»Lassen Sie mich darüber nachdenken«, sagte Logan.

»Warum? Was ist auf den Bändern, das Ihnen Bauchschmerzen macht?«

»Das sind alles die privaten Gedanken der alten Dame, Mr. Chapman. Ich habe über das Schomburg einen Vertrag mit ihr abgeschlossen, dass die Ge-257

schichten über ihr Privatleben erst fünfundzwanzig Jahre nach ihrem Tod publik gemacht werden dürfen.

Auf den Bändern sind viele Anekdoten über berühm-te Leute – von denen noch einige am Leben sind.«

Ich trat Mike auf die Zehen, um ihm zu signalisie-ren, die Sache mit den Bändern fürs Erste ruhen zu lassen. Wenn es darauf ankam, würde ich einen juristischen Weg finden, sie beizubringen.

»Was möchten Sie von uns über Ms. Ransome wissen?«, fragte ich. Eventuell konnten wir Spike Logan noch mehr Fakten entlocken, wenn wir ihm ein bisschen entgegenkamen.

Er fragte, wie sie gestorben war, ob irgendjemand Anspruch auf ihre Leiche oder ihre Besitztümer erhoben hatte, und wie weit wir mit unseren Ermittlungen waren.

Als seine Neugier gestillt war, drehte ich den Spieß wieder um. »Mich fasziniert ihre Beziehung zu dem ägyptischen König. Wissen Sie, wie das alles angefangen hat?«

Mike Chapman stand auf und öffnete die Tür. »Du und deine Freundinnen – ihr verschlingt dieses ganze Zeugs über die Königshäuser. Ein Bürgerlicher wie ich hätte bei euch keine Chance, und wenn ich wie ein Zuchthengst ausgestattet wäre. Will jemand Kaffee?«

»Ja, bitte. Für mich gleich zwei. Spike?«

»Könnte ich ein Sandwich und eine Cola haben?«

»Sicher. Ich bin in zehn Minuten wieder da.«

Logan sprach offensichtlich gern über McQueen Ransome. »Also, Josephine Baker nahm Queenie mit 258

nach Europa. Dort gab es nie solche Barrieren für farbige Unterhaltungskünstler, wie sie hierzulande existierten.«

»Paris?«

»Ja, dort fing alles an, bei den Folies-Bergères. Aber sobald sie erst einmal mit der Résistance zu tun hatten, wurde Queenie auf Missionen durch ganz Europa geschickt. Faruk war 1936 König von Ägypten geworden, aber bereits 1939 hatten die Briten die Kontrolle über das Land übernommen. Rommel wartete in der Wüste nur darauf zuzuschlagen, also stellten die alliierten Truppen die Ägypter zur Bewachung des Suezkanals ab und übernahmen praktisch die Regie-rungsgeschäfte.«

»Und was wurde aus Faruk?«, fragte ich.

»Er war nur noch eine Galionsfigur. Mit Anfang zwanzig verfügte er über ein Nettovermögen von einhundertfünfzig Millionen Dollar. Er hatte einen Palast mit fünfhundert Zimmern, vergnügte sich mit diversem Spielzeug – Yachten, Flugzeuge, Rennautos, Zuchtpferde – und war hinter den Weibern her.«

»War er verheiratet?«

»Nicht sehr glücklich.«

»Wie hat Queenie ihn kennen gelernt?«

»Sie war nach Ägypten geschickt worden, angeblich um die Truppen zu unterhalten. Es war schon im Spätstadium des Kriegs – so um 1944 herum. Sie trat in Faruks Lieblingsnachtclub in Kairo auf – Auberge des Pyramides.«

»Faruk besuchte während des Kriegs Nachtclubs?«

259

»So hat er sich den Spitznamen Nachtschwärmer eingefangen.«

Chapman hatte denselben Begriff benutzt, aber er meinte damit das Gesocks, das sich nachts auf den Straßen der Stadt herumtrieb und auf Ärger aus war.

»Er war jede Nacht unterwegs und zechte – Bauchtänzerinnen, Jazzbands, Kaviar und Champagner.

Neben Mussolini und Goebbels, die Privatführungen durch die Pyramiden bekamen, hatten es ihm vor allem die Showgirls angetan.«

»Also wurde Queenie tatsächlich dorthin beordert, um Faruk zu verführen?«

»Sie betrachtete den Job als eine Herausforderung.

Sie glaubte nicht, dass er auf sie abfahren würde.«

»Schwer zu glauben, wenn man sich die Fotos ansieht.«

»Er stand auf Blondinen, Ms. Cooper, und sie sollten nicht älter als sechzehn sein. Sie war genauso alt wie der König und für seinen Geschmack etwas zu dunkel getönt.«

»Was ist passiert?«

»Sie hat getanzt. Sie kam auf die Bühne und voll-führte Dinge mit ihrem herrlichen Körper, die keine andere zuwege gebracht hätte.«

Ich dachte an das Foto von ihr im Scheherazade-Kostüm und stellte mir vor, wie sie darin für Faruk tanzte.

