![](/epubstore/F/L-Fairstein/Die-knochenkammer//index-1_1.jpg)
Linda Fairstein
Die
Knochenkammer
scanned 07-2005/V1
corrected by sdd
In einem ägyptischen Sarkophag des Metropolitan Museum in New York wird die Leiche einer jungen Wissenschaftlerin gefunden. Schnell hat die Staatsanwältin Alexandra Cooper eine ganze Reihe von Tatverdächtigen, denn Intrigen und Rivalitäten beherrschen den Museumsalltag. Noch aber fehlt ihr jedes Motiv. Bis die Spur zu den alten Skeletten in den verborge-nen »Knochenkammern« des Naturkunde-Museums führt. Noch während Alex Cooper dort im wahrsten Sinne des Wortes im Dunkeln tappt, schlägt der Mörder wieder zu …
ISBN: 3-442-36207-5
Original: The Bone Vault
Aus dem Amerikanischen von Manuela Thurner Verlag: Blanvalet
Erscheinungsjahr: November 2004
Umschlaggestaltung: Design Team, München Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Buch
Selten genug hat Alexandra Cooper, Staatsanwältin in Manhattan, Zeit, abends etwas zu unternehmen – und dann das: Bei einem Empfang im Metropolitan Museum of Art bittet sie der neue Museumsdirektor Pierre Thibodaux um ihre diskrete Hilfe. Man hat in einem antiken Sarkophag, der nach Kairo zu-rückgeführt werden sollte, an Stelle der erwarteten Mumie die Leiche der jungen Wissenschaftlerin Katrina Grooten gefunden. Zusammen mit den NYPD Detectives Mike Chapman und Mercer Wallace beginnt Alexandra Cooper zu ermitteln. Nicht ohne Schwierigkeiten, denn Rivalität und Intrigen vergiften die Atmosphäre unter den exzentrischen Wissenschaftlern des Metropolitan und den nicht weniger exzentrischen Wohltätern des Museums. Bald hat das Ermittlertrio mehr Mordverdächtige als handfeste Spuren, und noch immer gelingt es ihnen nicht, die letzten Wochen des Opfers zu rekonstruieren. Bis Alexandra Cooper eine Freundin von Katrina findet: Clementine Qisukqut, eine junge Inuitfrau und Kulturanthropologin, die ihr berichtet, wie sie sich zusammen mit Katrina für die Rück-führung der Gebeine von »Eingeborenen« in ihre Ursprungsländer engagierte. Eine brisante Angelegenheit, denn angeblich liegen diese Gebeine noch irgendwo in den Dach- und Keller-gewölben eines anderen New Yorker Museums: des Museum of Natural History. Alexandra Cooper und Mike Chapman machen sich auf die Suche nach diesen Knochenkammern. Noch während sie in den Eingeweiden des Natural Museum – im wahrsten Sinne des Wortes – im Dunkeln tappen, schlägt der Mörder wieder zu …
Autor
Linda Fairstein leitete über zwei Jahrzehnte die Abteilung für Sexualverbrechen der Bezirksstaatsanwaltschaft in Manhattan und wird für ihre bahnbrechende Arbeit in den Gerichten New Yorks gefeiert. »Die Knochenkammer« ist ihr fünfter Roman um die Staatsanwältin Alexandra Cooper, der in den USA sofort die Spitzenplätze der New-York-Times-Bestsellerliste eroberte. Linda Fairstein ist verheiratet und lebt mit ihrem Mann in Manhattan und auf Marthas Vineyard.
Für Susanne Kirk
wunderbare Lektorin, treue Freundin, Krimigelehrte
1
Der Nachmittag im Leichenschauhaus war lang gewesen. Ich hatte mein Büro bei der Bezirksstaatsanwaltschaft von Manhattan kurz nach der Mittagspause verlassen, um mit dem stellvertretenden Leiter des gerichtsmedizinischen Instituts die Obduktionsre-sultate in einem neuen Fall zu besprechen. Eine Neunzehnjährige
– die Klamotten, die sie trug, hatte sie sich erst wenige Stunden zuvor gekauft – war vor einem Klub getötet worden, wo sie an der Straßenecke auf ihre Freunde gewartet hatte.
Ich lief, erneut vom Tod umgeben, einen ruhigen Korridor entlang. Ich wollte nicht hier sein. Ich blieb vor dem Eingang eines antiken Grabmals stehen, dessen bemalte Kalksteinfassa-de die Geheimtür zur unterirdischen Grabkammer verbarg. Auf den verblichenen Wandreliefs waren Nahrungsmittel abgebildet, die die Seele der oder des Verstorbenen nähren sollten. Ich hegte keine Hoffnung, dass die junge Frau, deren Leichnam ich heute gesehen hatte, das hier gezeigte üppige Mahl jemals nö-
tig haben würde.
Ich passierte einen Granitlöwen und nickte dem uniformierten Aufseher zu, der neben dem elegant gemeißelten Tier, das einst ein Königsgrab beschützt hatte, auf einem Klappstuhl hockte.
Beide schliefen tief und fest. Daneben standen Alabasteraffen und hielten leere Gefäße in ihren ausgestreckten Händen, in denen früher zweifelsohne die Körperteile eines mumifizierten Würdenträgers des Alten Reichs aufbewahrt worden waren.
Den Stimmen nach zu urteilen, die hinter mir durch die Gänge hallten, war ich nicht der letzte Gast des heutigen Festempfangs.
Ich beschleunigte meine Schritte, vorbei an Vitrinen mit steinernen Häuptern von Göttinnen, juwelengeschmückten Sandalen und goldenen Halsketten, welche jahrhundertelang mit ihnen 5
begraben gewesen waren. Eine scharfe Linkskurve, und ich stand vor einem riesigen schwarzen Sarkophag einer ägyptischen Königin der dreißigsten Dynastie, der von zwei Eisenpfos-ten aufgestemmt wurde, sodass man die Abbildung ihrer Seele auf der Innenseite des Deckels sehen konnte. Der Anblick des dunklen, schweren Sargs mit dem schwachen Umriss der schlanken Gestalt, die er einst beherbergt hatte, ließ mich trotz der ungewöhnlich warmen Spätfrühlingsnacht frösteln.
Dann bog ich ein letztes Mal um eine Ecke, und die Dunkelheit der Grabräume wich dem prächtigen offenen Raum, in dem der Tempel von Dendur untergebracht war. Die Nordseite des Metropolitan Museum of Art bestand aus einer, sich über den Sandsteinmonumenten schräg erhebenden Glaswand, die den Blick auf den Central Park freigab. Es war kurz vor neun Uhr abends, und die Straßenlaternen draußen vor den Fenstern erhellten den Nachthimmel und ließen die grün belaubten Bäume vor dem Museum scharf umrissen hervortreten.
Ich blieb am Rande des Wassergrabens stehen, der die beiden erhöhten Tempelbauten umgab, und hielt nach meinen Freunden Ausschau. Kellner in seidig glänzenden schwarzen Anzü-
gen schlängelten sich zwischen den Gästen hindurch und ser-vierten Kaviarblinis und geräucherten Lachs auf Schwarzbrot.
Andere jonglierten Silbertabletts mit Weißwein-, Champagner-und Mineralwassergläsern durch die versammelte Schar von Freunden und Förderern des Museums.
Nina Baum sah mich, noch bevor ich sie erspähen konnte.
»Du kommst gerade rechtzeitig, um bereits die meisten An-sprachen verpasst zu haben. Raffiniert gemacht.«
Sie winkte einen Kellner herbei und reichte mir eine Cham-pagnerflöte. »Hungrig?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Das Leichenschauhaus?«
6
»Kein sehr angenehmer Nachmittag.«
»War sie –?«
»Erzähl ich dir später. Chapman glaubte, er hätte eine neue Spur in einem Fall, in dem er nicht mehr weitergekommen war, also wollte ich mir das Verletzungsmuster genauer ansehen. Falls er einen Verdächtigen geschnappt hätte und ich den Kerl heute Nacht hätte verhören müssen, wäre ich vorbereitet gewesen. Aber es entpuppte sich als schlechter Tipp, also gibt’s kein Verhör und keine Festnahme. Die Sache ist fürs Erste auf Eis gelegt.«
Nina hakte sich bei mir unter und zog mich zu den Stufen.
»Warum hast du Mike nicht mitgebracht?«
»Ich hab’s ja versucht. Aber als ich ihm sagte, dass es ein festlicher Anlass wäre, schickte er mich zum Duschen und Umzie-hen nach Hause. Er schmeißt sich nicht in Schale, nicht einmal für dich. Ihr werdet euch die nächsten Tage noch sehen.«
Mike Chapman war Mordermittler, meiner Meinung nach der Beste in der Branche. Nina Baum war meine engste Freundin und das schon mein halbes Leben lang. Wir hatten uns mit achtzehn Jahren kennen gelernt, als wir im ersten Studienjahr am Wellesley College als Mitbewohnerinnen ausgelost wurden. Inzwischen war sie verheiratet und lebte mit ihrem Ehemann und ihrem kleinen Sohn in Kalifornien. Sie hatte Mike in den zehn Jahren, die er und ich zusammenarbeiteten, oft getroffen und freute sich jedes Mal, wenn sie in der Stadt war, auf ein Wiedersehen mit ihm.
»Jetzt suchen wir erst einmal Jake.« Sie führte mich die Stufen hinauf, vorbei an der einsamen Palme, die auf der Plattform unterhalb des großartigen Tempels stand. »Und danach stelle ich dich meinem Boss und all den hohen Tieren vor.«
»Benimmt sich Jake anständig? Wirst du nach dem heutigen Abend noch einen Job haben, oder nervt er jeden auf der Suche nach einer tollen Story?«
7
»Sagen wir’s mal so: Wir sind heute Abend schon ein paar Mal schief angesehen worden. Ich beteuere ständig, dass ich ihn mir nur ausgeliehen habe, aber wenn du morgen die Klatschkolumnen liest, wirst du dich vielleicht wundern. Es müssen viele Freunde von dir hier sein, denn sie können sich keinen Reim darauf machen, warum ich nicht von seiner Seite weiche und von dir weit und breit nichts zu sehen ist.«
»›Wer ist diese kastanienbraune Schönheit, die von der Westküste eingeflogen kam und NBC-Korrespondent Jake Tyler dem langen Arm des Gesetzes entzog? Staatsanwältin Alexandra Cooper hat einen Haftbefehl gegen sie ausgestellt. Dito für das unglaublich sexy, rückenfreie marineblaue Pailletten-kleid, das besagter Eindringling aus Alexandras Schrank ent-wendete!‹ So was in der Art?«
»Ich habe mir gedacht, wenn du mir schon deinen Liebsten für den Abend leihst, würdest du sicher nichts dagegen haben, wenn ich mir das sexy, rückenfreie Kleid ausleihe.«
Nina war am Vortag in New York eingetroffen. Sie war Partnerin in einer großen Anwaltskanzlei in Los Angeles, wo ihr Spezialgebiet das Packaging, die Präsentation großer Unterhal-tungsprojekte für Kino- und Fernsehfilme war. Der Anlass des heutigen Abends war eine in der Geschichte der beiden großen New Yorker Museen einmalige Ankündigung. Zum ersten Mal seit ihrem Bestehen würden das Metropolitan Museum of Art und das American Museum of Natural History, mit freundlicher Unterstützung Hollywoods, eine gemeinsame Ausstellung veranstalten.
Die umstrittene Kombination aus Forschung und Showbusi-ness war eine schwierige Geburt gewesen und hatte erst mühsam den Widerstand des Kuratoriums, der Kuratoren, Administratoren und Verwaltungsbeamten der Stadt überwinden müssen. Aber Publikumsrenner wie die Ausstellungen über die 8
Schätze Tutanchamuns oder über Jacqueline Kennedys Garderobe aus der Sammlung der Kostümabteilung füllten die Museumssäckel und sprachen dafür, die jeweils größten Hits der beiden Museen in einer spektakulären Ausstellung gemeinsam zu präsentieren.
Ninas kalifornischer Klient, UniQuest Productions, hatte erfolgreich alle Vermarktungsrechte an dem Projekt ersteigert.
»Ein modernes Bestiarium«, so der Titel der Ausstellung, würde alle fantastischen Tiere der Welt zeigen, insoweit sie in den Sammlungen der beiden Museen in Form von Hieroglyphen, Wandteppichen und Gemälden bis hin zu präparierten und ausgestopften Tieren vertreten waren. Man plante unglaubliche Hightech-Kreationen und virtuelle Dioramen, IMAX-Zeitreisen zu den Künstlern und ihren Kunstwerken und kommerzielle Ver-wertungen in Form von Souvenirverkäufen in den Museumslä-
den und im Internet. Es würde Rembrandt-Kühlschrankmagneten geben, Triceratops-Anstecknadeln, Plastikslinkys des menschlichen Genoms und Schneekugeln, in denen saurer Regen auf vom Aussterben bedrohte Tiere des Amazonas herabrieselte.
Nina lotste mich zu einem kleinen, dunkelhaarigen Mann, der ein kragenloses Smokinghemd trug und viel zu viele Haare im Gesicht hatte. »Quentin Vallejo, ich möchte Ihnen gerne Alexandra Cooper vorstellen. Sie ist –«
»Ich weiß, ich weiß, Ihre beste Freundin.« Quentin musterte mich von oben bis unten. Mit meinen ein Meter siebenundsieb-zig überragte ich ihn um einen Kopf; seine Augen waren auf der Höhe meiner Brust und wanderten nach unten zu meinen Knien, bevor er zu mir aufsah. »Die Sexstaatsanwältin. Nina hat gestern während des gesamten Fluges von nichts anderem gesprochen. Einen interessanten Job haben Sie da. Wir sollten uns bei Gelegenheit mal unter vier Augen unterhalten. Ich würde gerne mehr über Ihre Arbeit hören.«
9
Quentin wandte sich um, um sein leeres Weinglas gegen ein volles einzutauschen, und ich bedachte ihn im Weggehen mit einem leichten Kopfnicken. Nina hauchte ihm eine Kusshand zu und folgte mir.
»Das ist der Kerl, der die ganze Chose hier leitet?«
»Er hat zwölf Jahre lang mit Spielberg zusammengearbeitet.
Er ist ein absolutes Genie, wenn es darum geht, interaktive Materialien und futuristische Kinobilder zu kreieren. Er schafft es, dass unbelebte Objekte aussehen, als wären sie aus Fleisch und Blut. Er hat einen Blick wie kein anderer.«
»Das habe ich gemerkt.« Ich stellte mich auf Zehenspitzen und hielt nach Jake Ausschau. »Hatten die Museumsbonzen Quentin vor dem heutigen Abend schon mal zu Gesicht bekommen?«
»Du meinst, der Deal wäre nicht zu Stande gekommen, falls das der Fall gewesen wäre?«
»Hast du den Verstand verloren? Dieses Museum ist von alten Männern gegründet worden. Sehr reich, sehr weiß, sehr presbyterianisch. Im Naturkundemuseum ist es so ziemlich das Gleiche. Die alten Knaben mögen mittlerweile unter der Erde sein, aber diese Einrichtung hier wird nicht gerade von einer bunt gewürfelten Clique aus der Stadt geleitet.«
»Jemand bei dem Projekt hat seine Hausaufgaben gemacht.
Unsere Vorgruppe hat sich um alles Praktische gekümmert, um dieses Ereignis hier zu organisieren. Wahrscheinlich das am konservativsten aussehende Filmteam, das ich jemals westlich des Mississippi gesehen habe. Für die Vertragsangelegenheiten wurde eine alteingesessene hiesige Kanzlei angeheuert, und Quentins Auftritt hob man sich für die heutige Gala, die große Ankündigung auf.«
»Und wie lief’s?«
»Hör dir das Gemurmel an. Das Kuratorium, die Presse, die 10
oberen Zehntausend – wer auch immer diese Leute sind, sie scheinen begeistert zu sein.« Nina dirigierte mich zu der kleinen Nische im Zentrum des größeren Bauwerks, des Tors zum Tempel von Dendur, um mir an einem ruhigeren Ort von der Präsentation zu erzählen, die ich versäumt hatte.
»Kennst du Pierre Thibodaux?« Sie deutete zum Podium, wo gerade ein großer, dunkelhaariger Mann von einer kleinen Gruppe Museumsfunktionäre weggeholt wurde. Er signalisierte seinen Kollegen etwas mit erhobenem Finger und ging dann in den angrenzenden Korridor hinaus.
»Nur vom Namen her. Er ist neu in der Stadt.« Thibodaux hatte vor knapp zwei Jahren die Nachfolge von Philippe de Montebello als Direktor des Metropolitan Museum of Art angetreten.
»Er hat an allen Meetings mit unserer Vorgruppe teilgenommen. Diese Ausstellung ist sein Baby. Er ist brillant, engagiert, gut aussehend. Du musst ihn kennen lernen –«
»Meine Damen, Sie können sich nicht gegen das Bauwerk lehnen, hören Sie?«, ermahnte uns ein Aufseher.
Wir verließen die Nische und machten uns auf die Suche nach einem anderen ruhigen Plätzchen.
»Lass uns gehen, damit wir uns normal unterhalten können.
Hier drinnen sind heute Abend genauso viele lebende wie tote Schakale. Mir schwant, dass der arme Augustus, als er diese Monumente bauen ließ, nicht vorhergesehen hat, dass sie einmal der begehrteste Platz für Cocktailempfänge in Manhattan werden würden.«
Nina folgte mir verärgert die Stufen hinab. »Wer ist Augustus? Wovon, zum Teufel, redest du? Der Tempel ist doch ägyptisch, oder?«
Ich war von klein auf regelmäßig ins Metropolitan Museum gekommen und kannte die meisten der ständigen Ausstellun-11
gen ziemlich gut. »Du hast zur Hälfte Recht. Er wurde in der Nähe von Assuan erbaut, aber im Auftrag eines römischen Kaisers, der damals über die Region herrschte. Augustus ließ ihn zu Ehren der beiden jungen Söhne eines nubischen Stammesführers errichten, der im Nil ertrunken war. Es tut mir Leid, deinen Enthusiasmus zu dämpfen, Nina. Ich habe heute nur schon so viel mit dem Tod zu tun gehabt, dass ich mich frage, warum wir es für angemessen halten, unsere Festivitäten inmitten der Grabstätten dieser alten Kulturen auszurichten. Würde man es nicht als anstößig empfinden, die nächste Cocktailparty auf dem Arlington-Friedhof abzuhalten?«
»Es tut mir Leid, dass sie heute Abend keinen Scotch servieren, Alex. Entspann dich, okay? Wir können jederzeit gehen, wenn du willst. Wer ist die alte Dame, die sich an Jake klammert?«
Er hatte uns gesehen und kam auf die Plattform zu, auf der wir standen. Eine silberhaarige Frau mit massenhaft baumeln-dem Saphirschmuck – an den Ohrläppchen, Handgelenken, Fingern – hatte Jake am Arm gepackt und flüsterte ihm ins Ohr. Ich blieb auf der untersten Stufe stehen und kramte ein paar Münzen aus meiner Handtasche, um sie als Glücksbringer in den Wassergraben zu werfen.
»Gib auf das Krokodil Acht, Liebling! Das gefährlichste Geschöpf in Ägypten, die Verkörperung des Bösen.« Jake streckte die Hand aus, um mir die Stufe hinunterzuhelfen, während ich ein paar Vierteldollarmünzen ins Wasser warf. Das steinerne Krokodil schien sich über meine Geste lustig zu machen; sein in alle Ewigkeit weit geöffnetes Maul war auf der Suche nach etwas Fleischigerem als der Quiche, die hier gereicht wurde.
Ich küsste Jake auf die Wange, auf der bereits Lippenstif-tabdrücke in verschiedenen Farben prangten. »Es macht mir nichts aus, dich an Nina auszuleihen, aber wer ist meine andere Konkurrenz?«
12
»Diese ältere Dame? Nur ein Kuratoriumsmitglied. Ich habe ihren Namen nicht verstanden. Sie hat mir vorgeschwärmt, wie toll die gemeinsame Ausstellung werden wird, und mich gefragt, ob die Networks auch über das Feuerwerk heute Abend berichten werden.«
»Welches Feuerwerk?«
»Angeblich soll es eine fünfminütige Sound-and-Light-Show zur Einstimmung auf die Bestiariums-Ausstellung geben. Da ist Thibodaux. Er wird es ankündigen.«
Stattdessen steuerte der Direktor direkt auf uns zu, während er sich mit einer Hand über sein Jackett, mit der anderen über die Haare strich. »Nina, kann ich Sie kurz sprechen? Wissen Sie, wo Quentin ist?«
»Ich finde ihn für Sie. Pierre, ich würde Ihnen gerne meine –«
» Enchanté. « Seine Begrüßung war knapp, während er über meine Schulter hinweg den Raum absuchte. Dann ging er mit Nina davon, um den Produzenten zu finden.
Ich sah auf meine Uhr. »Glaubst du, dass du deine zwei Dates zu Hamburgers ins ›Twenty-one‹ einladen kannst, sobald wir Nina loseisen können?«
»Meine Kutsche steht bereit, Mylady.«
Nina, Quentin und Pierre steckten oben auf der Treppe die Köpfe zusammen. Der Direktor stutzte und blickte über die Schulter zu mir, als Quentin auf mich zeigte. Nina schüttelte den Kopf und versuchte sich so hinzustellen, dass Quentin mich nicht sehen konnte. Recht so, Kumpel! Was auch immer es ist, haltet mich da raus!
Da kam Pierre Thibodaux auch schon die zwei Treppenabsät-ze herunter.
»Ms. Cooper? Mr. Vallejo hat mir soeben gesagt, dass Sie Staatsanwältin sind. Kann ich Sie einen Augenblick unter vier Augen sprechen? Ich bräuchte Ihren Rat. Würde es Ihnen etwas 13
ausmachen, Mr. Tyler?« Dieses Mal ermahnte uns kein Aufseher, als Thibodaux mit mir zur Plattform hinaufging, das Seil zwischen den beiden Eingangssäulen des Tempels entfernte und unter den ruhigen Torbogen trat.
»Sie sind Abteilungsleiterin bei der Bezirksstaatsanwaltschaft? Ich brauche Ihre Hilfe, da ich es heute Abend mit der Polizei zu tun habe.«
»Hier, im Museum?«
»Nein, in einem Frachthafen. Ich werde ein paar Sätze sagen, um den Abend zu beenden, und alle nach Hause schicken. Wir verzichten auf die pyrotechnische Präsentation von UniQuest Productions. Das Letzte, was wir morgen brauchen können, sind irgendwelche Negativschlagzeilen in Zusammenhang mit unserer fantastischen neuen Ausstellung.«
»Vielleicht kann ich die zuständigen –«
»Es geht um eine Ladung von Ausstellungsstücken fürs Ausland. Das ist für uns absolute Routinesache. Es werden die ganze Zeit Kisten ins Ausland versandt oder von dort angeliefert. Austausch mit anderen Museen, Objekte, die wir aus der Sammlung entfernt haben oder an ausländische Einrichtungen ausleihen. Das kommt andauernd vor.«
»Ich bezweifle, dass ich Ihnen da weiterhelfen kann. Wenn Sie ein zolltechnisches Problem –«
Thibodaux ließ sich von meinem Einwand nicht beirren.
»Was normalerweise nicht vorkommt, ist, dass einer der alten Sarkophage zur Inspektion geöffnet wird. Aber genau das ist vor ein paar Stunden passiert. In dem Sarg sollte sich eine mumifizierte Prinzessin befinden, Ms. Cooper. Zwölfte Dynastie, Mittleres Reich. Ein paar tausend Jahre alt und ziemlich wertvoll. Stattdessen liegt in dem Sarg eine Leiche. Zweifelsohne einige Jahrhunderte jünger als meine Prinzessin, aber genauso tot.«
14
2
Rostfarbene Stahlcontainer, jeder von der Größe eines Güter-wagens, stapelten sich auf dem riesigen Areal des dunklen Frachthafens, so weit das Auge reichte. Pierre Thibodauxs Limousine wurde am Tor von einem Nachtwächter aufgehalten, der uns mit seiner Taschenlampe ins Gesicht leuchtete. Thibodaux’ französischer Akzent entging dem müden Mann vom Sicherheitsdienst, dessen Schicht wahrscheinlich um Mitternacht zu Ende war.
»Was sagten Sie?«
»Wir sind hier, um uns mit einigen Leuten vom Metropolitan Museum zu treffen, irgendwo in –«
Ich beugte mich vor, klappte meine Lederbrieftasche auf und hielt dem Mann meine goldblaue Dienstmarke unter die Nase.
»Ich bin Alexandra Cooper, Bezirksstaatsanwaltschaft. Wir werden auf dem Gelände von einigen Detectives erwartet.«
Ich sah auf die Rückseite des Programmheftchens, wo ich mir den Treffpunkt notiert hatte, als ich vor einer Viertelstunde von meinem Handy aus mit Mike Chapman telefoniert hatte. »Sie sind in Abschnitt G-acht. Wo ist das?«
Der Mann drückte auf den Knopf, der den Maschendraht-zaun öffnete, und wies uns mit der anderen Hand, in der er ei-ne Zigarette hielt, die Richtung. »Ein paar hundert Meter nach links. Dann rechts hinter den Tropicana-Containern. Die gro-
ßen Orangen drauf sind nicht zu übersehen. Ihre Cops sind schon dort.«
Die Tatsache, dass der Frachthafen auf der anderen Seite des Flusses in Newark, New Jersey, lag, hatte Chapman nicht im Geringsten abgeschreckt. Da das Grundstück der Aufsicht der Hafenbehörde von New York und New Jersey unterstand, hielt 15
er es für einen Versuch wert, sich die Sache mal anzusehen.
Etwaige Bedenken, dass meine New Yorker Dienstmarke uns keinen Zutritt verschaffen würde, waren von kurzer Dauer gewesen.
Die Lincoln-Limousine glitt wie ein Schwan zwischen den riesigen, sperrigen Metallcontainern hindurch, die geduldig darauf warteten, an unzählige Orte in aller Welt verschifft zu werden. Sie blieb zwischen zwei Containern hinter einem Sat-telschlepperanhänger stehen, in dessen Inneres eine Rampe hinaufführte.
Thibodaux war ausgestiegen, noch ehe der Chauffeur den Motor abgestellt hatte. Ich sah, wie Mike auf den Direktor zuging und sich vorstellte, bevor er zum Auto kam, um mir beim Aussteigen behilflich zu sein.
»Kommt Lon Chaney auch, oder können wir anfangen?«
Er nahm meine Hand, und ich kletterte aus dem Auto auf den Kies, froh, dass ich meinen schwarzen Seidenhosenanzug an-hatte und nicht das Abendkleid, das sich Nina ausgeliehen hatte. Ich hatte sie und Jake zum Abendessen geschickt, nachdem ich Mike zu Hause angerufen und ihn gebeten hatte, mich hier zu treffen.
»Wer ist der Franzmann?«
»Der neue Direktor des Metropolitan Museum of Art. Er erhielt den Anruf während eines Empfangs heute Abend. Als er erfuhr, dass man eine Leiche gefunden hatte, fragte er mich um Rat. Es hat eine Weile gedauert, bis er kapiert hat, dass er es sich nicht aussuchen kann, ob er den Leichenfund meldet oder nicht. Er hofft, dass diese Geschichte nicht an die große Glocke gehängt wird.« Ich schüttelte den Kopf.
»Cleopatras Tiefschlaf im Hafen von Newark? Das ist den Boulevardblättern wahrscheinlich nur acht oder neun Tage Schlagzeilen wert.«
16
»Wer ist noch hier, außer dir und Lenny?«
»Die zwei Anzugträger sind Museumsfritzen. Sie haben kurz vor sechs den Anruf des Lastwagenfahrers erhalten. Sie kamen hierher, um es sich zuerst selbst anzusehen, bevor sie den Boss einschalteten. Der Lastwagenfahrer sitzt in seiner Kabine, mampft an seinem Sandwich und hört sich das Baseballspiel im Radio an. Zusätzliche Innings, Yanks und Red Sox, unent-schieden nach dem zehnten Inning. Dein Liebling Pettitte hat in den ersten sieben Innings großartig gepitcht. Joe hätte ihn nicht rausnehmen sollen. Die zwei Quadratmarken dort gehören zum privaten Sicherheitsdienst des Hafens. Ihr Hund hat die Leiche erschnüffelt.«
»Quadratmarken« war Polizeislang für ziviles Wachpersonal, das von Privatunternehmen, von Einkaufszentren bis hin zu Schiffswerften, angeheuert wurde.
»Wo ist sie?«
Mike, der mit dem Rücken zum Lastwagen stand, zeigte mit dem Daumen über die Schulter.
»Die Rampe hinauf. Sie ruht friedlich in der Obhut von TriState Transit.«
»Nicht entladen?«
»Nein. Normalerweise werden die Trucks abgeladen, sobald sie auf das Hafengelände fahren. Die meisten Gegenstände sind in Holzkisten verpackt, mit Etiketten versehen und fertig für den Transport nach Übersee. Die Kisten werden entladen und dann mit einer Winde in Container gehievt, diese werden dann wiederum auf die Frachter verladen. Der ganze Ort hier sieht aus wie meine Spielzeugeisenbahn auf Steroiden.«
Ich sah mich um. Riesige Container, so weit das Auge reichte.
