen können, und ein in ein Deckenpaneel eingelassener Metallflaschenzug mit Handschellen. Trautes Heim, Glück allein. Schwarz?«

West nahm ein paar Kaffeebecher und Donuts aus einem Pappkarton.

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»Wie ich gehört habe, ist der Täter Anwalt.«

»Ja. Kalder, Peter Kalder. Wohnhaft in Battery Park.«

»Haben Sie ihn eingesperrt?«

»Nein. Wir haben einfach an die Tür geklopft, ihm den Durchsuchungsbeschluss gezeigt, gewartet, während er sich im Bad auskotzte, und dann die Wohnung ausgeräumt. Sarah wies uns an, ihn in Frieden zu lassen, bis Sie das Beweismaterial ge-sichtet haben.«

»Was ist mit dem Opfer?«

»Das da ist sie, mit den Handschellen an den Flaschenzug gefesselt.« West deutete auf den Bildschirm, auf dem das Stand-bild einer extrem mageren Frau, die ungefähr in meinem Alter zu sein schien, zu sehen war. Sie lag geknebelt auf einem zer-wühlten, mit einem gestreiften Bettbezug bezogenen Doppel-bett.

»Kooperativ?«

»Jetzt ja. Aber es dauerte eine Weile. Sie lernte ihn durch ei-ne Kontaktanzeige in der Village Voice kennen. Ohne Schweiß kein Preis – so in der Art. Die Beziehung fing gut an, ging dann über in verbalen Missbrauch, schließlich sanften SM. Die letzten paar Monate dann diese harten Sachen.«

»Mehr als ein Mal?«

»Sie ging immer wieder zu ihm zurück. Das perfekte Opfer.

Sie ist den Großteil ihrer Jugend ein Inzestopfer gewesen. Geringes Selbstbewusstsein, jede erdenkliche Art von Essstörung, unfähig, stabile Beziehungen aufrechtzuerhalten. Kalder hat sie überzeugt, dass sie es nicht anders verdient hat. Ein Seelen-klempner kann Ihnen das besser erklären als ich.«

»Kommt sie heute hierher?«

»Sie ist an einem schöneren Ort. Gestern Abend hat sie in einer Privatklinik in Connecticut eingecheckt. Wegen ihrer Sucht.«

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»Sucht wonach?«

West nahm die Fernbedienung, spulte die Kassette ein bisschen vor und hielt das Bild an, als sich die Frau auf die Seite drehte. »Er kommt gleich ins Bild, Alex. Sehen Sie, wie sie zu-sammenzuckt. Sie dreht sich von ihm weg, weil er mit einer zwei Meter langen Peitsche ausholt und sie gleich auf ihren linken Oberschenkel knallen lassen wird.«

Als sich die Frau umdrehte, konnte man ihr Bein und ihre Hinterbacken sehen. Sie waren blutig und geschwollen; an manchen Stellen löste sich die Haut in Fetzen und auf alten Wunden bildeten sich Striemen.

»Schmerztabletten. Sie dröhnt sich damit zu, wenn sie in seine Wohnung geht. Muss der einzige Weg sein, wie sie das da über sich ergehen lassen kann.«

Neben dem Bett war ein untersetzter Mann in einer grauen Unterhose und weißen Sportsocken zu sehen. Er trug ein scheußliches Toupé, das in der Aufregung verrutscht sein musste, und lächelte in die Videokamera, die er auf seinem Schreibtisch aufgestellt hatte, um sich und seine Gespielin für die Nachwelt festzuhalten.

»Versprechen Sie mir eins, Alex. Wenn Sie mir grünes Licht für die Verhaftung geben, darf ich ihm dann dieses billige Toupé von seinem fetten Schädel reißen und als Beweisstück sicherstellen?«

Ich nickte, während ich zusah, wie Kalder ausholte und mit der Peitsche auf den geschundenen Körper der Frau einschlug.

Ich stützte mich mit dem Ellbogen auf den Konferenztisch, senkte den Kopf und rieb mir mit Daumen und Zeigefinger über die Augenlider.

»Ich glaube, dass ich selbst unter den besten Umständen nicht viel davon ertragen könnte.«

Der Lieutenant spulte die Kassette im Schnelllauf vor.

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»Ich weiß, dass Sie das hier Ihren Vorgesetzten verkaufen müssen. Ich meine, nach dem Fall, den Sie verloren haben. Sie müssen sich einiges ansehen, nur um zu sehen, wie brutal er wird.«

»Battaglias Stellvertreter wird mich in dem Fall unterstützen, Colin. Kein Mensch sollte einem anderen Menschen so etwas antun dürfen – es ist ziemlich extrem. Der Fall, der abgewiesen wurde? Da hat mich McKinney nur überstimmt, und ein junger Staatsanwalt ohne Mut hat die Anordnungen von oben ausgeführt. Sie beschlossen, einige der Beweise in dem Fall zurecht-zustutzen, ohne es mir zu sagen, und als das Berufungsgericht das Urteil verwarf, schmiss die Richterin den Fall einfach hin.

Sie gab vor, krank zu sein. In der Zwischenzeit ist sie scheinbar nach Lourdes gepilgert, denn jetzt ist sie zurück und tut wieder, was McKinney ihr sagt. Keine Sorge – wir können mit Kalder fertig werden. Wie viel davon haben wir Ihrer Meinung nach?«

»Ich weiß noch nicht. Das ist erst das achte Band, das wir uns angesehen haben.«

»Ist bei den Videos ein Ton dabei?«

»Ja, die meiste Zeit erniedrigt er sie und nennt sie seine Skla-vin. Und er spielt Spielchen mit ihr.«

Ich konnte mir nicht vorstellen, dass inmitten dieser Auspeit-scherei etwas Frivoles vonstatten ging. Während West das Band zurückspulte, kam Mike Chapman herein und schloss die Tür hinter sich. Er beugte sich über den Tisch und schüttelte Colin die Hand, dann legte er einen Finger über die Lippen, deutete nach draußen und flüsterte mir zu, dass ich Besuch hätte.

»Jemand, den ich kenne?«

»Irgendeine Tussi, die behauptet, dass sie einen Anwalt ver-tritt, gegen den du ermittelst. Ich dachte, du erwartest sie vielleicht, also sagte ich dem Sicherheitsdienst, dass ich sie mit heraufnehmen würde.«

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West und ich sahen uns an. »Sie kann warten«, sagte ich, während West mir einen anderen Ausschnitt des Videos zeigte.

Kalder stand am Fußende der Matratze und schrie seine Gespielin an. Sie hatte Hand- und Fußschellen, aber keinen Knebel umgebunden. Auf dem Nachttisch lag ein Nietenhalsband und eine Barbiepuppe, deren Kopf und Hände in einem Stock steckten.

Der jämmerlich aussehende Rechtsanwalt schrie seine Unter-gebene an. »Exegese!«

Die Frau wand sich und begann zögerlich und mit kleinlauter Stimme das Wort zu buchstabieren. »E … x … i …«

Kalder holte aus und ließ die Peitsche auf den blutigen Oberschenkel der jungen Frau herabsausen. »Nein! Das ist falsch!«

Sie fuhr fort zu raten, wie man das Wort buchstabierte.

»Sie schreien beide ziemlich laut.«

West fuhr mit dem Finger über die Oberkante des Bildschirms. »Hier ist alles schalldicht gemacht worden, Alex. Er hat die ganze Wohnung so umgebaut, dass sie seinen Bedürfnissen entspricht. Wir haben gestern Abend die Nachbarn be-fragt, und sie haben nie auch nur den leisesten Ton gehört, obwohl man auf dem Band hören kann, wie laut es ist.«

»Syzygie!«, schrie Kalder.

Jetzt wand sie sich. »Das Wort kenne ich nicht«, winselte sie.

Dann bemühte sie sich mit erstickter Stimme, das Wort zu buchstabieren: »S … y … z … z …?«

Dieses Mal streifte die Peitsche auf dem Weg zum Oberschenkel die Decke und hinterließ darauf eine Blutspur von ihrem letzten Körperkontakt.

Chapman nahm sich einen der Kaffeebecher. »Scheiße, Colin, wer ist der Perversling? Mit dem würde ich ungern eine Partie Scrabble spielen.«

West drückte die Pause-Taste. Ich stand auf. »Stell’s dir ein-190

fach wie eine dieser Reality-TV-Shows vor. Wir nennen sie Survivor Jeopardy. Ich werd mal sehen, was Kalders Freundin zu sagen hat.«

Mike hielt die Tür auf, und ich signalisierte der Frau, die vor meinem Büro wartete, hereinzukommen. »Guten Morgen, ich bin Alexandra Cooper.«

»Marcy Arent.« Sie gab jedem von uns die Hand. »Ich vertrete Peter Kalder. Ich bin hier, um herauszufinden, welche Absichten Sie in diesem Fall haben.«

»Absichten? Im Moment sichten die Detectives und ich das Beweismaterial, das wir gestern Abend in der Wohnung Ihres Mandanten sichergestellt haben. Ich habe nicht um dieses Treffen gebeten, sondern Sie. Das ist alles, was ich Ihnen zum jetzigen Zeitpunkt sagen kann, also wenn Sie unsere Unterhaltung fortsetzen wollen, dann erklären Sie mir bitte, warum Sie gekommen sind.«

»Planen Sie, Mr. Kalder festzunehmen?«

»Wenn es irgendwelche Informationen gibt, die Sie uns geben wollen, dann höre ich sie mir gern an. Ansonsten werde ich jetzt keine Fragen beantworten.«

Arents Gesichtsausdruck war so streng wie ihr dunkelbraunes Anwaltskostüm und ihre Schuhe mit den dicken Absätzen.

»Hier liegt kein Sexualverbrechen vor, Ms. Cooper. Alle sexuellen Aktivitäten zwischen Mr. Kalder und seiner Freundin fanden in gegenseitigem Einvernehmen statt.«

»Das ist mir bewusst.«

»Was geht es Sie dann an? Was hat Ihre Abteilung damit zu tun?«

Mike mischte sich ein. »Wenn einer Frau in Manhattan zwischen ihren Knien und ihrem Hals irgendetwas Unangenehmes passiert, dann ist das Coops Territorium. Gibt es noch etwas, womit wir Ihnen heute helfen können?«

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»Sie willigte auch in die Misshandlung ein.«

Jetzt wurde ich wütend. »Unser Berufungsgericht sagt, dass man nicht einwilligen kann, geschlagen und ausgepeitscht zu werden, Ms. Arent. Wollen Sie das genaue Zitat? Zufällig stimme ich dieser Ansicht zu.«

Sie nahm ihre Visitenkarte aus ihrer Jackentasche. »Sie haben offenbar keine klare Vorstellung, worum es bei Sadomaso-chismus geht. Wir würden Ihnen gerne dabei helfen.«

Da ich die Karte nicht nahm, legte Arent sie auf den Konferenztisch.

»Entscheiden Sie, welche Art Verletzung für einen Menschen akzeptabel ist?«, fragte ich.

»Solange der Sex geschützt, normal und in gegenseitigem Einvernehmen stattfindet, haben Sie nichts, wogegen Sie gerichtlich vorgehen können.«

»Ich glaube, wo Sie und Coop nicht auf einer Wellenlänge sind, ist die Sache mit dem ›normal‹. Für Sie ist es also in Ordnung, wenn Blut fließt, die Haut in Fetzen davonfliegt, perma-nente Narben bleiben –«

»Wer sind Sie eigentlich?« Arent funkelte Mike wütend an und streckte auch ihm eine Visitenkarte entgegen. »Ich bin Mitglied der AASF – der Amerikanischen Allianz für Sexuelle Freiheit. Wir zählen landesweit über sechstausendfünfhundert Mitglieder. Ob Sie es glauben oder nicht, Tatsache ist, dass sich fünfzehn Prozent Ihrer Freunde in irgendeiner Form an Bondage oder sadomasochistischem Verhalten beteiligen.«

»Schließen Sie nicht von sich auf andere, Schätzchen. Ich, Coop und der Lieutenant mögen es lieber kuschelig. Kein Leder, keine Peitsche, kein tropfendes Kerzenwachs.«

Arents humorloser Blick ging zwischen Chapman und West hin und her. »Wer von Ihnen war gestern Abend in der Wohnung meines Mandanten?«

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»Ich. Colin West.«

»Und Sie sind …?«

»Erstes Revier.«

Sie deutete auf Mike. »Und Sie?«

»Mike Chapman. AAV.«

»Wofür steht das?«

»Abteilung für Akronymvergabe. Sehen Sie, Ms. Arent«, sagte er und studierte ihre Visitenkarte. »Heutzutage hat jeder eine griffige Abkürzung für seine Organisation. Für Ihre wäre mir eine bessere eingefallen. Die Ihre fängt nicht ganz das ein, was Sie auszudrücken versuchen. Wie wär’s zum Beispiel mit, hm, Nationale Union für traktierte Seelen beim Sex?

Dann könnten Sie sich einfach NUTSS nennen. Was meinen Sie?«

Ich biss mir auf die Lippen, um nicht laut aufzulachen, sah West an und verdrehte die Augen. Battaglia würde einen Be-schwerdebrief über meine mangelnde Sensibilität gegenüber der SM-Gemeinde erhalten. Na wenn schon!

Mike brachte Arent zur Tür, indem er zwei Schritte auf sie zuging und sie zurückwich. »Ms. Cooper hat heute viel zu tun.