»Nach der Vorstellung kam einer seiner Leib-wächter hinter die Bühne und lud sie an den Tisch des Königs ein. König Faruk stand auf, um Queenie 260

zu begrüßen, und als sie einen Knicks machte, nahm er eine Halskette aus seiner Tasche und legte sie ihr um den Hals. ›Das ist dein Pass zu meinem Palast‹, sagte er. ›Die Wächter werden dich später zu mir bringen.‹« Logan hielt inne und lachte. »Queenie hat die Kette abgenommen und sie genau betrachtet. Saphire so groß wie Wachteleier. Sie ließ sie in seine Suppenschüssel fallen und sagte zu ihm: ›Ich glaube, Sie verwechseln mich mit der nächsten Nummer, Euer Hoheit. Ich bin hier nur die Tänzerin, nicht die Nutte.‹«

»Sie hat ihn stehen lassen?«

»Sie drehte sich um und ging zurück ins Hauptquartier des Roten Kreuzes, wo sie untergebracht war. Nacht für Nacht kam Faruk in den Klub und überhäufte sie mit Geschenken, aber sie weigerte sich, ihn zu treffen. Erst als er endlich mit leeren Händen aufkreuzte und hinter die Bühne kam, um sich bei ihr zu entschuldigen, erklärte sich Queenie das erste Mal bereit, mit ihm zu sprechen.« Logan hielt inne. »Sie hielt ihn noch ein paar Wochen hin. Er sollte sie nicht so leicht haben.«

»Und dann?«

»Wie’s bei Königs halt so läuft. Nächte im Palast, Vergnügungsfahrten auf dem Nil, Tête-à-Têtes mit der Highsociety in Kairo und Alexandria, die damals echte Metropolen waren. Es gab eine große amerikanische Kolonie in Ägypten. Queenie sagte, dass Faruk oft Dutzende von Amerikanern einlud und sich die neueste Hollywood-Propaganda vorführen ließ – Fil-261

me wie Casablanca oder Partituren von brandneuen Broadway-Shows wie Oklahoma! «

»War es für sie Pflicht oder Kür?«, fragte ich.

»Anfangs Pflicht. Mann, sie saß praktisch an der Quelle – bezog ihre Informationen direkt aus dem Schlafzimmer. Sie war dabei, als Präsident Roosevelt und Winston Churchill auf dem Rückweg von der Jal-ta-Konferenz in Ägypten Halt machten, um mit Faruk zu sprechen. Faruks Frau zog sogar aus dem Palast aus –«

»Wegen seiner Affäre mit Queenie?«

»Nicht direkt. Weil es ihr nicht gelungen war, einen Thronfolger zu produzieren. Drei Töchter, aber nicht den Sohn, den Faruk brauchte, um der ägyptischen Monarchie die Thronfolge zu garantieren. Das hieß, dass er zu der Zeit ganz auf Queenie fixiert war und ihr voll vertraute. Und ja, dann kam die Kür: Sie verliebte sich in ihn.«

»Hat sie Ihnen erzählt, warum?«

Logan dachte kurz nach. »Er war nicht der Mitleid erregende gealterte Exilant, als den ihn die Welt später kannte, nachdem er sich gute dreihundert Pfund ange-fressen hatte. Queenie zeigte mir das Foto von seiner Krönung auf der Titelseite des Nachrichtenmagazins Time; er war so etwas wie der große Hoffnungsträger des Nahen Ostens. Der Märchenprinz im Land der Pharaonen. Er war intelligent, sprach sieben Sprachen, lebte auf großem Fuß und liebte die Frauen.«

»Die Saphire haben vermutlich auch nicht gescha-det.«

262

»Queenie hat sich darüber lustig gemacht«, sagte Logan. »Die Halskette, die er ihr in der ersten Nacht geben wollte, war nicht echt. Er hatte jede Nacht Modeschmuck für die Showgirls und Nutten dabei. Er besaß Millionen, aber bei seinen Frauen war er ein richtiger Geizkragen. Ich glaube, es hat ihn fasziniert, dass sich Queenie nichts aus seinem Besitz machte –

dem Schmuck, den Autos, all den anderen Sachen.«

»Was meinen Sie mit ›all den anderen Sachen‹?«

»Der König war ein Sammler. Er sammelte alles Mögliche. Verrückte Sachen, teure Sachen. Er musste einfach alles besitzen, was ihm zwischen die Finger kam.«

»Was genau hat er gesammelt?«

»Wenn es nach Queenie ging, alles. Sie wissen über die Pornografie Bescheid, nicht wahr?«

»Nein, tu ich nicht.«

»Hat Ihnen denn niemand von den Bildern in Queenies Schlafzimmer erzählt?«, fragte Logan.