»Sobald die Sachen entladen sind, lässt der Sicherheitsdienst die Hunde daran schnüffeln, sowohl an den ein- als auch an 17
den ausgehenden Waren. Sie suchen nach Drogen oder Leichen. In den neunziger Jahren kam es hier draußen zu einer peinlichen Anzahl an Vorfällen. Ein paar kluge Kerlchen be-nutzten den Hafen als großzügiges Kokainlager und verschiff-ten das Zeug von hier nach Europa.«
»Was ist mit der Polizei von New Jersey? Den Cops der Hafenbehörde?«
»Sind noch nicht eingeschaltet worden. Deshalb sind ja die Quadratmarken da. Die Spediteure einigten sich auf einen Kompromiss: Die Besitzer dieser Lagerabschnitte würden ihre eigenen Wachmannschaften anheuern und die Cops nur im Fall eines Verbrechens rufen.«
»Ich glaube, ich empfange hier gemischte Signale. Thibodaux glaubt, dass in dem Sarkophag eine Leiche liegt, die nicht dort hineingehört. Deshalb habe ich dich angerufen und gebeten, hierher zu kommen. Liegt da nicht ein Verbrechen vor?«
»Lucky Pierre hat vielleicht Recht. Aber die Dödel, die Cleo gefunden haben, haben zu viele Mumienfilme gesehen. Fluch der Pharaonen und den ganzen Scheiß. Sie haben die Kiste aufgebrochen, aber der Sargdeckel war so schwer, dass sie ihn kaum bewegen konnten. Sogar zu viert konnten sie ihn nur ein paar Zentimeter hochheben. Sie hatten erwartet, einen Berg weißes Pulver zu finden, aber dann hat einer von ihnen durch ein paar Leinenfetzen hindurch einen Kopf gesehen. Hat den Deckel so schnell fallen lassen, dass ich überrascht bin, dass er nicht in tausend Stücke zersprungen ist.«
»Also hat sich keiner die Mühe gemacht, die Behörden in Jersey zu kontaktieren?«
»Sie haben Angst, die Kiste wieder aufzumachen. Sie glauben, dass sie dasselbe Schicksal wie Lord Carnavon ereilt, wenn es sich tatsächlich als eine Mumie entpuppt und sie sie stören. Sie haben das Museum angerufen und sind mit dem Ku-18
rator für ägyptische Kunst verbunden worden. Das ist der gro-
ße, glatzköpfige Kerl da, der sich gerade mit deinem Kumpel Pierre unterhält. Die gemieteten Cops haben ihm gesagt, dass er besser selbst seinen Hintern hier rüberschaffen soll, um sich anzusehen, warum die Hunde angeschlagen haben.«
»Und der andere dort im Anzug?«
»Der Untersetzte in der Mitte ist der Leiter der Versandabteilung. Er ist verantwortlich für die ganze Ladung, die auf dem Truck war. Die beiden haben ganz schön Muffensausen. So viel Aufregung hat’s in keinem Museum mehr gegeben, seit sich Murf the Surf mit den Kronjuwelen aus dem Staub gemacht hat.«
»Warum ist sie noch immer auf dem Truck?«
»Wenn man die Trucks so weit entladen hat, dass die Kisten nur noch in Zweierreihen im Laderaum sind, gehen sie mit den Hunden die Rampe rauf und lassen sie herumschnüffeln, bevor sie den Rest ausladen. Das spart Zeit und Ärger für den Fall, dass sie einen Lastwagen oder ein Schiff beschlagnahmen beziehungsweise etwas zum Herkunftsort zurückschicken müssen. Rin Tin Tin hatte Schaum vorm Mund, als er die Kiste mit der Leiche fand.«
Pierre Thibodaux nahm dem Leiter der Versandabteilung ein Blatt Papier aus der Hand und kam zu uns herüber. »Ich verstehe nicht, wie das passieren konnte, Mr. Chapman. Wie Sie sich vorstellen können, verfügt das Met über ein hochmodernes Sicherheitssystem. Gemälde und Skulpturen im Wert von Milliarden von Dollar, unbezahlbare Meisterwerke. Es ist … es ist unvorstellbar.«
»Nun mal langsam. Eins nach dem anderen. Ist das Ihr Sattel-schlepperanhänger?«
Thibodaux sah auf den Versandschein in seiner Hand und dann auf den Truck, um die Aufschrift an der Seite zu überprü-
19
fen. »Das ist einer unserer Spediteure. Wir besitzen natürlich auch selbst einige Lieferwagen, da wir ständig Sachen transportieren müssen. Aber bei größeren Mengen wie in dem Fall«, sagte er und deutete auf die Dutzende von Kisten, die bereits entladen worden waren, »vergeben wir den Auftrag an Firmen wie TriState.«
»Gängiger Spediteur«, sagte ich leise zu Mike.
»Was spielt das für eine Rolle?«
»Merk’s dir einfach, Detective. Ich erklär’s dir später.«
Mike wandte sich wieder Thibodaux zu. »Es steht also außer Frage, dass diese Lieferung heute Morgen das Met verlassen hat?«
Der Direktor reichte mir die Bescheinigung, die er dem Leiter der Versandabteilung abgenommen hatte. Mike leuchtete mit der Taschenlampe auf das zerknitterte Stück Papier, das einen Stempel mit dem heutigen Datum trug: Dienstag, 21. Mai, 10.43 Uhr.
»Stammt die ganze Ladung aus dem Museum, oder hat der Fahrer noch anderswo Kisten eingeladen?«
»Nein, wir achten aus Kostengründen ziemlich genau auf so etwas. Mr. Lissen dort, der Leiter der Abteilung, kennt die Ma-
ße der Trucks, die wir mieten. Und er hat die Abmessungen von den Lagerabschnitten. Er versucht, sie so voll wie möglich zu packen, damit wir etwas für unser Geld bekommen.«
»Wie inventarisieren Sie den Inhalt?«
»Nach einem uralten System, Mr. Chapman.« Thibodaux rieb sich die Stirn, während er ein paar Schritte zurücktrat und sich an einen Container lehnte. »Wir haben über zwei Millionen Objekte am Met, und sobald ein neues dazu kommt, erhält es eine Nummer. Eine Inventarnummer.«
»Hey, Lenny«, rief Mike dem Detective zu, mit dem er gekommen war und der sich gerade, den Notizblock gezückt, mit 20
dem Lastwagenfahrer unterhielt. »Würdest du dich in den Kittel schmeißen, die Rampe hochklettern und was für mich überprüfen?«
Thibodaux sah uns an. »Das allererste Kunstwerk, das 1870
die Sammlung des Met begründete, war ein Sarg. Ironisch, nicht wahr? Der Garland-Sarkophag. Römischer Marmor aus dem dritten Jahrhundert vor Christus. Jeder Angestellte des Museums weiß das. Objekt Nummer 70/1. Das erste Geschenk in diesem Jahr, dem Jahr unserer Gründung. Wie dem auch sei, Mr. Chapman, das ist das System. Nach 1970 werden alle vier Ziffern des Jahres genannt, gefolgt von der Reihenfolge, in der das Stück in die Sammlung kam.«
»Siehst du irgendwelche Markierungen auf der Kiste?«
Mike war zum Fuß der Rampe gegangen. Lenny Dove, ein Kollege von Mike im Morddezernat Manhattan North, hatte einen Schutzkittel und Gummihandschuhe angezogen. Er saß in der Hocke neben der Kiste und inspizierte mit der Taschenlampe die Holzlatten, die die Wachmänner aufgebrochen hatten.
»Hier ist ein Schildchen. Mit dem Logo des Met. Darauf steht 1983/752, Kalksteinsarkophag.«
»Handgeschrieben?«
»Getippt.«
»Komm schon, Blondie. Allez hopp! Deine Stöckelschühchen lässt du besser im Auto.«
Er reichte mir einen Schutzanzug samt Hand- und Überschu-hen.
Ich zog meine Schuhe aus und kletterte hinter Mike über die Metallleiter, die an der linken Ecke des Trucks herunterhing, hinauf in den Truck. Pierre Thibodaux wollte mir folgen.
»Nicht so schnell, Mr. T. Wir rufen Sie, falls wir Sie brauchen.«
21
»Aber ich, äh, ich würde gerne wissen –«
»Geben Sie uns ein paar Minuten Zeit, in Ordnung? Es ist ja nicht gerade so, als ob das hier Besichtigungsstunden in Ihrem örtlichen Bestattungsinstitut wären. Erweisen Sie den Toten ein bisschen Respekt! Wir haben noch geschlossen.«
Thibodaux gesellte sich wieder zu seinen beiden Kollegen.
In dem Laderaum des Trucks war es stockfinster und stickig.
Mike zog Latexhandschuhe an, und er und Lenny leuchteten uns mit ihren Riesentaschenlampen den Weg zu dem freigeleg-ten Sarkophag.
»Bleib hier stehen, Coop. Es wird kein schöner Anblick sein.«
»Ich habe schon –«
»Du hast noch gar nichts, Kleines. Stell dich dort an die Seite, bis ich dich rufe.«
Ich ging ein paar Schritte zur Seite und stellte mich vor eine andere Kiste.
»Bei ›drei‹, Lenny«, sagte Mike, der sich auf derselben Seite wie Lenny neben dem Sarkophag postierte.
»Eins, zwei, drei.« Gleichzeitig versuchten sie den steinernen Sargdeckel hochzuheben. Da sie das schwere Teil nur zwei, drei Zentimeter anheben konnten, bevor sie es wieder fallen ließen, konnten sie nicht nach innen schauen. Aber das kurze Anheben hatte genügt, um einen intensiven Geruch freizuset-zen. Nicht den widerlichen Verwesungsgestank, den ich erwartet hatte, sondern einen ekelhaft süßen Parfümduft und einen bitteren, beißenden Geruch. Ich würgte. Sogar der Hund, der vor ein paar Stunden die unverkennbaren Anzeichen des Todes gerochen hatte und der jetzt ein paar Meter von dem Neunach-ser entfernt neben seinem Herrchen auf dem Boden lag, hob den Kopf und winselte.
»Wir versuchen’s mit Schieben, Lenny. Anheben und schieben.«
22
Mike war auf die andere Seite gegangen und stand jetzt dem Sergeant am entgegengesetzten Ende des Sargs gegenüber. Bei
»drei« hoben sie den Deckel gerade weit genug an, um ihn fünfzehn, zwanzig Zentimeter zur Seite schieben zu können.
Mike nahm die Taschenlampe und leuchtete ins Innere des Sargs. Ich wollte zu ihm gehen.
»Bleib stehen, Coop. Mach wieder zu, Lenny.«
Ich hatte Nase und Mund mit beiden Händen bedeckt und musste mich anstrengen, mich nicht zu übergeben. Der Hund war aufgestanden und zerrte winselnd an der Leine.
»Ich zeichne dir ein Bild, Kleines. Geh wieder runter.«
Ich kannte Mike und wusste, dass ich besser das tat, was er sagte. Ich hatte ihn hierher gebeten, um mir zu helfen, und es blieb mir nichts anderes übrig, als seinen Anordnungen Folge zu leisten.
Während ich wieder über die Leiter vom Truck herabkletter-te, sah ich, wie er sich hinkniete und mit der Taschenlampe langsam die Seitenwände des Sargs ableuchtete. Hin und wieder fuhr er mit seinen behandschuhten Händen über die Oberfläche, als würde er nach defekten Stellen suchen.
Ich ging zu Thibodaux und wartete darauf, dass Mike und Lenny mit dem Flüstern aufhörten. Innerhalb weniger Minuten zogen sie die Handschuhe aus, warfen sie neben die Kisten auf den Boden und kletterten vom Truck.
»Alles in Ordnung? Du siehst aus wie ein gestrandeter Tun-fisch, der keine Luft bekommt.«
Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich in der klaren Nachtluft wie wild nach Luft schnappte, um den üblen Geruch aus meinen Lungen zu pumpen. »Was konntest du sehen?«
»Zuerst einmal sollten Sie für den Sarg Ihr Geld zurückver-langen, Mr. T. Er ist voller Löcher. Der Hund hat heute Nachmittag auf die Flüssigkeit reagiert, die von dem Material, in das 23
die Leiche eingewickelt ist, freigesetzt wird und die durch die Ritzen dringt. Ich hielt meine Nase auf Bodenhöhe direkt dagegen und konnte rein gar nichts riechen. Aber darauf sind diese Schäferhunde abgerichtet. Auf Drogen und Leichen.«
»Also hätte der Sarg mitsamt dem Leichnam in einen Container verladen und außer Landes gebracht werden können, ohne dass es jemand gemerkt hätte?«
Mike nickte mir zu. »Wenn man den Deckel nicht beiseite schiebt, riecht nur eine professionelle Nase, was gerade erst durchzusickern beginnt.«
»Könntest du –«
»Es ist ein Leichnam, keine Frage. Und jemand hat vermutlich versucht, sie in Leinentücher einzuwickeln, damit es nach einer Mumie aussieht. Aber wir können damit nicht mitten in der Nacht hier draußen auf einem dreckigen Frachthafen unser Spiel treiben. Wir müssen die ganze Chose ins Leichenschauhaus bringen.«
»Sie? Bist du dir sicher, dass es eine Frau ist?«
»Momentan ist es nur eine Vermutung. Ihre Haare sind ein bisschen länger als deine.« Ich fasste mir unwillkürlich an meine Haare, die schlaff in den Nacken hingen. »Ein bisschen dunkler, mit einer glänzenden Silberspange. Kleiner, zierlicher Körperbau. Das ist alles, was ich heute Nacht sagen kann.«
Mike stupste mich in den Rücken, um mich von Thibodaux wegzulotsen. Wir überließen ihn Lenny Dove, der seine Büro-nummer notierte und mit ihm für den nächsten Nachmittag einen Termin verabredete.
»Wohin sollte sie verschifft werden?«
»Eine lange Kreuzfahrt. Eine schwüle Sommerreise auf hoher See zum Ägyptischen Museum in Kairo. Das Abreisedatum stand noch nicht einmal fest. Bis sie daheim in Ägypten ange-kommen wäre, wäre Cleo Suppe gewesen.«
24
»Was willst du tun?«
»Es gibt nur einen Ort, wo wir sie hinschaffen können, und das Oxymoron ›Garden State New Jersey‹ ist nicht Teil meines Plans.«
Mike und ich hatten es bei unserem letzten Fall im vergangenen Winter mit der Bezirksstaatsanwaltschaft in New Jersey zu tun gehabt. Unsere Kollegen in Jersey hatten nicht nur die Operation total vergeigt; Korruptionsvorwürfe und Inkompetenz hatten zudem noch die Ermittlungen im Mord an Lola Dakota, einer renommierten Professorin, erschwert.
»Wir sind auf der gleichen Wellenlänge, was das hier angeht, oder? Du willst die Leiche in unsere Gerichtsmedizin bringen, richtig?«, fragte ich.
»Ich kenne keinen besseren Ort. Warum sollten wir es woanders riskieren? Machst du dir Sorgen um so eine formale Spitz-findigkeit wie Zuständigkeitsbereich?« Mike grinste mich breit an. »Ich bin hier die Schönheit bei der Operation, du das Hirn.
Lass dir was einfallen, Blondie.«
»Ignorier die Tatsache, dass wir hier mitten auf einem Hafengelände in Newark, New Jersey, stehen. Battaglia sagt immer, er hätte globale Zuständigkeit.« Der Bezirksstaatsanwalt Paul Battaglia war ein Genie, wenn es darum ging, Fälle weit jenseits der New Yorker Bezirksgrenzen für sich zu beanspruchen. Er war gegen internationale Bankkartelle vorgegangen, als sich noch kein anderer Bezirksstaatsanwalt in den Vereinigten Staaten um sie gekümmert hatte, und hatte Wiedergutmachungen und Bußgelder in Millionenhöhe von Finanzinstitutionen auf der ganzen Welt erwirkt. Er mochte es, wenn man kreativ war.
»Es ist eine wunderbar klare Frühlingsnacht, und ich kann Manhattan von hier aus praktisch berühren. Strawberry Fields, Rosen in Spanisch-Harlem, die Lichter des Broadway … alles nur einen Katzensprung entfernt. Zählt das nicht?«
25
»Erwarte nicht, diese Argumentation in meinem Schriftsatz fürs Gericht wieder zu finden.«
»Ich bin bereit, dem Lastwagenfahrer zu sagen, dass er den Motor hochjagen soll. Hast du den Mumm, das durchzuziehen?«
Ich holte mein Handy aus dem Auto und hinterließ meiner Sekretärin eine Nachricht auf ihrer VoiceMail, damit sie sie morgen Früh als Erstes erhalten würde. »Hey, Laura, hier ist Alex. Könnten Sie bitte einige Kopien des Abschnitts 20/40
des Strafverfahrensrechts machen, betreffs geographischer Zu-ständigkeit? Ich brauche eine Kopie für Battaglia und mich und eine für McKinney.«
»Cleo war nie wirklich im Staate New Jersey, oder? Sie hat den Laderaum des Trucks nicht verlassen und nie ihren Fuß auf Jersey-Boden gesetzt.«
»Und der Truck ist ein gängiger Spediteur, Mr. Chapman.
Wenn es sich um Mord handelt, kann er in jedem Bezirk, den der Lastwagen durchquert hat, strafrechtlich verfolgt werden.
Wir wissen nicht, wie lange unser Opfer schon tot ist, oder?«
»Nun, ich könnte eine fundierte Vermutung –«
»Ich bitte dich, das nicht zu tun. Im Moment gehe ich in gutem Glauben davon aus, dass sie entweder auf der Tenth Avenue auf dem Weg zum Lincoln-Tunnel oder vor der Auffahrt zur George-Washington-Brücke gestorben ist. So oder so fällt es in unseren Zuständigkeitsbereich. Sobald ein forensischer Pathologe den exakten Todeszeitpunkt festgestellt hat, wissen wir wahrscheinlich genauer, wo sie gewesen war, als sie ermordet wurde, aber zum jetzigen Zeitpunkt will ich das gar nicht wissen.«
»Sie wird mit großer Wahrscheinlichkeit eine professionelle-re Obduktion und bessere Aussichten auf eine erfolgreiche Strafverfolgung haben, wenn wir sie nach Manhattan schaffen.
Lass uns den Lastwagen wieder auf die Straße bringen und es 26
dem Gerichtsmediziner erklären. Ich komme morgen Vormittag in dein Büro, nachdem du mit Battaglia gesprochen hast.
Lass dich von Thibodaux sicher nach Hause bringen.«
»Werdet ihr hinter dem Lastwagen herfahren?«, fragte ich Mike. »Ich glaube, ich bin drauf und dran, meine erste Leiche zu entführen.«
27
3
Ich schloss die Tür zu meiner Wohnung auf und ging in die Küche, ohne das Licht einzuschalten. Ich hielt ein Glas unter die Eismaschine und ließ vier oder fünf Eiswürfel hineinfallen.
Die Karaffe auf der Bar war von meiner Haushälterin aufgefüllt worden, und ich lauschte, wie der Dewar’s, den ich mir einschenkte, die Eiswürfel knackte und an die Oberfläche trieb.
Ich presste das kühle Glas einige Sekunden gegen die Stirn, bevor ich den ersten Schluck nahm.
Auf dem Weg ins Badezimmer nahm ich meine Uhr ab und legte sie auf die Frisierkommode. Es war fast zwei Uhr morgens, und ich musste vor acht Uhr im Büro sein, um einem Detective mit einer Klägerin zu helfen, deren Geschichte keinen Sinn machte. Ich zog meinen zerknitterten Anzug aus und hängte ihn über die Rückenlehne eines Stuhls. Er würde nach der Reinigung wahrscheinlich in den Secondhandladen wandern, da ich mir kaum vorstellen konnte, ihn jemals wiedersehen zu wollen. Ich würde ihn nie tragen können, ohne an die Leiche in dem Sarg auf dem Lastwagen zu denken.
Ich drehte das Wasser auf und wartete, bis der Spiegel be-schlagen war, damit ich mich nicht ansehen musste. Dazu war ich zu müde. Meine Augenringe waren so zahlreich wie die Jahresringe der ältesten Mammutbäume. Ich öffnete das Bade-schränkchen, um ein Duschöl mit beruhigender Wirkung zu suchen. Ich schob das Rosmarin- und Lavendelöl beiseite und las das Etikett auf dem Kamillebad. Nina Baum und Joan Stafford, meine besten Freundinnen, wüssten, was das Richtige wä-
re. Wie ich mich kannte, würde ich mich dick mit etwas Auf-munterndem einseifen.
Nachdem ich geduscht und meine Haare gewaschen hatte, 28
ging ich, noch während ich mich abtrocknete, mit meinem Drink ins Schlafzimmer. Der Wecker war bereits für halb sieben gestellt, also schlug ich das weiche Baumwolllaken zurück, setzte mich ins Bett und genoss das kühle Dunkel des Raums.
Eine Hand strich mir unter der Bettdecke über den Oberschenkel. Ich drehte den Kopf und sah Jakes dunklen Haarschopf auf dem blassgelben Kopfkissenüberzug. »Glatter Marmorschliff, perfekt geformt. Das muss die Venus von Milo sein.«
Ich rollte mich zur Seite, strich ihm über den Kopf und küsste ihn aufs Ohr. »Falsches Museum, falscher Kontinent, falsche Frau. Die hier hat Arme.« Ich fuhr ihm mit der Hand über den Rücken.
Er setzte sich auf und schaltete das Licht ein.
»Bitte nicht! Das Licht, meine ich. Ich möchte mich nur ein paar Minuten entspannen. Das ist eine schöne Überraschung.«
Ich streichelte seinen Oberschenkel.
Wir hatten um Neujahr herum ein paar Wochen lang versucht, in Jakes Wohnung zusammenzuwohnen, aber ich hatte es emotional als zu schwierig empfunden, meine Unabhängig-keit aufzugeben. Ich war in Jake verliebt, aber noch nicht bereit, mich auf Dauer zu binden, solange wir beide beruflich so engagiert waren. Er war oft lange und unregelmäßig auf Dienstreisen unterwegs, und mein Beruf erforderte so viel Einsatz, dass es schwer war, für ihn da zu sein, wenn er gerade nicht an einer Story arbeitete. Ich brauchte den künstlichen Kompromiss einer Wohnung nicht, um ihm treu zu sein.
Jake rollte auf die Seite und schlang ein Bein um mich. Er nahm mein Kinn in die Hand, drehte mein Gesicht zu sich und küsste mich so lange auf den Mund, bis ich seine Zärtlichkeiten erwiderte. Ich legte meinen Kopf auf das Kissen, und er spielte mit den nassen Löckchen, die mein Gesicht umrahmten.
29
»Als du nach einer Stunde noch immer nicht angerufen hattest, dachten Nina und ich, dass sie die Nachricht, die man Thibodaux auf dem Empfang überbracht hatte, richtig verstanden hatte. Eine Frau ist tot, richtig?«
Ich nickte und griff nach meinem Scotch.
»Irgendwo downtown, sagte Nina.«
»Newark. Mike hat sie in die Gerichtsmedizin gebracht. Wir werden morgen mehr wissen. Ich bin noch ganz aufgedreht, weil ich gerade vom Hafengelände komme. Du sollst mich beruhigen und ablenken. Ist das nicht der Grund, weswegen du hier bist?« Ich rutschte nach unten und schlang meine Arme um Jake.
»Ich bin hauptsächlich hier, damit du dir nicht die ganze Nacht Sorgen machst, dass mich die alte Dame mit den vielen Klunkern verführt hat. Du warst kaum weg, da hängte sie sich wieder an mich. Ihr Name ist Ruth Gerst.«
»Ist sie wirklich Mitglied des Kuratoriums des Met?«
»Ganz sicher. Sie spielt mit dem Gedanken, dem Museum die gesamte Sammlung griechischer und römischer Skulpturen ihres verstorbenen Ehemanns zu schenken. Sie möchte, dass ich sie mal in ihrem Landhaus in Greenwich besuchen komme, um sie mir anzusehen.«
»Wo war Nina, als ich sie gebraucht hätte?«
»Quentin machte sie schier verrückt. Er war wütend, dass Thibodaux das Feuerwerk abgesagt hatte. Scheinbar hatte er ein Highlights-Special an einen der Kabelsender verkauft, und jetzt fehlt ihm das große Finale. Nina und ich retteten uns schließlich gegenseitig mit einem wunderbaren Abendessen, und ich konnte sie gnadenlos darüber ausfragen, was ihr zwei früher zusammen angestellt habt. Ich hab sie ins Hotel gebracht.«
»Immerhin kann sie ausschlafen und hat am Morgen Zimmerservice. Im Gegensatz zu uns.«
30
»Ich war mir nicht sicher, ob du dich freuen würdest, dass ich hier bin. Ich weiß, dass deine Verfolgerin schon seit Monaten Ruhe gibt, aber ich wollte nicht, dass du heute Nacht allein bist.«
»Sosehr ich sie auch niemand anderem an den Hals wünsche, aber sie hat offensichtlich ein neues Opfer gefunden.«
Eine Zeugin von einem alten Fall hatte mich den ganzen Winter über belästigt. Sie tauchte von Zeit zu Zeit in meiner Lobby auf, ohne dass es den Portiers und Polizisten bisher gelungen war, ihrer habhaft zu werden. »Sie hat sich seit Ewigkei-ten nicht mehr blicken lassen. Vielleicht haben ihre Eltern sie doch noch eingewiesen.«
»Schsch, denk jetzt nicht an sie. Denk an gar nichts.« Jakes Mund glitt über meinen Hals zu meinem Schlüsselbein und dann zu meiner linken Brust. »Nein, nicht Venus. Das ist eindeutig kein Marmor.«
Er blickte zu mir auf und sah, dass meine Augen weit geöffnet waren. »Es gelingt mir nicht, dich abzulenken, nicht wahr?
Ich weiß, ich weiß. Du kannst nicht mit mir schlafen, nach dem, was du heute Nacht gesehen hast. Komm her.«
Er legte sich auf den Rücken, nahm mich in den Arm und drückte mich fest an sich. »Mach die Augen zu, Liebling. Denk an was anderes! Such dir einen Ort aus, irgendwo auf der Welt!
Wir können Ende nächsten Monats einen Urlaub planen. Irgendwo, wo es türkisblaues Wasser gibt, keine Polizei und wo täglich um die Mittagszeit komische Drinks mit kleinen Papier-schirmchen drin auftauchen.«
Ich nahm seine Hand und drückte sie an meine Lippen. »Gute Nacht, Jake. Ich bin froh, dass du hier bist. Das bedeutet mir mehr, als ich sagen kann.«
Ich sah ihn an, während ihm die Augen zufielen und er sich in eine bequeme Schlafposition zu bringen versuchte. Ich 31
wusste, wie viel Glück ich hatte, einen Partner zu haben, der Verständnis für meine anspruchsvolle Arbeit hatte. Die meisten meiner Freunde und Bekannten wunderten sich über meine Be-rufswahl, aber Jake verstand, welch große emotionale Befrie-digung ich aus meinem Job zog.
In Nächten wie diesen musste ich selbst immer nachdenken, was mich auf einen so ungewöhnlichen Beruf vorbereitet hatte.
Ich war in einer bürgerlichen, äußerst privilegierten und starken Familie aufgewachsen. Meine beiden älteren Brüder und ich waren noch klein gewesen, als mein Vater, Benjamin Cooper, zusammen mit seinem Partner mittels einer genialen Er-findung das Feld der Herzchirurgie revolutioniert hatte. Die Cooper-Hoffman-Klappe, ein winziges Plastikröhrchen, war über fünfzehn Jahre lang nach ihrer Einführung ein entscheidender Bestandteil bei jeder Herzoperation im Land gewesen.
Dennoch blieben er und meine Mutter mit beiden Beinen auf der Erde, zogen uns drei in einem Vorort in Westchester County auf und legten großen Wert auf eine hervorragende Schul-bildung und gesellschaftliches Engagement.
Nach meinem Studium am Wellesley College, wo mein Hauptfach Anglistik gewesen war, hatte ich sie überrascht, als ich an die Universität von Virginia ging, um Jura zu studieren.
Danach wollte ich eine Zeit lang in der besten Bezirksstaatsanwaltschaft des Landes arbeiten, unter der Leitung eines Bezirksstaatsanwalts, dessen Integrität legendär war. Ich wollte ursprünglich nur ein paar Jahre bleiben und dann in eine Pri-vatkanzlei wechseln, aber Paul Battaglias innovative Ansätze zur Verbrechensbekämpfung verhalfen mir zu einer einzigartigen Position innerhalb der Anwaltsgemeinde.
Battaglias Behörde hatte als erste eine spezielle Abteilung für Gewaltverbrechen gegen Frauen und Kinder eingerichtet. Jahrzehntelang hatte man Opfern sexueller Gewalt den Zugang zu 32
Gerichten verwehrt und Vergewaltigungen und Fälle von Missbrauch anders als andere Verbrechen behandelt. Auf Grund von Mythen und Missdeutungen in der Gesetzgebung, die die Vereinigten Staaten vom britischen Common Law adap-tiert hatte, war die Aussage einer Frau juristisch nicht ausreichend, um ihren Fall vor Gericht zu bringen. Die Gesetzge-bungsreformen der sechziger und siebziger Jahre resultierten jedoch in der Bildung von speziellen Einheiten bei Polizei und Staatsanwaltschaft, in neuen Beweissammlungstechniken und fortwährenden Anstrengungen, um Verbesserungen im Straf-rechtssystem zu erwirken. Niemand hatte diese Veränderungen unerschrockener umgesetzt als Paul Battaglia.
Ich war vor zwölf Jahren Mitglied seiner Anwaltsriege geworden und befördert worden, diese spezielle Einheit zu leiten.
Als ich das erste Mal eine Vergewaltigung vor den Geschworenen verhandelte, waren meine drei Lieblingsbuchstaben des Alphabets – DNA – trotz der ein paar Jahre zuvor erfolgten Sequenzierung noch nicht weit genug entwickelt beziehungsweise in Wissenschaftler- und Anwaltskreisen noch nicht ausreichend akzeptiert, um die forensischen Resultate zu liefern, die für die Opfer so entscheidend waren. Heutzutage machten wir nicht nur täglich davon Gebrauch, um Männer zu entlasten, die fälschlicherweise eines Verbrechens angeklagt worden waren, sondern wir errangen Erfolge bei der Verfolgung von Mord- und Sexualdelikten, die noch vor einem Jahrzehnt un-möglich gewesen wären.
Diese Erfolge, diese Tage, an denen es uns gelang, einem Gewaltopfer Gerechtigkeit zuteil werden zu lassen, machten jeden Augenblick dieses Jobs für mich und meine Kollegen zu einer Freude. Solche Erfolgserlebnisse wogen schwerer als ein Abend wie dieser, wenn der Verlust eines Menschenlebens all unsere gute Arbeit schier zu überwältigen schien.
33
Jake rührte sich und drehte sich wieder auf die Seite.
»Du schreibst doch nicht etwa schon das Schlussplädoyer in dem Prozess über die Leiche, die ihr heute Nacht gefunden habt? Du hast noch keinen Angeklagten. Komm schon, Alex.
Mach Schluss für heute.«
Ich schloss die Augen und kuschelte mich an ihn.