Sagen Sie Ihrem Mandanten, er soll sich entspannen. Der Lieutenant hier hat keine Eile, ihn hinter Gittern zu bringen. Wir wissen, dass Peter einen Steifen bekommt, wenn man ihm Handschellen anlegt, und dieses Vergnügen würden wir ihm nur ungern machen.«

Arent ignorierte Chapman und richtete ihren Zorn gegen mich. »Dieses Mal werden wir Sie übergehen und uns gleich an Ihren Vorgesetzten wenden, Ms. Cooper. Ich werde mir einen Termin beim Bezirksstaatsanwalt besorgen.«

Ich überquerte den Gang und schloss meine Bürotür auf. Mi-ke folgte mir. »Ich würde mir wünschen, dass mich ausnahms-weise mal jeder übergeht. Wenn ich mich nicht mit jedem Irren 193

abgeben müsste, der an meine Tür klopft, würde ich vielleicht mal meine normale Arbeit schaffen. Langsam glaube ich, dass es in diesem Land für alle Spinner eine Selbsthilfegruppe gibt außer für Cops und Staatsanwälte. Lassen wir Colin im Konferenzraum an den Videos arbeiten. Hattest du letzte Nacht Gelegenheit, dir Katrinas Akte anzusehen?«

Mike breitete einige Papiere aus ihrer Personalakte auf meinem Schreibtisch aus. »Sie hat keine Zeituhr abgestempelt, aber auf Grund dieser Computerausdrucke lässt sich rekonstruieren, wann sie die Cloisters verlassen hat, um an einem der anderen Museen zu arbeiten. Daraus geht eindeutig hervor, dass sie letzten Herbst ziemlich viel Zeit sowohl im Met als auch im Naturkundemuseum verbracht hat. Sie hatte mit ihrem Ausweis in beiden Museen freien Zugang zu allen Teilen der Sammlungen.«

Wir verbrachten fast eine Stunde damit, einen Zeitplan für Katrina Grootens Herbstaktivitäten zu erstellen. Ich erzählte Mike von der Nachricht, die Jake von der reichen Mrs. Gerst erhalten hatte, und wir warteten bis kurz nach halb zehn, um telefonisch ein Treffen mit ihr zu vereinbaren. Da ich nur bis zu ihrer Privatsekretärin durchkam, die uns bat, am späten Nachmittag in Gersts Zweitwohnung in der Park Avenue zu kommen, konnten wir nicht abschätzen, ob sich der Besuch für uns lohnen würde.

Ich war gerade am Telefon, um den Rest des Tages und des Wochenendes mit Sarah und Mike zu organisieren, als Mickey Diamond, eine zusammengerollte Post unterm Arm, ins Zimmer kam.

»Haben Sie Neuigkeiten für mich?« Ich wollte noch immer wissen, wer die undichte Stelle gewesen war.

»Gute oder schlechte? Welche wollen Sie zuerst hören?«

»Keine schlechten. Nicht in den nächsten vier Wochen.«

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»Sie sehen es sich besser jetzt gleich an. Andernfalls rufen Sie mich nur später an und stauchen mich zusammen.«

Er reichte mir die Zeitung über den Schreibtisch. Als ich sie auseinander faltete, sah ich ein halbseitiges Bild von Pierre Thibodaux. In einer Fotomontage saß sein Kopf auf dem Körper einer Hollywood-Mumie, und die Schlagzeile lautete in üblicher Boulevardblattmanier: MUSEUMSBOSS HÜLLT SICH

IN SCHWEIGEN.

Ich überflog den Artikel, der seinen plötzlichen Rücktritt mit dem Leichenfund in dem Sarg in Verbindung brachte.

»Sehr schick, Mickey. Es geht wirklich sehr würdevoll zu bei euch.«

»Ist nicht von mir, wirklich nicht. Wenn ich den Artikel selbst geschrieben hätte, hätte ich mir ein Zitat von Ihnen ausgedacht.«

Diese Technik hatte der Doyen der Polizeireporter im Laufe der Jahre so oft angewandt, dass sogar Battaglia wusste, dass ich mich an seine Vorschrift hielt, nicht über meine Fälle zu reden.

»Was haben Sie für mich, wenn ich Ihnen sage, dass ich über die undichte Stelle Bescheid weiß?«

Mike las die Thibodaux-Story. »Was sie hat? Werden Sie ein Mal das Richtige tun und ihr einfach sagen, was sie wissen will? Wir versprechen, dass wir das nächste Mal zuerst Sie und nicht Liz Smith anrufen, wenn irgendein berühmter Geldsack zugibt, seine Frau umgebracht zu haben.«

»Nichts, was Sie nicht schon wissen, Alex. Pat McKinney versucht einfach nur, Ihnen das Leben schwer zu machen.«

»Sagen Sie mir nicht, dass er einen neuen Weg gefunden hat, das zu tun!«

»Seine Freundin, Ellen Gunsher?«

»Ein entbehrliches Mitglied unseres brillanten Juristenstabs.«

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»Wissen Sie, wer ihre Mutter ist? Besser gesagt, wer ihre Mutter war

»Nein. Sollte ich?«

»Vor Ihrer Zeit. Ihre Mutter Daniella war einmal Nachrich-tensprecherin. Wie Jake, nur nie so gut etabliert. Ihre Karriere ging vor ewigen Zeiten den Bach runter. Sie tat etwas Unprofessionelles und schluchzte während irgendeiner Parteitagsrede live auf Sendung. Sie ist angeblich etwas labil. Sie arbeitet noch immer in der Produktionsabteilung einer Nachrichtensendung. Mein Informant sagt, dass der Anruf von Daniella Gunshers Assistenten kam. Er wollte fragen, ob wir schon von der Story gehört hätten, bevor sie sie brächten.«

»Ich entschuldige mich bei Jake«, sagte Mike.

»Wenn Sie mich fragen«, sagte Mickey Diamond beim Hinausgehen, »ich wette, dass Daniella zum jetzigen Zeitpunkt ihrer Karriere gar keinen Assistenten mehr hat. Wahrscheinlich hat Ihr Freund McKinney selbst angerufen und sich als Daniella Gunshers Assistent ausgegeben. Der Kerl hasst Sie wie die Pest, Alex.«

»Immer ein Vergnügen, Mickey.« Seine Neuigkeiten bestä-

tigten nur, was ich ohnehin schon vermutet hatte. Aber ich konnte unmöglich Battaglia davon unterrichten; er wollte von dem Hickhack zwischen mir und McKinney nichts mehr hören.

Fürs Erste musste ich die Information einfach abspeichern; vielleicht würde sie mir irgendwann nützlich sein.

Mike raffte die Grooten-Akte zusammen, und wir warteten, bis Laura zwei Kopien für uns angefertigt hatte, dann fuhren wir uptown zu unserem Elf-Uhr-Termin am Naturkundemuseum.

Ich erinnerte Mike daran, dass wir bei der Boutique auf der Upper East Side anhalten mussten, um herauszufinden, wer den Pullover gekauft hatte, in dem man Katrinas Leiche gefunden 196

hatte. Wir nahmen die Abfahrt vom FDR Drive zur Sixty-first Street und fuhren die Madison Avenue hinauf, bis ich das Logo auf der Ladenmarkise sah, das mit dem Etikett des Kaschmir-pullovers identisch war. Wir parkten und betraten das Geschäft.

Mike stellte sich bei der Verkäuferin vor, die allein in dem kleinen Laden war und die ruhige Vormittagsstunde nutzte, um die Ware zusammenzufalten und fein säuberlich in den Regalen zu stapeln. Wie die meisten Leute, mit denen wir während einer Mordermittlung zu tun hatten, hoffte auch sie, dass wir uns irrten, dass zwischen ihrem Leben und dem Mord irgendeine Verbindung bestand.

Ich zeigte ihr das Polaroidfoto des Pullovers, das Mike im Leichenschauhaus gemacht hatte, und dann eine Kopie des Etiketts, das in den Kragen eingenäht war. Sie hielt das Foto dicht unter die Nase, um die Nähte und das Muster zu studieren. Ich glaubte, einen leichten italienischen Akzent ausmachen zu können, als sie aufsah und sagte: »Aber er ist nicht von diesem Jahr, oder?«

»Wir sind nicht die Modepolizei, Madam. Die Frau hatte diesen Pullover an, als sie starb. Wir wissen nicht, wann oder von wem er gekauft worden ist. Deshalb sind wir hier.«

Die ernste junge Frau nahm die Kopie des Etiketts in die Hand. »Von diesem Hersteller führen wir nichts mehr. Ah, aber vielleicht kann uns der Computer weiterhelfen.«

Es schien ewig zu dauern, während sie vor dem Bildschirm saß und den Namen und die Codenummern in den Computer eintippte. Da sie sich scheinbar weigerte, eine dringend notwendige Lesebrille anzuschaffen, beugte sie sich weit vor und blinzelte auf den Bildschirm.

»Ah ja. Vor zwei Jahren, im Herbst. Wir haben neun dieser handgestrickten Pullover mit engem, rundem Halsausschnitt direkt vom Hersteller in Mailand geliefert bekommen.«

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»Nur neun?«, fragte Mike. Er hörte sich erfreut an, als ihm bewusst wurde, dass wir nicht irgendeinem Stück von der Stange hinterherjagen müssten.

»Einen in jeder Größe – S, M und L. Und nur drei Farben.

Limone, Himbeere, Pfirsich.« Sie sah Mike an, als müsse er doch sicherlich den Grund dafür wissen. »Unsere Kundinnen, Sir, mögen es nicht, wenn sie – wie sagt man bei Ihnen? – aus der Mode kommen. Das war ein sehr teurer Pullover.« Sie hielt inne. »Sie interessieren sich für welchen? Den pfirsichfarbenen, in M, richtig?« Sie drückte die Eingabetaste und auf dem Bildschirm erschien eine Antwort.

» Allora« , sagte sie leise in ihrer Muttersprache. »Natürlich, ich hätte mich erinnern sollen. Ihre Lieblingsfarbe, und sie war eine so schöne Frau. Ich schreibe Ihnen die Adresse auf, aber ich glaube nicht, dass sie Ihnen viel nützen wird. Sie ist tot.

Wir haben den Pullover an Penelope Thibodaux verkauft.«

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»Nicht gerade ein Glücksbringer, dieses teure Stück Ziegen-haar. Beide Weibsbilder, die ihn trugen, haben mehr für ihr Geld bekommen, als sie gehofft hatten. Können wir mit ihm sprechen?«

Ich klappte mein Handy zu, während wir zum Central-Park-West-Eingang des Naturkundemuseums hinaufgingen. »Nein.

Das war Ms. Drexler. Thibodaux ist heute früh nach Washington geflogen, wo er heute Abend eine Rede halten wird. Wir können Anfang nächster Woche mit ihm sprechen. Er wird am Montag wieder an seinem Schreibtisch sein. Sie hat mir versichert, dass es noch einige Wochen dauern wird, bis er seine Angelegenheiten am Museum geordnet hat.«

»Dann können wir nur hoffen, dass er auch das hier für uns aufklären kann. Was, zum Teufel, machte Katrina Grooten in dem Pullover seiner verstorbenen Frau?«

Der Aufseher am Eingang wusste über unser Kommen Bescheid. Er bat mich, uns in das Besucherverzeichnis einzutra-gen, bevor er uns den Weg zu Elijah Mamdoubas Büro im dritten Stock des Südflügels erklärte.

Da wir das Gebäude dieses Mal von der entgegengesetzten Seite betreten hatten, gingen wir denselben Weg durch die riesigen Ausstellungshallen im Erdgeschoss zurück, den wir das letzte Mal gekommen waren. Während wir an den Dioramen mit den nordamerikanischen Säugetieren vorbeischlenderten, hatte ich den Eindruck, als würde man sie für irgendwelche ärztlichen Untersuchungen herrichten. Zweifelsohne irgendwelche Restaurierungen, welche in einer Institution wie dieser wahrscheinlich ständig vonnöten waren. Vor dem Tableau des Grand Canyon untersuchten zwei junge Wissenschaftler in La-199

borkitteln und mit Mundschutz zwei ernst dreinblickende Berglöwen.

Pfeile wiesen den Weg zu den Besucheraufzügen. »Vergiss es!«, sagte Mike und zupfte mich am Ärmel, während wir hinter einer lärmenden Gruppe von Achtjährigen am Lift anstan-den. »Wir nehmen die Treppe.«

Mike wählte, wenn möglich, immer den nichtmechanischen Weg durch ein Gebäude. Man sah mehr vom Ort des Geschehens, oft auch Bereiche, die Außenstehende nicht zu Gesicht bekommen sollten.

Wie alles andere in diesen alten Gebäuden waren auch die Treppen riesig und leichter hinunter- als hinaufzulaufen. Da die Räume so hoch waren – hoch genug für ein Dinosaurierskelett oder ein Modell eines Wals –, gab es zwischen jedem Stockwerk vier Treppenabsätze.

Im ersten Stock blieb Mike stehen und öffnete die Tür zum Korridor einen Spaltbreit. Er schloss sie wieder und ging weiter die Treppe hinauf. »Vögel.«

Im zweiten Stockwerk blieb ich stehen und schnappte nach Luft, während er wieder durch die Tür lugte. »Afrikanische Säugetiere. Überall Affen.« Er versuchte, eine Tür direkt gegenüber dem Eingang zu den Ausstellungsräumen zu öffnen, aber sie war verschlossen. »Erinnere mich daran, dass ich frage. Ich will wissen, was hinter jeder verschlossenen Tür ist.«

»Viel Glück! Davon muss es hier Tausende geben.«

Ich war erleichtert, als wir den dritten Stock erreichten, und stützte mich auf das Geländer, um zu verschnaufen.

»Warte hier.« Ich ruhte mich nur zu gerne aus, während Mike vorbei an den Schildern mit der Aufschrift Kein öffentlicher Durchgang ins vierte Stockwerk hinauflief. Er verschwand durch eine Doppeltür und tauchte erst einige Minuten später wieder auf.

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»Was ist dort oben?«

»Der längste Korridor, den ich je gesehen habe. Büros, Abstellkammern und Spinde, so weit das Auge reicht. Überall graue Metallschränkchen, vom Boden bis zur Decke und von einem Ende des Gebäudes zum anderen. Auf geht’s. Finden wir heraus, auf wie viele verschiedene Arten man einen Affen ausstopfen kann!«

Wir folgten den Pfeilen im dritten Stock vorbei am Dinosto-re, dem Café und den ausgestorbenen Säugetieren zu Mr.