»Die von James Van Derzee?«

»Nicht die. Das sind großartige Fotos. Die haben wirklich Klasse. Das Schomburg hat seine ganze Sammlung – sehr künstlerisch und elegant.«

Ich wollte Logan nicht sagen, dass der Mörder sein Opfer in die gleiche Pose gerückt hatte wie der große Fotograf. Vielleicht wusste er das bereits.

»Welche Pornografie meinen Sie dann?«

»König Faruk hatte die größte Pornografiesammlung der Welt. Erotische Kunst, Objekte und Vorrichtungen aller Art, Uhren mit Unzucht treibenden Paa-263

ren, die sich auf dem Zifferblatt drehten, wenn sich die Zeiger bewegten, pornografische Krawatten, Spiel-karten, Kalender, Korkenzieher. Dann hatte er die tolle Idee, Queenie für Fotos posieren zu lassen.«

»Und das hat sie getan?«

»Zuerst ja. Es hat ihr nie etwas ausgemacht, ihren Körper zur Schau zu stellen. Erst als der König wollte, dass sie sich für seine Sammlung mit anderen Männern beim Sex fotografieren ließ, hat sie sich gewei-gert. Das war der Anfang vom Ende ihrer Beziehung.«

»Was ist aus den Fotos geworden?«

»Queenie nahm so viele wie möglich mit, als sie 1946 Ägypten verließ. Als Sotheby’s den Rest von Faruks Sammlungen nach seinem Sturz versteigerte, erkundigte sie sich beim Auktionshaus, ob sie ihnen einige der Fotos abkaufen könnte, damit sie nicht veröffentlicht wurden. Aber Sotheby’s nahm die Pornografie in letzter Minute aus der Auktion heraus. Sie hat nie erfahren, was mit den Sachen passiert ist. Aber es spielte auch keine große Rolle mehr.

Ihr Lebenswille war bereits gebrochen.«

»Warum?«

»Fabian, ihr Sohn.«

»War er zu der Zeit bereits gestorben?«

»Ja. Er hatte Polio. Kinderlähmung. Er starb 1955, einige Monate bevor der Impfstoff in den Vereinigten Staaten zugelassen wurde. Kurz vor der Auktion.«

Ich rechnete im Kopf. »Fabian war –«

»König Faruks Sohn. Der Prinz von Ägypten, der Thronfolger.«

264

Wir schwiegen.

»Dieser blonde, hellhäutige Junge sah genauso aus wie sein Vater«, sagte Logan. »Ich zeige Ihnen die Bilder.«

»Sie muss am Boden zerstört gewesen sein.«

»Sie konnte bis zum Schluss nicht darüber reden, ohne in Tränen auszubrechen, Ms. Cooper. Ich meine, sie wusste lange bevor sie schwanger wurde, dass sie nur eine von vielen königlichen Konkubinen war. Mit im Club waren Bauchtänzerinnen und Ehefrauen britischer Diplomaten. Zwei von Faruks Lieblingsmätres-sen waren Jüdinnen – damals wehte in Ägypten ein anderer Wind –, aber es war unwahrscheinlich, dass eine von ihnen die nächste Königin werden würde.«

»Wusste er, dass sie schwanger war, als sie ihn verließ?«

Er nickte. »Zuerst war sie zu stolz, es ihm zu sagen.

Aber nachdem sie ihren Sohn hier in den Staaten auf die Welt gebracht hatte, schickte sie ihm ein paar Fotos, weil sie wusste, wie sehr er sich einen Erben wünschte, und weil sie sah, wie sehr das Kind dem jungen Faruk ähnelte. Und sie hielt sich an die Sache mit dem F. «

»Was?«

»Faruks Vater, König Fuad, hatte einmal einen Seher konsultiert und von ihm erfahren, dass sein ganzes Glück von dem Buchstaben F herrührte. Fuad verlangte daraufhin, dass jedes Mitglied der königlichen Familie einen entsprechenden Namen erhielt – Faruk selbst, seine Schwestern Fawzia, Faiza, Faika. Sogar seine Frau 265

musste ihren Namen ändern. Queenie dachte, dass sie damit seine Aufmerksamkeit gewinnen würde. ›Hier ist dein Prinz Fabian, schau ihn dir an.‹«

»Hat Faruk darauf reagiert?«

»Sie hat nie wieder von ihm gehört. Er ließ sich von seiner Frau scheiden und heiratete ein sechzehnjähriges Mädchen, das schließlich einen Erben gebar –

den nächsten Fuad.«

»Hat er jemals mit Fabian Kontakt aufgenommen?

Ihn finanziell unterstützt?«

»Queenie wollte kein Geld von ihm. Sie wollte nur, dass er den Jungen anerkennt. Er sollte wissen, dass sie erreicht hatte, was der Prinzgemahlin bis dahin nicht gelungen war.«

»Aber wovon hat sie gelebt? Hat sie weiter getanzt?«

»Nicht sehr lange.« Logan sperrte den Mund auf und strich sich über sein Ziegenbärtchen. Er schien zu überlegen, ob er weitererzählen sollte. Dann lehnte er sich zurück und griff in die Hosentasche seiner Jeans.