»Hast du Newark gesagt?«
»Newark was?«
»Als ich dich vor ein paar Minuten gefragt habe, ob du mit Thibodaux downtown gefahren bist, um euch die Leiche anzusehen, hast du da gesagt, dass ihr in Newark gewesen seid?«
»Ja«, murmelte ich schläfrig.
»Also in welches Leichenschauhaus bringt Mike die Leiche?«
»Unseres.«
»Wie hast du die Leiche von Jersey hier rübergebracht?«
»Ich hab sie gestohlen.«
»Nein, im Ernst.«
»Das ist mein Ernst.«
Ich hatte es mir gerade bequem gemacht, als sich Jake wieder auf einen Ellbogen stützte. »Hast du die Story schon jemandem gegeben?«
»Mach dich nicht lächerlich. Der Hals, den du geküsst hast, er ist vielleicht nicht aus Marmor, aber ich hätte gerne, dass er unversehrt bleibt. Regel Nummer eins lautet, dass ich den Bezirksstaatsanwalt über den Fall unterrichten muss, bevor irgendjemand eine Pressemitteilung schreibt. Das weißt du doch.«
Ich kannte niemanden, der besser mit den Medien umzugehen wusste als Paul Battaglia. Er war klug genug, um von Reportern Gefälligkeiten in Form von Informationen und anonymen Quellen einzufordern, und er wusste, wie er sich durch das sorgfältige Timing und Veröffentlichen einer Story revanchie-34
ren konnte. Oder durch einen Exklusivbericht, falls es das Thema hergab. Das hier musste er entscheiden.
»Du denkst, dass sich diese Geschichte nicht herumsprechen wird?«
»Fürs Erste nicht. Es liegt nicht in Thibodaux’ Interesse, ein Gerücht in Umlauf zu bringen, wonach eine junge Frau auf ihrem Weg aus dem Museum den Weg aller Sterblichen ging, falls das der Fall ist. Niemand weiß, wer sie ist oder wo und wie sie gestorben ist. Und Mike Chapman hasst die Presse –
wie jeder in seinem Dezernat. Die Medien erschweren ihnen nur die Arbeit, vor allem in einem skandalträchtigen Fall. Und ich bin so vernünftig, die Sache bei Paul Battaglia abzuladen.
Ganz zu schweigen davon, dass ich jetzt todmüde bin. Können wir morgen darüber reden?«
»Aber davon rede ich, Liebling. Ich bin zum Frühstück mit Brian Williams verabredet.« Jake vertrat Williams hin und wieder als Anchor in den Abendnachrichten, und sie waren gu-te Freunde geworden.
»Vergiss es!«
»Ich würde nie ohne deine Erlaubnis mit jemandem über deine Fälle sprechen. Das weißt du. Aber dieser hier wird innerhalb von vierundzwanzig Stunden publik sein. Eine Tote in einem antiken Sarkophag aus einem der größten Kunstmuseen Amerikas, dazu noch eine umstrittene Staatsanwältin, die die Leiche aus ihrem Zuständigkeitsbereich entwendet hat – so ei-ne Story lässt sich nicht geheim halten.
Wir werden es geschmackvoll tun, Liebling. Es könnte unser Aufmacher sein.«
»Spar dir das Liebling für ein andermal, ja? Wenn du jemandem davon erzählst, dann schwör ich dir, dass ich nie wieder auch nur ein Wort mit dir reden werde.« Ich zog mir die dünne Decke über den Kopf, um die Unterhaltung zu beenden.
35
Nicht genug, dass der Sarg Risse bekommen hatte. Jetzt musste ich mir auch noch über undichte Stellen in meinem eigenen Schlafzimmer Gedanken machen.
36
4
»Ich wäre gerne dabei, wenn Sie meine Tochter vernehmen, Madam.«
»Ich werde alle Ihre Fragen beantworten, Mrs. Alfieri, sobald ich mit Angel fertig bin. Bis dahin möchte ich Sie bitten, im Warteraum Platz zu nehmen. Ich gebe Ihnen eine Zeitung zum Lesen. Der Detective und ich müssen allein mit ihr sprechen.«
»Aber sie ist erst vierzehn. Ich habe ein Recht –«
Irgendwie hatte jeder eine lange Liste an Rechten, die ich nirgendwo in der Verfassung finden konnte. »Wir bereiten Ihre Tochter auf ihre Aussage vor der Grand Jury vor. Letzteres ist das, was wir Anwälte ein nicht öffentliches Verfahren nennen.
Abgesehen von den Geschworenen und dem Protokollführer werde ich die einzige Person sein, die mit Angel im Raum ist.
Ich muss sie daran gewöhnen, mir zu erzählen, was passiert ist, ohne dass Sie ihr das Händchen halten.«
Sie sah mich stirnrunzelnd an und watschelte hinter Detective Vandomir den Gang hinunter. Ich wartete vor meiner Bürotür auf ihn. »Gut gemacht«, sagte er. »Ich konnte sie letzte Nacht nicht loswerden.«
»Meine erste Faustregel im Umgang mit einer unehrlichen Zeugin: Schaff dir die Mutter, den Freund, die Schwester vom Hals! Egal wie, Hauptsache, es funktioniert. Wenn sie vor jemandem, dem sie nahe stehen, zugeben sollen, dass sie gelogen haben, erfährt man nie die Wahrheit. Wie weit sind Sie mit ihr?«
»Die Mutter arbeitet für einen dieser Expressdienste. Zehn Uhr abends bis vier Uhr morgens, fünfmal die Woche. Der Exmann lebt in Florida. Angel und ihre zwei kleinen Brüder sind also allein zu Hause. Der Täter ist ein livrierter Chauffeur, 37
der Angel vor etwa einem Monat vom Krankenhaus abholte, wo sie ihre Großmutter nach einer schweren Operation besucht hat. Sie sagt, dass er letzte Nacht plötzlich vor der Tür stand, sie mit gezücktem Messer die Treppe hinauf in ihr Zimmer zwang und sie vergewaltigte.«
»Haben ihre Brüder irgendetwas gehört?«
»Sie schliefen im Nebenzimmer, Wand an Wand. Keinen Pieps.«
»Wann hat sie es gemeldet?«
»Sofort. Das spricht für sie. Sie rief kurz nach Mitternacht den Notruf an, ein paar Minuten nachdem er laut ihrer Aussage gegangen war.«
»Medizinische Untersuchung?«
»Ohne Beweiskraft. Sie sagt, dass er nicht ejakuliert hat, also gibt es kein Sperma. Keine Möglichkeit, eine DNA-Analyse zu machen. Außerdem ist sie sexuell aktiv. Drei Partner.«
»Ein netter kleiner Engel.«
»Ja, sie hat bereits eine Chlamydien-Infektion. Darüber weiß die Mutter auch nicht Bescheid.«
»Erzählen Sie mir von dem Täter.«
»Ein richtiger Kotzbrocken. Achtundvierzig Jahre alt, ein Haufen Festnahmen wegen Drogenbesitzes, Autodiebstahls, Einbrüchen. Aber keine Vergewaltigung. Nichts Gewalttätiges.
In seinem Auto liegen haufenweise Kinderpornozeitschriften und Kondomhüllen auf dem Boden. Kein Messer.«
»Wie ist seine Version?«
»Fängt genauso an. Er holte sie vom Metropolitan Hospital ab. Sie waren noch nicht einmal auf Höhe der Hundertzehnten Straße, da saß sie schon auf dem Vordersitz und schrieb ihm ihre Piepernummer auf, damit er sie am nächsten Tag in der Schule anfunken könnte. Er hat sie ein paar Mal nach dem Unterricht abgeholt und sie und ihre Freundinnen herumkut-38
schiert. Ein- oder zweimal Oralverkehr auf dem Rücksitz. Er hat sogar mal mit Angel und einem der anderen Engelchen einen flotten Dreier gemacht. Er sagt, sie hat ihn eingeladen, Montagnacht zu ihr zu kommen, nachdem ihre Mutter zur Arbeit gegangen war.«
»Hast du ihr von seiner Version erzählt?«
»Ja. Sie streitet es ab. Sie sagt, er kannte ihre Adresse nur von dem einen Mal, als er sie vom Krankenhaus nach Hause gefahren hat. Er hat ihr seine Karte mit seiner Handynummer gegeben, für den Fall, dass sie ihn wieder mal bräuchte. So haben wir ihn auch geschnappt. Ich rief ihn an, damit er mich vor dem Deli neben unserem Dezernat abholt, dann bat ich ihn nach drinnen, um meine Verhaftungsquote für den Monat anzuheben.«
»Weiß sie, dass wir ihre Pieperinformationen und seine Han-dyrechnungen bekommen können?«
»Ich weiß nicht, ob sie das wirklich registriert hat. Sie schien nicht zu begreifen, dass heutzutage alles computerisiert ist. Ich habe ihr erklärt, dass er jedes Mal, wenn er sie angepiept oder angerufen hat, eine Art Fingerabdruck hinterlassen hat. Ich bin mir nicht sicher, ob sie mir glaubt.«
»Oder glauben will. Dann wollen wir mal.« Ich drehte den Türknauf und ging in mein Büro, wo Angel auf uns wartete.
Sie klappte den kleinen Schminkspiegel zu, in dem sie sich betrachtet hatte, lächelte Vandomir an und trug noch ein fruch-tig duftendes Lipgloss auf. Dann zog sie an den Trägern ihres grellgelben Tanktops, sodass sich das Wort Gangsta, das mit Strasssteinen auf ihr T-Shirt geklebt war, von einer Brustwarze zur anderen dehnte.
»Angel, das ist Ms. Cooper, die Anwältin, von der ich dir er-zählt habe. Sie wird sich um deinen Fall kümmern. Sie hat noch einige Fragen an dich.«
»Du weißt, warum du heute hier bist, Angel?«
39
»Nicht wirklich. Ich hab ihm alles gesagt, was passiert ist.«
Sie nickte in Vandomirs Richtung. »Ich weiß nicht, warum ich alles noch mal erklären muss. Sie sollten Felix einfach ein-buchten, damit er so was nie wieder jemandem antut.«
»Um das tun zu können, müssen wir herausfinden, was genau er getan hat. Ich werde dir dieselben Fragen stellen wie Detective Vandomir, vielleicht ein paar mehr. Und was du sagst, bleibt unter uns, verstehst du das? Wenn zwischen dir und Felix etwas vorgefallen ist, von dem du nicht willst, dass es deine Mutter erfährt, dann ist jetzt der richtige Zeitpunkt, um es mir zu sagen.«
Sie sah mich von unten herauf an, ohne den Kopf zu heben.
»Was meinen Sie damit?«
»Weißt du, was bei einer Gerichtsverhandlung passiert, Angel?«
»Ich will zu keiner Gerichtsverhandlung gehen. Ich möchte nur, dass ihn der Richter ins Gefängnis steckt.«
»So funktioniert das aber nicht. Schaust du Fernsehen?«
»Ja.«
»Hast du schon mal eine dieser Polizeiserien gesehen, in der jemandem ein Prozess gemacht wird? Weißt du, wer im Gerichtssaal ist, wenn die Klägerin ihre Aussage macht?«
»Ich. Er. Der Richter. Sie. Dann muss ich erzählen, was er mir angetan hat.«
»Und was, denkst du, macht Felix, nachdem du ausgesagt hast?«
»Ich weiß es nicht.«
»Falls er möchte, kann auch er das Wort an die Geschworenen richten. Er kann ihnen seine Version der Geschichte erzählen. Diese zwölf Leute kennen dich nicht, und sie kennen ihn nicht, also müssen sie herausfinden, wem von euch beiden sie glauben, wessen Geschichte mehr Sinn ergibt.«
»Wieso darf er auch reden?« Dieser Teil des Verfahrens 40
schien sie offensichtlich zu beunruhigen. »Er wird sowieso nicht die Wahrheit sagen. Er wird sagen, dass ich ihn zu mir nach Hause eingeladen habe.«
Angel schnalzte mit der Zunge, ihrer Missbilligung Ausdruck gebend, dass sie gerade ein Argument zu Felix’ Gunsten abge-liefert hatte, und rutschte noch tiefer in den Stuhl. Sie zog die Schultern ein, sodass das G und das a nicht mehr sichtbar waren und man nur noch das Wort angst lesen konnte.
»Ich will dir etwas sagen, was das Lügen vor Gericht angeht.
Hat dir der Detective gesagt, dass das auch ein Verbrechen ist?
Dass du verhaftet werden kannst, wenn du unter Eid im Zeu-genstand lügst?«
»Felix hat mich vergewaltigt. Das ist keine Lüge. Sie können mich wegen nichts verhaften. Ich bin zu jung.« Sie hörte kurz auf zu schmollen, als ihr der Gedanke, dass ihr Alter sie beschützen würde, vorübergehend Mut machte.
Stell mich nicht auf die Probe, Angel. »Wir können dich sehr wohl verhaften. Dein Fall wird beim Familiengericht verhandelt werden, weil du noch nicht sechzehn bist. Aber die Richterin kann dich deiner Mutter wegnehmen und dich nach Upstate New York zu Pflegeeltern geben –«
Jetzt horchte sie auf. »Ich will das jetzt nicht tun. Ich will nach Hause.«
»Ich befürchte, diese Wahl hast du nicht. Ein Mann ist verhaftet worden auf Grund der Geschichte, die du Detective Vandomir erzählt hast. Er ist seit zwei Tagen im Gefängnis, angeklagt der schlimmsten Sache, die ein Mensch einem anderen Menschen antun kann, abgesehen von Mord. Und dort ge-hört er auch hin, dort gehört er für eine sehr lange Zeit hin, falls er dich mit einem Messer bedroht und vergewaltigt hat.
Also werden wir deine Aussage jetzt noch einmal durchgehen.
Es gibt nur eines, was du von jetzt an falsch machen kannst.«
41
»Was ist das?«
»Lügen. Du darfst nicht lügen, Angel. Über nichts. Egal, wie unbedeutend dir die Frage erscheint, egal, um was es geht, du darfst nicht lügen. Wenn ich dich frage, ob an dem Tag, an dem du Felix kennen gelernt hast, die Sonne schien oder ob es regnete, musst du mir die Wahrheit sagen.«
»Was hat das mit meiner Vergewaltigung zu tun?«
»Alles, was du sagst, spielt eine Rolle, damit wir wissen, was wir glauben sollen, wenn du uns erzählst, was mit Felix in deinem Zimmer passiert ist. Wenn du wegen Kleinigkeiten lügst, dann bedeutet das, dass du auch fähig bist, bei großen Dingen zu lügen. Wenn du mir sagst, dass du ihm nie deine Piepernummer gegeben hast, ich aber in ein paar Tagen aus den Unterlagen der Telefonfirma ersehen kann, dass er dich letzte Woche jeden Tag angepiept hat, dann weiß ich, dass du genü-
gend Lügen erzählt hast, dass ich dir nicht vertrauen kann. Und wenn du unter Eid vor der Grand Jury lügst, lasse ich dich auf der Stelle verhaften.«
Es gab sanftere Wege, das alles zu sagen, aber ich hatte keine Geduld mehr und wenig Zeit. Es war beinahe halb zehn, und sobald Laura, meine Sekretärin, eintraf, würde sie Battaglia informieren, dass ich ihn sehen musste.
Vandomir war ein kluger Cop mit guten Instinkten. Wenn er daran zweifelte, dass Angel die Wahrheit sagte, hatte er guten Grund dazu. Nach viereinhalb Stunden mit ihr in der Notaufnahme des Krankenhauses hatte er ein konkretes Gefühl, an welchen Stellen ihre Story wackelig war. Ich versuchte, mich im Ton zu mäßigen, und fragte sie weiter über ihre Beziehung zu Felix aus.
Jedes Mal, wenn sie eine Frage beantwortete, sah Angel zu Vandomir. Jetzt war ich der bad cop, und sie blieb bei ihrer ursprünglichen Version, obwohl die Details nicht zusammenpass-42
ten. Aber ich konnte die Strafanzeige eines Vergewaltigungsopfers nicht auf bloßen Verdacht hin unberücksichtigt lassen, also quetschte ich sie über jede einzelne Stunde zwischen der ersten Taxifahrt und der fraglichen Nacht aus.
Ich biss auf Granit. Angel war nicht sehr überzeugend, aber sie war taff. Vandomir schrieb etwas auf ein Stück Papier und reichte es mir über den Schreibtisch.
Seine Notiz deutete eine Schwachstelle an, die uns vielleicht weiterhelfen konnte. »Fragen Sie sie, ob eine ihrer Freundinnen eine Tätowierung auf dem Hintern hat. Das Wort Ralphie in den Umrissen eines Stiers.«
»Wer sind deine Freundinnen in der Schule?«
»Jessica, Connie, Paula. Warum wollen Sie das wissen?«
»Ihre Nachnamen.«
»Weiß nicht.« Jetzt trieb sie es zu weit.
»Ich werde selbst an die Schule gehen und sie finden.«
Sie murmelte »Blöde Kuh« gerade laut genug, dass ich es hö-
ren konnte.
»Erzähl mir von Ralphies Freundin.«
Angel funkelte Vandomir wütend an. »Sie waren schon an meiner Schule?«
»Welche davon ist Ralphies Freundin?«
»Sie hat damit nichts zu tun. Lassen Sie meine –«
»Jede einzelne Person, die du kennst und die Felix kennen gelernt hat, hat etwas damit zu tun. Die Tatsache, dass er eine deiner Freundinnen kennt, die Ralphies Namen auf ihrem Hintern eintätowiert hat, sagt mir, dass er mehr über dich weiß, als ich es momentan tue. Mir macht das nichts aus, aber es ist sehr schlecht für dich.«
Sie erschrak genauso wie ich, als die Gegensprechanlage summte und uns Laura unterbrach. »Jetzt ist Ihre Chance, Alex.
Rose sagt, Sie sollen so schnell wie möglich kommen. Bat-43
taglia will noch vor seinem 10-Uhr-Termin mit dem stellvertretenden Bürgermeister wissen, was Sie haben.«
»Sagen Sie ihr, dass ich in fünf Minuten da sein werde.«
Ich wandte mich wieder an Angel. »Weißt du, was ein Lü-
gendetektortest ist?«
»Ja, hab ich schon im Fernsehn gesehn.«
»Weißt du, wie er funktioniert?«
»Ein Polizist legt … äh, weiß nicht. Sie stellen dir Fragen, das ist alles.«
»Unsere sind brandneu. Computerisiert. Unschlagbar. Sie messen deine Gehirnströme, deinen Puls, deinen Blutdruck.
Zuerst geben wir dir eine Spritze in den Arm –«
»Eine Spritze? Ich will keine Scheiß–«
»Es geht hier nicht darum, was du willst. Du hast uns an diesen Punkt gebracht. Von nun an gibt es kein Pardon mehr. Es ist eine große Nadel. Es tut nach dem Einstechen nur ein paar Minuten lang weh.«
Ihre Unterlippe zitterte. »Ich mag keine Spritzen. Ich hab Angst vor Spritzen.« Sie hatte sich zu Vandomir gedreht und flehte ihn an, etwas zu unternehmen. Allmählich kam hinter der Fassade einer Dreißigjährigen das vierzehnjährige Kind zum Vorschein.
Ich drückte auf die Gegensprechanlage. Laura antwortete sofort. »Rufen Sie Detective Roman an, ja? Sofort. Sagen Sie ihm, dass ich in einer Stunde einen Lügendetektortest brauche.
Jugendliches Subjekt. Er muss eventuell eine Verhaftung vor-nehmen, also soll er besser die Handschellen mitbringen.«
Jetzt war Angel den Tränen nahe.
»Du kannst drüben in einem Zimmer auf der anderen Seite des Flurs warten, bis der Detective kommt. Komm mit.«
»Ich hasse Spritzen.«
»Und ich hasse Leute, die mich anlügen. Vor allem, wenn es 44
um eine Vergewaltigung geht. Weißt du überhaupt, wie viel Detective Vandomir und seine Partner zu tun haben? Sie werden zu drei, vier, fünf Einsätzen am Tag gerufen. Junge Mädchen und erwachsene Frauen, die dringend ihre Hilfe brauchen.
Die meiste Zeit arbeiten sie die ganze Nacht hindurch, um Familien wie deine und meine zu beschützen. Jede zusätzliche Minute, die wir darauf verschwenden, die Wahrheit aus dir he-rauszubekommen, stiehlt jemandem, der tatsächlich Opfer eines Verbrechens war und mit uns kooperieren will, die Zeit.«
»Kann ich zuerst mit meiner Mutter reden?« Jetzt winselte sie.
»Ich sag dir, was wir tun werden. Du hast eine Stunde Zeit, bis der Detective kommt, der den Test mit dir machen wird. Ich muss zu meinem Chef. Setz dich in das Zimmer und denk dar-
über nach, welche Möglichkeiten du hast. Wenn du irgendetwas an deiner Geschichte ändern willst, dann sag es Detective Vandomir. Er ist deine letzte Hoffnung. Wenn du ihm eine Geschichte erzählst, die Sinn macht, brauchst du die Spritze nicht.«
Ich kniete mich neben ihren Stuhl und versuchte, ihr in die feuchten Augen zu sehen. »Felix hatte Unrecht. Es verstößt gegen das Gesetz, wenn ein Mann in seinem Alter Sex mit dir hat. Das ist ein Verbrechen. Dafür können wir ihn nach wie vor bestrafen. Aber falls er kein Messer hatte, Angel, dann denkst du dir eine völlig andere Verbrechensart aus. Wenn du einen Fehler gemacht hast, weil du das hier angefangen hast und jetzt nicht mehr weiter weißt, dann sag uns die Wahrheit jetzt, bevor du dich noch tiefer hineinreitest.«
Ich nahm einen Block vom Schreibtisch und bat Laura, die Stellung zu halten, während ich beim Bezirksstaatsanwalt war.
Mein Ausweis öffnete das Sicherheitsschloss der Tür zu Battaglias Allerheiligstem. Sein Assistent schenkte ihm gerade ei-45
nen Kaffee ein. Rose Malone, die Sekretärin des Bezirksstaatsanwalts, saß, das Telefon zwischen ihre Schulter und ihr linkes Ohr geklemmt, am Computer und winkte mich in die Suite ihres Chefs. Ich versuchte, Zeit zu schinden, bis sie das Gespräch beendet hatte, damit sie mir seine Stimmung andeuten konnte, aber sie ließ nicht erkennen, dass sie das Telefonat schnell beenden würde.
Ich hatte meine Vorgehensweise im Taxi auf dem Weg zur Arbeit mehrere Male geprobt. Ein beiläufiges »Übrigens, ich dachte, es könnte Sie interessieren, was mir gestern Abend im Museum passiert ist« würde nicht funktionieren. Aber ich war überzeugt, dass Battaglia meine Entscheidung unterstützen würde, wenn ich sie als Homage an seinen Stil präsentierte, und drückte in Erwartung seiner Reaktion lächelnd die Tür auf.
Das Erste, was ich sah, war das Grinsen auf Pat McKinneys Gesicht. Er stand, die Arme in die Hüften gestemmt, zwischen mir und Battaglia, und noch ehe ein Wort gefallen war, wusste ich, dass er von meinem Manöver Wind bekommen hatte. Dem stellvertretenden Leiter der Prozessabteilung, meinem erbit-tertsten Widersacher innerhalb der Staatsanwaltschaft, würde es gefallen haben, es dem Boss als politische Peinlichkeit zu verkaufen.
»Ich wusste, dass Sie und Chapman Filmliebhaber sind, Alex, aber für Die Rückkehr der Mumie trifft Die Körperfresser kommen würde es bei mir zu Hause nicht einmal Butterpopcorn geben.«
Es machte keinen Sinn, ihn zu fragen, woher er es wusste. Er würde nur zu gerne die Details noch einmal durchkauen. Er klopfte aufgeregt mit den Fingern auf den Konferenztisch hinter ihm, und sein leichter Überbiss ließ ihn aussehen, als ob ihm über Nacht Fangzähne gewachsen wären.
»Paul, ich würde gern –«
46
Aber Battaglia schien willens zu sein, McKinney seine Trümpfe ausspielen zu lassen. »Ihr Kumpel Chapman schien letzte Nacht ein bisschen außer Kontrolle geraten zu sein. Er hat versucht, die Spurensicherung dazu zu bringen, zur Gerichtsmedizin zu fahren und Fotos zu machen, während sie gerade mit einem dreifachen Mord in Midtown beschäftigt war.
Der Chief of Detectives musste mich um halb vier Uhr morgens anrufen, damit ich als Schiedsrichter fungiere.«
Ich hatte keine Ahnung, dass nach Mitternacht noch ein anderes Aufsehen erregendes Verbrechen passiert war.
»Oje. Und ich weiß, wie sehr Sie es lieben, zu Hause dienstlich belästigt zu werden.« Mehr als die Hälfte der sechshundert Anwälte der Bezirksstaatsanwaltschaft waren rund um die Uhr in Bereitschaft, und alle Supervisoren wussten, dass es Teil des Jobs war, zu jeder Tages- und Nachtzeit erreichbar zu sein. Die meisten von uns hießen die Gelegenheit willkommen, von Anfang an dabei zu sein und dadurch den weiteren Verlauf des Falls mit beeinflussen zu können. McKinney war die Ausnahme von der Regel. Er hatte keinen Anrufbeantworter, gab seine Piepernummer nicht heraus und bestrafte bis auf seine Hand voll Lieblinge alle, die es wagten, ihn außerhalb des Büros ausfindig zu machen.
»Ich habe nur ungern zu etwas Nein gesagt, woran Sie arbeiten, Alex. Aber wir steckten mitten in einer wichtigen Ermittlung, keinem netten Publicity-Coup.«
Battaglia konnte diese Art von Gezänk normalerweise nicht ausstehen. Es hatte keinen Sinn, meine Vorgehensweise vor McKinney zu verteidigen. Aber ich hatte darauf bestanden, dass Chapman den Sarkophag noch auf dem Lastwagen fotografieren ließ, und ich konnte es nicht fassen, dass mein eigener Kollege eine derart wichtige Dokumentation unseres Fundes verhindert hatte.
47
»Paul, könnte ich allein mit Ihnen sprechen?«
»Nicht bevor ich all diese Telefonate erledigt habe.« Er we-delte mit einem Stoß Telefonnotizen in meine Richtung.
»Ich versuche zu verstehen, warum die Presse noch vor mir darüber Bescheid wusste.«
Ich wurde feuerrot. »Boss, ich habe mit niemandem darüber gesprochen, außer –«
»Finden Sie einfach heraus, wer die junge Frau ist, wo sie war, als man sie umgebracht hat, und warum man sie aus dem Weg schaffen wollte, und dann lassen wir uns etwas einfallen, wie wir mit dem Chaos fertig werden, das Sie mir eingebrockt haben.«
»Jake gab mir sein Wort, mit niemandem über den Fall zu sprechen. Ich möchte, dass Sie das wissen.«
Ich versuchte mich selbst davon zu überzeugen, dass ich die Wahrheit sagte, aber Battaglia interessierte sich nicht für mein Dementi. »Vielleicht hat McKinney Recht. Man kann nicht erwarten, dass Sie Vertrauliches für sich behalten, wenn Sie privat mit einem Nachrichtenfuzzi liiert sind. Wir sollten Ihnen keine medienträchtigen Fälle mehr übertragen.«
Ich wollte protestieren, aber McKinney fiel mir ins Wort.
»Und wir fangen am besten gleich damit an.«
48
5
»Was haben Sie mit dem armen Mädchen gemacht, das heulend im Besprechungszimmer sitzt?«
»Verschwinden Sie von hier, bevor Pat McKinney uns zusammen sieht, oder ich bin erledigt.«
»Ist das ein Fall, über den ich Bescheid wissen sollte? Ist sie das Mädchen, das letzte Woche vor dem Port-Authority-Busbahnhof überfallen wurde?«
Ich packte Mickey Diamond am Ärmel und zerrte ihn zum Treppenabsatz gegenüber Lauras Schreibtisch. Der Gerichts-reporter der New York Post war auf der Jagd nach Storys zum ungünstigsten Zeitpunkt am falschen Ort aufgekreuzt.
»Sie wissen doch, oder, dass es gegen das Gesetz verstößt, wenn ich Ihnen gegenüber ein Vergewaltigungsopfer identifiziere?«
Diamond gehörte seit unzähligen Jahren praktisch zum Mobi-liar des Criminal Courts Building. Unsere Pressestelle befand sich nicht weit von meinem Büro auf derselben Etage, und wenn Diamond nicht gerade Gerichtsverhandlungen beobachtete, mit Reportern von anderen Zeitungen im Presseraum im Erdgeschoss Geschichten austauschte oder Storys frei erfand, um seine Leser bei Laune zu halten, trieb er sich in deren Vorzimmer herum.
»Weint sie trotz oder wegen Ihnen?«
»Jemand sollte für das gesamte achte Stockwerk ein ›Bitte nicht stören‹-Schild aufhängen, das nur für Sie gilt. Aber bleiben Sie eine Minute. Ich brauche Ihre Hilfe. Haben Sie heute Früh Battaglia angerufen?«
»Wozu? Ich bekam gestern Nacht den Dreifachmord mit dem Transgender-Opfer und den zwei Gaunern, die auf der Forty-49
second Street Kümmelblättchen spielten. Direkt vor einem der Disney-Theater.«
Die Forty-second Street hatte im Laufe meiner Amtszeit ein enormes Face-Lifting durchgemacht, aber sie zog wie eh und je Betrüger an, die sich wie die Haie auf die Touristen stürzten, die in dieses Viertel pilgerten. »Mein Redakteur will wissen, ob es der Tote mit Minnie oder Mickey getrieben hat, aber ich hielt es nicht für ratsam, Ihren Boss damit zu behelligen.«
»Das ist alles, woran Sie arbeiten?«
»Wenn Sie nichts Besseres haben.«
»Noch nicht. Aber jemand hat Informationen über eine Story durchsickern lassen, und Battaglia gibt mir die Schuld. Ich hät-te gerne, dass Sie sich im Presseraum umhören, die Ohren offen halten, diskret –«
»Bis hierher konnte ich Ihnen folgen.«
»Dann vergessen Sie, dass ich es gesagt habe. Halten Sie einfach die Ohren offen. Sie werden später etwas Interessantes erfahren, so viel kann ich Ihnen versprechen. Finden Sie für mich heraus, wer zuerst von der Sache gewusst hat und wo es durch-gesickert ist.«
»Ich soll Ihnen also eine Quelle nennen, wohingegen Sie mir nicht einmal einen kleinen Wink geben wollen, was das heu-lende Mädchen da drinnen angeht?«
»Sie sollen mir nur ungefähr die Richtung sagen. Ich brauche keinen Namen, ich muss nur raus aus der Patsche, in der ich momentan sitze.«
»Und was habe ich davon?«
»Ist auf Ihrer ›Wall of Shame‹ noch ein Plätzchen frei?«
Diamond hatte den Presseraum des Justizgebäudes mit seinen Schlagzeilen tapeziert, die es auf die Titelseite der Post geschafft hatten. Er machte aus jeder menschlichen Tragödie einen allite-rierenden Blickfang oder eine geschmacklose Pointe, um den 50
Absatz des Schundblatts nach oben zu treiben. Leider versorgte ihn die Arbeit meiner Abteilung mit reichlich Material.