Mamdoubas Büro. Er musste unsere Stimmen gehört haben, denn als seine Empfangsdame auf seine offene Tür zeigte, kam er heraus, um uns zu begrüßen.

»Mamdouba. Elijah Mamdouba.« Der schmächtige dunkelhäutige Mann, der vor uns stand, war kaum einen Meter fünf-undsechzig groß, aber er hatte eine kräftige Stimme und einen ebenso kräftigen Händedruck. »Ms. Cooper? Mr. Chapman?

Kommen Sie doch bitte herein!«

Ich folgte ihm in ein kreisrundes Zimmer in einem der Ecktürme des Museums, von dem aus man auf die Kreuzung Sixty sixth Street und Columbus Avenue hinaussah. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals zuvor in einem runden Büro gewesen zu sein, und die Eigenwilligkeit des Raumes wurde noch verstärkt durch die Schätze auf dem Schreibtisch und in den Regalen: keine silbernen Teeservice oder Bilder alter Meister, wie wir sie im Met gesehen hatten, sondern unbezahlbare kulturhistori-sche Exponate aus aller Welt. In die Wand des Zimmers waren in gleichen Abständen vier identische Türen, an denen dekorative Ausstellungsposter hingen, gesetzt.

Mamdouba grinste, als er bemerkte, wie ich mich umsah.

»Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie beide unser Museum recht gut kennen?«

Wir plauderten einige Minuten, während ich im Zimmer um-201

herwanderte und die Exponate, Skelette und Fotografien betrachtete, die Mamdouba in Wüsten- und Dschungelregionen auf der ganzen Welt zeigten. Der leicht singende Tonfall seines afrikanischen Dialekts stand im Widerspruch zu seinen Zeug-nissen, die zwischen den Bildern an der Wand hingen: Bache-lor- und Masterabschlüsse von Cambridge und ein Doktortitel in Kulturanthropologie von Harvard.

»Aber Sie sind sicherlich nicht gekommen, damit ich Ihnen von der neuesten Fischspezies erzähle, die wir gerade entdeckt haben.« Sein Lächeln schwand spurlos. »Sie wollen über Ms.

Grooten sprechen.«

»Ja, wir haben einige Fragen. Über sie und über die Ausstellung, an der sie hier im Museum arbeitete.«

»Alles, womit wir Ihnen helfen können. Ich mochte Katrina sehr.«

»Sie kannten sie persönlich?«

»Nicht besonders gut, Ms. Cooper. Sie war relativ neu hier, also spannten sie die anderen Mitglieder des Bestiarium-Teams oft als HiWi ein. So nennt man das doch, oder? Sie war so etwas wie der Laufbursche zwischen den Ausstellungsbüros unten und meinem Büro. Außerdem hatten wir einige gemeinsame berufliche Interessen, nicht zuletzt unsere Liebe zu Afrika.«

»Sind Sie auch aus Südafrika?«

»Nein, Mr. Chapman. Ghana. Ich bin dort 1952 geboren, als es noch Goldküste hieß. Aber ich bin in der ganzen Welt um-hergereist.«

»Haben Sie Katrina hier am Museum kennen gelernt?«

»Ja. Ich beaufsichtige unsere Beteiligung an der gemeinsamen Ausstellung. Ich habe sie oft hier gesehen.«

»Warum ist sie Ihnen aufgefallen? Ich meine, sie war ja nicht gerade eine der wichtigsten Wissenschaftlerinnen oder Mitwir-kende des Projekts.«

202

»Eigentlich war es so, dass sie meine Aufmerksamkeit erbat.

Wie Sie wissen, arbeitete sie in den Cloisters. Aber gegen Ende des Sommers sprach sie davon, nach Hause zurückzukehren.

Sie wollte dort in einem Museum arbeiten und dachte darüber nach, ihr gesamtes Fachgebiet zu ändern. Katrina hatte mittelalterliche Kunstgeschichte studiert. Sie hatte begonnen, sich für Anthropologie zu interessieren und kam zu mir, um mich um Rat zu fragen.«

»Warum dieser Wandel?«

»Vielleicht können Ihnen das ihre Freunde sagen, Ms. Cooper. Ich weiß nicht, was zuerst da war – ihr Wunsch, nach Afrika zurückzugehen, woraufhin sie sich bewusst wurde, dass es dort nicht gerade viele europäische Sammlungen gibt, oder das Interesse an der Anthropologie. Ich vermute, dass Letzteres wuchs, nachdem sie unsere außergewöhnlichen Sammlungen hier kennen gelernt hatte.«

»Haben Sie auch privat mit ihr zu tun gehabt? Außerhalb des Museums?«

»Nein, nein. Ich glaube nicht, dass wir uns jemals außerhalb dieses Gebäudes gesehen haben.«

»Wussten Sie irgendetwas über ihr Privatleben, ihre Probleme?«

Er dachte eine Weile nach, bevor er antwortete: »Nicht wirklich. Sie erzählte mir im Herbst, dass sie krank gewesen war, wollte aber nichts Näheres dazu sagen. In Arbeitstreffen entschuldigte sie sich manchmal für ihre Zerstreutheit, wenn ich sie bat, eine Frage zu beantworten. Sie sah nicht sehr gesund aus, aber sehen Sie sich mal diese jungen Wissenschaftler an.

Nicht gerade ein sehr robuster Menschenschlag. Wir zahlen nicht genug, damit sie sich gesund ernähren können, und dar-

über hinaus verbringen sie auch noch ihre ganze Zeit in diesen fensterlosen Labors mit Flüssigkeiten und Konservierungsmit-teln, die einem Bestattungsinstitut Konkurrenz machen könn-203

ten. Ich könnte nicht behaupten, dass ich der Meinung war, dass sie schlimmer aussah als viele andere.«

Mamdouba lächelte und fügte dann hinzu: »Außerdem sehen in meinen Augen die meisten Menschen hier fürchterlich blass aus.«

Mike beugte sich vor, den Notizblock auf dem linken Knie, den Kugelschreiber in der rechten Hand. »Was genau ist Ihre Aufgabe hier am Museum?«

»Ich bin der Sammlungsdirektor des Museums, Sir. Alles, was sich unter diesem wundersamen Dach befindet, unterliegt meiner Obhut. Unsere Aufgabe ist es, die Exponate zu erhalten, sie angemessen auszustellen, zu wissen, wann wir neue Stücke anschaffen sollen.«

»Können Sie uns eine Schätzung Ihrer Leichen geben?«

»Ah, Mr. Chapman. Etwas mehr Respekt für die Toten. Wir haben ungefähr zweiunddreißig Millionen Arten und Artefakte.

Wir haben allein etwa dreihunderttausend Säugetierexemplare

– wofür Sie sich vermutlich am meisten interessieren –, einschließlich ihrer Skelette, Häute und Innereien, die über das ganze Gebäude verteilt sind.«

»Ausgestellt?«

»Bei uns ist es genau wie in einem Kunstmuseum. Was Sie sehen, sind vielleicht ein bis zwei Prozent von dem, was wir haben. Aber das wissen Sie ja bereits. Wie ich gehört habe, haben Sie schon mit Ihren Vernehmungen auf der anderen Seite des Parks, am Met, begonnen.«

»Haben Sie mit jemandem von dort gesprochen?«

»Nun, ich könnte einfach sagen, dass ich heute die Zeitung gelesen habe, nicht wahr? Aber ich habe es von Anna Friedrichs erfahren. Sie war gestern Nachmittag hier. Sie hatte Katrina sehr gern.«

»Stehen Sie Ihren Kollegen am Met nahe?«

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»Zuerst einmal, Mr. Chapman, denken viele von ihnen, dass wir nicht einmal im gleichen Metier sind. Wir nennen uns beide Museum, und wir haben beide riesige Bestände, aber damit enden die Gemeinsamkeiten auch schon fast. Annas Interessen sind ein bisschen humanistischer als die ihrer Kollegen. Ich glaube, deshalb ist sie uns wohlwollender gesonnen. Was wissen Sie über die Geschichte der Naturkundemuseen?«

»Nichts«, antwortete ich. Mamdoubas Lächeln war unwider-stehlich. Er stand auf, kam hinter seinem Schreibtisch hervor und setzte sich auf ein Sofa auf der anderen Seite des Raums.

Wir drehten uns um, um ihn anzusehen.

»Die Briten waren die Ersten. 1753. Es gab frühere Sammlungen – in Paris und sogar in Oxford –, aber das Britische Museum war das erste, das der Allgemeinheit, sprich allen

›lernbegierigen und neugierigen‹ Personen, wie es in seiner Gründungsurkunde hieß, offen stand. Es sollte nie nur der Kunst gewidmet sein, sondern auch kuriosen Dingen, die Menschen gesammelt hatten. Vögel, Tiere und menschliche›Monstrositäten‹ – alle in Alkohol eingelegt, häufig Wein.

Alkohol ist ein wunderbares Konservierungsmittel. Sogar die königliche Familie wurde davon gepackt. Wissen Sie über Peter den Großen Bescheid?«

»Kommt drauf an, was.« Mike war immer bereit, neue Ge-schichtsdaten zu lernen.

»Als er entdeckte, dass seine Frau einen Liebhaber hatte, ließ er den Mann enthaupten. Er ließ den Kopf in einem großen Glas einlegen und stellte ihn in das Schlafgemach der Kaiserin, damit er sie an ihre Untreue erinnerte. Peter der Große hatte ei-ne ganze Sammlung biologischer Kuriositäten. Jahrhunderte später fanden sie seine Nachfahren in den Regalen des Palastes

– auch den eingelegten Kopf, der noch immer gut erhalten war.«

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Mamdouba würde uns doch wohl mehr als Sensationshasche-rei zu bieten haben. Seine ganze Karriere steckte in dieser Arbeit. »Und dieses Museum hier?«

»Das größte der Welt. Seine Anfänge sind ähnlich. Ich kann Ihnen den ersten Jahresbericht von 1870 zeigen. Knochen einer ausgestorbenen Dronte, dreitausend Vogelhäute aus dem Kabinett des Prinzen Maximilian von Neuwied, Hunderte von Kä-

fern, Privatsammlungen des französischen Generalkonsuls in New York, Weich- und Schalentiere, die in Ermangelung einer besseren Unterkunft in den Wall-Street-Büros von Brown Brothers, der alten Investmentfirma, gelagert waren.«

»Woher, um alles in der Welt, stammte das Geld für den Bau dieses riesigen Museums?«

»Ah, Ms. Cooper. Es war das goldene Zeitalter der Forschungsreisen. Theodore Roosevelt jr. – jedes Kind kennt die Statue draußen vor dem Museum. Aber es gab noch andere au-

ßergewöhnliche Männer mit großen Visionen. J.P. Morgan, Morris Jesup, Albert Bickmore, Teddy Roosevelts Vater.«

Mamdouba war aufgestanden und deutete auf Fotos an der Wand, während er die Namen herunterspulte.

»Diese Männer hatten den Weitblick, der zur Entdeckung des Nordpols, der kartografischen Erfassung der Wüste Gobi mit dem größten Dinosaurierfeld der Welt und der Durchdringung der tiefsten Dschungel Afrikas und Südamerikas führte.« Er drückte seine linke Hand mit gespreizten Fingern auf die Brust.

»Wir repräsentieren die sich ständig im Wandel begriffene Geschichte der Evolution des Lebens auf unserem Planeten, wir interpretieren und integrieren fortwährend neue Daten. Und wir sind eine unwahrscheinlich vitale Forschungsorganisation.

Nicht nur ein bisschen Ölfarbe und ein paar Leinwände, die ein oder zwei Jahrhunderte lang in einem vergoldeten Bilderrah-men an der Wand eines Museums hängen.« Er grinste wieder, 206

als er seinen Kollegen auf der anderen Seite des Parks den Schuss vor den Bug zurückgab.

»Würde es Ihnen etwas ausmachen, uns zu zeigen, wo Ms.

Grooten gearbeitet hat, wenn sie hier war?«

»Ich veranlasse gern, dass jemand Sie herumführt. Wir haben der Ausstellung im Kellergeschoss viertausend Quadratmeter zur Verfügung gestellt – um alles vorbereiten und archivieren zu können.«

»Viertausend Quadratmeter?«

»Ja, Mr. Chapman. Schließlich haben wir hunderttausend Quadratmeter Fläche. Kommen Sie!« Er geleitete uns an der Empfangsdame vorbei auf den Gang hinaus.

»Was ist oben?«

»Im vierten Stock? Der längste Korridor in Nordamerika, abgesehen vom Pentagon. Vielleicht gibt es etwas Vergleichbares in Versailles oder Windsor. Er ist drei Straßenblocks lang, länger als das gesamte Dorf, in dem ich aufgewachsen bin.«

»Können wir uns dort oben umsehen?«

Er zögerte fast unmerklich, aber der Rest seines Vortrags war so glatt gewesen, dass es auch Mike aufgefallen sein musste.

»Wenn Präsidentin Raspen von ihrer Reise zurückkommt, bin ich mir sicher, dass sie es autorisieren wird.« Er fuhr wieder mit seiner geschliffenen Vorstellung fort. »Sie haben doch sicher von Margaret Mead gehört. Nun, sie hatte das Erkerbüro über mir. Eine beeindruckende Frau. Sie war über fünfzig Jahre mit diesem Museum verbunden. Ein halbes Jahrhundert Feld-forschung in den primitivsten Regionen der Welt – das muss man sich mal vorstellen.«

Mamdouba drückte den Aufzugknopf, und wir warteten, bis der langsame Lift in den dritten Stock gezuckelt kam. Wir fuhren ins Erdgeschoss und betraten erneut die Halle der nordamerikanischen Säugetiere. Mamdouba blieb bei einem Wachmann 207

stehen, um von dem Telefon dort jemanden anzurufen, der uns herumführen sollte.