»Das hat mir Queenie im Juni zum Geburtstag geschenkt«, sagte er und reichte mir eine Taschen-uhr.

Auf der Rückseite des Gehäuses aus massivem Gold waren die Initialen ER. eingraviert. »Faruk Rex«, sagte Logan. »Ein Geschenk von seinem Kumpel, dem Herzog von Windsor.«

»So was hat Faruk Queenie geschenkt?«

»Nicht direkt«, sagte Spike Logan und lächelte.

266

»Mein Mädchen hat ein bisschen vorgesorgt, bevor sie nach Harlem zurückkehrte. Sie hat sie dem König geklaut.«

22

McQueen Ransome klaute dem König von Ägypten also eine goldene Uhr. Welche Wertsachen mochte die aus der Gunst Gefallene in ihrem gekränkten Stolz noch genommen haben?

»Hat sie Ihnen erzählt, ob sie Faruk noch andere

›Sachen‹ aus seiner Sammlung entwendet hat?«, fragte ich Spike Logan.

»Hey, am Anfang war alles nur ein Scherz. Damals kursierte eine Geschichte, wie Faruk einen berühmten Taschendieb begnadigte, der in einer der Strafanstal-ten von Alexandria einsaß. Als Gegenleistung wollte der König bei dem Kerl Unterricht nehmen. Der Dieb willigte ein und brachte Seiner Majestät das Klauen bei, indem er in jede seiner Taschen winzige Glöckchen einnähte, bevor er sie mit Gegenständen füllte.

Zum Schluss war Faruk der perfekte Langfinger. Haben Sie nie die Geschichte von Churchills Uhr ge-hört?«

»Nein.«

»Während eines Truppenbesuchs in Ägypten aß Churchill mit Faruk zu Abend. Noch beim Cocktail klaute Faruk dem Premierminister die Uhr aus der 267

Weste, ohne dass es der große Staatsmann bemerkte.

Erst nach dem Essen, als Churchill fragte, wie spät es sei, zog der König die Uhr aus seiner Tasche und sagte es ihm.«

Die Vorstellung brachte mich zum Lachen.

»Faruk machte sich einen Spaß daraus, es auch Queenie beizubringen. Einmal klaute sie Noël Co-ward sein Zigarettenetui aus Platin, und als Jack Ben-ny vor den Truppen auftrat, klaute sie ihm seinen Geldclip aus der Innentasche seines Dinnerjacketts.«

»Aber wie mir scheint, beließ sie es nicht dabei.«

Logan wurde ernst. »Ihr schwante, was ihr bevorstand, Ms. Cooper. Der König verlor sein Interesse an ihr, sie wusste, dass sie ihren Lebensunterhalt nicht mit Tanzen verdienen konnte, wenn sie schwanger war, und sie hatte keine Ahnung, wie es ihr nach ihrer Rückkehr in die Vereinigten Staaten in Harlem ergehen würde.«

»Welche Diebstähle hat sie Ihnen gegenüber zugegeben?«

Logan trommelte mit den Fingern auf die Tisch-platte. »Ich erinnere mich nicht genau.« Ihm schien bewusst zu werden, dass er ein negatives Bild von Queenie zeichnete.

»Aber Sie können es doch sicher in etwa umrei-

ßen.« Ich musste an die Interviewbänder rankommen, bevor er sie manipulierte oder vernichtete. »Die Ver-jährungsfrist für Diebstahl ist abgelaufen«, sagte ich und lächelte ihn an. »Es klingt einfach faszinierend.«

»Ich bin nicht der Einzige, der darüber Bescheid 268

weiß«, sagte er wie zur Rechtfertigung, warum er mir das alles erzählte. »Sie nahm etwas Schmuck. Ich meine, Faruk gab ihr in der Zeit, in der sie zusammen waren, ein paar Stücke. Aber sie scheint am Ende noch ein paar ungeschliffene Edelsteine zwischen die Finger bekommen zu haben, die er versteckt hatte.

Sie hat sie im Laufe der Jahre verkauft oder verpfändet. Faruk sammelte auch seltene Briefmarken und wertvolle Münzen, kuriose Dinge, deren Wert sie nicht wirklich kannte«, sagte Spike.

Er sah mich an, als wollte er meine Reaktion einschätzen, bevor er weitersprach. Ich hielt mich bedeckt.

»Queenie konnte ungefähr zehn Jahre lang von einem einzigen der Schätze leben, die sie hatte mitgehen lassen.«

Ich zog neugierig die Augenbrauen hoch.

»Wissen Sie, was ein Fabergé-Ei ist, Ms. Cooper?«

Die brillanten Schmuckobjekte waren von Carl Fabergé für die russischen Zaren hergestellt worden und nach der Revolution von den reichsten Männern und Frauen der Welt gesammelt und gehandelt worden.