»Es kann sein, dass ich einige Ihrer alten Fälle zupflastern muss, aber sie vergilben ohnehin schon.«
»Besorgen Sie mir, was ich brauche, und ich versichere Ihnen, dass Sie die nächsten paar Tage so beschäftigt sein werden, dass Sie nicht wissen, wie Ihnen geschieht. Und jetzt verschwinden Sie, bevor uns McKinney zusammen sieht.«
»Geben Sie mir einen Tipp.«
Ich schubste ihn an der Schulter und deutete die Treppe hinab. »Gehen Sie zu Ryan Blackmer. Er verhandelt heute Nachmittag den Fall des Kieferchirurgen, der einer Patientin Lach-gas verabreicht und sie dann sexuell missbraucht hat.«
»Heute? Ich hab das Ding schon geschrieben. ›D.D.S. – Doktor dosiert Sex.‹ Wenn der Dreifachmord nicht dazwischen gekommen wäre, wäre das die Titelgeschichte geworden.«
»Wo ist Cooper?« McKinneys Stimme hallte im Treppenhaus. Ich hörte, wie Laura ihm sagte, dass ich auf die Toilette gegangen sei und bald zurück sein würde. Diamond winkte über die Schulter und trottete ein Stockwerk tiefer.
»Sagen Sie ihr, dass ich wissen will, auf wessen Seite sie steht. Hier draußen sitzt eine Klägerin und weint, und die Mutter des Kindes beschwert sich, dass Cooper sie einem Lügendetektortest unterziehen und sie ihr wegnehmen wollte. Was soll der Schwachsinn? Wir haben seit 1973 keinen Lügendetektortest mehr gemacht. Ich will mit ihr sprechen. Sofort.«
Ich wartete, bis sich McKinneys Schritte entfernt hatten, und ging dann zurück in mein Büro. Vandomir stand neben meinem Schreibtisch. »Wann haben Sie sich diese Taktik ausgedacht?
Sie sollten sie patentieren lassen. Bei Angel klappte es wunderbar.«
»Erinnern Sie sich an die alten Dick-Tracy-Cartoons, die man 51
›Verbrechensstopper‹ nannte? Mein Lieblingscartoon war der, in dem es hieß, dass der beste Lügendetektortest die Andro-hung eines Lügendetektortests sei. Ich habe noch kein Mädchen getroffen, das nicht Angst vor Spritzen hatte. Ich denke mir einfach eine furchtbare Maschine aus, warte, bis sie das erste Mal konkret lügen, bevor ich sie beschreibe, und dann gebe ich ihnen eine Stunde Zeit, sich zu überlegen, was schlimmer ist – die große Spritze oder ein Geständnis. Ich musste noch nie länger als fünfzehn Minuten warten.«
»Bei ihr hat es genau acht Minuten gedauert. Sie flehte mich an, mir erzählen zu dürfen, was wirklich geschehen ist. Alles, nur keine Spritze in ihren dünnen Arm und kein Wiedersehen mit Ihnen.«
»Was hat sie Ihnen erzählt?«
»Felix hat die Wahrheit gesagt. Ungefähr zwei Minuten nachdem sie in sein Taxi gestiegen war, verguckte sie sich in ihn.
Seitdem hat er sie jeden Tag von der Schule abgeholt. Den flotten Dreier hatten sie mit ihrer Freundin Jessica, Ralphies Mädchen.«
»Aber warum dann der Notruf?«
Jede Falschmeldung hatte ein Motiv, einen Grund, warum die betreffende Person beschloss, zum Telefon zu greifen und die Polizei in ihr Privatleben einzuladen. Hatte man diesen Grund erst einmal gefunden, leuchtete dem Ermittler in der Regel das Bedürfnis nach Täuschung völlig ein.
»Weil Felix in der Nacht kein Kondom dabeihatte, und als sie ihm sagte, dass er ihn rausziehen solle oder sie nie wieder mit ihm schlafen würde, sagte er ihr, dass sie sowieso nicht so gut sei und dass es ihm Jessica besser besorgen würde. Sie war eifersüchtig und wütend. Sie wollte sich an ihm rächen, indem sie ihn in Schwierigkeiten mit der Polizei brachte. Sie dachte nicht, dass man die Sache so ernst nehmen würde.«
»Das Messer?«
52
»Existiert nicht.«
»Gewaltanwendung?«
»Nein. Sie ließ ihn rein und ging mit ihm in ihr Zimmer.«
»Die arme Mutter arbeitet die ganze Nacht, um ihren Kindern ein gutes Leben zu ermöglichen, und die hier bricht ihr das Herz. Lassen Sie es uns zu Ende bringen.«
Angel sah nicht auf, als ich das Besprechungszimmer betrat.
Vor ihr stand eine Schachtel mit Papiertaschentüchern, von denen sie bereits eine Hand voll verbraucht hatte. Mrs. Alfieri stand am Fenster und starrte, ein zerknülltes Stofftaschentuch in der Hand, nach draußen.
»Fühlt es sich nicht besser an, die Wahrheit zu sagen? Ist es nicht eine Erleichterung?«, fragte ich Angel.
Sie schien anderer Meinung zu sein. »Sie haben mich beide angelogen. Sie haben mir gesagt, dass das, was ich sage, unter uns bleibt.«
»Ich musste deiner Mutter die Wahrheit sagen«, sagte Vandomir. »Sie muss wissen, dass sie abends auf Arbeit gehen kann, ohne dass du fremde Männer ins Haus lässt. Ms. Cooper hatte Recht. Das Familiengericht wird dich deiner Mutter wegnehmen, falls sie deiner nicht Herr werden kann.«
Mrs. Alfieri drehte sich um und sah ihre Tochter an. Sie litt zu sehr, als dass sie mehr als ein Flüstern herausgebracht hätte.
»Du hast ihn angelogen, Angel. Du hast uns alle angelogen.
Jetzt weißt du, wie es sich anfühlt, wenn das jemand mit einem macht.«
Ich versuchte, ihr den Ernst der Lage zu erklären. »Weißt du überhaupt, wie viel Glück du hast, noch am Leben zu sein? Du lernst einen völlig Fremden in einem Taxi kennen und hast Sex mit ihm. Du lässt ihn in euer Haus, in dem deine beiden kleinen Brüder schlafen, obwohl du nicht weißt, was er dir oder ihnen antun kann.«
53
»Na und?« Angel war noch immer störrisch und wütend.
Es brach mir schier das Herz, ein Mädchen wie sie zu sehen, das ein Dach über dem Kopf hatte, einen Elternteil, der sich kümmerte, und das dennoch eindeutig auf einem selbstzerstöre-rischen Trip war. »Weißt du, wo ich letzte Nacht war? Ich stand neben der Leiche einer jungen Frau, die wahrscheinlich nicht viel älter war als du. Jemand hat sie umgebracht und in eine Kiste gesteckt und gehofft, dass man sie nie finden würde.
Sie wird nie wieder nach Hause gehen können. Die Menschen, die sie lieben, werden sie nie wieder lebend zu Gesicht bekommen.«
Jetzt blickte Angel mich an, um zu sehen, ob ich es ernst meinte. »Und gestern Nachmittag habe ich mir im Leichenschauhaus Obduktionsfotos eines anderen Mädchens angesehen, das wahrscheinlich von einem Kerl ermordet worden ist, den sie die Nacht zuvor in einem Klub kennen gelernt hat. Hast du das Wort Obduktion schon mal gehört? Weißt du, was es bedeutet?«
»Sagen Sie ihr, was es ist, Ms. Cooper.« Ihre Mutter kam nä-
her und stützte sich mit den Armen auf die Rückenlehne eines Stuhls. »Hör gut zu, Angel! Das passiert, wenn dich jemand umbringt. Nicht genug, dass du tot bist. Sie müssen dich auf-schneiden und Stück für Stück auseinander nehmen. Dann nä-
hen sie dich wieder zu, als wärst du eine Stoffpuppe.«
Besser als meine große Spritze, dachte ich. Jetzt war Angel hellhörig geworden. Ihr Blick suchte wieder Vandomir, damit er sie von den beiden Frauen, die ihr heute das Leben so schwer machten, erlöste.
»Was passiert jetzt mit Felix?«
»Er bleibt im Gefängnis. Aber der Anklagepunkt ist ein anderer. Man nennt ihn Unzucht mit Minderjährigen.« Ich erklärte ihr, dass das Gesetz sie nicht für fähig hielt, in eine sexuelle 54
Beziehung mit einem achtundvierzigjährigen Mann einzuwilli-gen, selbst wenn sie das getan hatte. Sie war minderjährig, und er würde bestraft werden, auch wenn die Strafen dafür weitaus geringer waren als für eine Vergewaltigung.
»Laura wird eine neue Anklageschrift aufsetzen«, sagte ich zu Vandomir, »und Angel kann die eidesstattliche Erklärung unterschreiben. Können Sie die beiden zur Zeugenhilfsstelle hinunterbringen und sich darum kümmern, dass sie mit einer Sozialarbeiterin sprechen? Sie können’s beide gebrauchen.«
Als ich zurück in mein Büro ging, stieß ich beinahe mit Ellen Gunsher zusammen, die gerade auf dem Weg in Pat McKinneys Suite war. Die beiden verbrachten ungewöhnlich viel Zeit hinter verschlossener Tür miteinander, was dem Büroklatsch über den unangemessenen Charakter ihres Verhältnisses Auf-trieb gab. Falls Ellen so viel Supervision brauchte, wie McKinney ihr zu geben vorgab, musste sie noch dümmer sein, als sie bei den Meetings der Prozessabteilung in den seltenen Fällen, in denen sie den Mund öffnete, unter Beweis stellte.
Gunshers Eintreffen verschaffte mir eine Atempause. Solange sie bei ihm war, würde McKinney nicht nach mir suchen, also hatte es keinen Zweck, an seine Tür zu klopfen.
Ich griff zum Telefon und wählte auf meiner Privatleitung Jakes Nummer. Ich nahm mir vor, mich nicht zu vorwurfsvoll anzuhören. Sein Assistent, Perry Tabard, sagte mir, dass Jake gerade im Aufnahmestudio war. »Würden Sie ihm bitte sagen, dass er mich zurückrufen soll? Es ist wichtig.«
»Soll ich ihm etwas ausrichten?«
Es hatte keinen Zweck, ihm das Problem zu schildern. Ich brauchte Jakes Zusicherung, dass er mein Vertrauen nicht missbraucht hatte, und die wollte ich mir nicht über einen Mittelsmann holen.
Noch während ich mit Perry sprach, meldete sich Laura über 55
die Gegensprechanlage. Mike Chapman war am Apparat.
»Hey, Coop, wie schnell kannst du deinen Hintern hier rauf zur Gerichtsmedizin schaffen?«
»In einer halben Stunde. Ich muss nur Sarah den Terminplan für den Rest des Tages übergeben.« Meine Stellvertreterin und gute Freundin Sarah Brenner war vor einigen Wochen von einem sechsmonatigen Mutterschaftsurlaub zurückgekehrt. Unser Arbeitsstil war so ähnlich, dass ich mit ihr als Partnerin die vierzig Mitglieder zählende Abteilung leiten konnte. Mein Schreckenserlebnis mit den Schattenseiten des akademischen Betriebs an einem Elitecollege in Manhattan passierte kurz nach ihrer Entbindung, sodass ich nicht von ihrem Rat und Urteil profitieren konnte. Ich war froh, dass sie wieder da war.
»Großartig. Wir treffen uns dann bei Dr. Kestenbaum.«
»Hast du gestern Nacht noch etwas über die Tote in Erfahrung gebracht? Werden sie herausfinden können, wer sie ist oder wann sie gestorben ist?«
»Heb dir dein Kreuzverhör für den Gerichtssaal auf und beeil dich. Dich erwartet eine Theologiestunde.«
»Ich habe bereits für die Tote gebetet. Jetzt möchte ich Antworten auf meine Fragen.« Ich dachte an Battaglias Direktive und wollte ihm so bald wie möglich Resultate präsentieren.
»Dr. K. wird dir alle deine Fragen beantworten. Du wirst deine erste Unvergängliche kennen lernen.«
»Meine erste was?«
»Falls er nicht Ministrant in meiner Pfarrei war, hat der Mörder wahrscheinlich auch noch keine gesehen.«
»Was ist eine Unvergängliche? Was hat das mit unserer Leiche zu tun?«
»Sie ist perfekt erhalten, Coop. Keine Zersetzung, keine Verwesung. Wir werden sie noch vor dem Wochenende identifizieren können. Es ist ein natürliches Phänomen, das im Laufe der 56
Jahrhunderte hin und wieder einigen Heiligen zuteil wurde. Ich vermute mal, dass unser Täter den Deckel schloss und dachte, dass er nur eine Kiste voller Knochen hinterlassen würde.«
57
6
Ich trug mich in das Besucherverzeichnis am Eingang des Leichenschauhauses ein. Ein Dolmetscher erklärte einem Mann mittleren Alters auf Mandarin, was er tun müsse, um seinen Vater zu sehen, der bei einem Streit in einem Spielsalon in Chinatown erstochen worden war. Der Wärter öffnete per Knopfdruck die Tür zu den Aufzügen, und ich folgte einem Cop, der einen Asservatenbeutel in der Hand hielt, in den Lift und fuhr hinauf in den dritten Stock.
Mike saß an Kestenbaums Schreibtisch, in einer Hand den Telefonhörer, in der anderen eine Tasse Kaffee. »Ja, Loo, wir haben einige gute Fotos. Coop fährt später mit mir zum Museum hinauf. Ich hab das dumpfe Gefühl, dass dieser Fall mehr Kultur beinhaltet, als jemandem wie mir gut tut.« Er hörte zu, was der Lieutenant sagte. »Nein, Dr. K. ist noch immer mit Cleo im Keller. Ich ruf später wieder an.«
»Woher hast du Fotos? McKinney hat mir gesagt, dass er verboten hat, die Spurensicherung zum Truck zu schicken. Du hättest anrufen –«
»Relax! Denkst du, du bist die einzige Schlangenbeschwörerin, die mitten in der Nacht was erreichen kann? Ich habe Hal Sherman zu Hause angerufen.« Hal war unser bester Detective bei der Spurensicherung. »Er braucht keine Streicheleinheiten von dir, damit er mal ein paar Überstunden schiebt, wenn’s drauf ankommt. McKinney kann mich mal.«
»Wer wusste vor Tagesanbruch noch darüber Bescheid?«
»Außer Lenny, uns beiden und den Pennern auf dem Hafengelände? Hal und die seltsamen Gestalten, die unten Nachtschicht haben. Es war nicht viel los, als wir mit der Leiche hier ankamen.«
58
»Mike, die Wahrheit. Hast du irgendjemandem davon er-zählt?«
»Wem denn? Was meinst du damit?«
»Jemandem, der nichts davon hätte wissen sollen. Einem Journalisten?«
»Bist du verrückt? Ich bin nicht derjenige, der gern im Ram-penlicht steht. Je weniger Presse, desto besser für meine Arbeit und meinen Schlaf. Heute sind’s noch Neuigkeiten. Morgen ist’s Schnee von gestern, ein Haufen Abfall, der als Bündel verschnürt neben dem Müll auf dem Trottoir liegt und an dem die Hunde ihr Bein heben.«
»Battaglia ist außer sich. Irgendjemand hat Wind von der Story bekommen, und er gibt mir die Schuld. Er geht davon aus, dass Jake die undichte Stelle ist.«
»Und?«
»Ich weiß es nicht. Ich kann nicht glauben, dass er so etwas Dummes tun würde, aber er war dabei, als ich von dem Leichenfund erfahren habe, und er wartete auf mich, als ich heute Nacht nach Hause kam.«
»Im Bett? So wie du ausgesehen hast, als du von Newark heimgefahren bist?«
Ich lächelte. »Ich sollte wohl besser meine eigenen Probleme vergessen und mich auf wichtigere Dinge konzentrieren. Wie beispielsweise Unvergängliche.«
»Wenn du so ein guter Katholik wärst wie ich, Kleines, würdest du alles über Heilige wissen und darüber, wie man einen Körper ohne Verwesungsspuren konserviert.«
Kestenbaum kam ins Büro und signalisierte Mike, am Schreibtisch sitzen zu bleiben. »Eigentlich hat die Tradition mit den Juden angefangen. Schauen Sie ins Alte Testament. So hat Joseph seinen Vater von unseren Ahnen beerdigen lassen, Alex.«
59
»Das Evangelium des Heiligen Johannes, Doc. Jesus wurde in Leinentücher gewickelt und mit Gewürzen gesalbt.«
»Worüber sprecht ihr zwei eigentlich?« Ich war im jüdischen Glauben aufgezogen worden, nachdem meine Mutter noch vor ihrer Heirat mit meinem Vater zum Judentum konvertiert war.
»Gestern Nacht dachte ich noch, dass es Wochen dauern würde, bis wir unser Opfer identifiziert hätten. Ich dachte, dass eine natürliche Verwesung eingesetzt hätte, die noch dadurch beschleunigt worden war, dass die Frau in einem Sarkophag eingeschlossen war. Vielleicht würde nichts für eine DNA-Analyse übrig sein, oder Dr. K. würde eine mitochondriale DNA-Analyse ihrer Haare machen müssen, was viel länger dauert. Aber sie ist perfekt erhalten.«
»Du meinst, jemand hat absichtlich dafür gesorgt?«
»Nicht bewusst. Nicht indem er sie aufschnitt, so wie man es mit den Pharaonen machte. Die hier ist ein Naturphänomen wie die Heiligen. Erklären Sie es, Doc.«
»Sogar wir Ärzte lernen, dass die frühen Juden und Christen jahrtausendelang versucht haben, den menschlichen Leichnam vor der Verwesung zu schützen, indem sie ihn in Tücher wickelten, die sie mit Kräutern und Pflanzenrückständen wie Aloe und Myrrhe tränkten. Die Ägypter perfektionierten die Methode, die dann später von den Europäern kopiert wurde, al-le inneren Organe zu entfernen, um zu verhindern, dass die na-türlichen Gase die Verwesung verursachten.«
»Von wegen innere Organe entfernen.« Jetzt übernahm Chapman das Ruder. »An Cleos Leiche ist nicht eine Narbe, hab ich Recht, Doc?«
»Nicht eine einzige. Das war keine medizinische Konservierung. Der Mörder hätte sich nie träumen lassen, dass sein Opfer in diesem Zustand wieder auftaucht.«
»Da muss man doch an ein Wunder glauben. In der katholi-60
schen Kirche dachte man jahrhundertelang, dass die körperlichen Überreste von Heiligen Wunder vollbringen konnten.
Man dachte, dass sich der Heilige Geist in ihnen einnistete und sie heiligte. Deshalb heilten sie die Kranken, machten Blinde sehend und brachten Krüppel wieder zum Laufen. Im Mittelalter fingen Kirchenbeamte an, die Leichen von Heiligen, Märty-rern und Nonnen Hunderte von Jahren nach deren Tod zu exhumieren. Die Heilige Zita, zum Beispiel; sie war schon immer eine meiner Lieblinge.«
»Nie von ihr gehört.«
»Ich nehm dich mal mit zu ihr. In die Toskana, nach Lucca.
Sie liegt dort in einer kleinen Glasvitrine und sieht aus, als würde sie nur ein Nickerchen machen. Sie ist die Schutzheilige der Hausangestellten – deshalb mag sie meine alte Dame so sehr. Sie lebte im dreizehnten Jahrhundert nach Christus. Als die Weisen im Mittelalter beschlossen, Zita wegen all der Wunder, die man mit ihr in Verbindung brachte, wieder auszugraben, stellten sie erstaunt fest, dass ihr Körper völlig intakt war, ohne eine Spur der Verwesung.«
Ich hatte noch nie von diesem Phänomen gehört und sah Kestenbaum an, um zu sehen, ob Chapman bluffte. Der Pathologe nickte.
»Ebenso war es mit der Heiligen Bernadette in Frankreich.
Sie starb 1879 und wurde dreißig Jahre später wieder ausgegraben.«
»Ja, aber die Kirchenmänner, die sie ausgruben, waren alles religiöse Leute, die nach Wundern gesucht haben.«
Kestenbaum korrigierte mich. »Bei der Ausgrabung waren Chirurgen als Zeugen mit dabei, außerdem der Bürgermeister des kleinen Dorfes und Leute, die nichts mit der Kirche zu tun hatten.«
Chapman fuhr fort: »Sie schraubten den Deckel des Holz-61
sargs ab, und der Leichnam der Schwester war perfekt erhalten.«
»Das muss ja gerochen haben wie –«
»Keinerlei Geruch oder Verwesungsgestank. Das Einzige, was den Nonnen auffiel, die sie für das Begräbnis hergerichtet hatten, war ihre Blässe. Sie war bleicher geworden, aber Haut und Haare waren wie eh und je, ihre Nägel glänzten und ihre Hände hielten noch immer den verrosteten Rosenkranz umklammert.«
»Aber sicher war doch unter der Haut –«
»Wenn ich’s dir sage: Man hat das zwei oder drei Mal gemacht. Man hat sie wieder eingegraben, ausgegraben, eingegraben, ausgegraben. Es gibt viele Zeugen. Die Muskeln und Bänder waren alle in gutem Zustand.«
»Warum hat man das getan?«
»Unvergänglichkeit war einmal eine der Voraussetzungen für eine Heiligsprechung, bis manche von den Jungs anfingen zu bescheißen und es auf chirurgische Art und Weise erledigten.
Wie bei der Heiligen Margarete von Cortona. Wie sich herausstellte, war sie nicht auf natürlichem Wege erhalten, sondern auf Grund einer kleinen medizinischen Intervention. Sie machten es auf die ägyptische Methode, dann legten sie sie wieder in den Sarg und gaben vor, dass es auf natürlichem Wege passiert sei. Aber Bernadette war ein echtes Phänomen. Als man sie das dritte Mal ausgrub, fing man an, Reliquien einzubehalten. Teile ihres Skeletts, die die Ärzte und Priester ihrem Leichnam ent-nahmen. Körperteile der Heiligen, damit sie noch mehr Wunder vollbringen konnten.«
»Sie haben der armen Frau die Knochen herausgeschnitten?«
»Rippen, Muskeln. Wenn sie die Gallensteine fanden, haben sie auch die genommen. Man hat nach Beweisen göttlicher Gnade gesucht und versucht, der Person zu gedenken, die dieses mächtige Gute auf sich zog.«
62
»Also willst du damit sagen, dass Bernadette mumifiziert war? Auf natürliche Art und Weise, nicht wie in Ägypten, wo sie alle Körperorgane entfernten?«
»Es war wirklich ein Wunder, wenigstens für die Kirche, wenn auch nicht für die Wissenschaft. Ich meine, so wie sie begraben war, hatte niemand damit gerechnet. Sie war zum Zeitpunkt ihres Todes sehr krank gewesen, und die Kapelle, in der man sie begraben hatte, war so feucht, dass alle erwartet hatten, dass das Fleisch verfault sein würde. Immerhin war der Rosenkranz verrostet, das Kreuz in dem Sarg hatte Grünspan angesetzt und sogar ihr Gewand war feucht.«
Mich fröstelte angesichts Mikes Beschreibung. »Das muss sehr selten gewesen sein. Zita, Bernadette –«
»Der Heilige Ubald von Gubbio, die gesegnete Margarete von Savoyen. Soll ich noch mehr aufzählen? Ich kenne meine Heiligen und Jungfrauen besser als die Spielstatistiken der Yankees. Ich bekam in der Konfessionsschule oft genug was auf die Finger, wenn ich dem Katechismus nicht folgen konnte, aber wenn wir diesen Stoff behandelten, war ich ganz Ohr.«
»Irgendwas scheint mir hier entgangen zu sein. Habt ihr zwei nun herausgefunden, wer unser Opfer ist? Ihr wollt mir doch nicht sagen, dass sie eine Art Heilige ist, oder?«
»Für mich ist sie die Heilige Cleo, die für uns ihr einziges kleines Wunder vollbringt. Ich hätte nie gedacht, dass wir unter diesen Leinentüchern etwas finden würden. Ich hatte gedacht, dass der Leichnam großteils oder völlig verwest wäre. Man muss davon ausgehen, dass die Person, die sie in die Kiste gesteckt und das Versandetikett draufgeklebt hat, damit sie im Hafen von Newark oder im Laderaum eines Frachters auf dem Weg nach Kairo in der Hitze brütet, nicht erwartet hat, dass von dem Opfer irgendetwas überbleiben würde, um sie zu identifizieren.«
63
»Haben Sie schon die Obduktion gemacht?«, fragte ich Kestenbaum.
»Noch nicht. Aber wir haben sie aus dem Leinen gewickelt und Fotos gemacht. Mike hat Recht. Der Körper ist völlig intakt und in erstaunlich gutem Zustand.«
»Vielleicht ist sie erst innerhalb der letzten Woche gestorben.«
»Unwahrscheinlich. Ich würde sagen, sie ist seit Monaten tot, vielleicht schon fast ein Jahr. Ich werde mehr wissen, sobald ich sie mir genauer ansehe, aber die Haut ist etwas verfärbt und ein bisschen verschrumpelt, die Muskeln sind verkümmert, und die Wimpern an ihrem linken Auge sind ausgefallen und kle-ben an der Stirn.«
»Und sie trägt Winterkleidung, hab ich Recht, Doc?«
»Ja. Nicht etwas, was man Ende Mai tragen würde. Eine dicke Wollhose und einen langärmligen Kaschmirpulli.«
Kestenbaum holte ein paar Polaroidfotos aus der Tasche seines Laborkittels und gab sie mir. Ich nahm das oberste, um es genauer anzusehen, und reichte die anderen an Mike weiter.
Die junge Frau starrte mich mit ernster Miene an. Die Vorstellung, dass sie länger als ein paar Tage tot war, war erstaunlich. Sie schien ungefähr dreißig Jahre alt zu sein. Ihre Haut hatte einen seltsamen Schimmer, aber es war schwer zu sagen, wie viel das mit der schlechten Qualität der Polaroidaufnahme in dem düsteren Leichenschauhaus zu tun hatte.
»Wenn ich’s dir sage, Coop, sie ist eine Unvergängliche.«
Ihr sandbraunes Haar schien ihr auszufallen, aber ansonsten wirkte sie perfekt konserviert.
»Sie wird uns verraten, was wir wissen müssen. Wo sie die ganze Zeit gesteckt hat –«
»Irgendwelche Ideen, Doc?«
»Denken Sie daran, wie man die Heiligen beerdigt hat. Zahlreiche Pathologen haben diese Fälle studiert, ebenso Religions-64
historiker. Die meisten der Unvergänglichen waren vor der Heiligsprechung in Gruften unter Kirchenaltären beerdigt. Das war nicht nur geheiligter Boden, sondern dort war es auf Grund der massiven Steinwände auch sehr kühl. Die Unterbodentem-peratur war in der Regel ziemlich niedrig, egal, zu welcher Jahreszeit. Danach sollten Sie suchen, Mike. Nach einem kühlen und trockenen Ort, an dem der Leichnam auf natürliche Weise konserviert wurde.«
»Was ist mit ihr passiert?« Ich studierte das zierliche Gesicht mit den hohen Wangenknochen und der schmalen, geraden Nase.
»Ich werd’s mir ansehen. Und Sie und Chapman finden heraus, wer sie ist und wer sie tot haben wollte.«
»Keine Anzeichen von Verletzungen?«
»Nichts.«
»Sie glauben nicht, dass sie eines natürlichen Todes gestorben ist, oder?« Mir kam plötzlich der Gedanke, dass wir es hier womöglich gar nicht mit einem Verbrechen zu tun hatten.
Chapman schüttelte den Kopf. »Ein verfrühtes Begräbnis?
Cleo legte sich in den Sarg, weil sie sich nicht wohl fühlte, und jemand klappte den Deckel zu? Unwahrscheinlich, Coop. Was meinen Sie, Doc?«
Kestenbaum hielt normalerweise nichts von Vermutungen. Er würde die wissenschaftlichen Ergebnisse der Postmortem-Prozedur abwarten wollen. Deshalb war ich überrascht, als er antwortete.
»Zitieren Sie mich nicht, bevor ich Sie später anrufe. Aller Wahrscheinlichkeit nach handelt es sich um Gift. Vermutlich Arsen.«
65
7
Mike kaute noch immer an seinem Hot Dog, als wir kurz nach vierzehn Uhr die Treppen zum Eingang des Metropolitan Museum of Art an der Fifth Avenue, Ecke Eighty-second Street hinaufliefen.
»Erschießen, Erstechen, Ersticken. Enthaupten, Entführen, Enthäuten. Zermalmen, Zerfleischen, Zerstückeln.« Er hatte für jede Stufe eine Todesart parat, während wir uns einen Weg durch sonnenbadende Studenten und Touristen bahnten. »Hey, Houdini, pass auf!« Ein Amateurzauberer, der einer Zuschau-ermenge seine Tricks vorführte, hatte unter seinem Mantel eine Taube hervorflattern lassen, die beinahe auf Mikes Kopf gelandet wäre. »Eine Schwalbe wäre okay, aber diese Dinger da kann ich nicht ausstehen.«
Er übersprang einen Takt, um den Vogel zu verscheuchen.
»Vergasen, Vergewaltigen, Verprügeln. Ich hatte schon alles Mögliche, aber einen Giftmord hatte ich, glaube ich, noch nie.