»Was ist mit den Tieren los? Sind sie krank?«, fragte Mike und zeigte auf die Wissenschaftler in Kitteln und mit Mundschutz, die nach wie vor in einigen der Dioramen zugange waren.

»Sind die nicht wundervoll? Einer unserer ersten Forscher, Carl Akeley, hat die ersten Dioramen hier gestaltet. Vor seiner Zeit stopfte man Tierhäute mit Stroh aus. Das war wegen all der Beulen nicht nur ästhetisch unansehnlich, sondern es kam auch häufig zu Insektenbefall. Akeley war ein großer Sportler und Jäger. Er kannte die Tiere ganz genau.«

Mike interessierte sich mehr für die Taxidermie-Technik als ich. Er hörte Mamdouba aufmerksam zu, während dieser die berühmte Akeley-Innovation beschrieb. »Als Erstes brachte Carl das Tierskelett in Position. Das echte, von dem man das Fleisch entfernt hatte. Dann formte er aus Ton die Muskeln und Sehnen des Tieres auf seinen eigenen Knochen nach. Absolut naturgetreu. Zu guter Letzt nahm er die ursprüngliche Haut und zog sie wieder über das rekonstruierte Tier. Deshalb sehen sie so lebensecht aus.«

Mehr als ich über die verloren gegangene Kunst der Taxidermie zu wissen brauchte.

»Also was machen die Damen und Herren in Weiß? Schön-heitschirurgie für die alten Tiere? Botox?« Mike und ich sahen zu, wie sie mit Wattestäbchen an den Ohren, Hufen und Ge-weihen herumtupften.

»Ganz genau, Mr. Chapman. Nur eine gelegentliche Auffri-schung. Damit die Zähne schön weiß bleiben und das Fell auch weiterhin glänzt. Durch den Mundschutz wirkt es ein bisschen gefährlich, nicht wahr? Wir weisen unsere Arbeiter an, diese Vorsichtsmaßnahmen zu treffen, wenn sie in den Dioramen arbeiten. Sehen Sie, einer der sichersten Wege, die Insekten bei 208

der Konservierung der Häute abzutöten, ist, genug Arsen bei der Behandlung zu verwenden.«

Mamdouba blickte ernst drein. »Es ist ein Hauptbestandteil unserer Konservierungsabteilung, Detective, und wir wollen natürlich nicht, dass unsere Arbeiter es einatmen. Das könnte tödlich sein.«

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»Haben Sie Ihren Ausweis vergessen, Mr. Mamdouba?«

Ein etwa dreißigjähriger Mann mit Brille, in Jeanshosen und Jeanshemd, kam von hinten auf den Sammlungsdirektor zu und tippte ihm auf den Rücken.

»Ah, Zimm. Der perfekte Mann für den Job. Darf ich Ihnen Alexandra Cooper und Mr. Chapman vorstellen?«

»Mark Zimmerly, Entomologie.«

»Insekten?«, fragte Mike, während er Zimmerly die Hand schüttelte.

»Ja, das heißt, hauptsächlich Spinnen. Gnaphosidae. Australi-sche Plattbauchspinnen. Sechshundertundfünfzig Spezies und kein Ende in Sicht.«

»Nichts für ungut, aber ich hatte mir etwas mit weniger Beinen und ohne Stacheln erhofft.«

Zimm drehte sich um und führte uns zu einer hohen Tür hinter den Aufzügen. Er trug einen Fotoausweis um den Hals und beugte sich vor, um ihn durch den Scanner zu ziehen.

Mamdouba folgte uns, während wir in dem schummrigen Treppenhaus drei Treppenabsätze nach unten gingen. Matt-graue Farbe blätterte von den Wänden, die verschmierte Han-dabdrücke aufwiesen von den Leuten, die vor uns versucht hatten, auf den engen Stufen Halt zu finden.

Chapman flüsterte mir ins Ohr, als ich um die Ecke bog: »Erinnere mich daran, dass ich Mercer und Vickee sage, das Kind nie in ein Museum gehen zu lassen. Überall dieses bescheuerte Arsen. Hast du das gewusst?«

»Womit wir wieder am Anfang wären. Wer auch immer Katrina Grooten vergiftet hat, wusste, dass das Feld an Verdächtigen groß sein würde. Er musste nicht in eine Apotheke 210

gehen und sich das Arsen auf Rezept holen. Er braucht nur mit dem Finger auf jemand anderen zeigen, der in einem der Museen arbeitet.«

Am Fußende der Treppe war ein großes Schild: BESTIARIUM. Ein roter Pfeil unter dem Wort MET zeigte nach rechts, ein grüner Pfeil nach links: AMNH. Wir folgten Zimm in sein Büro.

»Ms. Cooper und Mr. Chapman ermitteln in dem Mord an Katrina Grooten.«

»Das ist so schrecklich!«, sagte der junge Mann. »Ich habe den Artikel in der Post gelesen. Ich konnte nicht fassen, dass es jemand war, den ich gekannt habe. Jemand, mit dem ich hier zusammengearbeitet habe.«

»Erzählen Sie ihnen doch bitte, was Sie hier tun und was Katrinas Aufgabe war. Zimm ist bei uns, seit er auf der Highschool war.«

»Ich bin Doktorand an der NYU. Ich kam das erste Mal hierher, als meine Familie vor fünfzehn Jahren nach Manhattan gezogen ist. Für mich war dieses Museum der tollste Ort der Welt. Ich verbrachte meine gesamte Freizeit hier, sodass mich mein Lehrer an der Stuyvesant ermunterte, hier ein Praktikum zu machen.« Stuyvesant war eine der besten staatlichen Highschools in New York, die auf Naturwissenschaften und Ma-thematik spezialisiert war und für die die Schüler einen speziellen Aufnahmetest bestehen mussten.

Mike lächelte ihn an. »Also haben Sie angefangen, hier zu arbeiten, als Pluto noch ein Planet war, hm?«

»Ah, Mr. Chapman. Wenigstens ist hier immer was los«, sagte Mamdouba. »Stimmen Sie mit meinen Freunden im Planetarium nicht überein?«

»Ich weiß nur, dass es die ersten fünfunddreißig Jahre meines Lebens neun Planeten im Sonnensystem gab. Plötzlich be-211

schließt Ihr Museum, dass Pluto nur ein vereister Komet ist.

Ich tu mich schwer mit Veränderungen.«

»Ich kann nichts dafür.« Zimm lachte. »Ich hab mit den Ast-rophysikern nichts zu tun. Wir sammeln und katalogisieren hier unten alle Stücke, die für die große Ausstellung in Betracht gezogen werden.«

»Wer leitet das Ganze?«

»Nun, Elijah hat das letzte Wort. Ich bin nur der Handlanger.

Leute bringen mir ihre Artefakte oder Fotografien der Gegenstän-de. Ich inventarisiere, scanne sie in den Computer ein und reiche dann die Liste an das gemeinsame Komitee und an Elijah weiter.«

Er ging an seinen Schreibtisch und klickte auf die Maus; auf dem Bildschirm erschien das Programm für die große Ausstellung. Er scrollte nach unten, um uns ein paar der Tausende von Artefakten zu zeigen, die für die Ausstellung im Gespräch waren.

Mike stoppte ihn auf halbem Weg durch die B’s. »Ist ja ’n Ding! Du hast ’ne Namensschwester hier, Coop. Sie haben auch eine Blondie.«

»Direkt hinter Ihnen, Detective.« Ich folgte Zimms Finger und sah ein großes Einweckglas auf der Ablage neben meinem Ellbogen. »Blondie – mein persönlicher Liebling.«

»Meiner auch«, murmelte mir Mike zu. »Goldenes Haar, lange Beine, und sehr schmerzhaft, wenn sie auf einem landet.«

In dem Glas war eine Albino-Tarantel von der Größe eines Suppentellers. Tot, wie ich hoffte.

»Diese hier wurde im Museum großgezogen und hat ihr ganzes Leben hier verbracht. Sie ist so etwas wie das Maskottchen der Abteilung. Sie ist meine Kandidatin für die Bestiariumsausstellung.«

Ich machte ein paar Schritte weg von der großen Spinne und brachte das Gespräch wieder auf unser Anliegen zurück. »Haben Sie mit Katrina zusammengearbeitet?«

212

»Sicher. Ich habe sie vermutlich jedes Mal gesehen, wenn sie hierher kam.«

»Wie oft war das?«

»Letztes Jahr? Ich würde sagen, anfangs ungefähr zweimal im Monat. Aber ab dem Herbst wahrscheinlich zwei- oder dreimal die Woche.«

»Mir war nicht bewusst, dass sie so oft hier sein musste.«

Zimm wurde rot. Er sah zu Mamdouba hinüber, sagte aber nicht mehr.

»Warum zögern Sie? Es ist ja nicht so, als ob sie zum jetzigen Zeitpunkt für irgendetwas in Schwierigkeiten geraten wür-de.«

»Nun, ich bin mir nicht sicher, wie viel Zeit davon für Sachen draufging, die sie für die Cloisters erledigen musste. Ich glaube, sie hat einfach entdeckt, wie interessant es hier ist. Sie machte ihre Arbeit. Schneller als wir. Dann wanderte sie herum und sah sich ein bisschen um.«

Mamdouba runzelte die Stirn. Das hörte er scheinbar zum ersten Mal. »Im Museum?«

»Ja.«

Jetzt übernahm der Direktor die Vernehmung. »Reden Sie über Bereiche, die allgemein zugänglich sind, oder hatte sie einen Sicherheitsausweis wie Sie?«

»Nein, Sir. Katrina hatte mit ihrem normalen Ausweis Zutritt zum Museum und zu diesen Büros, aber sie hatte keinen Zugang zu anderen Abteilungen, zumindest nicht ohne Hilfe.«

»Was meinen Sie damit, Zimm?«

Der Entomologe nahm ein Glas voller steifer Käfer und rollte es in der Hand. Auf dem Etikett stand: Hummerschaben.

»Katrina hat hier ein paar Freunde gehabt, Elijah. Sie borgte sich ihre Magnetkarten aus. Ist doch nichts dabei, wenn man sich für das Museum interessiert.«

213

»Wer hat ihr seine Karte geliehen?«, fragte Mike.

Mamdouba unterbrach ihn. »Kommen Sie doch später in mein Büro, junger Mann! Detective, das ist eine interne Sicherheits-angelegenheit. Das hat nichts mit Ihren Ermittlungen zu tun.«

»Ich widerspreche Ihnen nur ungern, aber das ist unter Um-ständen genau das, wonach wir suchen. Was hätte sie daran ge-hindert, vom Kellergeschoss in andere Museumsbereiche zu schlendern?«

»Mr. Chapman«, schoss der Direktor zurück, »dieses Museum besteht aus dreiundzwanzig separaten Gebäuden. Die meisten von ihnen sind auf dieser unterirdischen Ebene nicht miteinander verbunden.«

»Wie kommt das?«

»Man nennt es Cash-Flow. Den Gründern ging das Geld aus, sodass der ursprüngliche Gesamtplan nie vollendet werden konnte. Die einzelnen Flügel kamen nach und nach dazu, und die meisten von ihnen sind separate Gebäude, die nur im Erdgeschoss oder in den oberen Stockwerken durch einen Korridor miteinander verbunden sind. Wer waren Katrinas Freunde, Zimm?«

Zimm drehte noch immer die Käfer in den Händen. Ihre Beine und Fühler schienen sich wie ein delikates Puzzlespiel in-einander zu verhaken. »Ich bin wirklich schlecht mit Namen.

Da war eine Anthropologin, eine Postdoktorandin – sie haben ständig zusammen zu Mittag gegessen. Aber sie arbeitet nicht mehr hier. Ich glaube, sie ist Engländerin. Und einige Forscher in der Abteilung für afrikanische Völker. Ehrlich, Elijah, ich habe nie mit ihnen zu tun gehabt. Ach ja, und sie ging gern in den Raritätenraum.«

»Warum?«

»Mr. Chapman, wir haben möglicherweise die hervorra-gendste Sammlung von Büchern, Zeitschriften, Dokumenten 214

und Fotografien über die Vielfalt menschlicher Kulturen und die Erforschung der natürlichen Welt, die jemals zusammengetragen worden ist. Manche Exponate sind sehr fragil und in unserer normalen Bibliothek nicht erhältlich. Diese Papiere müssen in einem nur eingeschränkt zugänglichen Bereich aufbewahrt werden, oder sie würden einfach verschwinden. Sie sind schrecklich wertvoll.«

»Wo ist dieser Raum?«

»Neben der Bibliothek. Aber wie gesagt, in einem separaten Gebäude, in das man nur mit einem speziellen Sicherheitsausweis gelangt.« Mamdouba war nicht sehr erfreut. »Na schön, Zimm. Nachdem Sie diesen Leuten hier gezeigt haben, was sie sehen wollen, würde ich mich dennoch gerne mit Ihnen in meinem Büro unterhalten.«

Er sagte uns, dass er uns für weitere Fragen zur Verfügung stehen würde, entschuldigte sich und ging wieder nach oben.

»Ich wollte Sie nicht in Schwierigkeiten bringen.«

»Kein Problem, Detective. Jeder hier ist so nervös, wenn es um Sicherheit geht, aber man bekommt ein Gefühl für Leute, die die gleichen Dinge respektieren wie man selbst. Katrina hatte ja nicht vor, sich mit der Erstausgabe handkolorierter Au-dubon-Zeichnungen aus dem Staub zu machen. Sie war von diesem Ort auf positive Art und Weise fasziniert. Ich glaube nicht, dass sie jemals zuvor Phänomene wie diese hier zu Gesicht bekommen hatte.«

Mike setzte sich Zimm gegenüber auf einen Hocker.