»Natürlich. Faruk hatte ebenfalls Fabergé-Eier?

Queenie hat sich eins geschnappt? Meine Bewunde-rung für ihren Geschmack wächst.«

Spike Logan kümmerte es nicht, ob ich Queenies Methoden guthieß oder nicht. »Irgendein Antiquitä-

tenhändler in London hat es ihr abgekauft. Ich habe ihn im Internet gesucht, konnte ihn aber nicht aufspüren. Sie machte Witze, dass Faruk besser war als 269

die Gans, die goldene Eier legte. Sie und Fabian lebten zehn Jahre lang, bis zum Tod des Jungen, von diesem einen Ei. Queenie wusste, dass man sie bei einigen der Objekte aufs Kreuz gelegt hatte, weil sie keinen Besitznachweis hatte. Die Händler wussten, dass es sich um gestohlene Ware handelte, andernfalls hätte sie genug Geld dafür bekommen, um für den Rest ihres sehr langen Lebens stilvoll leben zu können.«

»Hat Faruk diese Sachen denn nicht vermisst? Hat er nicht versucht, sie zurückzubekommen?«

»Sprechen Sie Französisch?«, fragte Spike.

Ich nickte.

» Touche pas! Wissen Sie, was das heißt?«

»Nicht anfassen.«

Er beugte sich vor und senkte theatralisch die Stimme. »Wenn der König mit seinen Spielsachen spielen wollte, nahm er Queenie mit in die Räume des Palastes, in denen alles untergebracht war. Ich rede von Dutzenden von riesigen Räumen. Sie saßen stundenlang auf den überall verstreut liegenden Sei-denkissen. Sie konnte Tiaras und Halsbänder anpro-bieren, Goldstücke durch ihre Finger gleiten lassen und Fabergé-Kelchgläser in den Händen halten. Aber bei den Stücken, die er am meisten schätzte, den sel-tensten, wertvollsten Stücken, schrie er sie an: ›Touche pas! Touche pas!‹ Sie durfte sie nicht einmal anfassen. Fabergé-Kelchgläser ja, aber die Eier – nein.«

»Also war es ihr ein Leichtes zu wissen, was die wertvollsten Schätze waren.«

»Das dachte sie auch. Queenie sagte mir, sie hätte 270

alles noch einmal abgegrast, als sie ihre Taschen packte. Sie dachte, Faruk würde angesichts seiner vielen Sammlungen und Spielsachen nicht einmal merken, dass etwas fehlte, wenn sie es nur clever genug an-stellte. Sie steuerte direkt auf die Sachen zu, die für sie tabu gewesen waren. Von all seinen wertvollen Eiern nahm sie nur eins – ebenso wie von den Juwelen und anderen Wertsachen. Wenn er seine Schränke und Safes öffnete, würde er noch immer Dutzende funkelnder Gegenstände sehen und nie auf die Idee kommen, sie zu zählen. Die große Ironie ist, dass er vermutlich tatsächlich nie etwas vermisst hat.«

»War es denn nicht schwierig, die Sachen aus Ägypten rauszuschmuggeln?«

»Faruk hatte sich einer jüngeren Frau zugewandt, der Krieg war vorbei, und alle um den König herum waren froh, dass Queenie aus dem Palast verschwand.

Sie transportierte die kostbarste Beute in ihrer Handtasche, ging das Risiko ein, den Rest mit ihrem Ge-päck aufzugeben, stieg in den nächsten Flieger nach Portugal und flog von dort nach Hause.«

»Was wurde aus all den Wertgegenständen?«, fragte ich.

»Sie hat einiges verkauft und davon gelebt. Aber nach Fabians Tod, und weil Faruk nie auf die Fotos von dem Jungen geantwortet hatte, verfiel sie in eine tiefe Depression. Sie verbrachte fünf Jahre in einem privaten Sanatorium – einer psychiatrischen Klinik in Connecticut. Das verschlang den Großteil dessen, was sie noch verpfändet hatte.«

271

»Und der Rest?«

»Da sie nicht die rechtmäßige Besitzerin war, musste sie die Sachen an ein paar ziemlich zwielichtige Gestalten verkaufen. Sie hatte ja keinen Nachweis ihrer – wie nennt man das?«

»Provenienz«, sagte ich.

»Genau. Sie hatte ein paar seltene Briefmarken, die auf dem freien Markt nicht viel wert sind. Und ein paar ausländische Münzen, die vielleicht als Teil einer größeren Sammlung hoch gehandelt worden wären, aber sie bekam nie mehr als den Nennwert. Und dann ging ihr der Sprit aus, Ms. Cooper.«

Warum hatte uns Spike Logan gefragt, was mit McQueen Ransomes Hab und Gut geschehen war?

Warum war er in die leere Wohnung eingedrungen?

Hatte er nach etwas Bestimmtem gesucht, als ihn die Polizei ertappte?