Du?«
»Nur den Kerl, der seiner Frau WC-Reiniger in den Martini gekippt hat.«
»Ja, aber sie ist nicht daran gestorben.«
»Fast. Es hat ihr die Eingeweide zerfressen.«
»Das zählt nicht. Sie hat’s überlebt. Du lieber Himmel, ich hab vergessen, wie riesig das Museum ist.«
»Eine Viertelmeile lang, mehr als neunzigtausend Quadratmeter Fläche.«
»Woher weißt du das?«
»Ich hab’s letzte Nacht im Programm gelesen, bevor der ganze Rummel losging.«
Die vier Doppeltüren standen sperrangelweit offen, um die 66
milde Maibrise hineinzulassen. Die Eingangshalle mit dem hohen Kuppeldach war ein spektakulärer Raum, elegant, luftig und lichtdurchflutet.
»Mein Vater hat mich andauernd hierher mitgenommen.«
»Meiner auch.« Nach dem Erfolg seiner medizinischen Er-findung hatte mein Vater begonnen, Kunst zu kaufen. Er hatte eine kleine, aber eindrucksvolle Sammlung europäischer Ge-mälde aus dem siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert.
»Samstagvormittag?«
»Sobald das Museum aufmachte.«
»Meiner auch. Es war meine Belohnung nach fünf Tagen Schule – meine tägliche Qual – und bevor ich den ganzen Sonntag in der Kirche herumhängen musste. Denkst du, wir hätten uns gemocht, wenn wir uns mit sechs oder sieben Jahren hier getroffen hätten? Du hast wahrscheinlich Mary Janes aus Kunstleder, gestärkte Krinolinen und diese bescheuerten kleinen Stirnreifen getragen.«
»Falsch. Ich war ein totaler Wildfang, bis auf meine Ballett-schuhe.«
»Wahrscheinlich hast du damals noch nicht alle so rumkom-mandiert wie jetzt, oder?«
Wir dachten beide dasselbe. Obwohl wir total unterschiedlicher Herkunft waren, hatten wir in unserer Kindheit wahrscheinlich oft am selben Tag an dieser Stelle gestanden. Mike Chapman war ein halbes Jahr älter als ich. Sein Vater Brian war achtundvierzig Stunden nachdem er seine Waffe und seine Dienstmarke abgegeben hatte, an einem Herzinfarkt gestorben. Seine sechsundzwanzig Dienstjahre als Cop hatten ihm den Respekt und die Bewunderung seines Lieblingssoh-nes eingebracht, der im vorletzten Studienjahr an der Fordham University war, als Brian so plötzlich verstarb. Obwohl Mike im darauf folgenden Jahr seinen Collegeabschluss 67
machte, schrieb er sich kurz darauf in der Polizeiakademie ein.
Mike hatte einen kometenhaften Aufstieg innerhalb der Polizei. Er hatte die meisten Jahre seit seiner Beförderung zum Detective im Elitedezernat Manhattan North verbracht, in dem viele der besten Männer – und eine Hand voll Frauen – der New Yorker Polizei tätig waren. Seine Tage und Nächte widmete er der Aufklärung der Morde, die auf seiner Hälfte der Insel, nördlich der Ninety-fifth Street, passierten. Wir hatten uns während meines ersten Dienstjahres kennen gelernt, als wir an verschiedenen Fällen gearbeitet hatten, und hatten seitdem beruflich und privat viel Zeit miteinander verbracht.
»Wisch dir den Senf vom Kinn, bevor wir in Thibodaux’ Bü-
ro gehen!«
»Siehst du? Ich nehm’s zurück. Du bist wahrscheinlich schon als Sechsjährige eine schreckliche Nervensäge gewesen. Es steckt dir im Blut. Wo hast du dich am liebsten he-rumgetrieben?«
»Erster Stock, Gemälde und Skulpturen. Dort habe ich meinen ersten Degas gesehen.« Ich hatte seit meinem fünften Lebensjahr Ballettunterricht. Die Eleganz der Bewegungen und die Schönheit der Musik waren immer eine Zuflucht für mich gewesen, und bis heute besuchte ich die Ballettstunden, wenn es sich mit meinem unberechenbaren Zeitplan vereinbaren ließ.
Als Kind hatte ich oft verzückt vor dem Bild der zwei Tänzerinnen gesessen, die in ihren weißen Tüllkleidchen mit den großen gelben Rückenschleifen ihre Beine an der Stange dehn-ten, bevor sie ihre Exercises auf der Spitze begannen. Ich hatte gehofft, später genauso zu werden wie sie.
»Ich bin direkt dort hinüber«, sagte Mike und deutete quer durch die Halle, vorbei an der großen Treppe. »Waffen und Rüstungen.« Das Met hatte eine beeindruckende Sammlung, 68
und obwohl meine Brüder Stunden damit verbracht hatten, an den Vitrinen mit den vergoldeten Paraderüstungen, Präsentati-onsschwertern und Rapieren entlangzuwandern, war ich sofort zu den Tänzerinnen und den anderen Porträts, die ich so gern mochte, hinaufgelaufen.
Ich fragte die Frau am Informationsschalter nach dem Weg zum Büro des Museumsdirektors. Sie rief Thibodaux’ Sekretä-
rin an, die ihr sagte, dass man uns erwartete.
»Hier bin ich nach Schlachten und Kriegern süchtig geworden. Ich konnte nicht genug davon bekommen.« Mike besaß ein schier enzyklopädisches Wissen, was Militärgeschichte anging. Ich wusste, dass das sein Hauptfach im College gewesen war, aber mir war bisher nie in den Sinn gekommen zu fragen, wo sein Interesse ursprünglich herrührte.
Wir gingen durch die Ausstellungsräume mit griechischer und römischer Kunst zu den Aufzügen. »Dort sind über vier-zehntausend Objekte, von Rittern in Kettenrüstungen bis hin zu Samuraischwertern. Im Souterrain gibt es eine Rüstungswerk-statt. Uncle Sam hat sie im Zweiten Weltkrieg verwendet und mittelalterliche Entwürfe kopiert, um kugelsichere Westen für die Armee herzustellen.«
Eine Frau mittleren Alters empfing uns am Aufzug, als wir ausstiegen. »Ms. Cooper? Ich bin Eve Drexler, Mr. Thibodaux’
Assistentin.« Ich stellte ihr Mike vor, und wir folgten ihr den Gang hinunter. Ihr knöchellanges, blumengemustertes Kleid raschelte zwischen ihren Beinen, während sie uns, vorbei an Thibodaux’ Sekretärin, in einen sonnendurchfluteten, ver-schwenderisch ausgestatteten Raum geleitete. Durch die gro-
ßen Fenster sah man auf die schönen Stadthäuser auf der anderen Seite der Fifth Avenue, die vor Jahren zur renommierten Mädchenschule Marymount umgebaut worden waren. Die Pri-vilegien des Direktorpostens waren offensichtlich. Auf Thibo-69
daux’ Schreibtisch stand eine antike Bronzeskulptur – ein Held, der mit einem Zentaur kämpfte –, auf dem Boden lag ein Savonnerieteppich und an den Wänden hingen Gemälde von Cezanne, Goya und Brueghel.
»Ms. Cooper, Mr. Chapman, nehmen Sie doch bitte Platz!«
Er schüttelte uns die Hände und kam dann hinter seinem Schreibtisch hervor, um sich zu uns an den Konferenztisch zu setzen. Vor Ms. Drexler stand ein reich verziertes Silbertablett mit einer antiken Kaffeekanne, aus der wahrscheinlich einmal einem Kaiser oder einer Königin serviert worden war. Sie schenkte jedem von uns in eine gewöhnliche Tasse ein.
»Ich habe versucht, so viele Informationen wie möglich für Sie zu bekommen, was die Ladung angeht«, begann Thibodaux und klappte einen Ordner mit einem Stoß Papiere auf.
Drexler setzte sich ihrem Boss gegenüber, während Chapman und ich nebeneinander Platz nahmen. Sie schlug einen lederge-bundenen Notizblock auf und notierte Datum, Uhrzeit und unsere Namen. Mike klappte den Pappdeckel seines Stenoblocks auf, für jeden neuen Fall ein neuer Block, und machte sich ähnliche Notizen.
»Ich habe Kopien des Frachtbriefs für Sie gemacht. Haben Sie schon etwas von dem Gerichtsmediziner gehört?«
»Nein. Die Autopsie ist gerade im Gange.« Mike nahm die Fotos, die man heute Morgen im Leichenschauhaus geschossen hatte, aus seiner Jackentasche. »Ich habe die hier mitgebracht, um zu sehen, ob Sie die junge Frau vielleicht gekannt haben.
Vielleicht hat sie ja hier im Museum gearbeitet oder so.«
Thibodaux nahm die Polaroidfotos, sah sie an, stutzte und legte sie dann mit dem Gesicht nach unten auf den Tisch. »Nein, ich habe sie noch nie gesehen. Aber wir sind ein sehr großes Museum, Mr. Chapman, und ich könnte nicht behaupten, dass ich auch nur die Hälfte der Leute, die hier arbeiten, kenne.«
70
»Sie machten einen erschrockenen Eindruck.«
»Das ist doch kein Wunder, oder? So eine junge Frau, es ist eine schreckliche Sache. Ich hätte nie gedacht, dass sie so … so lebendig aussehen würde. So lange in einem Sarg zu liegen, nun –«
»Was meinen Sie mit ›so lange‹?«
»Ich habe absolut keine Ahnung, wie lange sie in dem Sarg lag. Es ist nur, dass ich annehme, dass sie nicht erst gestern gestorben ist, Mr. Chapman.«
»Worauf basiert diese Annahme?«
»Hier, warum sehen Sie sich nicht diese Papiere an? Eve hat sie für Sie zusammengestellt.« Er reichte uns eine Kopie des dicken Ordners, und wir besahen uns gemeinsam die Unterlagen. »Obgleich der Lastwagen vom Museum direkt nach New Jersey gefahren ist, bestand die Ladung aus Objekten von einer Reihe von Museen. Wie Sie sehen, haben wir die Belege, welche Kisten wann und von welchen Museen dazu kamen.«
Ich überflog die ersten paar Seiten und blinzelte auf die klein gedruckten Angaben der verschiedenen Herkunftsorte. Da waren Amphoren als Leihgabe des Smithsonian-Museums, afrikanische Masken vom American Museum of Natural History, Mumienbehälter aus der umfangreichen Sammlung des Brooklyn-Museums und asiatische Gemälde vom Getty.
»Ich glaube, Sie haben uns unseren Job gerade tausendfach erschwert. Es scheint so, als ob diese Sachen in denselben Kisten waren wie Ihre. Wie kommt das?«
»Nun, Detective, wie mich Mr. Lissen, der Leiter der Versandabteilung, unterrichtet hat, ist der Grund der, dass sie nach ihrer Ankunft hier umgepackt worden sind, je nachdem, wohin sie unterwegs waren. Wir sind in der letzten Planungsphase einer riesigen Ausstellung, die wir nächstes Jahr veranstalten werden, und im Austausch für einige unserer Schätze, die sich 71
als Leihgabe in anderen Museen auf der ganzen Welt befinden, schicken wir ihnen andere Kunstwerke, um die entstandenen Lücken vorübergehend zu füllen.«
Thibodaux rieb sich die Augen, bevor er weitersprach. Er sah blasser aus als gestern Abend, als er im Scheinwerferlicht auf der Plattform des Tempels von Dendur gestanden hatte. Wahrscheinlich hatte er die ganze Nacht kein Auge zugetan vor Sorge, wie sich dieser schreckliche Fund auf das Museum auswirken würde. Sein französischer Akzent schien heute ausgeprägter zu sein, vielleicht auf Grund seiner Erschöpfung.
»Dieser Sarkophag – Nummer 1983/752 – ist auf Seite zwölf des Inventars aufgeführt.«
Chapman blätterte zu der entsprechenden Stelle. »Dieser Sarg ist letzten Herbst hierher zurückgekommen. Sie hatten ihn an das Chicago Art Museum ausgeliehen, richtig?«
»Scheint so.«
»Und seitdem ist er hier gewesen. Wissen Sie, wo?«
»Ich nicht, aber ich bin mir sicher, dass Ihnen das irgendjemand ganz genau sagen kann.« Thibodaux stand auf und ging an seinen Schreibtisch, öffnete die Schublade und schüttelte zwei Tabletten aus einem Pillenröhrchen in seine Hand. Er spülte sie mit etwas Eiswasser hinunter, das in einer Kristallka-raffe neben seiner Schreibtischunterlage stand. Gegen sein Kopfweh würden auch Tabletten nicht helfen.
»Und der andere Kram in der Kiste stammte alles aus New Yorker Museen? Sehe ich das richtig?«
Thibodaux kam wieder an den Tisch und nahm seinen Ordner in die Hand. »Ja, diese spezielle Kiste war voller Exponate, die nach Kairo unterwegs waren, hauptsächlich aus dem Naturkundemuseum drüben auf der anderen Seite des Parks und dem Brooklyn Museum. Manche Exponate sollten in Ägypten bleiben, einige an andere Orte in Afrika verschifft werden. Sehen 72
Sie das Ausmaß dieses Problems, Detective? Im Met arbeiten fast dreitausend Leute. Wir haben über dreißigtausend Quadratmeter Ausstellungsfläche, Hunderte von Ausstellungsräumen und Dienstleistungsbereichen. Es gibt eine Feuerwehr, mehrere Restaurants, eine Krankenstation und ein Kraftwerk.
Ich weiß gar nicht, wie wir die alle wegen … wegen …« Er deutete auf das kleine Polaroidfoto, auf das er seine Kaffeetasse gestellt hatte.
»Wegen der jungen Frau, die vielleicht in diesen Mauern ihren Tod gefunden hat?« Für Mike war das Opfer bereits die Heilige Cleo, und er würde dafür kämpfen, ihren Mörder vor Gericht zu bringen, egal, ob er jemals herausfand, wer sie war.
»Für uns ist es wahrscheinlich am sinnvollsten, wenn wir als Erstes mit Mr. Lissen und dem Leiter der ägyptischen Abteilung sprechen. Waren das die Herren, die gestern Nacht in Newark waren?« Ich versuchte, Chapman das Ruder aus der Hand zu nehmen, der von Thibodaux’ abschätzigen Bemer-kungen über die Verstorbene offensichtlich angewidert war.
»Kuratoriumsmitglieder, Kuratoren, Künstler, Studenten.
Wenn Sie noch nie in einem Museum waren, Detective, wissen Sie nicht, was das alles nach sich zieht.«
»Vielleicht haben Ihre französischen flics nicht viele Runden durch den Louvre gedreht, Mr. T., aber ich habe wahrscheinlich genauso viel Zeit in diesem Museum verbracht wie Sie damit, über Leute wie mich die Nase zu rümpfen. Woher wollen Sie wissen, dass ich noch nie in einem Museum gewesen bin? Weil ich Polizist bin?«
Thibodaux hatte sich auf gefährliches Terrain begeben. Mike hasste dieses geläufige Vorurteil der oberen Schichten, dass er nur ein dummer Cop war, und es machte ihn jedes Mal, wenn wir während einer Ermittlung auf diese Einstellung trafen, wü-
tender.
73
»Es war nur eine Redensart. Ich wollte Sie nicht kränken.« Er sah Eve Drexler an. »Rufen Sie doch bitte Mr. Lissen an und bitten Sie ihn zu uns herauf, damit der Detective mit ihm sprechen kann.«
»Ich war das erste Mal mit vier Jahren hier.« Mike redete jetzt mit mir. »Es gibt ein Foto von meinem Vater hier in diesem Büro. Das war, als die Polizei dem Museum die Waffen zurückgab, die sie sichergestellt hatte.«
Ich verstand nicht, worauf er anspielte, und hörte ebenso gespannt zu wie Thibodaux.
»Noch vor meiner Geburt stellten mein Vater und sein Partner während einer Bordellrazzia haufenweise Diebesgut einschließlich einiger Waffen sicher. Sie hatten jahrelang in einem Lagerhaus gelegen, der alten Asservatenkammer. Er hat jedem erzählt, wie schön sie waren, mit Gold- und Eisenbeschlägen und Elfenbeingriffen mit Initialen. Die Geschichte sprach sich bis ins Präsidium herum, und schließlich hat sich jemand die Waffen angesehen.«
Thibodaux betrachtete Chapman jetzt mit größerer Aufmerksamkeit. »Katharina die Große – die Pistolen und Jagdwaffen der Kaiserin?«
»Hergestellt von Johann Grecke, dem königlichen Waffen-schmied, 1786. Kurz bevor man sie vernichten wollte, um Platz für die neue Asservatenkammer zu machen, veranlasste die Polizei, dass mein Vater sie dem hiesigen Kurator zeigte. Man machte den ursprünglichen Besitzer ausfindig, der vermachte sie dem Met, und wir alle waren hier in diesem schicken Büro anlässlich der Zeremonie. Es war das erste Mal, dass ich eine Flasche Champagner gesehen und Kuchen von einem antiken Teller gegessen habe. Ich bin so oft wie möglich hierher gekommen, um mir die Schätze meines Vaters anzusehen.«
»Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen, Detective. Ich woll-74
te nicht andeuten, dass Sie nichts über das Museum wissen.
Fünf Millionen Besucher gehen hier jedes Jahr ein und aus und sehen nur die Objekte hinter Glas oder die Gemälde an den Wänden. Sie machen sich keine Gedanken, was hinter den Kulissen vor sich geht, damit ein Ort wie dieser so hervorragend funktionieren kann.«
Jetzt versuchte er es auf die charmante Tour, indem er Chapman Honig ums Maul schmierte und Mitleid schindete.
Eve Drexler legte den Telefonhörer auf und kam an den Tisch zurück. »Mr. Lissen wird in zehn Minuten hier sein. Ich habe frischen Kaffee bestellt. Und ich habe einige der Kuratoren, die für Ihre Ermittlungen nützlich sein könnten, gebeten, sich bereitzuhalten.« Sie war ein Ausbund an Effizienz.
»Danke.« Der Direktor ergriff wieder den Ordner und studierte die Einträge. Eve trat hinter Mike und mich und nahm unsere leeren Tassen. Sie stellte sie auf ein Emailletablett auf einer Satinholzkommode neben der Tür, dann kam sie zurück, um Thibodaux einen frischen Kaffee zu bringen. Sie nahm das Foto der toten Frau, das er als Untersetzer benutzt hatte, und legte es auf seinen Schreibtisch, wobei sie aus Neugier einen Blick darauf warf.
Ich beobachtete ihre Reaktion, als sie das Bild noch einmal in die Hand nahm. »Pierre, haben Sie diese junge Frau denn nicht erkannt? Sie war letztes Jahr ein paarmal zu Meetings hier.
Schauen Sie es sich doch noch einmal an! Ich glaube, das ist Katrina Grooten.«
75
8
Thibodaux ging an seinen Schreibtisch, zog die Schublade auf und nahm eine Lesebrille aus einem Metalletui. Er studierte das Foto und zuckte die Achseln.
»Ich treffe hier so viele junge Leute, Detective. Sie müssen mir verzeihen.« Er sah seine Assistentin an. Es war nicht direkt ein Funkeln, aber es kam mir vor wie ein Warnsignal, dass sie sich zurückhalten sollte. »Ich erinnere mich mit Sicherheit nicht an Einzelheiten, Eve. Gibt es einen Grund, warum mir Ms. Grooten im Gedächtnis hätte bleiben sollen?«
Eve hatte sich wieder an den Tisch gesetzt und ihren Notizblock in die Hand genommen. »Ich kann mich irren, Pierre. Es ist möglich, dass Sie gar nichts mit ihr zu tun hatten.«
»Hat sie für uns gearbeitet?«, fragte er mit verdutzter Miene.
»Nicht hier. In den Cloisters.«
Der Großteil der Mittelalter-Sammlung des Met war in den Cloisters untergebracht, einer Sammlung von Elementen und Beständen mehrerer europäischer Klöster, die Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts von einem bekannten Bildhauer nach Amerika verschifft und dann von John D. Rockefeller dem Museum vermacht worden waren. Die Cloisters lagen an einer atemberaubend schönen Stelle im Norden Manhattans mit Blick auf den Hudson River.
»Kennen Sie –?«
Noch ehe Thibodaux den Satz zu Ende sprechen konnte, musste Mike beweisen, dass sich seine Kenntnisse des Met nicht auf eine Abteilung beschränkten. »Fort Tryon Park. Vierunddreißigstes Revier.« Ich konnte mich noch gut an unseren letzten Besuch in diesem Viertel erinnern, als wir in dem Mordfall einer prominenten Kunsthändlerin ermittelt hatten.
76
»Ich bin mir nicht sicher, was sie dort getan hat«, fuhr Eve fort, »aber sie arbeitete an einem Aspekt der großen Bestiariumsausstellung, die wir zusammen mit dem Naturkundemuseum organisieren und die gestern Abend angekündigt worden ist. Wir hatten mehrere Planungstreffen in diesem Büro. Aber selbstverständlich ist Mr. Thibodaux so häufig im Ausland unterwegs, dass ich mich vielleicht geirrt habe, dass er dabei gewesen war.«
»Es ist schrecklich … ganz schrecklich … dass dieses … dieses Opfer jemand aus unseren eigenen Reihen ist.« Jetzt stellte der Direktor das angemessene Maß an Bedauern zur Schau. Es war mir unmöglich, seinen Gesichtsausdruck zu durchschauen und zu deuten, ob er es auch nur im Geringsten aufrichtig meinte.
»Hätte man sie denn nicht vermisst?«
»Ich werde veranlassen, dass man ihre Personalakte heraussucht, Mr. Chapman«, sagte Eve Drexler und schlug eine neue Seite ihres Blocks auf, um eine Liste dessen zu machen, was getan werden musste. »Was werden Sie noch brauchen?«
»Alles, was Sie haben. Mit wem sie zusammengearbeitet hat, was sie getan hat, wo sie gewohnt hat, von wann bis wann sie hier gearbeitet hat. Natürlich brauchen wir auch jemanden, der die Leiche identifiziert. Wie gut haben Sie sie gekannt, Ms.
Drexler?«
Thibodaux’ Assistentin war es offensichtlich nicht gewöhnt, im Mittelpunkt zu stehen. Sie unterstützte ihren Boss, sollte aber selbst im Hintergrund bleiben. »Ich, äh, ich könnte nicht behaupten, dass ich sie gekannt habe. Ich meine, wir saßen beide zwei- oder dreimal gemeinsam an diesem Tisch, aber –«
»Ihr Name ist Ihnen ziemlich schnell eingefallen.«
»Ich habe ein gutes Namens- und Personengedächtnis, Detective. Das ist mein Job.«
77
»Das ist nicht meine Stärke, Mr. Chapman. Eve steht bei allen Empfängen neben mir und flüstert mir die Namen ins Ohr.«
Thibodaux zwang sich zu einem Lächeln. »Je größer ihre Sammlungen, desto leichter scheine ich die Namen zu vergessen, gerade wenn ich sie am dringendsten brauchte. Das ist nicht ganz ungefährlich, wenn man potenzielle Mäzene dazu bringen will, das Met in ihre Nachlassplanung mit einzubezie-hen. Jeder von ihnen möchte glauben, dass sie engstens mit mir befreundet sind.«
»Haben Sie jemals allein mit ihr gesprochen? Etwas über sie herausgefunden?«
»Ich erinnere mich daran, einmal mit ihr Smalltalk gemacht zu haben«, sagte Drexler, den Zeigefinger nachdenklich gegen die Stirn gedrückt. »Sie hatte einen Akzent, und da unsere Mitarbeiter aus aller Welt kommen, fragte ich sie natürlich, wo sie herkam. Wie man eben so vor dem Beginn eines Meetings miteinander plaudert, Sie wissen schon. Ich hatte fälschlicherweise auf Australien getippt. Sie ist – entschuldigen Sie, sie war Süd-afrikanerin.«
»Holländischer Name, richtig?«, fragte Chapman.
»Ja, darüber haben wir uns auch unterhalten. Ihre Vorfahren waren vor ungefähr zweihundert Jahren dorthin ausgewandert.
Buren.« Holländische Siedler, die sich seit dem siebzehnten Jahrhundert auf dem afrikanischen Kontinent niedergelassen hatten.
»Was hat sie Ihnen noch erzählt?«
»Natürlich, dass sie in den Cloisters arbeitete. Dass sie mit einem Visum hier war. Ich erinnere mich an keine weitere Unterhaltung. Sie machte einen eher zurückhaltenden Eindruck und meldete sich während der Meetings kaum zu Wort.«
Mike deutete auf ihren Ledernotizblock. »Führen Sie Protokoll?«
78
»Ja, normalerweise schon.« Sie sah zu Thibodaux, als würde sie seinen Rat suchen.
»Die Protokolle würde ich gerne sehen.«
Jetzt ergriff der Direktor das Wort. »Ich werde dafür sorgen, dass Eve sie Ihnen heraussucht. Aber dazu müssen wir erst die jeweiligen Termine herausfinden.«
Zehn Minuten mit Eve Drexler, und man wusste, dass das kein Problem für sie sein würde. Sie war die Sekretärin, die sich jeder wünschte. Ungefähr fünfzig Jahre alt, ein Gedächtnis wie ein Elefant, übertrieben höflich, bereit, für ihren Boss den Kopf hinzuhalten, und zwanghaft organisiert. Wahrscheinlich hatte sie über jeden Tag ihrer Zusammenarbeit mit dem Direktor Tagebuch geführt.
»Wie lange sind Sie schon Mr. Thibodaux’ Assistentin?«
»Ich bin schon ein paar Jahre länger hier als er.« Sie wurde rot im Gesicht, da jetzt wieder sie im Mittelpunkt stand.
Ich versuchte sie aufzulockern, indem ich ihr ein paar persönliche Fragen stellte. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, uns zu sagen, was Ihre Aufgaben sind?«
»Natürlich nicht, wenn Ihnen das weiterhilft. Ich habe vor fast fünfundzwanzig Jahren während meines Studiums hier zu arbeiten angefangen. Ich wollte Museumsarchivarin werden.
Aber Mr. Thibodaux’ Vorgänger fand, dass die Qualitäten, die mich zu einer guten Bibliothekarin machten, auch für ihn nützlich sein würden.«
Chapman erinnerte sich an die geliebte Bibliothekarin seiner Schulzeit. »Verkniffener Mund? Den Zeigefinger an den Lippen, immer ›pscht‹ machend, wenn ich in der Bibliothek versucht habe, nach dem Unterricht ein Footballmatch mit den Jungs zu organisieren? Was noch?«
Drexler lächelte. »Nun, er schätzte mit Sicherheit Diskretion.
Und meine Kenntnisse der Sammlung. Ich habe viel Zeit damit 79
verbracht, Neuzugänge zu katalogisieren und Fragen von Mitarbeitern und Wissenschaftlern zu beantworten. Und als Mr.
Thibodaux die Leitung übernahm, war er so liebenswürdig, mich zu übernehmen.«
»Wann war das?«
Der Direktor antwortete selbst. »Vor nicht ganz drei Jahren, Detective. Sie wollen sicher auch alles über meinen Background wissen. Ms. Drexler kann Ihnen eine Kopie meines Lebenslaufs geben. Ich bin zweiundfünfzig Jahre alt, geboren und aufgewachsen in Paris. Meine Berufserfahrung ist ausschließ-
lich im kuratorischen Bereich. Ich habe über ein Jahrzehnt die Abteilung für europäische Kunst und Skulpturen des Louvre geleitet. Als ich die Gelegenheit bekam, an dieses Schmuckstück von Museum zu wechseln, habe ich das sehr begrüßt.
Meine Frau ist aus New York. Sie wollte wieder nach Hause.«
Eve Drexler hörte es klopfen und machte die Tür auf. Ich erkannte den Mann, der letzte Nacht neben dem Truck in Newark gestanden hatte und der laut Thibodaux der Leiter der Versandabteilung war.
»Kommen Sie herein, Maury.« Er stand auf und begrüßte den kleinen, untersetzten Mann, der ein rundliches Gesicht und dichtes, rötliches Haar hatte.
»Ms. Cooper, Mr. Chapman, das ist Maury Lissen. Er wird Ihnen bei allem behilflich sein, was Sie von seiner Abteilung brauchen.«
Lissen setzte sich zu uns und legte sein Klemmbrett vor sich auf den Tisch.
»Ich bin die ganze Nacht wach gewesen und habe meine Papiere durchgesehen. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie das passieren konnte.«
»Natürlich, Maury, aber offensichtlich ist es passiert, und wir müssen der Polizei helfen, so gut wir können.«
80
Chapman nahm das Foto von Katrina Grooten und reichte es Lissen. Dieser zuckte zusammen. »Ich habe einen schwachen Magen für so etwas, Detective. Zwingen Sie mich nicht, es anzusehen, okay?«
Nicht unbedingt eine Reaktion, die bei einem Mordermittler auf Verständnis stößt. Mike und seine Partner waren selten in der glücklichen Lage, eine Leiche zu Gesicht zu bekommen, die nicht verwest oder von Stich- oder Schusswunden durchlö-
chert war. »Sehen Sie es sich gut an, Maury«, sagte er und hielt dem Mann das Foto noch einmal unter die Nase. »Sie beißt nicht. Sie ist tot.«
Lissen starrte auf das Foto, ohne es anzufassen, und schüttelte den Kopf.
»Kennen Sie sie?«
»Sollte ich? Es gibt wahrscheinlich im ganzen Museum niemanden, der weniger mit Menschen zu tun hat als ich. Bilder-rahmen, Töpfe, Schwerter, Masken, Instrumente, Kunstwerke.
Ich mache Kisten auf und zu. Ich packe ein und verschicke. Ich kenne keine hübschen jungen Frauen.«
Chapman wiederholte ihren Namen, aber Lissen zeigte keine Reaktion.
»Haben Sie irgendetwas mit den Cloisters zu tun?«
»Hat sie dort gearbeitet?«
»Ja oder nein?«
»Ich bin für alles verantwortlich, was hier rein- und rausgeht.