»Hatten Sie was mit ihr?«

Der junge Mann errötete wieder. »Nein. Wir sind ein paarmal nach den Arbeitstreffen was trinken gegangen, aber an mehr war sie nicht interessiert. Jedenfalls nicht mit mir.«

»Und Mamdouba? Hatten er und Katrina eine besondere Beziehung?«

215

Zimm sah Mike an, als ob er verrückt wäre. »Mamdouba?

Der hat außer Arbeit nichts im Sinn. Wissen Sie, was ihn jetzt am meisten interessiert? Denjenigen zur Strecke zu bringen, der Katrina dabei geholfen hat, die Vorschriften zu verletzen.

Das macht ihm wahrscheinlich mehr Sorgen als die Tatsache, dass sie tot ist. Die hiesige Bürokratie ist vielleicht noch schlimmer als die an der Universität, und ich hab ständig mit beiden zu tun.«

»Dann versuchen Sie als Nächstes nicht bei den städtischen Regierungsbehörden Ihr Glück. Was bürokratische Vorschriften angeht, würden wir beide Sie im Handumdrehen in die Tasche stecken. Und noch ein Rat: Wenn Sie ein nettes Mädchen wie Katrina treffen und was mit ihr anfangen wollen? Werden Sie die Spinnen los! Vor allem diejenigen, die Sie daheim neben dem Bett stehen haben.« Mike kickte den Hocker weg und stand auf. »Wir wollen den gleichen Blick hinter die Kulissen, den sie hatte. Das Museum, wie man es nicht auf einem Schul-ausflug zu sehen bekommt. Wird das ein Problem für Sie sein?«

Zimm schien von der Vorstellung begeistert. Er stellte das Glas mit den Schaben neben die Tarantel. »Ich bekomme nächsten Monat meinen Doktortitel verliehen. Dann bin ich hier weg.« Er deutete wie ein Anhalter mit dem Daumen über die Schulter. »Nach Chicago, ans Field Museum. Stellvertretender Kurator der Abteilung. Wollen Sie noch etwas über die Ausstellung wissen, bevor wir unseren Rundgang starten?«

»Wenn ich Ihnen eine Inventarnummer nenne, können Sie uns dann sagen, wo sich das Stück befindet?«

Der Entomologe war nur zu erfreut, sein Computerprogramm vorführen zu können. Er klickte den Bildschirm mit der alpha-betischen Liste der Exponate weg und wartete, bis Mike die entsprechende Seite in seinem Notizblock gefunden hatte.

216

»Es ist eine Nummer vom Met: 1983/752.«

»Kalksteinsarkophag, richtig? Mamdouba hat es mich gestern nachschauen lassen.«

Mike nickte, und Zimm holte mit einem Doppelklick ein Farbfoto des antiken Sargs auf den Bildschirm. Die blassbeige Platte, die in dem finsteren Laderaum des großen Trucks so schaurig ausgesehen hatte, wirkte vor dem falschen Marmor, vor dem sie fotografiert worden war, beinahe elegant.

Während Zimm die Beschreibung der Muster vorlas, studierten Mike und ich das Foto auf dem Bildschirm. Da waren wilde Tiere bis ins kleinste Detail abgebildet, von Wildschweinen und Hyänen bis zu Watvögeln und Elefanten, genau wie Hal Sherman gesagt hatte. Wäre der Sarg nicht im Hafen von Newark gelandet, wäre er ein perfekter Kandidat für die Bestiariumsausstellung gewesen.

»Ist das, äh … in der Zeitung stand, dass man Katrina …«

»Ja, das ist er. Was steht noch in dem Eintrag?«

Während Zimm zwei Seiten mit Informationen ausdruckte, richtete er sich auf und zitierte den Rest auswendig.

»Wir erhielten das Stück am ersten Dezember letzten Jahres.

Timothy Gaylord – der Kurator der ägyptischen Abteilung –

schickte es vom Met herüber, damit wir ihn für die Ausstellung begutachteten.«

»Wo wurde er aufbewahrt?«

»So große Objekte wie der Sarg lagerten alle im Untergeschoss bei den Ichthyologen.«

»Fische?«

»Genau.«

»Warum dort?«

»Ich vermute, es ging allein darum, wo im Untergeschoss am meisten Lagerraum zur Verfügung stand. Außerdem führt dort eine Hintertür direkt auf die Verladerampe. Der Bereich bietet 217

sich an, um die schwersten Stücke rein- und rauszuschaffen.«

Mike überflog den Ausdruck. »Hier steht nicht, wann der Sarkophag das Museum verlassen hat.«

»Laut unseren Unterlagen hat er das nie getan.«

»Können Sie den Prozess umkehren? Können Sie ein Datum eingeben – sagen wir letzten Montag oder Dienstag – und sehen, welche Gegenstände rausgegangen sind?«

Zimm widmete sich wieder dem Computerprogramm. Er tippte den zwanzigsten und einundzwanzigsten Mai auf der Suche nach ausgehenden Sendungen ein. »Scheint so, als ob einer unserer Lastwagen ein paar Exponate fürs Smithsonian abgeholt hat. Allerdings lauter leichte Sachen. Vögel, Schalentiere, Weichtiere.«

»Und die Woche davor?«

»Ja, hier ist ein größerer Lastwagen. Sehen Sie? Am fünfzehn-ten Mai ist etwas ans Met zurückgeschickt worden. Da waren schwere Kalksteinsachen dabei. Wahrscheinlich Objekte, die man für die Ausstellung abgelehnt hat. Dieser Sarkophag war nicht der einzige, den wir uns angesehen haben. Das Met schickte uns viele ägyptische Objekte. Hm. Eine indische Grabstele mit Szenen aus dem Leben Buddhas.« Er holte ein Bild von Prinz Siddharta, dem späteren Buddha, auf den Monitor, wie er auf seinem Pferd davonritt, um seinem Adelstitel zu entsagen.

Mike beugte sich über Zimms Schulter, um die Liste durchzusehen. »Sandstein. Eine einen Meter zwanzig große kambod-schanische Statue von Ganescha, dem elefantenköpfigen Hin-dugott. Und eine Bronzestatue von Theseus im Kampf gegen den Minotaurus. Was bedeuten diese Initialen?«

»Jemand aus dem Team des Met muss die Sachen hier aus-tragen, wenn wir sie zurücksenden. Das Letzte hier ist vom Leiter der Abteilung für europäische Skulpturen abgezeichnet worden.«

218

»He, Moment mal, hier ist ägyptisches Zeug zurückgeschickt worden.«

»Was zum Beispiel?«

»Der Sarg eines Kerls namens Khumnakht. Eine Scheintür aus dem Grabmal von Metjetji. Wer hat da unterschrieben?«

Zimm holte die Unterschrift auf den Bildschirm. »Timothy Gaylord. Ich drucke es Ihnen aus.«

Mike nahm die Seiten, während sie aus dem Drucker kamen.

»Wollen Sie den hier auch? Scheint so, als ob wir die Woche zuvor einen anderen großen Sarkophag an die Cloisters zu-rückgeschickt haben. Achter Mai. Ein Typ namens Ermengol, auch Kalkstein. Der Sarg wird von drei Löwen getragen, von denen einer, glaube ich, ein Schwein im Maul hat.« Er war mehr von den Tierbildern fasziniert als von unserer Mission.

»Abgezeichnet von?«

»Bellinger. Hiram Bellinger.«

»Kann Ihr Programm danach suchen, ob Katrina irgendeinen Ein- oder Ausgang abgesegnet hat?«

»Das hab ich schon getan, für Mamdouba. Nein. Es müsste jemand Höherrangiger sein als sie. Diese Art Befugnis hatte sie nicht.«

»Wie steht’s mit einer Gegenprobe, um zu sehen, ob irgendwelche anderen Ausstellungsgegenstände fehlen, die nicht aus-getragen worden sind.«

»Das hat Mamdouba ebenfalls schon angeordnet. Das wird länger dauern, aber wir haben einige Studenten darauf angesetzt, die gerade versuchen, eine Zählung per Hand zu machen.

Bis jetzt konnten drei weitere Stücke nicht ausfindig gemacht werden. Aber das sind alles kleine Sachen, die man leicht rausschmuggeln kann, wie beispielsweise ein achtzehn Zentimeter hohes mittelalterliches Trinkgefäß in Form eines Hirschen aus Deutschland. Sie sind wahrscheinlich geklaut worden. Das ist 219

weiter nicht bemerkenswert im Vergleich zu dem Sarg.«

Mike richtete sich auf. »Können Sie uns dorthin bringen, wo die Fische schlafen?«

»Ichthyologie? Warum nicht?« Zimm schloss die Tür hinter sich ab, und wir gingen wieder die dunkle Treppe hinauf, über die wir zuvor heruntergekommen waren.

»Entschuldigen Sie das Treppensteigen. Es ist der einzige Weg, um ins Untergeschoss zu gelangen. Haben Sie eine DNA-Analyse von Katrinas Leiche gemacht?«

Ich konnte Mike ansehen, dass er von der Frage genauso überrascht war wie ich. »Wissen Sie etwas über den Mord an Katrina, was nicht in den Zeitungen stand?«

»Nein, ich war mir nur nicht sicher, ob Mamdouba Ihnen gesagt hat, dass von allen, die hier arbeiten, der genetische Fingerabdruck gespeichert ist. Sie haben unsere DNA.«

Niemand hatte das bisher erwähnt, und mir war der Gedanke auch nicht in den Sinn gekommen.

»Ein Großteil unserer Arbeit hier in den Labors besteht darin, verschiedene Tierarten und Unterarten zu identifizieren. Ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu untersuchen und herauszufinden, welche vom Aussterben bedroht sind. Die Vogel-leute können Ihnen sagen, ob ein bestimmter Fleckenkauz auf einer Bergkette mit einer Kauzart verwandt ist, die ein paar Kilometer weiter existiert, oder mit einer, die in Nordkalifornien heimisch ist, oder ob er eher einer bestimmten Eulenart in Me-xiko ähnelt.«

»Was hat das mit euch Wissenschaftlern zu tun?«

»Wir sitzen den ganzen Tag am Mikroskop über unseren Proben und Objektträgern. Ein Niesen, ein Schweißtropfen –

alles, was wir beisteuern, würde die Forschungsergebnisse verfälschen. Also wird von allen Mitarbeitern ein Oralabstrich genommen. Ich dachte nur, dass es Sie interessieren würde.«

220

Das gleiche Verfahren wurde in den meisten Leichenschauhäusern und serologischen Labors angewandt. Es hätte mir einfallen müssen, dass von Personen, die mit genetischen Proben arbeiten, eine DNA-Datenbank existieren müsste. Falls Dr.

Kestenbaum bei der Autopsie irgendetwas von serologischem Wert fand, würde das ein guter Anfang sein.

Wir durchquerten einige Korridore, bis wir zu einer unmar-kierten Tür hinter einer Reihe von Bedienstetenaufzügen kamen. Wieder zog Zimm seinen Ausweis durch den Scanner, und wir gingen durch ein schmuddeliges Treppenhaus vier Treppenabsätze nach unten.

Die Gänge waren dunkel, und er knipste im Gehen das Licht an. »Wegen des langen Wochenendes haben sich heute viele freigenommen. Aber Freunde von mir arbeiten in dieser Abteilung, und ich habe meine ersten beiden Sommer hier verbracht, als ich noch an der Highschool war. Ich kann Ihnen das meiste zeigen.«

Auf beiden Seiten des Korridors befanden sich kleine Labors, die vom Boden bis zur Decke mit Fischbehältern und Glasgefä-

ßen in allen Größen voll gestellt waren. Dann kamen Lagerräu-me mit Fischproben – circa zwei Millionen –, die alle, sorgfältig beschriftet, in irgendeiner wässrigen Lösung schwammen.

»Was ist das für ein Geruch?«, fragte Mike.

»Welchen meinen Sie? Tote Materie? Konservierungsmittel?

Im ganzen Museum riecht es nach Tod. Wir haben nur gelernt, ihn ziemlich gut zu überdecken.«

Ich studierte die Musterungen auf Dutzenden weißer Fischskelette, die sich deutlich gegen das matte Grau der Wände und Böden abhoben. »Wie tun Sie das?«

»Als ich noch Praktikant hier war, bekamen wir ein riesiges Walskelett herein, das in Long Island an den Strand ge-schwemmt worden war. Ich hatte noch nie so etwas gerochen.

221

Ich konnte den Geruch nicht loswerden. Mein Boss schickte mich in einen Drugstore in der Columbus Avenue. Ich sollte ihm Bergamottöl besorgen. Ich habe den ganzen Laden aufge-kauft.«

»Was ist Bergamottöl?«

»Eine Essenz aus der Schale einer Zitrusfrucht. Ähnlich wie Orangenduft mit etwas Pfefferminze. Wir tränkten Tücher darin und breiteten sie über die Objekte, wenn wir nicht gerade daran arbeiteten. Jeder hier hat solche Tricks. Es ist die einzige Möglichkeit, mit dem Geruch toter Exemplare fertig zu werden.«

Mike machte sich Notizen. Er würde Kestenbaum die Leinentücher testen lassen, in die Katrinas Leiche gewickelt war.

Vielleicht waren sie mit einer Substanz getränkt worden, die den Leichengeruch überdecken sollte, während sie irgendwo lagerte. Dieser süßliche Duft, der beim Öffnen des Sargdeckels entwichen war, könnte so etwas wie Bergamottöl gewesen sein.

»Nehmen wir mal an, Sie wollten jemanden umbringen, Zimm. Wie würden Sie das hier unten anstellen?« Mike wollte herausfinden, ob die Verfügbarkeit von Arsen allgemein bekannt war. Die Todesursache war noch nicht in der Presse er-wähnt worden.