»Glauben Sie, dass Queenie noch immer einige Wertsachen von Faruk in ihrer Wohnung hatte? Gegenstände, die sie Ihnen gegenüber erwähnt hatte?

Oder vielleicht auch Sachen, von denen sie nicht wusste, dass sie heutzutage etwas wert sein würden?«

Er streckte wieder seine Beine aus und verschränk-te die Arme. »Ich glaube, das hätte sie mir gesagt.

Queenie hat mir vertraut, Ms. Cooper. Ich glaube, diese Uhr war so ziemlich alles, was sie noch hatte und weggeben konnte.«

Sie mochte ihm eventuell vertraut haben, aber konnten wir das auch?

272

»Haben Sie jemals einen Pelzmantel gesehen?«, fragte ich.

»In ihrer Absteige?« Er schüttelte den Kopf. »Nee.

Aber ich hatte keinen Grund, in ihre Schränke zu schauen, und im Winter sind wir nie rausgegangen.

Aber wir könnten uns die alten Fotos durchsehen. Es würde mich kein bisschen überraschen. In ihren besten Jahren hätte Queenie ein netter Pelzmantel bestimmt gefallen.«

Mike Chapman kam mit dem Mittagessen für Spike Logan zurück. »Würden Sie uns bitte ein paar Minuten entschuldigen?«, fragte ich und ging mit Mike vor die Tür.

Ich berichtete Mike, was Logan mir erzählt hatte.

»Haben dir die Streifenbeamten gesagt, was er in der Wohnung getan hat, als sie ankamen?«, fragte ich und schlürfte an dem heißen Kaffee.

»Er hat ziemlich gründlich herumgeschnüffelt.

Glaubst du wirklich, dass er nichts von Queenies Tod wusste?«

»Ich kann nur nach dem gehen, was er mir erzählt.

Mal sehen, ob uns die Telefonunterlagen eine andere Geschichte verraten.«

»Wirst du dein Wort halten und ihn nach Hause gehen lassen?«, fragte Mike.

»Alles, was wir haben, ist unbefugtes Betreten.

Kein Richter wird ihn deswegen einsperren. Wir können genauso gut auf seine Kooperation bauen, indem wir ihm zeigen, dass wir ihm vertrauen.«

»Du kannst doch deine Kontakte auf dem Vineyard 273

spielen lassen, damit ihn die Polizei dort im Auge be-hält.«

»Ich mache mir weniger Gedanken um Logan als darum, wie ich an die Bänder in seinem Safe komme, bevor er etwas mit ihnen anstellt. Queenie hat wo-möglich Dinge gesagt, die für ihn ohne Bedeutung sind, uns aber einen Anhaltspunkt liefern könnten.

Ich muss damit anfangen. Lass dir seine Kontaktin-formationen geben, bevor du ihn gehen lässt. Und den Schlüssel zu Queenies Wohnung.«

»Willst du auch die goldene Uhr des Herzogs von Windsor behalten?«

»Unbedingt.«

Sarah Brenner bot an, sich mit den Kollegen in Massachusetts in Verbindung zu setzen, und ich ging in mein Büro, um die Polizei von Oak Bluffs anzurufen und ihnen von Spike Logan zu berich-ten.

Als ich auflegte, sah ich, dass Laura in der Tür zum Flur stand und mit einem Mann redete. Sie versuchte, ihn mir vom Leib zu halten, bis sie herausgefunden hatte, ob ich ihn sprechen wollte.

»Was ist heute bloß los?«, sagte sie, nachdem sie ihn ins Konferenzzimmer gelotst hatte. »Ruft denn heutzutage niemand mehr an, um einen Termin zu vereinbaren? Es ist Peter Robelon – zusammen mit diesem anderen Anwalt, Mr. Hoyt. Sie waren gerade im Haus und wollten wissen, ob Sie ein paar Minuten Zeit für sie hätten.«

Neugierig, welche Verzögerungstaktik sie jetzt im 274

Sinn hatten, ging ich mit meinem Kaffee den Flur hinunter.

Beide standen auf, als ich das Zimmer betrat. »Alex, es tut mir so Leid wegen Paige Vallis. Uns beiden tut es Leid.«

Meine Miene blieb steinern. »Machen Sie sich nicht unglaubwürdig, meine Herren. Ich habe bisher wirklich versucht, Sie ernst zu nehmen. Das hier ist doch sicherlich kein Beileidsbesuch.«

»Kommen Sie, Alex«, sagte Graham Hoyt. »Sie können sich nicht jeden Ihrer Fälle so zu Herzen nehmen. Geben Sie sich nicht die Schuld für –«

»Das tu ich nicht, danke.« Halten Sie sich aus meinem Privatleben raus, dachte ich und sah ihn finster an. »Ich gebe dem Mörder die Schuld dafür.«

»Hören Sie, Alex. Graham hat das ganze Wochenende auf mich eingeredet. Ich habe gerade zwei Stunden lang mit Andrew Tripping gesprochen. Ich glaube, dass wir noch einmal über einen Vergleich sprechen sollten, vor allem da sich die Umstände so dra-matisch verändert haben. Wollen Sie sich nicht setzen?«

Ich nahm bei den beiden am Tisch Platz. »Sie haben mich von Anfang an zum Narren gehalten, Peter.