Ich habe eine Mannschaft dort, die sich um das Tagesgeschäft kümmert. Ich selbst verbringe keine Zeit dort oben. Das sind kleine Fische verglichen mit unserer Arbeit hier unten. Ich fahre vielleicht zwei- oder dreimal im Jahr dort hinauf, um etwas zu überprüfen.«
»Der Sarkophag, in dem die Leiche gefunden wurde – wo war er, seit er letzten Herbst zurückgekommen ist?«
81
»Wir versuchen gerade, das alles für Mr. Thibodaux in Erfahrung zu bringen. Wissen Sie, wie viel Bodenfläche ich da unten habe? So viel wie dreißig Footballfelder.«
»Ich dachte, alles hätte eine Nummer, ein Schildchen und seinen Platz.«
»Zwei Drittel der Sachen, Detective. Sie müssen mir schon ein paar Tage Zeit geben. Dort unten wird andauernd hin- und hergeräumt. Wir werden es so bald wie möglich in Erfahrung bringen.«
Thibodaux stützte sich auf die Ellbogen. »Mr. Chapman, ich möchte nicht denselben Fehler machen wie zuvor und Sie möglicherweise kränken. Aber es gibt eine simple Tatsache, die nur sehr wenige Leute bedenken, wenn sie uns oder irgendein anderes Museum auf der Welt besuchen. Die Sammlung des Metropolitan umfasst mehr als drei Millionen Objekte und Kunstwerke. Drei Millionen. Davon sind zu jedem Zeitpunkt maximal knapp zehn Prozent ausgestellt. Das heißt, dass wir buchstäblich Millionen von Objekten im Keller lagern.«
Er hatte Recht: Ich hatte noch nie daran gedacht.
»Manche sind in Kisten verstaut, aus dem einfachen Grund, weil wir in unseren Ausstellungsräumen oder an unseren Wänden nie für sie einen Platz haben werden. Manche Schenkungen sind minderwertig und werden letztendlich getauscht oder verkauft. Hunderttausende sind viel zu zerbrechlich, als dass man sie ausstellen könnte, andere werden von Wissenschaftlern studiert, hier bei uns oder als Leihgabe an anderen Institutionen.«
Chapman und ich sahen uns an. Wo sollten wir bloß anfangen?
»Ich schätze, wir können uns genauso gut mal Ihren Bereich ansehen, Mr. Lissen. Um uns einen Eindruck zu verschaffen, wie die Sachen organisiert und verstaut sind, wie es mit der Sicherheit aussieht –«
82
»Das System ist hervorragend, Mr. Chapman«, sagte Thibodaux. »Es ist während meiner Amtszeit aufgerüstet worden. In jeder Abteilung des Gebäudes sind Wächter, und nachts patrouilliert der Sicherheitsdienst über und unter der Erde.«
»Überwachungskameras?«
»In den Ausstellungsräumen, Gängen, Lagerräumen, an den Ein- und Ausgängen.«
»Sind sie eingeschaltet?« Einige Jahre vor Thibodaux’ Er-nennung zum Direktor hatte ich die Ermittlungen in einem bekannten Mordfall geleitet, in dem ein vor Vitalität sprühendes Mädchen von einem drogensüchtigen Prep-School-Abbrecher auf dem Great Lawn direkt hinter dem Museum ermordet worden war. Auf Grund von Bauarbeiten am rückwärtigen Muse-umsflügel, der in den Central Park ragte, waren die Kameras, die das Verbrechen normalerweise aufgezeichnet hätten, zwar montiert, aber ohne Film gewesen. Es verfolgte mich immer noch, dass niemand in der Lage gewesen war, den Mord zu verhindern, und dass wir das Verbrechen für die Geschworenen nicht hatten rekonstruieren können.
»Ich … ich gehe davon aus, dass sie funktionieren.«
Seinem verhaltenen Gesichtsausdruck nach zu urteilen, kannte Lissen die Antwort, sagte aber nichts. »Gibt es ein Problem mit den Kameras?«, fragte ich ihn.
»Ich glaube nicht, dass die Filme in den Kameras im Keller in den vergangenen zwölf Monaten gewechselt worden sind.«
»Wie bei diesen bescheuerten Geldautomaten«, sagte Chapman zu mir. Ein junger uniformierter Polizist war während eines bewaffneten Raubüberfalls an einem Bankautomaten er-schossen worden. Der Täter hatte direkt in die Kamera gesehen, aber der Film war so viele Male benutzt und immer wieder überspielt worden, dass er völlig unbrauchbar war und nur den verschwommenen Umriss eines bärtigen Gesichts erkennen 83
ließ. Als Folge hatte die Legislative eine Verordnung erlassen, laut der Banken ihre Filme regelmäßig auswechseln müssen.
Für Museen existierte keine derartige Verfügung.
»Der Detective und ich würden heute Nachmittag gerne mit Ihnen anfangen, Mr. Lissen. Wenn ich vorher kurz telefonieren könnte, würde ich gerne meinen Boss anrufen, um ihm mitzuteilen, dass wir die Verstorbene identifiziert haben.«
»Natürlich, Ms. Cooper. Bitte benutzen Sie das Telefon auf meinem Schreibtisch. Ich werde von Ms. Drexlers Apparat aus den Direktor der Cloisters anrufen. Er kann uns Ms. Grootens Akte heraussuchen.«
Ich wählte Paul Battaglias Durchwahl und hoffte, dass Rose Malone an den Apparat gehen würde. Sie hörte sich beschäftigt
– oder distanziert – an und stellte mich sofort zum Bezirksstaatsanwalt durch. Dann war sie wieder in der Leitung, um mir zu sagen, dass er meinen Anruf nicht entgegennehmen würde.
Das war mir noch nicht oft passiert.
»Sagen Sie ihm nur, dass wir die Leiche wahrscheinlich identifiziert haben. Die Tote heißt Katrina Grooten und arbeitete oben in den Cloisters an einem Sonderprojekt, an dem mehrere Museen beteiligt waren. Der Gerichtsmediziner denkt, dass die Todesursache eine Vergiftung ist. Ich melde mich wieder, sobald ich mehr weiß.«
Ich reichte Chapman den Hörer und trat beiseite. »Hey, Loo.
Wir haben eine vorläufige Identifizierung der Heiligen Cleo.
Irgend so eine Kunsttante in einem der Museen. Aus Südafrika, mit einem Visum hier. Coop und ich sausen morgen, wenn wir hier fertig sind, hinauf zu den Cloisters, um herauszufinden, ob jemand weiß, warum oder ab wann sie nicht mehr zur Arbeit erschienen ist.«
Er legte auf und nahm ein Foto in die Hand, das auf Thibodaux’ Schreibtisch stand. Aus dem zehn auf fünfzehn Zentime-84
ter großen Rahmen lächelte uns eine attraktive, herausgeputzte Frau entgegen, die vor der Glaspyramide im Innenhof des Louvre stand.
»Mrs. T.?«
Eve Drexler nickte.
»Hat sie irgendetwas mit dem Museum zu tun? Ich meine, offiziell.«
»Nein, Mr. Chapman. Sie ist tot. Sie kam vorletzten Winter bei einem Skiunfall in Chamonix ums Leben. Sie waren erst etwas über ein Jahr hier gewesen. Ich war hier bei Pierre im Büro, als er –«
Drexler verstummte, als die Tür aufging und Thibodaux wieder ins Zimmer kam. »Hiram Bellinger, der Direktor der Cloisters, wird Sie morgen jederzeit, wann immer es Ihnen recht ist, empfangen. Er kannte Ms. Grooten nicht gut, aber er wird ihre Akte heraussuchen und Ihnen geben, was Sie brauchen.«
Chapman drehte dem Direktor den Rücken zu und flüsterte mir zu: »Wir schauen uns hier schnell um, dann treffen wir uns morgen früh im Leichenschauhaus, um zu sehen, was Kestenbaum für uns hat, und danach verbringen wir so viel Zeit wie nötig uptown und reden mit den Leuten, mit denen sie zusammengearbeitet hat.«
»Geht in Ordnung.«
Mike ging zum Konferenztisch, um seinen Notizblock zu holen. »Sagen Sie Bellinger, dass wir morgen so gegen zwölf bei ihm sein werden. Hat er denn nichts, was er Ihnen jetzt sofort faxen kann?«
»Die einfachen Personalangaben sollten in der Datenbank gespeichert sein, auch wenn die gesamte Akte im Archiv ist. Ich vermute, dass er mir ihre Adresse und ihr Geburtsdatum in Kürze faxen kann. Was möchten Sie sonst noch wissen?«
85
»Nächste Verwandte wäre nett. Ich möchte nicht, dass sie über CNN davon erfahren. Vielleicht hat sie Familie hier, die uns weiterhelfen kann.«
»Wie gedankenlos von mir! Fangen Sie doch schon mal unten mit Maury an, und Ms. Drexler wird Sie suchen kommen, sobald wir die Informationen haben.«
»Hat er gesagt, dass an Ms. Grootens Verschwinden irgendetwas Ungewöhnliches ist?«
»Überhaupt nicht, Detective. Er erinnerte sich, dass er Ende Dezember ein Kündigungsschreiben von ihr erhielt, das er zu ihrer Akte legte. Sie beide sollten das besser zurückverfolgen können als wir. Bellinger sagte, dass Katrina die Stadt verlassen wollte, nachdem sie eines Nachts in dem Park bei den Cloisters überfallen und vergewaltigt worden war. Er sagt, sie sei danach nie wieder dieselbe gewesen.«
86
9
Thibodaux schloss die Tür zu seinem Büro und ließ uns am Schreibtisch seiner Sekretärin mit Ms. Drexler zurück, die darauf wartete, uns ins Souterrain zu geleiten.
»Könnten Sie uns bitte allein lassen, während wir noch ein Telefonat führen?«, fragte Chapman. Die beiden Frauen gingen auf den Flur hinaus.
Er wählte die Nummer der Sonderkommission für Sexualverbrechen und sah auf seine Uhr.
»Hey, Joey, arbeitet Mercer Wallace heute?« Er wartete, während der Detective auf den Dienstplan sah. »Wenn er kommt, sag ihm bitte, dass er mich auf meinem Handy anrufen soll. Er muss mir in einem alten Fall etwas raussuchen. Nein, danke. Nicht nötig, dich damit zu belästigen.«
Er legte auf. »Du warst schon mal besser in Form, Blondie!
Wie kommt’s, dass du nicht Bescheid weißt über eine Klägerin, die in einem öffentlichen Park vergewaltigt worden ist?«
»Weil jemand den Fall absichtlich verschlampt hat, damit wir ihn nicht in die Hände bekommen.«
»Das heißt, dass dich der Boss dort oben nicht mag, oder vielleicht der Kerl, der die Meldung entgegengenommen hat.
Bist du dir sicher, dass du nichts darüber weißt?«
»Ich werde Laura bitten, unsere Kartei zu überprüfen, aber der Fall fasst zu viele heiße Eisen an, als dass er mir nicht im Gedächtnis geblieben wäre.« Meine Abteilung verfügte über ein ausgeklügeltes Archivierungssystem von Sexualverbrechen, wobei jeder Eintrag mit Querverweisen auf den Namen des Opfers und des Täters, das Datum und den Tatort versehen war. Egal, ob eine Verhaftung stattgefunden hatte oder der Fall vor Gericht ging, es wurde in jedem Fall ein Bericht erstellt.
87
Sarah und ich hielten unser System für narrensicher, aber von Zeit zu Zeit gelang es der Polizei, etwas unter den Teppich zu kehren.
»Das Opfer ist Ausländerin – was den Bürgermeister wahnsinnig machen würde.« Es war schlimm genug, eine New Yorkerin zu vergewaltigen oder zu ermorden, wenn das Rat-haus die Verbrechensstatistiken so genau im Auge behielt, aber Überfälle auf Fremde zogen landesweite Schlagzeilen nach sich, die die Tourismuseinnahmen für die Hotel- und Restau-rantbranche gefährdeten. »Sie arbeitete für eines der großen Kunstmuseen und wurde in einem öffentlichen Park angegriffen. Das würde wahrscheinlich für Unruhe sorgen. Mercer erscheint jeden Augenblick zur Spätschicht. Er kann uns die Akte raussuchen.«
Mercer Wallace war der Dritte in unserem Bunde. Mit ein-undvierzig war er fünf Jahre älter als Mike und ich und würde in Bälde zum ersten Mal Vater werden. Er und seine Exfrau Vickee hatten am Neujahrstag erneut geheiratet, nachdem sie zu einer Zeit, als ihn eine Schusswunde in der Brust fast das Leben gekostet hätte, wieder in sein Leben kam.
Durch seine Größe und tiefschwarze Hautfarbe war Mercer nirgends zu übersehen. Aber es waren sein detailgenauer Er-mittlungsstil und sein mitfühlender Umgang mit Zeugen, die ihn zu meinem Lieblingsdetective bei der Sonderkommission für Sexualverbrechen machten, die für jedes Sexualverbrechen und jeden Fall von Kindesmisshandlung im Stadtbezirk verantwortlich war. Sein Vater, ein verwitweter Flugzeugme-chaniker, hatte vor seiner Pensionierung mehrere Jobs gehabt, um Mercer das Studium zu finanzieren, aber dieser hatte in letzter Minute ein Footballstipendium für die Universität von Michigan abgelehnt und sich an der Polizeiakademie einge-schrieben.
88
Mike und Mercer hatten einige Jahre im Morddezernat von Manhattan North zusammengearbeitet, bis Mercer beschloss, dass er lieber mit Zeugen zu tun hatte, die noch am Leben waren und die die Kraft eines sensiblen, klugen Detectives brauchten, um ihre Würde wiederzuerlangen und ihren Verge-waltigern die gerechte Strafe zukommen zu lassen. Öfter als uns lieb war überlappte die Arbeit der beiden Abteilungen, und das Opfer eines Sexualverbrechens wurde Gegenstand einer Mordermittlung.
Eve Drexler wartete im Flur auf uns. Sie begleitete uns zu-rück zu den Aufzügen und fuhr mit uns ins Untergeschoss. Als die Türen aufgingen, deutete sie auf ein Schild auf der gegenü-
berliegenden Seite des Korridors, auf dem Lissens Name stand.
Noch ehe ich sie bitten konnte, uns zu Ende zu erzählen, wie Thibodaux auf die Nachricht vom Unfalltod seiner Frau reagiert hatte, schlossen sich die Aufzugstüren wieder. Ich bat Mike, die Frage in seine Liste aufzunehmen.
Das kleine Zimmer, in dem der Leiter der Versandabteilung untergebracht war, verfügte nicht über die Annehmlichkeiten des Büros des Museumsdirektors. Ungerahmte Posterreproduk-tionen waren mit Reißnägeln an den verschrammten Wänden befestigt, ähnlich wie in einem Studentenwohnheim. Aktenschränke standen an den Wänden, der Computer war so einge-staubt, dass es den Eindruck machte, als wäre er seit seiner Installation nicht mehr angefasst worden, und auf dem Tisch türmten sich gelbe und weiße Papierstapel.
Lissen winkte uns herein, und wir setzten uns auf Hocker vor seinen Schreibtisch. »Mr. Thibodaux hat ein paar der Kuratoren gebeten, nach unten zu kommen. Ohne ihre Erlaubnis darf ich nicht in ihren Lagerräumen herumstöbern.«
»Können wir uns woanders hinsetzen, damit ich mir während des Gesprächs Notizen machen kann?«
89
»Hier unten gibt’s nicht gerade viele schicke Zimmer, Detective.«
Ich hörte Schritte und drehte mich um. Unter den drei Leuten im Türrahmen erkannte ich den großen, glatzköpfigen Mann, der gestern Nacht mit Mr. Lissen auf dem Hafengelände gewesen war.
»Ich bin Timothy Gaylord. Die ägyptische Kunstsammlung untersteht meiner Leitung«, sagte er und streckte mir seine Hand entgegen.
Mike und ich standen in dem engen Zimmer auf und stellten uns vor. Die anderen beiden waren Erik Poste, der Kurator der Abteilung für europäische Gemälde, und Anna Friedrichs, die Leiterin der Abteilung für afrikanische, ozeanische und amerikanische Kunst.
Gaylord übernahm das Kommando. »Maury, warum gehen wir nicht alle in unseren Lagerraum?« Er wandte sich an Mike und mich. »Dort ist ein kleines Büro, in dem es sich viel bequemer arbeiten lässt als hier.«
»Können wir dort Ihre Computerdateien einsehen?«, fragte ich Lissen.
»Nun, falls wir welche hätten.« Er machte eine Handbewegung in Richtung des staubigen Bildschirms. »Wir sind nicht gerade die Hightech-Abteilung des Museums. Oben ist alles katalogisiert. Wir sind nur die Muskelkraft. Jemand sagt uns, dass wir etwas transportieren sollen, und wir tun’s. Ich hatte nie die Zeit, um zu lernen, wie man mit diesen Dingern um-geht. Früher oder später nimmt jemand den Papierkram und ordnet ihn. Ich habe noch nie etwas verloren außer ein paar afrikanischen Masken, die einen ohnehin halb zu Tode erschreckt haben, und einigen falschen Statuetten. Und einigen zweitran-gigen Gemälden, die man sowieso nie aufgehängt hätte.«
Lissen schloss hinter uns ab, und wir folgten Timothy Gay-90
lord den Flur hinunter. Wir waren in der südöstlichen Ecke des Untergeschosses und gingen einige Minuten einen fenster-, türund treppenhauslosen Korridor entlang.
»Was ist hier dahinter?« Chapman holte Gaylord ein und deutete auf die dicken grauen Wände.
Gaylord drehte den Kopf und lächelte uns an. »Sie können doch sicher erraten, Detective, was der lukrativste Teil dieses großartigen Kunstmuseums ist?«
Mike wusste es genauso wenig wie ich.
»Die Tiefgarage, die vor dreißig Jahren gebaut wurde. Die Einkünfte gehen ans Museum. Im Gegensatz zu allem anderen bekommt die Stadt keinen Nickel von dem Geld.«
»Öffentliche Parkplätze?«
»Ja, die täglichen Museumsbesucher und die Bewohner der Luxushäuser hier in der Umgebung. Als Kunstliebhaber tut es mir weh zu sagen, dass die Garage wahrscheinlich die wichtigste Einkommensquelle dieses großartigen Museums ist.«
Ich wusste, dass das ein Problem war, mit dem Mike überhaupt nicht gerechnet hatte. Die Tatsache, dass man ein Privat-fahrzeug tage- oder wochenlang hier unten parken konnte und unmittelbaren Zugang zum Museum hatte, bedeutete, dass er es auf die Liste der zu durchsuchenden Örtlichkeiten setzen musste.
Wir bogen um eine Ecke und gingen nun Richtung Norden.
Hier waren eine Reihe von Türen, jede mit einer Nummer über dem Türrahmen. Gaylord blieb vor der dritten Tür stehen und machte sie auf. In dem großen quadratischen Raum saßen sich zwei Frauen an einem Tisch gegenüber. Sie hatten Stirnbänder, an denen Lupen befestigt waren, um den Kopf geschnallt und beugten sich über das Modell eines alten Bootes.
»Ich brauche den Raum für ungefähr eine Stunde«, sagte Gaylord freundlich. »Würde es Ihnen schrecklich viel ausmachen, wenn wir Sie bei der Arbeit unterbrechen?«
91
Die beiden legten ihre Stirnbänder ab und versicherten uns, dass die Pause äußerst willkommen war.
Wir setzten uns an den Tisch.
»Pierre rief mich an, um mir die jüngsten Neuigkeiten mitzuteilen, und ich möchte nur sagen, wie betroffen ich bin. Al-le von uns, da bin ich mir sicher. Ich habe Katrina Grooten gekannt.« Er hielt inne und fuhr sich mit dem Finger über die Unterlippe. »Sie war eine sehr ernsthafte junge Wissenschaftlerin. Und ich mache mich persönlich dafür verantwortlich, dass Ms. Grooten in einem Sarkophag aus meiner Abteilung gefunden wurde. Ich bat Erik und Anna dazu, weil sie unter Umständen Informationen haben, die Ihnen weiterhelfen könnten. Mir fiel ein, dass beide sie gut gekannt haben. Wo möchten Sie anfangen?«
Ich wollte mehr über das Opfer wissen. Welche Art Mensch sie war, womit sie ihren Lebensunterhalt verdiente, was sie in ihrer Freizeit gern tat. Mit welchen Leuten sie Umgang pflegte und ob sie ein risikofreudiger Mensch war. Wer ihre Familie war und was sie über ihr Verschwinden dachte. Ich brauchte eine Skizze von Katrina Grooten, die sie vor meinem geistigen Auge lebendig machte, damit ich die Ereignisse rekonstruieren konnte, die zu ihrem Tod geführt hatten.
Mike hingegen wollte die Tote nicht besser kennen lernen, als es ihm die Fakten aufzwangen. Er blieb bei Verstand, indem er eine gewisse Distanz wahrte zu der Person, deren Mörder er finden wollte. Obwohl er hartnäckig jede Kleinigkeit über Katrinas Leben in Erfahrung bringen würde, wollte er nichts verinnerlichen, was ihn veranlassen könnte, ihr Leben oder ihren Lebensstil zu kritisieren. Es war ihm egal, ob sie beliebt oder verhasst gewesen war, ob sie sexuell aktiv oder eine Einsiedlerin gewesen war. Für ihn zählte nur, dass sie es nicht verdient hatte, so zu sterben, und niemand würde sich 92
mehr anstrengen als er, um den Mistkerl zu fassen, der für ihr hässliches Ende verantwortlich war.
»Vielleicht könnte uns jeder von Ihnen erzählen, was Sie über Katrina wussten, beruflich und privat. Wir brauchen jedes Detail, an das Sie sich erinnern können.«
Gaylord sprach als Erster. »Ich habe vermutlich am wenigsten beizusteuern, also kann ich genauso gut anfangen. Wissen Sie über das Gemeinschaftsprojekt mit dem Naturkundemuseum Bescheid?«
»Ich weiß, dass es nächstes Jahr eine gemeinsame Ausstellung geben soll, die gestern Abend feierlich verkündet wurde.
Aber weder ich noch Detective Chapman kennen die Details.«
»Seit über einem Jahrhundert besteht zwischen den beiden Institutionen eine ziemlich intensive Rivalität. Sie sind beide in den siebziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts gegründet worden, und die Kuratoriumsmitglieder wollten ursprünglich beide Museen an der gleichen Stelle errichten. Manhattan Square, auf der Westseite des Parks. Erst später zog das Met zu seinem jetzigen Standort um, damals Deer Park genannt, die Gegend zwischen der Seventyninth und Eightyfourth Street auf der Upper East Side. Präsident Grant legte den Grundstein für das Naturkundemuseum, und Präsident Hayes weihte das Metropolitan ein.«
»Warum der Konflikt?«, fragte Chapman. »Lässt sich der nicht beilegen, damit man über aktuelle Themen sprechen kann?«
»Die Kuratoriumsmitglieder des Metropolitan, die sagenhaft reichen Kauf- und Geschäftsleute jener Zeit, hatten außergewöhnlich hoch gesteckte Ziele. Sie orientierten sich an den großen Museen Europas, von denen die meisten davon profi-tierten, dass sie jahrhundertelang ihre Nachbarn geplündert hatten oder von den Königsfamilien unterstützt wurden. Beide 93
Methoden hatten sich bei der Etablierung von Sammlungen bestens bewährt. Unsere Gründer wollten mit Hilfe der Kunst die Massen bilden und erziehen und ihnen kunsthistorisches Wissen zur Verfügung stellen, das in anderen zivilisierten Ländern bereits existierte.«
»Tat das Naturkundemuseum nicht das Gleiche?«
Alle drei Kuratoren rümpften gleichzeitig die Nase.
»Das kann man wohl kaum Kunst nennen, Mr. Chapman.
Naturkundemuseen entwickelten sich aus einer völlig anderen Sammelleidenschaft heraus. Sie sind Nachkommen dessen, was man ›Kuriositätenkabinette‹ nannte. Fossilien, Mineralien, Mollusken, Muscheln, Insekten, und die allzeit populären Dinosaurier. Sie sind eine faszinierende Fundgrube aller bizarren und wundersamen Kreaturen, die jemals die Erde bevölkert haben.«
»Heutzutage bemühen sie sich redlich, sich wissenschaftlich zu nennen, aber für uns andere im Museumsgeschäft besitzen sie nur konservierte Überreste. Haufenweise tote Sachen in Einweckgläsern und hinter Glas«, sagte Erik Poste.
»Aber stellen Sie ihre besten Exponate neben ein Gemälde von Delacroix oder Vermeer oder auch neben die Fayence-sphinx von Amenhotep III., und es ist einfach nur lachhaft«, sagte Gaylord. »Wir sind kein Warenlager des Bizarren und Ausgestorbenen. Wir sind schlicht und einfach die größte Kunststätte der westlichen Welt, eine lebende Institution, die nicht nur informativ, sondern auch auf eine Art und Weise er-baulich ist, wie es unser Schwestermuseum auf der anderen Seite des Parks nie sein wollte.«
»Also was ist mit der gemeinsamen Ausstellung?«
»Händchenhalten zum Wohle der Allgemeinheit, Detective.
Wie Sie sich sicher denken können, geht es nur darum, Profit zu machen. Als die Wirtschaft dieses Jahr so merklich absack-94
te, mussten die Kuratoriumsmitglieder Thibodaux bitten, den Gürtel enger zu schnallen.«
»Warum ihn?«
»Weil er das Geld mit vollen Händen ausgibt. Deswegen hat man ihn vor drei Jahren an Bord geholt. Das Kuratorium be-wunderte seine Kühnheit und warf ihm das Geld schier hinterher. Ich rede hier nicht hinter seinem Rücken. Ein Grund, warum wir ihn gerne am Ruder haben, ist, dass uns die ganze Zeit großartige Kunstwerke angeboten werden, weil die Sammler wissen, dass unser betuchtes Kuratorium bereit ist, für diese Meisterwerke zu zahlen. Kein Feilschen, kein Handeln.«
Erik Poste übernahm wieder das Wort. »Wie Sie wahrscheinlich wissen, veranstaltet das Met andauernd Sonderausstellun-gen. Manche sind erfolgreicher als andere. Diese hier ist seit über einem Jahr in der Planungsphase. Es war Thibodaux’ Idee, das Naturkundemuseum zu bitten, sich mit uns zusammenzu-tun. Das hat es noch nie gegeben, und er denkt, dass die Ausstellung das Potenzial hat, ein Kassenschlager zu werden.«
»UniQuest denkt das auch«, sagte Gaylord und erinnerte mich an Sinn und Zweck des gestrigen Empfangs.
»Was ist das Thema der Ausstellung?«
»Unser Arbeitstitel lautet ›Ein modernes Bestiarium‹.«
»Hört sich in meinen Ohren nicht allzu aufregend an«, sagte Chapman.
»Keine Angst. Unsere Freunde in Hollywood werden sich schon noch etwas Flotteres einfallen lassen, bevor alles fertig ist. Wir haben bereits so Titel wie ›Satyrn, Sirenen und Sa-piens‹ abgelehnt. Es ist wirklich ein faszinierendes Unterfan-gen. Es ist für jeden etwas dabei, und das macht Thibodaux ja zu einem Marketinggenie. Ihn und die Leiterin des Naturkundemuseums, Helen Raspen; sie ist absolut brillant.«
»Was ist ein Bestiarium?«
95
Wieder ergriff Erik Poste das Wort. »Ursprünglich waren das mittelalterliche Bücher, Mr. Chapman. In ihnen sollten alle Tiere der Welt beschrieben und abgebildet werden, und dazu –
gemäß dem damaligen Denken – die menschlichen Züge, die sie repräsentierten.«
»Tiere mit menschlichen Zügen?«
»Bestiarien sind Quellen für alle Arten von Fabelwesen, und Künstler benutzen sie seit Jahrhunderten als Leitfäden des literarischen Symbolismus. Denken Sie beispielsweise an das Einhorn. Es ist seit langem das Symbol für Jungfräulich-keit.«
»Und ich dachte immer, das wäre eine blonde Staatsanwältin«, murmelte Chapman vor sich hin.
Gaylord fuhr fort. »Lewis Carroll, James Thurber, Jorge Luis Borges – sie alle haben Bestiarien gemacht. Natürlich in jüngster Zeit. Die Ausstellung gibt uns die Gelegenheit, aus beiden Sammlungen Arbeiten aus mehreren Jahrhunderten zu diesem Thema zusammenzutragen. Wir haben die künstlerischen Dar-stellungen, die Gemälde und Skulpturen, und das Naturkundemuseum hat die Fossilien und Skelette. Kunstliebhaber und Tierfans, Kinder und Erwachsene – es werden alle auf ihre Kosten kommen.«
Rollt die riesigen Seidenbanner aus, die vom Dach des Museums jede neue Ausstellung ankündigen, lasst die Kassen klingeln, füllt die Regale der Museumsläden, und die Massen werden kommen.
Wo hatten wir Katrina in all dem verloren? »Was hatte Ms.
Grooten damit zu tun?«
Timothy Gaylord rollte seinen Füllfederhalter zwischen den Handflächen. »Als Thibodaux Anfang letzten Jahres diese Idee zum ersten Mal vorbrachte, beschlossen wir, von jeder Sammlung innerhalb des Met jemanden zu kontaktieren.«
96
»Wie viele davon gibt es?«
»Achtzehn kuratorische Abteilungen – alles Mögliche, von uns dreien bis hin zu Musikinstrumenten und Fotografie. Wir fingen mit den Leitern der jeweiligen Abteilungen an. Manche der kleineren Abteilungen schickten Vertreter. Wenn mich nicht alles täuscht, kam Hiram Bellinger von den Cloisters zum ersten Treffen in Pierres Büro, richtig?«
Gaylord sah Poste und Friedrichs an.
»Ja«, antwortete Friedrichs, »danach stellte er Katrina zur Arbeit an dem Projekt ab. Sie sollte die Gegenstände auswählen, die man aus den Cloisters verwenden wollte.«
»Es ist Mr. Bellingers Spezialität zu delegieren, Ms. Cooper«, sagte Erik Poste und schlug lachend die Beine übereinander. »Pierre gab uns deutlich zu verstehen, dass sogar diejenigen von uns, die die Hauptabteilungen des Museums leiteten –
Timothy hier und ich –, uns selbst an dieser Ausstellung beteiligen müssten. Es kostete enorm viel Zeit und Energie, aber ich wusste, dass es sich auf Grund der Einnahmen aus der Ausstellung für uns lohnen würde.«
»Bellinger ist selbst ein Relikt des Mittelalters«, sagte Gaylord. »Er sitzt dort oben wie ein Mönch im Kloster und studiert illuminierte Handschriften. Er scheint nicht zu kapieren, dass er bald selbst das Armutsgelübde ablegen kann, falls wir kein Geld einfahren. Leider haben viele unserer Wissenschaftler wie Hiram nur Verachtung für Thibodaux und seine unternehmeri-sche Vision übrig.«
»Und Sie?«
»Ich bewundere Pierre durchaus. Ich glaube, das tun wir alle drei. Man muss die finanziellen Mittel haben, um die Stücke kaufen zu können, die auf den Markt kommen. Das ist die einzige Möglichkeit, mit den anderen großen Museen der Welt Schritt zu halten. So einfach ist das.«
97
»Sie haben also Ms. Grooten das erste Mal bei diesen Meetings getroffen?«, fragte ich Gaylord.