Zimmerly führte uns, vorbei an der Röntgenabteilung der Ichthyologen, in einen Raum mit einen Meter langen Aquarien voller lebender Fische. »Kennen Sie jemanden mit einem schwachen Herzen? Dieser Kerl hier ist ein afrikanischer Zit-terwels. Er kann Stromstöße von ungefähr dreihundert Volt erzeugen, wenn er aufgebracht ist.«

Die braunen Kreaturen mit Barteln schossen in dem Tank umher, und einer davon drückte wie zum Beweis für Zimms Aussage sein Maul gegen das Glas.

»Hier drüben bewahren wir die Gewebeproben für molekula-re Arbeiten auf.« Er schaltete das Licht in einem kleinen Labor 222

auf der anderen Seite des Flurs ein. Hier standen zwei riesige Bottiche mit der Seitenaufschrift VORSICHT – LEBENSGE-FAHR. »Flüssigstickstoff. Minus hundertachtzig Grad. Wenn ich Ihren Kopf nur eine Minute da hineinstecke, würde Sie die Kälte verbrennen. Schmerzhaft, schnell, lautlos.«

»Aber Sie hätten noch immer das Problem, wie Sie mich los-kriegen sollten.«

»Ich könnte Sie im Tiefkühlraum lagern, bis mir etwas Besseres einfällt. Wir Insektenleute bekommen nicht viele Sachen, die nicht in ein Glas passen. Ein paar Rieseninsekten aus dem Amazonas oder den afrikanischen Dschungelgebieten. Möchten Sie sich vielleicht mit den Leuten in der Mammalogie unterhalten? Die haben gerade einen neuen Entfetter bekommen.«

»Was ist das?«

»Hey, Sie sind der Detective! Wie bekommt man Ihrer Meinung nach die Skelette sauber? Die Mammologen haben diese brandneue Entfettungsmaschine. Man kann einen ganzen Elefantenschädel reinlegen und ihn für einige Tage eingetaucht lassen. Dieses Ding entfernt alles Fett von den Knochen. Dann knabbern ein paar von unseren Insekten die Reste ab, bevor die Knochen in den Kühlraum gesteckt werden, um alle Keime abzutöten. Stecken Sie jemanden in diese Maschine, und er ist absolut blitzsauber.«

Ich ignorierte mein mittägliches Magenknurren. Museumsarbeit verdarb mir den Appetit.

Wir folgten Zimm einen langen, düsteren Korridor entlang und bogen erneut um eine Ecke. »Haben Sie schon mal von einem Coelacanthus gehört?«

»Nein.«

»Er ist das fehlende Bindeglied in der Fischwelt. Jahrhundertelang kannte man nur fossile Überreste des Quastenflossers.

Die Wissenschaftler dachten, dass er seit Jahrmillionen ausge-223

storben ist. Einen Meter fünfzig lang, sehr ungewöhnliche Flossenstruktur, entbindet lebende Junge. 1938 ging einem Grundnetzfischer vor der Küste Südafrikas ein Coelacanthus ins Netz. Ein junger Wissenschaftler fertigte eine Zeichnung an und schickte ihn dann an unser Museum. Seitdem ist er hier.«

»Derselbe Fisch?«

»Ja. Er ist eingelegt.«

»Woher kommt es, dass jeder in Ihrem Metier diesen Begriff verwendet?«

»Weil Alkohol so ein großartiges Konservierungsmittel ist.

Dieser Brocken hier hat sechzig Jahre überdauert, genauso wie er aus dem Wasser geholt wurde, in einer zu siebzig Prozent aus Äthylalkohol bestehenden Lösung.« Er bog wieder um eine Ecke und betrat einen großen, weiten Raum.

»Sehen Sie selbst. Hier ist sein Sarg.«

Wir standen vor einem einen Meter achtzig langen Metallcontainer mit einem Klappdeckel. Der Behälter war neunzig Zentimeter hoch und sechzig Zentimeter tief, groß genug für einen prähistorischen Fisch, einen großen Hai – oder die meisten Menschen, die ich kannte.

224

20

Zimm hob den schweren Deckel an. »Gehen Sie ein paar Schritte zurück. Der Alkoholgeruch kann Sie umhauen.«

Er hatte Recht. Ich riss unwillkürlich den Kopf weg und musste an den überwältigenden Formaldehydgestank denken, den ich noch aus meiner Ausbildungszeit in Erinnerung hatte, als ich meine ersten Autopsien in der Gerichtsmedizin gesehen hatte.

Ich legte eine Hand auf Mund und Nase und stützte mich mit der anderen auf das Gehäuse. Mike und ich starrten das Ungeheuer an, das aus seinem einzigen Auge mit glasigem Blick zu-rückstarrte. Zimm griff in die trübe Flüssigkeit und hob den Kopf des Coelacanthus an, damit wir ihn bewundern konnten.

Der Fisch war größer als Katrina Grootens Leiche.

Mike interessierte sich mehr für den Behälter als für den Fisch. »Was ist das?«, fragte er und klopfte auf die Innenseite.

»Er ist komplett mit rostfreiem Stahl ausgekleidet. Schließ-

lich könnte man nicht sehr lange in einem Raum arbeiten, in den so ein Geruch ausströmt, oder?«

»Ich wäre am Ende des Tages hinüber. Wie viele von diesen Behältern gibt es hier?« Mike half Zimm, den Deckel wieder zu schließen.

»Vielleicht vier, vielleicht auch sechs. Ich frage nächste Woche den Freund, der hier arbeitet.«

»Wo sind die anderen?«

Zimm zuckte die Achseln. »Das hier ist der Einzige mit einem ständigen Bewohner. Die anderen werden dorthin gebracht, wo man sie gerade benötigt.«

Wir waren durch die meisten Abteilungen gegangen und hat-225

ten keine anderen Behälter gesehen, die aussahen wie ein Sarg.

»Sie sind mit Sicherheit nicht so klein, dass man sie verstecken könnte.«

»Man versteckt sie nicht absichtlich. Manche stehen wahrscheinlich in irgendeiner Ecke eines kleinen Labors, andere in Lagerräumen. Glauben Sie mir, Ms. Cooper, man bräuchte eine ganze Armee, um hier drinnen vom Keller bis zum Dach alles zu durchsuchen und unsere Bestände zu sichten. Mr. Mamdouba wird das sicher nicht zulassen.«

»Sie haben andere Freunde von Katrina erwähnt. Können Sie uns zu ihnen bringen?«

»Ich bin mir nicht sicher, wer von ihnen heute da ist.« Er zö-

gerte. Mir kam es vor, als scheue er sich, andere Doktoranden in Schwierigkeiten zu bringen.

»Wir versuchen nur, Leute zu finden, die vielleicht gewusst haben, dass sie Probleme hatte. Leute, mit denen sie über ihre Rückkehr nach Südafrika gesprochen hatte.«

»Ich meinte das ernst mit der Freundin, die mittlerweile nicht mehr hier ist. Ich kannte sie nur vom Sehen und weiß ihren Namen nicht. Ich weiß nur, dass sie Anthropologin war. Man hatte ihr nahe gelegt zu kündigen und –«

»Gefeuert?«

»Ja. Deshalb ist sie jetzt in London.«

»Was muss man tun, um von einem Naturkundemuseum gefeuert zu werden?«

»Das Einfachste wäre, etwas zu klauen. Aber das war nicht das Problem«, sagte Zimm. »Es ging das Gerücht um, dass sie sich mit jemandem in der Verwaltung angelegt hat.«

»Mamdouba?«

»Nein, aber er würde mit Sicherheit wissen, wovon ich rede.«

Mike sah auf seine Notizen. »Und die Sache mit den afrikanischen Völkern?«

226

»Die sind oben im ersten Stock. Ich kann Sie hinaufbringen.

Vielleicht würde ich ihre Freunde wiedererkennen.«

Wir gingen wieder die Treppe hinauf, durch die Säle für Artenvielfalt und nordamerikanische Wälder im Erdgeschoss und dann hinauf in den ersten Stock in die Halle mit den Vögeln der Welt und in den Saal der Völker Afrikas.

Zimm fragte den Aufseher, ob er wüsste, ob irgendwer von den Praktikanten da sei, aber der Mann schüttelte nur den Kopf.

Mein Pager vibrierte, während ich vor einer Fotoausstellung einer frühen Afrikaexpedition stand.

»Habe ich hier Handyempfang?«

»Nicht im Untergeschoss und in den meisten Innenräumen wie diesem hier. Gehen Sie besser zu den Vögeln zurück.«

Ich erkannte Ryan Blackmers Nummer und rief ihn zurück.

»Ich versuche seit einer halben Stunde, dich zu erreichen.

Schwarzes Loch?«

»Ja, tut mir Leid. Diese Museumswände sind zu dick. Hab ich was verpasst?«

»Das Treffen, das wir heute für drei Uhr mit dem Internetpä-

dophilen vereinbart hatten? Er hat abgesagt.«

»Denkst du, dass er Verdacht geschöpft hat?«

»Nein. Er möchte sich am Montag treffen. Hört sich an, als ob er heute einfach nicht früh genug in die Stadt kommen konnte. Ich wollte nicht, dass du grundlos im Museum wartest.

Und ich soll dir etwas von Sarah ausrichten. Wir halten Ausschau nach dem Chauffeur einer Limousinenfirma, die die Talk-Shows verwenden.«

»Warum?«

»Der Produzent einer der Shows hat einen Haufen Jugendliche für eine Sendung mit dem Titel ›Zügellose Teenager‹ eingeflogen.

Überrascht es dich zu hören, dass eine forsche Fünfzehnjährige 227

nach der Aufzeichnung mit dem Chauffeur ausbüchste? Man hat sie zuletzt vor ihrem Hotel gesehen, wo sie ihm auf dem Rücksitz der Stretchlimousine einen blies, während sie auf ihre Mutter warteten. Der Polizeifunk weiß schon Bescheid.«

»Wie hast du davon erfahren?«

»Die Mutter hat’s bekannt gegeben. Sie will die Show verklagen.«

»Wo, zum Teufel, war sie, als das Mädchen die Gegend unsicher machte?«

»Im Hotelzimmer.«

»Wir sind hier fast fertig. Wenn ich nicht darauf warten muss, bis deine Operation über die Bühne geht, dann vernehmen wir noch eine Zeugin.« Ich dachte an Ruth Gerst, das Kuratoriumsmitglied des Met.

Unser eifriger Guide führte uns noch durch viele abgelegene Korridore und Bereiche des Museums, bevor wir gingen: Halle um Halle mit vergessenen Vogelvitrinen, reihenweise unmar-kierten Spinden und leeren Containern, über die dicke Plastikplanen gezogen waren. Als er uns zum Ausgang brachte, war es drei Uhr nachmittags.

Zimm hatte nichts über Arsenvorräte im Museum gewusst, da seine Abteilung kein Arsen verwendete, aber er wusste jetzt, wie man eine Leiche in dem riesigen Gebäudelabyrinth loswerden konnte.

Auf dem Weg zur Gerst-Wohnung auf der Park Avenue legten Mike und ich noch einen Zwischenstopp ein, um uns ein Sandwich und etwas zu trinken zu kaufen. Er rief das Büro das Gerichtsmediziners an und hinterließ eine Nachricht auf Dr.

Kestenbaums VoiceMail. Falls irgendetwas an Katrinas Leiche oder ihrer Kleidung eine DNA-Analyse erforderlich machte, waren die Profile der Angestellten des Naturkundemuseums gespeichert. Er schlug auch vor, die Leinentücher, in die der 228

Leichnam eingewickelt gewesen war, nach einer natürlichen Ölsubstanz zu testen, die Gerüche unterdrückte.

Ein Portier gewährte uns Zugang zu einem der vornehmsten Häuser auf der Park Avenue, nördlich der Ecke Seventieth Street. Mrs. Gerst öffnete höchstpersönlich die Tür. »Kommen Sie herein, meine Lieben. Sie müssen Ms. Cooper und Mr.

Chapman sein. Treten Sie ein.«

Sie sah aus, als wäre sie gerade von einem eleganten Mittagessen zurückgekommen. Mrs. Gerst war eine große Frau, die ich auf Mitte achtzig schätzte. Sie trug einen leichten Tweed-anzug, eine perfekte Frisur und genug Schmuck, um ein Ru-derboot zum Sinken zu bringen.

Sie bat uns in einen Salon, der an das Wohnzimmer angrenz-te. Die Möbel waren mit einem kostbaren Seidenstoff überzo-gen, und an den Wänden hing eine Sammlung kleiner Gemäl-de, von denen jedes einzelne zweifelsohne so wertvoll war wie der Smaragd-Diamantring an ihrem knochigen Finger.

»Sie sind Jake Tylers Mädchen, richtig?«

Ich antwortete höflich, während Mike sich anstrengen musste, nicht zu lachen. »Ja, Madam. Alexandra Cooper.«

»Ich hoffe, ich habe ihn letztens im Met nicht erdrückt mit meiner Aufmerksamkeit und meinen Fragen. Sie sollten einen so gut aussehenden Kerl nicht allein herumlaufen lassen.«

»Und was ist mit mir? Sind Sie noch zu haben, Mrs. Gerst?«

»Sie gefallen mir, mein Sohn. Ich bin schon viel zu lange zu haben. Ich bin jetzt sechsundachtzig. Denken Sie, dass Sie mit mir fertig werden würden? Ich bin seit fast dreißig Jahren Witwe. Aber lassen Sie mich auf den Punkt kommen. Ich habe solange ich denken kann mit dem Metropolitan Museum zu tun.

Ich habe Direktoren und Skandale kommen und gehen sehen.

Ich habe von dem Tod dieser jungen Frau gelesen und mir einige Gedanken gemacht.«

229

Ruth Gerst drückte sich aus ihrem Sessel hoch und ging zu einer kleinen Bar in einer Nische auf der anderen Seite des Raums. »Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«

Wir lehnten dankend ab und sahen zu, wie sie sich einen kräftigen Schluck Bourbon einschenkte.