Also vergessen Sie’s. Warum sollte Tripping jetzt plötzlich zur Einsicht kommen?«

»Weil das Mädchen der Knackpunkt war. Bei allem Respekt, Alex, er wäre nie ins Gefängnis gekommen, weil er nie zugegeben hätte, Paige Vallis irgendetwas angetan zu haben. Sie ist tot. Verstehen Sie nicht, 275

dass Sie nichts mehr in der Hand haben, was die Vergewaltigungsanklage angeht? Sie steuern geradewegs auf eine Einstellung des Verfahrens zu.«

Ich hatte noch nicht herausgefunden, ob es möglich sein würde, den Anklagepunkt wegen Vergewaltigung aufrechtzuerhalten, falls ich Dulles dazu bringen konnte, wahrheitsgetreu über die Ereignisse jenes Abends auszusagen. Die medizinischen Befunde und DNA-Resultate bewiesen, dass Geschlechtsverkehr stattgefunden hatte. Vielleicht konnte Dulles bestätigen, dass Drohungen mit im Spiel gewesen waren.

Aber ich wusste, dass meine Chancen ziemlich schlecht standen. Ich antwortete nicht.

»Gehen wir davon aus, dass ich den Antrag stelle, den Anklagepunkt wegen Vergewaltigung zu streichen«, sagte Robelon. »Ich bitte nicht Sie, das zu tun.

Sie können Einspruch erheben, falls Sie das wollen.

Sie werden eine weiße Weste haben, wenn’s Ihnen damit besser geht, und Moffett wird die Entscheidung treffen. In meinem Sinne.«

»Vermutlich haben Sie das schon mit ihm abge-sprochen.« Ich war überzeugt, dass der Richter in meiner Abwesenheit Robelon bereits grünes Licht für diesen Plan gegeben hatte.

»Sie sind zu emotional in dieser Angelegenheit, Alex. Moffett hat keine Wahl«, sagte Robelon. »Und Sie auch nicht, wenn wir realistisch sind.«

»Und die Anklage wegen Kindesmisshandlung?

Wird Andrew sich dessen schuldig bekennen?«

»Graham und ich glauben, dass wir ihn durch gutes 276

Zureden dazu bringen können. Ein geringfügigeres Delikt – Misshandlung dritten Grades.«

»Haftdauer?« Allein die Misshandlung seines Sohnes sollte ihm ungefähr ein Jahr hinter Gittern einbringen.

Robelon schürzte die Lippen und schwieg einen Moment. »Darüber reden wir gerade zum ersten Mal.

Als es um Vergewaltigung ging, wusste er, dass ihm das Staatsgefängnis bevorstand. Das kam nicht in Frage. Die Misshandlung wäre nur Bezirksgefängnis.

Ich glaube, dazu können wir ihn kriegen.«

»Warum der plötzliche Sinneswandel? Abgesehen von Paige Vallis?«

Jetzt antwortete Graham Hoyt. »Andrew Tripping weiß, dass er nicht geeignet ist, das Sorgerecht für seinen Sohn zu haben. Er liebt den Jungen – das heißt, das möchte er zumindest –, aber er ist völlig unfähig, sich um ihn zu kümmern. Er wird das nicht vor Gericht sagen, Alex, aber ich denke – bleibt das unter uns?«

»Natürlich.«

»Ich denke, dass er es Peter und mir gegenüber zugeben wird. Er ist wie alle Väter – er will nur das Beste für den Jungen. Und wir werden gemeinsam herausfinden, was das ist.«

»Und die anderen Anwälte?« Ich dachte an Nancy Taggart vom Waisenhaus und Jesse Irizarry vom Jugendamt. »Werden sie mit Ihrem Vorschlag einver-standen sein?«

»Wir haben noch nicht mit ihnen gesprochen. Wir 277

wollten zuerst herausfinden, ob Sie mit von der Partie sind«, sagte Robelon.

»Wird Andrew Tripping ein vollständiges Geständnis abgeben?« Ich wollte keinerlei Ausflüchte oder Entschuldigungen bezüglich der Misshandlung von Dulles.

»Wir werden ihm gut zureden.«

»Mittwochvormittag, wenn wir wieder vor Moffett erscheinen sollen?«

»Ja, aber –«

»Warum überrascht mich das nicht? Warum gibt es bei euch Kerlen immer ein Aber?«, fragte ich.

»Was ist es dieses Mal?«

»Er bekennt sich Mittwochvormittag schuldig. Er gibt zu, den Jungen geschlagen und verletzt zu haben.