»Das einzige Mal. Pierre übertrug mir die Leitung auf Seiten des Met für die gemeinsame Ausstellung. Ich habe bei einigen Planungstreffen den Vorsitz geführt.«
»War Mr. Thibodaux auch anwesend?«
Gaylord dachte einen Moment nach. »Vielleicht ein- oder zweimal. Ich kann mich nicht erinnern, ihn noch oft gesehen zu haben, nachdem er mir die Leitung übergeben hatte.«
»Und Ms. Grooten?«
»Wie ich schon sagte, sie war beim ersten Treffen nicht dabei.«
»Aber waren er und sie jemals in denselben Meetings anwesend?«
Die drei Kuratoren sahen einander an. »Schwer zu sagen«, antwortete Poste. »Thibodaux steckte gelegentlich den Kopf durch die Tür, wenn er nicht gerade im Ausland unterwegs war. Nur um zu unterstreichen, dass die Ausstellung sein Baby war, eine Direktive von oberster Stelle.«
»Ist er oft unterwegs?«
»Ständig. Irgendein Mittelsmann ruft an, um ihm zu sagen, dass ein Privatmann in Athen, der dringend Bargeld braucht, einen alten griechischen Krug besitzt oder dass in Genf auf einer Auktion zum ersten Mal ein Caillebotte zu haben ist oder dass eine reiche alte Dame überlegt, welchem Museum sie ihre Stradivari vermachen soll, je nachdem, wo das gute Stück am besten zur Geltung kommt. So läuft das Spiel.«
»Hat einer von Ihnen jemals privat mit Ms. Grooten zu tun gehabt? Außerhalb dieser Treffen?«
»Wir beide«, sagte Anna Friedrichs und deutete auf sich und Erik Poste.
»Was wissen Sie über sie? Wie gut kannten Sie sie?«
»Ich mochte Katrina sehr gern«, sagte Friedrichs. »Wir gin-98
gen hin und wieder nach der Arbeit zusammen essen. Sie war ungefähr zehn Jahre jünger als ich. Achtundzwanzig oder neunundzwanzig. Sie hat in England studiert. Oxford, glaube ich. Sie machte ihren Magister in mittelalterlicher Kunstgeschichte, bevor sie vor drei Jahren hierher kam, um für uns zu arbeiten.«
»Single?«
»Ja. Sie lebte allein. Sie wohnte in einer Einzimmerwohnung in Washington Heights, in der Nähe der Cloisters. Sie fuhr gern mit dem Fahrrad zur Arbeit.«
»Hatte sie irgendwelche Verwandte hier?«
»Nicht dass ich wüsste. Ihre Mutter starb, als sie auf der Uni gewesen war. Und ihr Vater daheim in Südafrika ist, glaube ich, ziemlich krank.«
Erik Poste wusste mehr darüber. »Es war einer der Gründe, warum sie so hin und her gerissen war. Ihr Vater lag im Sterben, und sosehr sie ihre Arbeit hier auch liebte, sprach sie immer öfter davon, wieder nach Hause zu gehen, um sich um ihn zu kümmern.«
»Irgendwelche Männer in ihrem Leben? Beziehungen?«
»Nicht, dass sie darüber gesprochen hätte. Wie Anna ging ich manchmal mit Katrina in der Mittagspause essen, wenn wir gerade zufällig beide im Büro der Bestiariums-Ausstellung arbeiteten. Ich glaube, wir waren einmal zusammen beim Abendessen, gemeinsam mit einer anderen Museumsmitarbeiterin, weil sie etwas Dienstliches mit mir besprechen wollten.«
»Haben Sie und Katrina Grooten jemals –?«
»Nicht, was Sie denken, Detective. Ich bin dreiundvierzig Jahre alt, verheiratet und habe drei Kinder. Meine Beziehung zu Katrina war rein beruflicher Natur. Zwischen unseren beiden Abteilungen gab es viele Überschneidungen, also hatten wir oft miteinander zu tun.«
99
»Was meinen Sie mit Überschneidungen?«
»Ich leite die Abteilung für europäische Gemälde und Skulpturen. Katrinas Interesse galt der mittelalterlichen Kunst. Ihr Bereich ist ein Unterbereich meiner Abteilung, also habe ich sehr viel Kontakt mit Hiram Bellinger und seinen Leuten. Ehrlich gesagt wollte ich sie Bellinger abspenstig machen und sie ans Met holen, damit sie hier einige Projekte beaufsichtigen konnte.«
»Also haben Sie gerne mit Katrina zusammengearbeitet?«
»Ja, ich respektierte ihre Intelligenz und ihren Wissensdurst.
Sie war sehr reif für ihr Alter. Und sehr ruhig, sehr introver-tiert.«
Anna Friedrichs lachte. »Nicht in den Meetings, an denen ich teilgenommen habe. Sie hatte Mut, was ich bei einer Frau ihres Alters sehr schätzte. Trotz ihrer mangelnden Erfahrung hatte sie keine Angst, sich mit den alten Knaben anzulegen, die die Ausstellung kontrollieren wollten.«
»Diese Seite von ihr habe ich nie erlebt. Wie interessant!«
Warum waren ihre Beschreibungen so unterschiedlich?
»Nahmen Sie beide an denselben Meetings teil?«
»Selten. Meine Abteilung ist riesig«, sagte Poste. »Ich konnte mich freimachen und an Meetings teilnehmen, solange sie hier im Haus stattfanden. Aber im Fall dieser Ausstellung spielte sich das meiste drüben auf der anderen Seite des Parks ab.«
»Nachdem die gemeinsame Planung im Gange war, habe ich Katrina normalerweise drüben im Naturkundemuseum getroffen. Wie Sie sich vielleicht denken können, geht es dort drüben ein bisschen lockerer zu als in diesem Mausoleum hier. Das ganze Museum ist ein bisschen pfiffiger als das Met«, sagte Friedrichs.
»Hatte Katrina an anderen Museen gearbeitet, bevor sie hierher kam?«
100
Poste zuckte die Achseln. »Ich nehme es an. Aber ich weiß nichts Genaueres.«
Friedrichs dachte eine Weile nach. »Ich bin mir sicher, dass sie irgendwo ein Praktikum gemacht haben muss. Die Cloisters wären ein Traumjob für eine Berufsanfängerin. Ich weiß aber nicht, wo.«
»Hat sie sich einem von Ihnen anvertraut?«
»Inwiefern?«, fragte Friedrichs.
»Privat. Bezüglich schlechter Erfahrungen, die sie hier gemacht hat?«
»Nein. Aber die letzten paar Male, als ich sie sah, machte sie einen etwas bedrückten Eindruck. Und nach unserem letzten Meeting sagte sie unsere Essensverabredung ab. Mit der Be-gründung, sie fühle sich nicht so gut.«
»Das war im Herbst, Anna, nicht wahr? Da fing sie an, davon zu sprechen, wieder nach Hause zu gehen und sich um ihren Vater zu kümmern. Sie war, wie ich schon sagte, etwas ge-dämpft. Welche Art schlechte Erfahrung meinen Sie, Detective?«, fragte Erik Poste.
In dem Moment klingelte das Telefon auf einem Tischchen in der Ecke des Raums. Gaylord stand auf und wandte uns den Rücken zu, während er sprach, dann kam er zurück an den Tisch und sagte, ohne wieder Platz zu nehmen: »Sie entschuldigen mich, Detective. Erik und Anna werden Ihnen alles Weitere zeigen und Ihre Fragen beantworten. Ich muss sofort nach oben.«
Gaylord drehte Chapman und mir den Rücken zu und wandte sich an seine Kollegen: »Pierre Thibodaux ist soeben zurückge-treten.«
101
10
»Ich unterhalte mich gerne morgen mit Ihnen, Detective. Ich bin gerade ins Büro des Direktors hinaufbestellt worden. Wir haben offenbar eine Krise im Haus, die noch vor einer Stunde keiner von uns vorhergesehen hat.«
»Und ich habe ein totes Weibsbild in meinem Spind, die während Ihrer Wache abgekratzt ist, Mr. Gaylord.« Mike ging zum Telefon. »Wie lautet Thibodaux’ Durchwahl?«
»Er – er ist nicht da. In seinem Büro, meine ich. Er war schon weg, als Eve mich anrief. Ich wollte selbst mit ihm reden. Ehrlich.«
Timothy Gaylord war genauso verwirrt wie Mike und ich.
Thibodaux war entweder ein hervorragender Schauspieler und bei unserem Gespräch vor einer halben Stunde in der Lage gewesen, alle beruflichen Schwierigkeiten zu überspielen, oder sein überraschender Rücktritt hatte etwas damit zu tun, dass wir ihm das Foto von Katrina Grooten unter die Nase gehalten hatten.
»Hier ist Chapman. Ich möchte Ihren Boss sprechen, und zwar, bevor er das Museum verlässt, ist das klar?« Mike fuhr sich mit der Hand durch seine glatten schwarzen Haare. Er war wütend, weil er dachte, dass Thibodaux uns reingelegt hatte.
»Ach ja? Und warum haben Sie dann Gaylord nach oben gebeten, wenn er schon weg ist?«
Mike gefiel Drexlers Antwort nicht. Er knallte den Hörer auf die Gabel.
»Willst du, dass ich ihn abfange?«
Mike sah mich an, als ob ich verrückt wäre. »Weißt du, wie viele Ausgänge dieses Gebäude hat? Der Mann hat mindestens zehn Minuten Vorsprung, wir sitzen hier irgendwo unter 102
der Erde fest, und du weißt nicht, wo er hin will. Vergiss es, Blondie.«
Gaylord wandte sich erneut zum Gehen. »Ich befürchte, ich muss nach oben. Eve hat mich gebeten, einige der Vor-standsmitglieder zu kontaktieren und eine Sondersitzung ein-zuberufen.«
»Sie bleiben hier.« Mike deutete auf Gaylord wie jemand, der seinem Hund befiehlt, sich zu setzen. Dann wählte er mit demselben Finger die Nummer des Dezernatleiters. »Schicken Sie mir ein paar Jungs rüber, die Thibodaux’ Adresse rausfinden sollen. Sie sollen mit Eve Drexler sprechen. Wahrscheinlich hat er auch einen Wagen mit Chauffeur. Sie sollen sich das Kennzeichen geben lassen. Lassen Sie seine Wohnung überwachen, damit er nicht abhauen kann. Sagen Sie mir Bescheid, sobald Sie ihn gefunden haben, Loo. Ich würde gerne noch einmal mit ihm sprechen. Bis später.«
Erik Poste und Anna Friedrichs sahen beide aus, als ob sie sich vor lauter Angst nicht zu rühren wagten. Sie waren genauso überrascht von den Neuigkeiten wie Gaylord und flüsterten miteinander.
»Weiß jemand von Ihnen, worum es hier geht?«
»Es ist doch wohl offensichtlich, dass wir genauso bestürzt sind wie Sie«, sagte Poste. Er trommelte mit den Fingern nervös auf die Tischplatte.
Anna Friedrichs versuchte zu lächeln. »Ich glaube nicht, dass Sie ihn wie einen Verbrecher behandeln müssen, Mr. Chapman. Ich kann mir nicht eine Sekunde lang vorstellen, dass er etwas mit Katrinas Tod zu tun hat.«
Chapman ignorierte sie und wandte sich wieder an Gaylord.
»Bevor Sie verschwinden, würden Sie mir bitte erklären, wo der Sarkophag, den wir letzte Nacht gefunden haben, die letzten sechs Monate über gewesen ist?«
103
»Es tut mir Leid. Es ist nicht einfach, das jetzt alles auf die Reihe zu kriegen. Meine Mitarbeiter versuchen das gerade zu rekonstruieren. Man wird Ihnen die Informationen so schnell wie möglich zukommen lassen.«
»Wie steht’s mit den Innereien?«
»Verzeihung?«
»Ms. Grooten hatte keinen Bettnachbarn im Sarg. Lag nicht jahrtausendelang eine kleine alte Prinzessin in dem Ding?
Heißt das, dass Sie hier irgendwo eine überzählige Mumie herumliegen haben?«
Erik Poste stand auf, trat neben Gaylord und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Das ist ein guter Punkt, Timothy. Vielleicht sollten wir –«
Gaylord trat einen Schritt zur Seite. Das schien ein zusätzliches Problem aufzuwerfen, das er nicht in Betracht gezogen hatte. »Auf keinen Fall. Falls irgendeiner von meinen Mitarbeitern etwas gefunden hätte … nun, man hat nichts gefunden.« Er wandte sich an Erik Poste und Anna Friedrichs. »Es gibt keinen Grund, dass alle Angestellten davon erfahren sollten. Ich weiß, dass es Umstände macht, aber Pierre hat Mr. Chapman versprochen, dass man ihm heute die Lagerräume zeigt. Würde es euch sehr viel ausmachen, sie herumzuführen?«
Poste schien die Aufgabe gnädiger zu akzeptieren als Anna Friedrichs. Sie sah auf ihre Uhr und atmete genervt aus.
»Sie werden sehen, welch schwierige Aufgabe wir vor uns haben, Detective. Die traurige Wahrheit ist, dass Ihnen niemand sagen kann, wo das Stück in den letzten Monaten war.
Wir können es bestenfalls versuchen. Wenn Sie sich durch einige Millionen Kunstwerke wühlen wollen, bitte schön. Ich überlasse Sie fürs Erste Anna und Erik.«
Gaylord reichte Erik Poste einen großen Eisenring, an dem Dutzende langer Schlüssel hingen, und verließ das Zimmer.
104
Chapman nahm sein Handy aus der Jackentasche, um zu sehen, ob er irgendwelche Nachrichten erhalten hatte.
»Vergessen Sie’s, Detective«, sagte Anna Friedrichs. »Am besten benutzen Sie das Telefon auf dem Tisch. Hier unten haben Sie keinen Empfang. Zu viele dicke Stahlpfeiler im Fun-dament. Es ist der Fluch meines Lebens, wenn ich hier im Untergeschoss festsitze.«
Mike wählte vom Telefon des Museums und verlangte Mercer Wallace zu sprechen. »Sag deinem Boss nicht, worum ich dich gleich bitten werde, weil jemand von da oben die Finger im Spiel hat. Sieh nach, ob du ein Einundsechziger vom letzten Herbst finden kannst. Vierunddreißigstes Revier. Die Klägerin ist eine gewisse Katrina Grooten. Weiß, circa achtundzwanzig Jahre alt. Schmuggel eine Kopie aus dem Büro, und Coop lädt uns zum Essen ein ins …?« Er sah mich fragend an.
»Primola.«
»Hast du’s gehört? Wir treffen uns dort kurz nach sieben.«
Formular Nummer einundsechzig der New Yorker uniformierten Polizei, die Strafanzeige, würde uns zusammen mit den Folgeberichten der Detective-Abteilung, den so genannten Fünfern, die Geschichte von Katrina Grootens Vergewaltigung erzählen. Wahrscheinlich hatten Revierpolizisten die Anzeige aufgenommen und den Papierkram erledigt und dann die Ermittlungen an die Detectives der Sonderkommission für Sexualverbrechen weitergeleitet.
Wenn der Fall ohne eine Verhaftung geschlossen worden war, müsste der Grund dafür in den Papieren zu finden sein.
»Sollen wir anfangen?« Erik Poste ging mit Mike aus dem Zimmer, ich folgte mit Anna Friedrichs, und Lissen bildete die Nachhut.
»Jede Abteilung hat ihren eigenen Lagerraum, Hunderte von Quadratmetern hier im Untergeschoss des Museums.«
105
»Territorialstreitigkeiten?«
»Natürlich, Detective. Mr. Gaylords ägyptische Ausstellungsräume sind die Publikumsattraktion, schon immer gewesen.
Seine Ausstellungen nehmen enorm viel Platz ein. Riesige Steinskulpturen und echte Tempel- und Grabmalteile. Der Tempel von Dendur, sechshundertundzweiundachtzig riesige Steinbrocken, wurde von Assuan herübergeschafft und in jeder noch so kleinen Nische zwischengelagert, bis er so, wie man ihn heute sehen kann, wieder aufgebaut wurde.«
Erik Poste blieb vor einer Tür stehen, suchte am Schlüsselbund nach dem richtigen Schlüssel und schloss auf. Vor uns waren auf beiden Seiten endlose Reihen von Grabobjekten, darunter bemalte Figurinen und Jaspistiere, manche noch halb verpackt. Viele Objekte waren mit Plastikplanen zugedeckt, während Hunderte andere Staub anzogen.
»Ich glaube, von Mr. Gaylords Sammlung sind ungefähr sechsunddreißigtausend Objekte ausgestellt. Falls Sie raten wollen, wie viele noch hier unten sind, nehme ich gerne Ihre Wetten entgegen.«
Mike ging zwischen den Reihen auf und ab, um zu sehen, was auf den Etiketten und Schildchen stand. Er rief Poste und Friedrichs zu: »Aber die ägyptischen Sachen sind alle hier drinnen, richtig?«
»Nicht ganz. Der Platz hier reicht nicht, vor allem, weil viele der Stücke Übergröße haben. Die werden dann in unsere weniger vollen Bereiche verlegt.«
»Und welche wären das?«
»Islamische Kunst, zum Beispiel. Das ist eine unserer kleineren Abteilungen. Artefakte, Miniaturen, Keramikfliesen. Die Stücke sind nicht so sperrig und nehmen nicht viel Platz ein.
Das Gleiche gilt für die Musikinstrumentensammlung. Es ist nicht ungewöhnlich, dass größere Stücke – ob ägyptische Re-106
likte oder amerikanische Stilmöbel – aus Platzgründen verlegt werden.«
»Sind die anderen Kuratoren verärgert darüber, dass Gaylord so viel Platz beansprucht?«
»Natürlich nicht. Außerdem ist er nicht der Einzige, der das tut. Ich habe Tausende von Gemälden in meiner Abteilung.
Und ich brauche Platz für die Restaurierungen. Viele der Stü-
cke sind ziemlich groß, und die Leinwände müssen wochenlang ausgebreitet werden, während sie bearbeitet werden. Man wendet sich an einen freundlichen Nachbarn, sieht sich die Räumlichkeiten an und erbittet irgendwie den Platz, den man braucht.«
Mike kam wieder zu uns zurück. »Diese Sachen hier sind nicht einmal in numerischer Reihenfolge. Alles ist total durcheinander.«
»Deshalb haben wir Studenten und Wissenschaftler, Detective.
Eifrige junge Praktikanten, die nichts lieber tun, als über diesen alten Schätzen zu brüten, um diesen Heureka-Moment zu erleben, wenn sie ein verschollenes Meisterwerk in den Händen halten. Ich kann Ihnen versichern, dass alle diese Objekte sorgfältig katalogisiert sind. Sie können alle zurückverfolgt werden. Zumindest sind wir bisher immer davon ausgegangen.«
»Wissen Sie irgendetwas über den Sarkophag, in dem Ms.
Grooten gefunden wurde?«
Friedrichs antwortete: »Mr. Gaylord hat uns erst kurz vor Ihrem Eintreffen darüber informiert.«
»Warum kann uns niemand sagen, wo er gelagert gewesen ist?«
»Es gibt verschiedene Möglichkeiten, Ms. Cooper. Wir gehen davon aus, dass wir sie innerhalb einer Woche eingrenzen können.« Erik Poste spielte mit dem Schlüsselring.
»Dieser Lagerraum ist einer davon. Aber Mr. Lissen und Ms.
Drexler gehen alle Unterlagen durch.«
107
»Das ist, als wolle man eine Nadel in einem Heuhaufen finden«, sagte Chapman, während er versuchte, den Grundriss in seinem Notizblock zu skizzieren.
»Ich zeige Ihnen auch einige der anderen Räume, wo die ägyptischen Stücke normalerweise untergebracht werden. Sie werden uns jetzt vermutlich alle auf die Suche nach der ver-schollenen Mumie schicken, Detective, richtig?«, sagte Poste, während er wieder zur Tür ging.
»Konnten Sie sich den Sarkophag gut ansehen?«, fragte Friedrichs. »Falls man ihn für die Bestiariumsausstellung in Betracht gezogen hat, ist er vielleicht sogar ins Naturkundemuseum hinübergeschafft worden, damit man ihn evaluieren und für die Ausstellung fotografieren konnte.«
»Warum evaluieren?«
»Um sicherzugehen, dass er echt war. Wir haben schon mal Peinliches erlebt. Eine große Ausstellung organisiert und dann erfahren, dass ein darin ausgestelltes Kunstwerk eine Fäl-schung war.«
»Warum würde der Sarg Teil der Ausstellung sein?«
»Manche dieser alten ägyptischen Stücke sind reich mit Tiermalereien verziert. Nicht nur die Sachen der königlichen Familien, sondern auch anderer reicher Familien. Da gibt’s Pa-viane, die mit erhobenen Armen irgendeinen Gott verehren, Nilpferde, die schwangeren Frauen Glück bringen sollten, oder Kobras, deren Schwanz sich um eine Sonne wickelt – ich erinnere mich jetzt nicht, was das bedeutet. Außerdem sind oft Falken und Skarabäen und heilige Katzen auf den Grabobjekten der Reichen abgebildet.«
»Ich bezweifle, dass irgendjemand die Mühe auf sich genommen hätte, einen Sarkophag hinüber ins Naturkundemuseum zu schaffen«, sagte Erik Poste.
»Es sind jede Woche Objekte – auch große, schwere wie der 108
Sarg – hin und her geschafft worden«, verbesserte ihn Anna.
»Jemand muss ihn auf die Auslandsversandliste gesetzt haben.
Ich habe Maury gebeten, auch die Transfers zwischen den Museen zu überprüfen.«
Wir gingen weiter den langen, grauen Korridor hinunter und bogen um eine Ecke, die mehr als einen Straßenblock entfernt war. Wieder schloss Erik Poste eine Tür auf und trat beiseite, um uns eintreten zu lassen. Hier waren Hunderte von Gemälden bis zur hohen Decke gestapelt, alle hinter Glas. Das Licht war gedämpft und strahlte nicht direkt auf die Leinwände. Es war offensichtlich, dass wir uns in Postes Reich bei den europäischen Gemälden befanden.
»Es ist etwas einfacher, Gemälde zu lagern. Sie variieren zwar von der Größe her, aber sie sind alle ziemlich flach und können an den Wänden verstaut werden. Dadurch ist es viel leichter für mich, den Überblick zu behalten.«
Wieder ging Mike auf und ab, besah sich die Etiketten und skizzierte die Räumlichkeiten. »Was ist mit dieser Tür?« Er war auf der anderen Seite des Raums aus unserem Blickfeld verschwunden.
»Sie ist offen, Detective. Gehen Sie ruhig hinein.« Wir folgten Chapman in einen Raum, der so groß war wie mein Büro.
Er sah aus wie eine Tischlerwerkstatt, mit Holzstücken und vergoldeten Rahmenteilen an den Wänden und auf den Tischen. »Jede Abteilung hat in ihrem Lagerraum eine Werkstatt wie diese hier. Manche sind für die Restauratoren, in anderen werden Rahmen hergestellt oder Reparaturen vorgenommen.«
»Das hier ist nicht die einzige Werkstatt?« Mikes Frage be-schwor ein Bild zahlloser kleiner Kämmerchen innerhalb der riesigen Lagerräume herauf. Pierre Thibodaux’ Hinweis auf mehrere Millionen Objekte im Keller des Museums wurde plötzlich sehr real.
109
»Aber nein! Hier im Haus gibt es wohl mindestens ein Dutzend, darüber hinaus mieten wir auch noch außerhalb Räume an.«
»Ist euch auch so heiß?« Mike zog sein Taschentuch hervor und wischte sich über die Stirn.
Anna lachte. »All diese zerbrechlichen Kunstwerke haben unterschiedliche Bedürfnisse. Skulpturen, die jahrhundertelang in der Wüste überlebt haben, mögen es heiß und trocken. Die Sachen in meiner Abteilung – Kunst aus dem Südpazifik und Ozeanien – gedeihen am besten in einer feuchten Umgebung.
Das ganze Museum ist klimatisiert – Tausende von Sensoren.
Indem man von Ausstellungsraum zu Ausstellungsraum geht, kann man alle Temperaturextreme durchlaufen, heiß oder kalt, feucht oder trocken.«
»Und Sie können mir einen Wetterbericht für jede Sektion geben, der zuverlässiger ist als das, was man uns jeden Abend im Fernsehen auftischt?«
»Natürlich«, sagte Anna. »Weil wir unsere Klimabedingun-gen selbst herstellen.«
Ich wusste, dass Mike herauszufinden versuchte, wo man Katrina Grootens Leiche am besten hätte aufbewahren können, ohne dass sie verweste. Hatte ihr Mörder gewusst, wie sich diese Temperaturen und Bedingungen auf eine Leiche auswirken?
Oder hatte dieser Umstand zufällig gegen ihn gearbeitet und die Überreste so intakt erhalten, dass man sie identifizieren konnte?
»Sie können gerne jederzeit wiederkommen, um sich alle Lagerräume anzusehen, Detective«, sagte Poste und schloss hinter uns ab. »Sie werden wohl eine ganze Armee dazu brauchen.«
»Haben Sie eine Liste von all Ihren Mitarbeitern, Maury?«, fragte Chapman Lissen, während wir wieder auf den Flur hinaus-gingen. »Namen, Geburtsdaten, Sozialversicherungsnummern?«
110
»Ja, Eve wollte sie Ihnen ausdrucken. Wir haben für alle Bürgschaften. In meiner Abteilung werden Sie keine Verbrecher finden. Wenn Sie mich fragen, arbeiten die Diebe alle droben in der Archäologie und Anthropologie. Sie rauben die Gräber aus und stehlen anderen Ländern ihre Töpfe und Pfan-nen.« Lissen war nicht der Erste, der sich über den Ethos von Museumsankäufen beschwerte.
»Was ist mit anderen Arbeitern?«
»Hier unten gibt’s ein ganzes Heer davon. Im unteren Kellergeschoss sind Büros für Schlosser, Installateure und Elektriker.
Sie streifen hier herum, als ob es eine offene Prärie wäre.«
Wir bogen erneut um eine Ecke und gelangten in einen anderen Abschnitt des Korridors. Die Beleuchtung wurde noch schummriger, und die Decke war nur noch knapp zweieinhalb Meter hoch. Poste und Friedrichs führten uns durch ein niedriges Tonnengewölbe, das tief unter dem Museum in Nordsüd-richtung durch das Gebäude verlief.
Mike war in der Mitte stehen geblieben und rief uns zu: »Was ist hier drinnen?«
»Eines der ursprünglichen Baumerkmale des Museums«, sagte Poste. »Es ist schon lange nicht mehr in Betrieb.«
»Sehen wir’s uns an.«
Wir gingen zurück zu Mike.
»Eine riesige Drainage für das Wasserreservoir im Central Park«, sagte Anna. »Sie wurde Mitte des neunzehnten Jahrhunderts gebaut.«
Wir gingen drei, vier Meter hinein, und es wurde merklich kühler. Hier standen gespenstische bacchantische Bronzefigu-ren und geschnitzte asiatische Drachen, schwere Möbelstücke und kannelierte Säulen. Die meisten dieser verlassenen Kunstwerke waren in Plastikhüllen gewickelt und fungierten jetzt als Wächter dieses nutzlosen Tunnels.
111
Mike lupfte mit der Spitze seines Kugelschreibers die Hüllen und stocherte auf die Objekte ein.
»Sogar die Kunst hat ihre Moden, Mr. Chapman. Was vor einem Jahrhundert unter Sammlern der große Hit war, wird aus-gemustert. Manche der Großen haben Stehvermögen, aber –«
»Ist hier irgendwas Ägyptisches, Mr. Poste?«
»Ich wäre überrascht, wenn dem nicht so wäre. Wenn Sie zu-rückkommen, können wir für besseres Licht hier drinnen sorgen. Es gibt ein paar Bereiche wie diesen hier, deren Renovierung bei unserem begrenzten Budget nicht gerade Priorität hat.«
Unsere Wanderung ging weiter, bis wir das ganze Untergeschoss des Museums umrundet hatten. Erik Poste hatte Recht: Es würde sich lohnen, mit massiver Verstärkung wiederzu-kommen. Vielleicht könnten wir den Chief of Detectives überzeugen, uns ein paar Kadetten der Akademie zur Verfügung zu stellen, die sich hier umsehen konnten.
Wir verabschiedeten uns von unseren drei Führern am Haupteingang, wo ein uniformierter Wächter darauf wartete, uns hinauszulassen. Das Museum schloss um fünf Uhr fünfzehn, und es war jetzt kurz nach sieben Uhr abends.
Auch in der Dämmerung waren die Stufen zur Fifth Avenue Treff- und Sammelpunkt für alle möglichen Leute. Drei Rapper tanzten am Fuß der Treppe Moonwalks, ein Jongleur versuchte, sechs Bälle in der Luft zu halten und gleichzeitig Mundharmo-nika zu spielen, und ein Mädchen mit Brille rezitierte zur Gi-tarrenbegleitung ihres Freundes aus Ulysses.
Wir gingen am südlichen Ende die drei Treppenabsätze hinab. »Denkst du, dass man im Museum tatsächlich jemanden umbringen könnte?«, fragte ich.
»Ich überlass es Dr. K., das herauszufinden. Man könnte mit Sicherheit einige Monate lang eine Leiche verstecken, ohne 112
dass sie gefunden werden würde, es sei denn zufällig. Wahrscheinlich kann man auch einen Sarg rein- und rausschaffen, ohne dass es jemandem spanisch vorkommt. Ich habe nie dar-
über nachgedacht, wie riesig das Museum ist. Wie eine Art Eisberg unterhalb der Ausstellungsstockwerke.«
»Millionen Objekte, die nie das Tageslicht sehen.« Ich nahm mein Handy aus der Handtasche, wählte Ninas Nummer im Hotel und hinterließ ihr eine Nachricht, wo sie uns zum Essen treffen sollte.