»Sie möchten uns etwas über Pierre Thibodaux erzählen?«

»Du meine Güte, nein! Wie ich sehe, konnten die Zeitungen kaum warten, über ihn herzufallen. Sie müssen über die Politik des Met Bescheid wissen und darüber, wer ihm etwas anhängen will. Ich dachte, ich könnte Ihnen vielleicht helfen.«

»Wie lange sind Sie schon mit dem Met verbunden?«

»Meine Liebe, schon mein Vater war Mitglied des Kuratoriums. Er spendete 1925 seine erste Million. Alte Bankiersfami-lie. Sein Vater kam um 1880 nach Amerika. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie sich die Dinge seitdem verändert haben. Die Vorstellung, dass Gaylord und Bellinger mit dem Finger auf Pierre zeigen? Früher kannten Kuratoren ihren Platz.«

Ich wusste, dass Bellinger kein Fan des Direktors war, aber mir war nicht bewusst, dass er ihn öffentlich an den Pranger stellte. »Ist das wahr?«

Mrs. Gerst fuhr mit ihrer Geschichte fort. »Zur Zeit meines Vaters durften die Kuratoren nicht einmal sitzen, wenn sie vor dem Ankaufsausschuss des Kuratoriums etwas vortrugen. Sie kamen in das Meeting, beschrieben ihre Forschungsarbeiten und gingen wieder. So, wie es sein sollte. Von den Ehefrauen der Kuratoriumsmitglieder wurde erwartet, dass sie am Ende der Saison Abendkleider aus ihrer eigenen Garderobe spende-ten, damit die Frauen der Kuratoren bei Museumsveranstaltun-gen angemessen eingekleidet waren. Ich erinnere mich an das Jahr, als ich ans College kam. Ich heulte, als ich erfuhr, dass meine Mutter der Frau des Kurators für griechische und römische Kunst eine ihrer Südseeperlenketten gegeben hatte, zu-230

sammen mit ein paar Chanel-Abendkleidern. Heute ist es eine andere Welt. Jetzt bilden sie sich noch etwas ein.«

»Warum denken Sie, dass Hiram Bellinger nicht mit Pierre zurechtkam? Eine Frage des Stils? Der ruhige Wissenschaftler gegen den Showman am Ruder?«

»Hiram ist eine ewige Heulsuse. Egal, wie viel Geld wir ihm und den Cloisters zustecken, er ist nie zufrieden. Er hat Pierre schrecklich blamiert mit dem Kauf der Wandteppiche, von denen er behauptete, dass sie aus der Werkstatt der Gobelins stammten. Wir haben ihm ein Vermögen gegeben, damit er den Deal abschließt. Er brachte sie hierher, um sie im Textillabor der Kathedrale Saint John the Divine restaurieren zu lassen, und es stellte sich heraus, dass sie ganz anderer Provenienz waren. Sie waren nicht einmal das Geld für den Flugtransport nach Amerika wert.«

Ich sah auf meine Uhr. Gersts Klatschgeschichten waren interessant, aber sie brachten uns nicht wirklich weiter.

Sie stellte ihr Glas auf einem Beistelltischchen ab und sah Mike an. »Was ich wissen wollte, ist, ob Ihnen jemand von den Gewölben erzählt hat?«

»Gewölben?« Ich sah Mike an. Er schüttelte den Kopf.

»Das hätte ich mir denken können. Es sind nicht mehr viele Leute aus den Anfangstagen da. Es ist durchaus möglich, dass nicht einmal Pierre von ihrer Existenz weiß.«

Mrs. Gerst nahm ein paar Schluck von ihrem Bourbon.

»Vor fast fünfzig Jahren herrschten sehr magere Zeiten am Museum. Es gab damals ein Kuratoriumsmitglied namens Arthur Paglin, der eine mittelmäßige Privatsammlung hatte, aber schrecklich viel Geld. Der damalige Direktor war wie wild hinter ihm her, damit er Geld für eine umfassende Renovierung der Eingangshalle spendete. Aber der Mann konnte verhandeln wie der Teufel.«

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»Was hat er getan?«

»Er willigte ein, das Geld zu spenden. Aber unter zwei Bedingungen. Die erste war, dass ihm das Museum den Großteil der viele Jahre zuvor erstandenen ägyptischen Kunstsammlung zu den ursprünglichen Preisen verkaufte.«

»Warum das?«

»Damit er die Objekte wieder dem Met vermachen konnte und sie damit für immer als ›Geschenk von Arthur Paglin‹ aus-gewiesen waren. Er würde den Ruhm einstreichen, die Sammlung zusammengestellt zu haben, und er würde es auch noch von der Steuer absetzen können. In den dreißiger Jahren war die Steuerersparnis viel mehr wert als die Kunstwerke.«

»Und die zweite Bedingung?«

»Er verlangte einen Lagerraum im Untergeschoss des Museums. Ein Privatgewölbe, zu dem nur er und sein persönlicher Kurator Zutritt hatten. Mietfrei.«

»Und das hat er bekommen?«

»Nur gegen größten Widerstand. Stellen Sie sich vor, welchen Wert es für Sammler hatte, ein absolut sicheres Gewölbe direkt im Met zu haben, ohne etwas dafür bezahlen zu müssen.«

»Warum ist man darauf eingegangen?«

»Weil der Museumdirektor letztendlich den Inhalt des Ge-wölbes haben wollte. Nachfolgende Direktoren haben Paglin den Rest seines Lebens umworben, ohne überhaupt zu wissen, welche Schätze sich in dem Raum befanden.«

»Wie ist die Sache ausgegangen?«

» Chacun à son goût, Detective. Mein Mann pflegte immer zu sagen, dass der Steuertrick mehr wert war als Paglins gesamte Sammlung. Er hatte ein paar großartige Stücke, aber er war wie wir alle ein paarmal total reingelegt worden.«

»Und dieses Gewölbe – war das damals allgemein bekannt?«

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Ich konnte mich nicht erinnern, jemals davon gehört oder gelesen zu haben.

» Gemein wäre das richtige Wort. In einer Hinsicht hatten Mr.

Paglin und mein Vater den gleichen Geschmack: Sie teilten sich eine Geliebte. Nur ein oder zwei Jahre lang, aber lange genug, dass die Betreffende die Prachtstücke des Gewölbes sah und meinem Vater davon erzählte. Ich glaube nicht, dass noch viele andere davon wussten. Das hätte nur dieses ganze Theater nach dem Motto ›meiner ist größer als deiner‹ zur Folge gehabt. Männer sind furchtbar kindisch, was das angeht, finden Sie nicht auch?«

»Wissen Sie, wie viele Privatgewölbe es in dem Museum gibt?«

»Ich habe keine Ahnung. Aber ich würde mit Timothy Gaylord anfangen. Jeder, der mit der ägyptischen Sammlung zu tun hat, kennt die Paglin-Geschichte. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Timothy zum Zeitpunkt von Paglins Tod Praktikant in der ägyptischen Abteilung war. Der alte Knabe wurde über neunzig, was mir hoffentlich auch gelingen wird. Prost!«

Mike wandte sich mir zu. »Ich frage mich, ob sie im Naturkundemuseum etwas Ähnliches haben. Privatgewölbe, meine ich.« Wir dachten beide, dass ein Gewölbe ein großartiges Versteck für einen Sarkophag wäre.

»Nicht dass ich wüsste.«

»Wie gut kennen Sie das Naturkundemuseum?«

»Herbert war dort im Kuratorium.«

»Herbert?«

»Mein verstorbener Mann. Er weigerte sich, etwas mit dem Met zu tun zu haben, weil mein Vater dort so präsent war. Er liebte Forschungsreisen. Haben Sie Erik Poste schon kennen gelernt? Europäische Gemälde?«

»Nur kurz.«

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»Sein Vater, Willem, war einer der großen Abenteurer des letzten Jahrhunderts. Wie aus einem Hemingway-Roman, mein Kind. Furchtlos, gut aussehend, sexy. Er nahm Herbert oft mit nach Afrika. Ich glaube, dass mein Herbie damals der Einzige war, der keine Lust hatte, zu jagen und die herrlichen Tiere ab-zuknallen. Damit hat er nie was zu tun gehabt.«

»Wofür hat sich Ihr Mann dann interessiert?«

»In Afrika? Für alles, was nicht niet- und nagelfest war. Nach den ersten Expeditionen mit Willem brachte mein Mann jedes Fossil mit zurück, das er finden konnte. Reptilien, Schildkrö-

ten, Säugetiere. Solange jemand anders den Abzug betätigte. Er mochte einfach die Knochen. Glauben Sie mir, wenn es im Naturkundemuseum Privatgewölbe gegeben hätte, hätte sich Herb eins ergaunert. Fragen Sie Erik Poste! Er sollte darüber Bescheid wissen. Er ist mit all diesen Geschichten groß geworden.«

»Wo sind die Knochen dann gelagert?«

»Mein Junge, im Dachgeschoss gibt es einen Elefantenraum, irgendwo ist eine Wildschweinkammer, in der Herpetologie sind haufenweise Echsenwirbel. Wissen Sie, wie viele Knochen dort drüben herumliegen? Fünfzig Millionen! Wozu eigentlich?«

»Nun, was wollte denn Ihr Ehemann mit ihnen?«

»Dasselbe wie all die anderen: unsterblich werden. Nach J. P.

Morgan wurde ein Saal für Edelsteine benannt, weil er dem Museum den Stern von Indien geschenkt hat. Gertrude Whit-ney spendete Vögel – genug um Hitchcock das Fürchten zu lehren – und hat auch eine ganze Halle bekommen. Herbie? Sie wussten nie so recht, was sie mit seinen Knochen machen sollten. Sie konnten sie unmöglich an einem Ort ausstellen, weil sie sich mit zu vielen Abteilungen überschnitten. Also liegen sie nur herum und verstauben.«

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Gerst trank ihr Glas aus und ging beschwingt zur Bar, um sich nachzuschenken. Dann wandte sie sich an Mike. »Wissen Sie, ich habe dieses Mädchen einmal getroffen. Die Tote.«

»Katrina Grooten?«

»Ja, ich habe ein gutes Gesichtergedächtnis. Sie haben ein Foto von ihr in den Morgennachrichten gezeigt. Ein reizendes junges Ding.«

»Am Met?«

»Nein, nein, im Louvre. Als wir Pierre den Direktorenposten anboten, bildeten einige Kuratoriumsmitglieder eine Findungs-kommission. Nachdem er zugesagt hatte, flogen ein paar von uns nach Paris und veranstalteten ihm zu Ehren einen Empfang im Louvre.«

Sie ging zu ihrem Stuhl und stützte sich auf eine der Armleh-nen, während sie sich setzte. »Ich muss ihn fragen, ob es dasselbe Mädchen ist. Ich erinnere mich daran, dass ich mit ihr über das kleine Museum geplaudert habe, an dem sie als Praktikantin arbeitete, in Toulouse, glaube ich.«

»Musée des Augustins?«

»Genau. Mein Mann und ich waren einige Jahre zuvor dort gewesen, also war ich neugierig, welche Forschungen sie dort machte. Wann hat das Mädchen an den Cloisters angefangen?«

Vor drei Jahren, ungefähr zur gleichen Zeit, als Pierre Thibodaux den Direktorenposten am Met angetreten hatte. »Ich bin mir nicht sicher.«

»Vielleicht war er ihr Mentor?«, sagte Gerst.

»Wir müssen Ms. Drexler fragen.«

»Eve? Ich nenne sie Evil. Ich würde sie nichts über eine andere Frau fragen.« Mrs. Gersts Augen funkelten angriffslustig, und sie lächelte. »Sie hätte Katrina ein Messer in den Rücken gerammt, falls das Mädchen Pierre zu nahe gekommen wäre.«

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»Glaubst du, dass sie uns alles gesagt hat, oder was meinst du?«, fragte Mike.

»Ich weiß nicht recht. Ruth Gerst ist viel zu intelligent, als dass sie uns zu sich zitiert hätte, nur um die Tatsache, dass sie Katrina Grooten getroffen hat, beiläufig einzuflechten.«

»Anfangs dachte ich, dass Thibodaux sie vielleicht auf uns angesetzt hatte, um ein gutes Wort für ihn einzulegen und gleichzeitig den Verdacht auf Timothy Gaylord zu lenken.

Aber wenn das der Fall wäre, hätte sie nicht die Bombe über Thibodaux und das Mädchen platzen lassen.«

»Ich hatte Pierre und Katrina nie zusammengebracht, bis die Verkäuferin den Pullover als den von Mrs. Thibodaux identifizierte. Nehmen wir mal an, das geht noch weiter zurück. Die beiden kamen innerhalb eines Monats aus Frankreich hierher nach New York.«

»Wir werden uns einen Grundriss besorgen müssen, um herauszufinden, wo sich diese privaten Lagerräume im Museum verstecken.«

»Jemand anders erwähnte neulich ein ›Gewölbe‹.«

»Während unserer Ermittlungen? Meinst du die gewölbten Decken, die wir im Kellergeschoss des Met gesehen haben?«

»Nein, irgendwo in einem Bericht oder – ich hab’s, in einer der E-Mails von Katrinas Freunden.«

»Was hast du mit ihnen gemacht?«

»Ich habe sie eingepackt, um sie mit auf den Vineyard zu nehmen. Ich hatte vor, all ihren Freunden zu schreiben und ihnen von Katrinas Tod zu erzählen. Mal sehen, wer darauf reagiert.«

»Val wartet in meiner Wohnung. Ich habe ihr gesagt, dass wir sie abholen, nachdem wir Nina aufgegabelt haben.«

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»Nina ist bei mir zu Hause. Ich muss nur schnell hoch und ein paar Sachen einpacken. Der Verkehr aus der Stadt hinaus an einem Feiertagswochenende wird ein Albtraum sein. Bist du sicher, dass wir nicht mit dem Taxi zum Flughafen fahren sollen?«

»Damit ich die Gelegenheit verpasse, euch dreien Gesellschaft zu leisten?«

Es war schon nach fünf Uhr, als wir vor meinem Haus hielten. Im Gegensatz zu den meisten anderen Häusern in Manhattan hatte meines eine Auffahrt, in der Autos warten konnten.

Mike blieb im Auto sitzen, während ich nach oben ging, Jeans und einen Pullover anzog und legere Klamotten und meine Akten in eine Segeltuchtasche stopfte. Nina telefonierte gerade mit ihrer Kanzlei in Los Angeles und signalisierte mir, dass ihr Gespräch gleich beendet sei.

»Großartig«, sagte sie endlich und drehte sich um. »Ich habe gerade die Bestätigung bekommen. Quentin verbringt das Wochenende in Sag Harbor. Er will Montag früh an die Westküste zurückfliegen. Bis dahin gehört das Flugzeug uns.«

Der UniQuest-Jet stand in Teterboro, einem kleinen Feld für Privatflugzeuge im Norden von New Jersey, für uns bereit.

»Fertig zum Abflug?«

»Der Pilot wartet auf uns.« Ihr Koffer stand neben der Tür.

»Es ist eigenartig, ein Wochenende ohne Mann und Kind zu verbringen. Wie in alten Zeiten, stimmt’s?«

Wir waren während unseres Studiums am Wellesley unzer-trennlich gewesen. Als die großartige Freundin, die sie war, schloss mich Nina auch nach ihrer Heirat mit Jerry und der Geburt ihres Sohnes Gabe vor vier Jahren in ihre Reisen mit ein.

Mike verstaute unser Gepäck im Kofferraum, und wir fuhren einige Blocks Richtung downtown, um Valerie Jacobson abzuholen, die zweiunddreißigjährige Architektin, mit der er seit dem letzten Sommer befreundet war.

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Er parkte in zweiter Reihe und ging hinauf in sein Einzim-merapartment im vierten Stock, damit Val ihren Koffer nicht allein heruntertragen musste. Als Mike Val kennen lernte, erholte sie sich gerade von einer Mastektomie und einer aggres-siven Chemotherapie. Sie hatte im Laufe der Wintermonate ih-re Energie zurückgewonnen und war viel kräftiger als zu Weihnachten, als ich sie das erste Mal gesehen hatte.

Als sie zum Auto kamen, setzte ich mich zu Nina auf den Rücksitz und stellte Val vor. »Dieses Wochenende ist ein Geschenk des Himmels, Alex. Ich habe rund um die Uhr an einem Entwurf für ein neues Baseballstadion gearbeitet. Mikes Vorstellung von einem langen Wochenende ist, dass ich noch mehr Zeit im Büro verbringe, während er für all diejenigen Kollegen einspringt, die auf Schulabschlussfeiern oder Hochzeiten sind.«

»Bist du schon mal auf Martha’s Vineyard gewesen?«, fragte Nina.

»Nein, aber wie ich höre, sind wir in guten Händen. Das beste Essen, der beste Ausblick –«

»Und dank Nina, der beste Weg, um hinzukommen. Was für ein Luxus!«

Einer der Hauptvorteile der Insel war ihre Abgeschiedenheit vom Rest der Welt. Um diese Jahreszeit brauchte man für die Fähre Reservierungen, und die Fahrt von Manhattan zum Fähr-hafen dauerte über vier Stunden. Die direkten Flugverbindun-gen änderten sich jährlich, fingen aber selten vor Anfang Juni an. Ohne die gut organisierte Verfügbarkeit des UniQuest-Privatjets wäre es fast unmöglich gewesen, einen Kurzaufent-halt wie diesen zu planen.

Wir erreichten den Flughafen kurz nach sieben Uhr. Wir gingen in die Empfangshalle, um die Mannschaft zu suchen und vor dem Abflug noch einen Kaffee zu trinken. Bis wir bereit waren, an Bord zu gehen, hatte Mike den Fernseher gefunden.

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»Kommt schon! Hier sind eine Weltklassearchitektin und zwei Shoppingexperten. Die Final-Jeopardy!-Kategorie lautet ›Mö-

bel‹. Ich will kein Spielverderber sein. Seid ihr bei zwanzig Dollar mit dabei?«

»Doppelt oder nichts. Schließlich komm ich ja nicht oft da-zu«, sagte Nina.

»Ich muss verrückt sein. Ich habe nicht die geringste Chance.« Mike legte sein Geld auf den Tresen, während sich die Frau am Schalter wunderte, was los war.

Trebek las die Antwort, die auf dem Monitor hinter ihm sichtbar wurde. »Sockelähnlicher, runder Tisch, benannt nach dem maurischen Sklaven, dessen Heldentum den Venetianern 1571 den Sieg in der Seeschlacht bei Lepanto bescherte.«

Ich sah Nina an und lachte. »Ich hab nicht den leisesten Schimmer. Du? Wie ist es möglich, dass wir die einzige Innen-einrichtungsfrage bekommen, die du nicht beantworten kannst?«

Mike fegte das Geld vom Tisch. »Ich mach mich auf zu Patroon’s und gönn mir ein tolles Steak. Überlegt es sich jemand anders mit dem Wochenende? ›Was ist ein Gueridon?‹ –

das ist Ihre Frage, Mr. Trebek.«

»Natürlich! Wie diese kleinen runden Bistrotischchen! Woher weißt du das?«, fragte Nina.

»Von den Tischen hab ich noch nie gehört, aber Gueridon war der Name des Sklaven, der den Christen bei Lepanto zu ihrem Sieg über die Osmanen verhalf. Eine der berühmtesten Kriegerlegenden des Mittelalters. So, meine Damen, auf, auf!

Ich hab noch einiges zu tun.«

Er trug unsere Taschen zum Flugzeug, umarmte uns und sah zu, wie der Copilot die Treppe hochzog und die Tür hinter sich schloss.

Der Himmel war klar, und man konnte von oben die Flug-239

bahn an den beleuchteten Städtchen und Dörfern östlich von New York City erkennen. Wir unterhielten uns während des gesamten Flugs, und noch ehe eine Stunde um war, flogen wir die Landebahn an und hielten direkt vor dem neuen Terminal.

Mein Hausmeister hatte das Haus fürs Wochenende hergerichtet und meinen zwanzig Jahre alten Jeep Cherokee auf dem Parkplatz abgestellt. Es war schon zu dunkel, als dass ich Val während der zwanzigminütigen Fahrt zu meinem Farmhaus in Chilmark die grüne Frühlingslandschaft hätte zeigen können.

Die Luft war wunderbar kühl, als wir vor meinem Haus, das auf einem Hügel stand, ausstiegen und zum Sternenhimmel hi-naufsahen. Wie jedes Mal, wenn ich an diesen friedlichen Ort zurückkehrte, entspannte ich mich sofort.

»Habt ihr auch solchen Hunger?«, fragte Nina. »Komm, Val.

Suchen wir uns unsere Zimmer aus. Wir schlafen oben.«

Ich ging in mein Schlafzimmer, von dem aus man einen herrlichen Blick über das im Mondlicht schimmernde Meer hatte, und ließ meine Tasche fallen. Der Anrufbeantworter blinkte, und ich hörte die Nachricht ab. Jake hatte von irgendwo über dem Pazifik angerufen; ich würde bis morgen warten müssen, um mit ihm sprechen zu können.

In der Küche stellte ich Teller heraus und packte die Sandwiches aus. Ich atmete den schweren Duft des Flieders ein, den die Frau meines Hausmeisters geschnitten und ins Wohnzimmer gestellt hatte. Die matt lavendelblauen und weißen Bäume umgaben die Eingangstür des Hauses und erfüllten nur in den letzten Maiwochen die Luft mit ihrem unverwechselbaren Duft.

Nina kam als Erste wieder die Treppe herunter. »Keine Spur von Gabe. Was hast du mit seinen Spielsachen gemacht?«

Nina und ihr Sohn, mein Patenkind, hatten letztes Jahr im Juli zehn Tage hier bei mir verbracht. Ich liebte es, ihn zu verziehen 240

und ihn mit Spielzeugautos, Bauklötzen, Strandspielzeug und Büchern zu überschütten. »Bis zum Sommer weggesperrt. Ihr kommt doch wieder, oder?«

»Ich flehe Quentin an, mir Urlaub zu geben. Gabe sagt, dass er auf alle Fälle wiederkommt, egal, ob ich mitkomme oder nicht.«

»Du riskierst nur, dass ich ihn für immer behalte.«

Nina hatte sich mit den Ellbogen auf die Arbeitsfläche ge-stützt und sah mir dabei zu, wie ich uns Drinks einschenkte.

»Jerry will noch eines. Ein Kind, meine ich.«

»Das hast du mir schon vor einem Jahr gesagt. Das ist groß-

artig.«

»Nun ja, es ist nur noch nicht passiert. Und wenn dir der Gedanke schon so gefällt, warum fängst du dann nicht an, selbst darüber –«

Ich konnte Vals Schritte auf der Treppe hören. »Lass uns dieses Wochenende eine Abmachung treffen, einverstanden? Keine Ratschläge! Ich werde dir nicht erzählen, dass du verrückt bist, deine Energie und Intelligenz an einen Job zu verschwenden, der dir ein Vermögen, aber absolut keine emotionale Be-friedigung einbringt. Und du hältst dich bei meiner Gebärmut-ter raus, okay?«

Wir stießen gerade an, als Val sich zu uns gesellte. »Was für ein Paradies! Ich werde mich in diese Daunendecke kuscheln mit dem Stapel alter Bücher neben dem Bett und alles um mich herum vergessen. Wann ist Weckzeit?«

»Wann du willst. Bist du schon müde?«

»Ja, ich würde heute Abend gern früh zu Bett gehen.«

Val ging bald wieder nach oben, um zu lesen, Nina rief zu Hause an, bevor Jerry Gabe ins Bett brachte, und ich setzte mich vor den Computer.

Ich öffnete den Ordner mit den E-Mails, die Bellinger ge-241

sammelt hatte, als man Anfang Januar Katrina Grootens Computer abgebaut hatte. Sie hatte neun E-Mails von Bekannten in Europa erhalten, die ihr alle frohe Weihnachten und ein gutes neues Jahr wünschten. Keiner davon schien sie gut genug zu kennen, um zu wissen, dass sich ihr Gesundheitszustand seit Monaten stetig verschlechterte. Einige erkundigten sich nach ihrer Arbeit und fragten, ob sie in den nächsten Monaten ins Ausland reisen würde. Jemand namens Charles, der von der E-Mail-Adresse des Museums in Toulouse schrieb, er-zählte ihr den neuesten Klatsch und erkundigte sich zum Schluss über ihr Liebesleben.

Einige der Nachrichten waren verwaltungstechnische E-Mails vom Metropolitan, als Antwort auf Katrinas Kündigung. »Darf ich Sie daran erinnern, Ihre Schlüssel zu der Damentoilette in den Cloisters abzugeben?«

»Falls Sie noch Bücher aus dem Verbundsystem des Metropolitan Museum haben, geben Sie sie bitte am Angestellten-schalter im Hauptgebäude zurück.«

»Erledigen Sie bitte alle zur Beendigung Ihres Arbeitsver-hältnisses erforderlichen Schritte, oder wir werden nicht in der Lage sein, Empfehlungsschreiben an zukünftige Arbeitgeber weiterzuleiten.«

Es gab keinerlei Anzeichen, dass irgendjemand ein übles Spiel vermutet hatte, als die junge Frau das Museum verlassen hatte.

In der Mitte des Stapels fand ich die Notiz, die ich gesucht hatte. Sie war datiert vom 27. Dezember und mit einem Wort unterschrieben, von dem ich annahm, dass es der Name des Verfassers war: Clem.

Ich fing schon an, mir Sorgen zu machen, aber als ich heute Vormittag nach London zurückkam, habe ich deine Nachricht 242

bekommen. Schön, dass du beschlossen hast, nach Südafrika zurückzugehen. Dort kannst du dich darauf konzentrieren, wieder gesund zu werden. Ich bin nach wie vor neugierig: Bist du seit unserem letzten Gespräch in dem Gewölbe gewesen? Ich war gerade zu Hause und habe das Grab besucht. Es macht mich glücklich zu sehen, dass er nach all der Zeit in Frieden ruht. Wir tun was sehr Gutes. Sag mir Bescheid, sobald du eine neue E-Mail-Adresse und Anschrift hast.

Clem Wer war Clem? Welches Grab? Wo? Ich ging zur Empfängerzeile und tippte die E-Mail-Adresse ein, in der Hoffnung, dass sie noch gültig war. Omydarling@Britmail.uk.co.

In die Betreffzeile gab ich Katrinas Namen ein. Ohne etwas über ihre Beziehung zu wissen, konnte ich Clem wohl kaum gleich beim ersten Mal mit der Nachricht überfallen, dass Katrina umgebracht worden war.

Stattdessen stellte ich mich als Bekannte von Katrina vor, sagte, dass ich nicht wusste, wann sie zuletzt voneinander ge-hört hätten, und erkundigte mich nach einer Telefonnummer, unter der ich ihn erreichen könnte. Ich setzte meinen Namen darunter, ohne meine berufliche Position anzugeben, und ver-sandte die Nachricht nach Übersee. Ich schickte ähnliche EMails an die anderen Korrespondenten, bevor ich den Computer ausschaltete und zu Bett ging.

Als ich am nächsten Morgen um sieben Uhr aufwachte, war Val schon draußen vor dem Haus. Sie saß auf dem Rasen neben dem Wildblumenbeet und machte Skizzen des Blutweide-richs und der Mohnblumen, die der starken Morgenbrise vor dem Hintergrund des Menemsha-Teichs trotzten.

»Ich fahre zu Primo’s, um uns Kaffee, Blaubeermuffins und die New York Times zu holen. Irgendwelche Sonderwünsche?«

»Soll ich mitkommen, oder soll ich auf Nina warten?«