Mike und ich trafen als Erste in dem Restaurant an der Ecke Second Avenue, Sixty-fourth Street ein.
» Buona sera, Signorina Cooper. Sie werden heute Abend zu viert sein?«
»Ja, Giuliano. Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn wir uns kurz Ihr Büro ausleihen?«
Er lachte und bat Adolfo, die Tür am Fuß der Treppe aufzu-schließen. Mike und ich gingen nach unten und schalteten den kleinen Fernseher ein. Eine der Sachen, die uns verbanden, war unsere Vorliebe für die allabendliche Final-Jeopardy!-Frage am Ende jeder Jeopardy!- Sendung . In den zehn Jahren unserer Zusammenarbeit hatte Mike fast überall, ob an einem Tatort oder in einer Polizeiwache, einen Weg gefunden, pünktlich an einen Fernseher ranzukommen, um gegen mich und Mercer zu wetten.
»Meine Damen und Herren, die Kategorie des heutigen Abends lautet ›Film‹«, sagte Trebek und trat beiseite, woraufhin ein riesiger Monitor mit diesem Wort sichtbar wurde.
Es gab ein paar Themen, bei denen ich es nicht mit Mike aufnahm, wohingegen andere ganz und gar mein Gebiet waren.
Das hier kannten und liebten wir beide.
»Zwanzig Dollar.«
»Abendessen, Coop. Für uns vier.«
113
»Abgemacht.«
»Die Antwort des heutigen Abends lautet: William Shatner spielte die Hauptrolle in diesem Film, der komplett auf Espe-ranto gedreht wurde.«
Im Hintergrund dudelte die übertrieben fröhliche Musik, während zwei der drei Kandidaten ratlos auf die Tafel starrten.
Der Einzige, der eine Vermutung wagte, irrte sich, und ich sagte Chapman, dass ich nicht den blassesten Schimmer hätte. Bevor Trebek dem Studiopublikum die Frage vorlas, kniff mich Chapman in den Nacken. »Und eine gute Flasche Wein dazu.
Abgemacht, Blondie?«
Ich lachte und schlug seine Hand weg. »Alles, was du willst.
Aber nimm deine Pfoten da weg.«
»Was ist Incubus? 1965. Ein Mann, der von Dämonen beses-sen ist. Der einzige Shatner-Film, der noch schlechter ist, ist Big Bad Mama. « Mike schaltete den Fernseher aus und ging aus dem Büro. »Da sieht man in einer Szene tatsächlich seine Schamhaare. Los, komm, Zeit für Happihappi.«
»Und du machst einem so richtig Appetit.«
Mercer und Nina warteten bereits an der Bar, wo Fenton schon unsere Drinks bereitgestellt hatte.
»Bring uns bitte frittierte Zucchini, da wir gerade dabei sind«, sagte Chapman zu Adolfo. Nina umarmte Mike, den sie das letzte Mal vor einigen Monaten gesehen hatte, während Mercer ihr zu Ende erzählte, dass Vickee in knapp zwei Wochen entbinden würde. Mike nannte das Kind schon »unser Baby«.
Mercer war der Erste aus unserem Bunde, der eine Familie gründete, und die Bedeutung dessen entging weder Mike noch mir.
»Prost!« Wir stießen an und plauderten eine Weile, bevor Mike Mercer fragte, was er über Katrina Grooten in Erfahrung gebracht hatte.
114
»Ich konnte den Ordner nicht rausschmuggeln, also hab ich mir nur einige Notizen gemacht. Der Sergeant saß direkt neben dem Kopierer.«
»Wessen Fall?«
»Cathy Daughtreys.«
»Kein Wunder, dass ich nichts darüber wusste.« Ich hatte schon einige Male versucht, ihre Versetzung zu erwirken. Sie war irgendwann ausgebrannt und wollte nie das Quäntchen Zu-satzarbeit leisten, das nötig war, um die schwierigen Fälle zu lösen. Sie tat alles Mögliche, um weder von mir noch von Sarah Brenner Anweisungen entgegenzunehmen, weil es immer mehr Arbeit bedeutete, als sie zu tun bereit war.
»Es geschah vor fast einem Jahr, um ungefähr diese Uhrzeit.
Montag, elfter Juni. Katrina Grooten, neunundzwanzig Jahre alt, arbeitete in den Cloisters. Auf dem Formular steht, dass sie das Museum kurz vor acht Uhr verließ, um sich mit dem Fahrrad auf den Heimweg zu machen. Sie wohnte in einem kleinen Apartment in der Nähe der Dyckman Street. Sie sagte aus, dass sie ein bewaffneter Mann hinter einem Felsen ins Gebüsch zerrte, sie zwang, sich auszuziehen und sie mit vorgehaltener Pistole vergewaltigte.«
»Hat sie ihn beschrieben?«
»Groß, schlank, schwarz.«
»Das ist alles?«
»Er trug eine Skimaske. Sie konnte nur seine Hände und seinen Nacken sehen. Deshalb hat sie sich geweigert, die Sache weiterzuverfolgen. Sie ließ sich im Krankenhaus untersuchen.
Cathy hat sie dort interviewt. Aber Grooten selbst sah keinen Sinn darin, ins Revier zu kommen, um sich die Fotos anzusehen, weil sie ihn nicht –«
»Aber was ist mit DNA? Vergiss die Identifizierung anhand von Fotos.« Ich war ungeduldig und wollte wissen, warum ich 115
keine Gelegenheit bekommen hatte, mit Katrina Grooten zu reden, um sie zu überzeugen, uns in dem Fall ermitteln zu lassen.
»Er hat nicht ejakuliert. Keine Samenflüssigkeit. Keine DNA.«
»Gab es andere Fälle im Park? Andere Verbrechen, die einem ähnlichen Muster folgten?«
»Ein paar Überfälle durch einen Kerl mit einer Skimaske.
Keine Verhaftungen, keine Verdächtigen.«
»Zeugen? Ist denn niemand auf dem Weg ins Museum gewesen oder von dort gekommen?«
»Die Cloisters haben montags geschlossen. Es waren nur ein paar Angestellte dort. Sie glaubte, dass sie an dem Abend eine der Letzten war, die gegangen ist.«
»Irgendwelche Hinweise in der Akte, dass Cathy mich angerufen hat, bevor sie den Fall geschlossen hat?« Es lag mir viel daran, dass jedes Opfer in unser Büro kam, um mit einem Anwalt unserer Einheit zu sprechen, egal, wie aussichtslos die Sache schien. Wir wollten sehen, ob sich aus den Fakten ein überzeugender Fall aufbauen ließ und ob wir bestimmen konnten, ob das Verbrechen auf das Konto eines Serientäters oder eines ent-lassenen Strafgefangenen ging.
»Nein. Sie hat einen ›Verfahren eingestellt‹-Stempel darunter gesetzt, und der Boss hat’s abgesegnet.«
»›Verfahren eingestellt‹? Und sie hat es nicht für nötig gehalten, meine Zustimmung einzuholen?«
»Deine beste Freundin denkt, dass sie nicht nur mein Leben, sondern die ganze New Yorker Polizei kontrollieren kann«, sagte Chapman zu Nina. »Falls du es noch nicht weißt, Coop, ein Lieutenant kann tatsächlich ohne deine Erlaubnis die Ermittlungen in einem Fall einstellen.«
»In der Akte ist lang und breit davon die Rede, dass Ms.
Grooten aus Südafrika war. Sie dachte, dass in ihrem Land 116
schon zu viele Schwarze in Gefängnissen gelitten hatten für Verbrechen, die sie nicht begangen hatten, also wollte sie keine Verbrecherjagd anleiern, wenn sie den Vergewaltiger nicht einmal identifizieren konnte.«
»Großartig! Eine mitfühlende Seele! Sie hat einen holländischen Namen – sie stammt von Buren ab, die mehr Afrikaner getötet haben, als du und ich zählen können«, sagte Chapman, während er Fenton mit seinem leeren Glas signalisierte, uns noch eine Runde Drinks zu bringen. »In der Zwischenzeit hat ein Bruder in meinen Breiten seinen Spaß, und sie beschließt, ihn laufen zu lassen. Amerika, du hast es besser! Und keiner bemerkt einen Kerl, der mitten im Juni mit einer Skimaske in einem Park herumrennt und dem der Schwanz aus der Hose hängt.«
»Wer war ihr Erstkontakt?« Die erste Person, die Katrina vom Krankenhaus aus angerufen hatte, war womöglich eine Freundin oder Verwandte, der sie am nächsten stand und der sie vertraute.
»Sie hat niemanden angerufen. Sie sagte Cathy, dass sie hier keine Familie hätte. Und sie wollte nicht, dass jemand im Museum erfuhr, was passiert war. Katrina sagte, dass sie noch vor Ende des Jahres nach Kapstadt zurückgehen wolle.«
»Was hat sie im Museum getan?«, fragte Chapman.
»Sie beschäftigte sich mit mittelalterlicher Kunst. Aber hört euch das an! Ist das nicht unheimlich angesichts ihrer letzten Ruhestätte? Ihr Spezialgebiet waren Grabmalskulpturen.«
117
11
»Bisher hat noch niemand die Story angerührt. Sie sind ein Glückspilz, Alex.«
Auf Battaglias Schreibtisch stapelten sich die Morgenzeitun-gen, die jemand aus der Presseabteilung nach Verbrechensmel-dungen durchforstet hatte, noch ehe ich am Donnerstagmorgen kurz nach acht Uhr in seiner Tür stand.
Ich hatte sie selbst überflogen, bevor ich ins Büro gefahren war. Auf der unteren Hälfte der Titelseite der New York Times war ein Artikel über Pierre Thibodaux’ plötzlichen Rücktritt.
Kuratoriumsmitglieder gaben Stellungnahmen ab, ohne genannt werden zu wollen, und Kunstkritiker tadelten einige fragwürdige Ankäufe, die während seiner Amtszeit getätigt wurden. Jeder war über das Timing der Ankündigung überrascht, und einige vermuteten sogar einen Skandal hinter den Kulissen, der finanzielle Unregelmäßigkeiten oder ein Meisterwerk mit zweifelhafter Provenienz involvierte.
Niemand erwähnte, dass man eine Leiche in einem antiken Sarkophag gefunden hatte. Thibodaux selbst hatte nur eine vage Andeutung gemacht, dass sein Rücktritt bedauerlicher-weise mit einer laufenden Polizeiermittlung zusammenfiel.
Seine Assistentin erklärte, dass er in einer Woche eine Pres-sekonferenz abhalten werde, nachdem er zuerst die Mitglieder des Kuratoriums über seine Entscheidung informieren wolle.
»Mickey Diamond hat mich gestern spätnachts zu Hause angerufen«, sagte ich. »Er sagte, er würde die Story nicht bringen, da im Museum niemand die Identität des Mädchens bestä-
tigen wolle und die Zeitung sich über die Sache mit den nächsten Angehörigen Sorgen machte. Sie haben Angst, etwas zu 118
drucken und dann herauszufinden, dass ihre Familie erst auf dem Weg von ihrem Tod erfahren hat.«
»Seit wann sind sie denn so rücksichtsvoll? Die Wahrheit ist, wie es ein anderer Reporter mir gegenüber formulierte, dass Katrina Grooten ein ›Niemand‹ war. Das sagt nicht gerade viel über ihre Wertvorstellungen aus.«
»Paul, ich habe mit Jake gesprochen.« Er hatte gestern zu-rückgerufen, nachdem ich bereits das Büro verlassen hatte.
Dann hatte er versucht, mich auf meinem Handy zu erreichen, aber wir hatten uns zu der Zeit gerade im Untergeschoss des Museums befunden. Also war Jake nach der Arbeit zu mir gekommen. »Er hat nichts gesagt. Er würde mich nicht anlügen.«
»Es hat sich erledigt. Ich verlasse mich darauf, dass so etwas nicht wieder vorkommt.«
»Haben Sie irgendetwas vom Bezirksstaatsanwalt in New Jersey gehört?«
»Nur eine beiläufige Nachfrage. Ich hatte nicht den Eindruck, dass er sich über die Zuständigkeit streiten wollte, außer der Fall ließe sich mit sehr geringem Aufwand lösen. Oder falls Sie ihn für ihn lösen.«
»Das heißt also, ich kann weiter daran arbeiten, weil sich die Presse nicht dafür interessiert?«
»Sie können weiter daran arbeiten, weil Katrina Grooten Opfer einer Vergewaltigung war.« Das würde seine Antwort Pat McKinney gegenüber sein. »Wäre es möglich, dass die Vergewaltigung im letzten Juni etwas mit ihrem Tod zu tun hat?«
»Äußerst unwahrscheinlich, aber wir werden es herausfinden.
Sie wurde im Presbyterian Hospital behandelt. Man hat alle notwendigen Untersuchungen vorgenommen, aber sie wurden nie ins Labor geschickt, weil sie sich weigerte, bei den Ermittlungen zu kooperieren.«
119
»Wollte der Gerichtsmediziner nicht das genetische DNA-Profil haben, um es in die Datenbank einzuspeisen?«
Angesichts der verblüffenden Fortschritte auf dem Gebiet der DNA-Wissenschaft war es übliche Praxis des serologischen Labors, einen »Fingerabdruck« von allen Beweisspuren am Tatort – Blut, Sperma, Speichel – zu entwickeln und in die lokale Datenbank einzugeben. Ungelöste Fälle, die zuvor nie als Teil eines Musters erkannt worden waren, konnten nun durch
»Treffer«, das heißt Abgleichungen, die der Computer zwischen verschiedenen Gewalttaten in der ganzen Stadt anstellte, miteinander in Verbindung gebracht werden. Manche verwie-sen auf ehemalige Strafgefangene, denen man vor ihrer Entlas-sung aus dem Staatsgefängnis Blutproben abgenommen hatte, und führten zu Verhaftungen in Fällen, in denen die Ermittlungen nicht weitergekommen waren.
»Falls es Beweise gegeben hätte, wären sie natürlich analysiert und in die Datenbank eingespeist worden. Mercer Wallace wird sehen, ob er das Untersuchungsköfferchen noch irgendwo finden kann. Die meisten Krankenhäuser vernichten es nach neunzig Tagen, falls das Opfer die Anklage nicht weiterverfol-gen will.«
»Aber Sie zweifeln nicht an der Richtigkeit der Vergewalti-gungsbeschuldigung?«
»Warum sollten wir? Sie schien den Täter nicht zu kennen.
Es gibt keinen Grund, warum sie es sich ausgedacht haben sollte. Und sie sagte von Anfang an, dass sie ihn nicht identifizieren könne.«
»Nehmen wir mal an, sie hatte ein Problem mit jemandem am Museum, Alex. Ein Liebhaber, ein Arbeitskollege, ein Vorgesetzter. Jemand, der ihr das Leben schwer machte, sie mobbte, ihr Angst machte.« Battaglia zündete sich eine Zigar-re an. Ich hatte meinen Kaffee noch nicht ausgetrunken, und 120
er rauchte wahrscheinlich schon seine dritte Monte Cristo heute Morgen.
»Sie machen mir Angst. Sie fangen schon an, wie Mike Chapman zu denken.«
»Vielleicht meldet sie eine Vergewaltigung – es existieren keine physischen Beweise, und sie will keinen Verdächtigen nennen –, vielleicht ruft sie die Cops nur, um ihm einen Schuss vor den Bug zu geben: ›Ich mein’s ernst, Mr. Wer-auch-immer-Sie-sind. Lassen Sie mich in Ruhe. Ich habe keine Angst, die Polizei einzuschalten.‹«
»Zum jetzigen Zeitpunkt ist nichts ausgeschlossen, Paul.
Aber für die meisten Opfer, die von Unbekannten vergewaltigt werden, gibt es keinen Grund, sich die Geschichte auszudenken.«
»Die meisten von ihnen werden nicht innerhalb eines Jahres tot aufgefunden.«
»Katrina Grooten hat vielleicht einen Grund gehabt, dass sie sich so verhalten hat. Sie war Ausländerin, sie hatte keine Familie hier und offensichtlich nur wenige Freunde. Sie befürchtete, dass die Sache im Fall einer Verhaftung rassistische Untertöne haben würde. Die Wahrscheinlichkeit, den Täter zu finden, war gering. Und in den meisten anderen Kulturen haftet Opfern eines Sexualverbrechens noch immer ein Stigma an. Irgendjemand in ihrem beruflichen oder privaten Umfeld würde ihr die Schuld dafür geben, allein im Park unterwegs gewesen zu sein.«
»Hat man ihr Fahrrad nach Fingerabdrücken untersucht?«
Das fehlte mir gerade noch, dass der Bezirksstaatsanwalt anfing, meine Fälle bis ins kleinste Detail zu überwachen. Ich hatte siebenunddreißig noch ungelöste Fälle in verschiedenen Ermittlungsstadien, und die vierzig anderen Anwälte, die Sarahs und meiner Leitung unterstanden, hatten Dutzende mehr.
121
Vielleicht könnte ich ein paar davon bei Rose abliefern, damit Battaglia sich mit ihnen beschäftigte, während ich dabei half, Grootens Mörder zu finden.
»Mercer geht gerade noch einmal den ganzen Papierkram durch, um zu sehen, was man bereits getan hat und ob zum jetzigen Zeitpunkt irgendetwas noch einmal überprüft werden kann.«
Als Battaglia den Kopf senkte, um den wöchentlichen Bericht des Office of Court Administration zu studieren, wusste ich, dass er mit mir fertig war. Ich war schon fast aus der Tür, als er sagte: »Diese Masche mit der großen Spritze, die fiktive Lü-
gendetektorgeschichte – wie oft zieht die?«
Ich biss mir auf die Lippen und blieb in der Tür stehen. McKinney hatte mich wieder einmal verpfiffen. »Ungefähr in achtundneunzig Prozent der Fälle.«
»Gefällt mir. Vielleicht borge ich sie mir mal eines Tages aus. Versprechen Sie mir nur, sie nie in einem Wahljahr anzu-wenden, in Ordnung?«
»Alles klar, Boss.«
Der Flur war menschenleer. Das Display auf meinem Telefon signalisierte, dass ich meine VoiceMail abhören sollte. Ich tippte mein Passwort ein und wurde informiert, dass ich zwei Nachrichten hatte.
» Nachricht eins. Ein Uhr vierunddreißig. « Dann sagte eine menschliche Stimme: »Guten Morgen, Alex Cooper. Oder sollte ich sagen, dass ich hoffe, dass Sie keinen guten Morgen haben.«
Meine Verfolgerin. Shirley Denzigs beißender Ton war unverwechselbar. Die junge Frau mit der komplizierten psychiat-rischen Vorgeschichte war im Winter nach einer Konfrontation in meinem Büro, bei der ich ihr ein gefälschtes Dokument abgenommen hatte, einige Wochen hinter mir her gewesen. Sie 122
hatte meine Privatadresse herausgefunden und versucht, an den Portiers vorbei ins Haus zu kommen. Die Detectives bei der Bezirksstaatsanwaltschaft wussten, dass sie ihrem Vater in Baltimore eine Pistole aus der Garage gestohlen hatte, hatten sie aber bisher nicht fassen können.
»Ich habe nicht vergessen, was Sie mir weggenommen haben, Alexandra. Und ich habe nicht vergessen, dass Sie überall herumerzählen, dass ich verrückt sei.« Denzig plapperte drei Minuten lang auf den Anrufbeantworter. Ihr Ton war aggressiv und beißend; es fehlte nicht viel, und sie würde mir drohen.
Die zweite Nachricht war nur Sekunden später eingegangen.
»Ich bin näher, als Sie denken, Alexandra. Gehen Sie mir lieber aus dem Weg.«
Sie war schlau genug, um zu wissen, was sie tat. Zu keinem Zeitpunkt drückte sie eine Absicht aus, mir wehtun zu wollen.
Aber ihr Tonfall und die Tatsache, dass sie noch immer wütend war, reichten aus, mich zu beunruhigen. Ich rief das Dezernat im Stockwerk über mir an und erreichte den Dienst habenden Sergeant, der seit acht Uhr an seinem Schreibtisch war.
»Steve Maron wird wissen, was zu tun ist, wenn er kommt.
Er und Roman haben sich im Winter um den Fall gekümmert.
Ich hätte gern, dass jemand von der technischen Abteilung he-runterkommt und die Nachrichten auf Band aufzeichnet, damit ich etwas in der Hand habe. Und Sarah soll einen Beweisaufnahmeantrag unterzeichnen, damit wir einen Speicherausdruck meines Telefons machen können.«
Heutzutage waren die computerisierten Telekommunikati-onssysteme so hoch entwickelt, dass sogar der kürzeste Anruf oder die kürzeste Nachricht zurückverfolgt werden konnte. Wir würden einen »Speicherausdruck« für mein Telefon beantragen, das heißt, wir würden das Datum und die Uhrzeit angeben, die für uns von Interesse waren, und innerhalb von vierund-123
zwanzig Stunden würden wir wissen, von welcher Nummer aus Shirley Denzig angerufen hatte. Es war ein teurer Prozess –
fünfhundert Dollar pro Vierundzwanzigstundenzeitraum – aber er war idiotensicher.
Ryan Blackmer war hereingekommen und hatte mir gegen-
über Platz genommen. »Hast du eine Minute Zeit?«
Ryan war einer der Anwälte, die mir immer ein Lächeln ent-lockten: intelligent, fleißig und mit einem Hang zum Ausgefal-lenen und Ungewöhnlichen. Ryan liebte es, den Detectives Ergebnisse zu liefern, und sie liebten es, mit ihm zusammenzuar-beiten.
»Erinnerst du dich an den Kerl, der im April mit Brittany im Chatroom war?«
»Vage.« Brittany war der Tarnname, den ein männlicher Detective der Jugendschutzabteilung, Harry Hinton, verwendete, wenn er im Internet nach Kinderschändern suchte.
»Ich werde deinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen. Er will sich morgen Nachmittag treffen.«
»Am Freitag? Direkt vor dem Feiertag?« Es war der Anfang des Memorial-Day-Wochenendes, und viele New Yorker fuhren für drei oder vier Tage aufs Land oder an den Strand.
»Das ist der Trick. Brittany sagte, dass ihre Eltern verreisen würden und sie bei einer Freundin übernachten würde.«
»Hast du dir die Abschriften angesehen?«
Blackmer war wie immer gut vorbereitet. »Ordentlich und genau, so wie du es gern hast.« Er reichte mir die Akte.
Im WorldWideWeb war Brittany eine zierliche, dreizehnjährige Cheerleaderin mit Pferdeschwanz, die eine Klosterschule auf der Upper West Side besuchte. In Wirklichkeit war sie ein muskulöser sechsunddreißigjähriger Cop mit starker Gesichts-behaarung und fünfzehnjähriger Diensterfahrung.
Wenn er online ging, um nach Perversen zu surfen, fing Brit-124
tany-Harry nie die Unterhaltung an. Er stellte niemandem eine Falle. Er ging einfach in die Cyberhöhlen, wo sich diese Kreaturen herumtrieben, genauso wie Felix in seinem Taxi durch die Straßen der Stadt fuhr, um nach minderjährigen Mädchen Ausschau zu halten.
»Welcher Chatroom?«
»Er heißt ›Ich mag viel ältere Männer‹. Das übliche Profil.
Sprich die Zauberworte: Cheerleading, Musikvideos, Kloster-schuluniformen. «
Man konnte Harrys Nummer regelrecht in Echtzeit mitver-folgen. Innerhalb von Minuten, nachdem er sich mit seinem Teenager-Profil in den Chatroom eingeloggt hatte, kamen die Haie aus dem Wasser: »Wie groß bist du?«, fragten sie.
»Klein. Nur ein Meter sechzig«, antwortete Brittany.
»Nein, ich meine nicht deine Körpergröße. Was ist deine BH-Größe?« Und dann: »Beschreib deine Uniform!« Und dann:
»Bist du noch Jungfrau?« Worauf normalerweise folgte:
»Schick mir ein Bild von dir!« Harry drückte die Eingabetaste und schickte ein digitales Foto von Joni Braioso, der Underco-verpolizistin, die sich tatsächlich mit den Leuten traf, falls es so weit kam. Obwohl sie vierundzwanzig war, sah Joni keinen Tag älter aus als sechzehn. Mit ihrem karierten Rock, den ma-rineblauen Kniestrümpfen, einer falschen Zahnspange, Pferdeschwanz und bei einem Gewicht von weniger als hundert Pfund ging sie locker als Zwölf- oder Dreizehnjährige durch.
Harry hatte die Antwort auf das Foto, das er geschickt hatte, heruntergeladen: »Das bin ich an meinem Computer.« An die Mail angehängt war ein Foto von einem Mann mittleren Alters in einem Polohemd, das wie eine Werbung aus einem Sportbe-kleidungskatalog aussah.
»Und das ist mein Monster. « Auf der nächsten Seite war eine Nahaufnahme von einem Penis zu sehen.
125
Ich sah zwei Mal hin.
»Riesig, hm?«, sagte Ryan. »Harry und ich wetten, dass er ihn sich von einer Pornoseite runtergeladen hat. Diese Kerle haben nie die Dinger, die sie vorgeben zu haben. Ich mag es besonders, wenn sie ihren Genitalien Namen geben. So was würde mir nie einfallen.«
»Soll ich weiterlesen?«
»Das übliche Muster. Er will ihr zeigen, wie’s geht. ›Lern das Monster kennen, und ich zeig dir, was man damit machen kann.‹«
»Ist er explizit?« Ich wollte keinen Polizeieinsatz vergeuden, wenn der Kerl nur gern obszön daherredete.
»Er beschreibt genau, was er tun will und wie er es tun will.
Wenn ich es dir sage, er ist ein perfektes Ziel für uns. Er will, dass sie einen Treffpunkt vorschlägt, wo Hotels in der Nähe sind. Er bringt die Kondome, Marihuana und etwas Alkohol mit, um sie zu entspannen.«
»Und hast du herausgefunden, wer er ist?«
»Ich habe eine richterliche Anordnung an den ISP gefaxt.«
Der Internet Service Provider hatte mit Informationen über den Mann, dessen E-Mail-Name MonsterMan war, geantwortet.
»Die Antwort war heute früh in meinem Faxgerät. Ich habe ihn gerade in Faces of the Nation, der Personendatenbank, überprüft.«
Ryan las mir aus den Angaben vor, die er aus dem Internet geholt hatte. »Frederick Welch III. Er ist Direktor einer Highschool in Litchfield, Connecticut.«
»Das Treffen ist gebongt. Lasst uns einen Ort ausmachen, an dem sich Joni wohl fühlt, und ein paar Pensionen, mit denen das Dezernat zu tun hat.« Die Pensionen waren oft Stundenho-tels, in denen auch Prostituierte und Junkies verkehrten. Oft ba-ten die Pensionen die New Yorker Polizei um Hilfe, wenn die 126
Stelldicheins und Drogendeals aus dem Ruder liefen. Harry würde einen Pensionsmanager fragen, der ihm einen Gefallen schuldete.
»Du willst so weit gehen?«
»Ich will, dass er sich anmeldet und einen Zimmerschlüssel verlangt. Wir haben letzten Monat einen Fall vermurkst, als wir den Kerl verhafteten, als er sich blicken ließ und Joni ein Küsschen auf die Wange gab. Der Richter sagte, wir hätten keine Beweise, dass der Täter mit seinem Online-Geplänkel Ernst machen wollte.«
Der Cyberspace war eine neue Spielwiese für Pädophile geworden. Es gab nicht nur Tausende von Seiten, auf denen man Kinderpornografie kaufen, verkaufen und tauschen konnte. Er war auch ein einfacher und billiger Weg, um mit Kindern und Jugendlichen auf der ganzen Welt zu kommunizieren. Dieselben Eltern, die den Umgang und die Ausgehzeiten ihrer Kinder streng kontrollierten, schickten sie stundenlang auf ihre Zimmer, ohne sie davor zu warnen, dass es genauso riskant war, sich online mit einem Fremden zu unterhalten wie auf der Stra-
ße.
Sarah Brenner kam mit zwei Kaffeetassen in mein Büro.
»Ich habe deine Nachricht erhalten und bin sofort nach oben gekommen. Hallo, Ryan. Zweifelsohne etwas Gutes.«
»Vielleicht spar ich mir den Kaffee und klemm mir lieber Zahnstocher zwischen die Augenlider, damit sie mir nicht zufallen. Guten Morgen.« Ich nahm eine Tasse.
»Beschwer dich nicht über Schlafmangel, wenn du nicht Mutter dreier Kinder bist. Du magst es doch nicht anders. Lässt dir Battaglia den Fall?«
»Falls du mir hier Rückendeckung geben kannst, könnte Ryans Internet-Operation morgen in die heiße Phase gehen. Wir haben drei Leute im Gerichtssaal und ein Feiertagswochenende 127
vor uns. Da werden bei den jungen Wilden wieder die Gäule durchgehen.« Bei warmem Wetter stiegen unsere Zahlen immer an.
»Kann ich wichtige Entscheidungen treffen?«, fragte sie lä-
chelnd.
»Du kannst sogar McKinney in den Hintern kriechen, falls dir danach ist.«
Das Telefon klingelte, und ich wollte rangehen, aber Laura kam herein und war schneller. Sie begrüßte uns und sagte, dass Chapman am Apparat war.
»Ich übergebe gerade an Sarah. Dann mach ich mich gleich auf den Weg.«
»Deshalb rufe ich nicht an. Dr. K. ist noch in Chelsea an einem Tatort. Was brauche ich, um einen Pass zu beschlagnahmen?«
»Was du in dem Fall noch nicht hast: einen hinreichenden Verdacht. Warum? Hat Pierre Thibodaux schon seine Koffer gepackt?« Ich hatte befürchtet, dass der zukünftige Exdirektor keinen Grund haben würde, in der Stadt zu bleiben, hätte aber gedacht, dass es eine Übergangszeit geben würde, bis man einen Nachfolger gefunden hatte.
»Ich habe gerade Ms. Drexler angerufen, um herauszufinden, wann ich die Angestelltenliste abholen und mir die restlichen ägyptischen Särge von Timothy Gaylord zeigen lassen kann, da er uns gestern Nachmittag so abrupt verlassen hat. Leider verlässt er heute Abend das Land.«