Wir geben Ihnen in der Hinsicht alles, was Sie wollen. Aber wir verschieben den Urteilsspruch um drei Wochen, damit er seine Sachen regeln und den Jungen noch einmal sehen kann.«

»Niemals.«

»Wie bitte? Es ist ein geringfügiges Delikt. Eine kurze Vertagung, damit er noch einige private Dinge erledigen, sich um sein Hab und Gut kümmern kann, dafür sorgen kann, dass die Rechnungen bezahlt werden, solange er inhaftiert ist. Kein Staatsanwalt hat jemals dagegen Einwände erhoben.«

»Es geht mir um den Jungen, Peter. Ich möchte nicht, dass er sich mit dem Jungen trifft.«

»Ein Mal. Unter Aufsicht. Sie haben alle Berichte gelesen. Sie wissen, dass der Junge ihn liebt. Seit 278

wann sind Sie Expertin für Kinderpsychologie, Alex?

Dr. Huang wird als Aufsichtsperson anwesend sein.

Andrew muss noch einmal persönlich mit dem Jungen reden. Sich bei ihm entschuldigen, ihm erklären, warum es besser ist, dass er Hilfe bekommt, bevor er das Alleinerziehungsrecht für Dulles beantragt. Was zum Teufel wissen Sie schon darüber, wie sich der Junge fühlen wird, wenn sein Vater seinetwegen ins Gefängnis muss?«

Ich wusste keine Antwort auf Peters Wortschwall.

Ein einziges Treffen, unter strenger Aufsicht, war vermutlich ein notwendiger Teil des Heilungsprozes-ses des Kindes. »Lassen Sie mich mit unseren Psychi-atern reden«, sagte ich.

Graham versuchte es auf die diplomatische Tour.

»Hören Sie, Alex. Es ist schon spät, und wir haben Sie jetzt einfach so damit überfallen. Schlafen Sie darüber, sprechen Sie morgen mit Ihren Leuten, und dann sehen wir, ob wir bis Mittwoch eine Lösung finden können. Ich glaube wirklich, dass ein Schuldgeständnis für alle Beteiligten das Beste wäre.«

»Für alle bis auf Paige Vallis.« Ich dachte daran, wie durch ihren Tod ihre Interessen plötzlich wie wegge-blasen waren. »Und jetzt soll ich Andrew Tripping sogar noch länger auf freiem Fuß lassen und riskieren, dass er sich nie stellen wird, obwohl ich keine Ahnung habe, ob er für den Mord an Vallis verantwortlich ist.«

»Verdammt noch mal, Alex«, schrie Robelon mich an. »Falls Sie auch nur den geringsten Beweis hätten, dann sollten Sie und Ihre Gorillas den Typ hinter Git-279

ter bringen. Wagen Sie es bloß nicht, in den Gerichtssaal zu gehen und eine Anschuldigung zu erheben, die Sie mit nichts untermauern können. Das ist total unprofessionell.«

Robelon war aufgesprungen, aber Hoyt legte dem größeren Mann die Hand auf die Brust. »Wir brauchen alle eine Pause«, sagte Hoyt. »Lassen Sie es uns bis zum Wochenende über die Bühne bringen. Gretchen ist unterwegs. Wir beide machen uns besser auf den Weg.«

»Gretchen?«, fragte ich verwirrt.

»Hurrikan Gretchen. Er erreicht morgen die Outer Banks, rollt angeblich die Küste herauf und schlägt dann mit voller Wucht auf Cape Cod und den Inseln zu. Von daher kommt der Nieselregen da draußen«, sagte Hoyt und zeigte auf die grauen Wolken vor dem Fenster.

»Den habe ich noch nicht einmal bemerkt. Ich habe seit heute Morgen nicht mehr aus dem Fenster gesehen.«

»Ich muss nach Nantucket fliegen, um mein Boot noch vorm Wochenende zu sichern. Sie sollten unbedingt nach Ihrem Haus auf dem Vineyard sehen.«

Hoyt gab mir Gelegenheit, durch Smalltalk wieder zu einer gemeinsamen Gesprächsgrundlage mit Robelon zu finden. Aber ich würde mich auf keinen Fall für meine Bemerkung über Tripping entschuldigen.

Die Mordermittler hatten noch nicht ausgeschlossen, dass er etwas mit Vallis’ Tod zu tun hatte.

Wir sperrten das Konferenzzimmer ab und gingen 280

zu den Aufzügen. »Ich habe eine Frage an Sie, Graham. Sie haben mir am Samstag erzählt, dass Sie sich mit großen Sammlern gut auskennen. Wer zählte neben J.R Morgan noch zu den bekannten Sammlern des zwanzigsten Jahrhunderts?«

Robelon folgte uns in Gedanken versunken, während Hoyt antwortete. »Nelson Rockefeller, Armand Hammer, William Randolph Hearst, Malcolm Forbes. Es gibt Dutzende mehr, nur sind die nicht so bekannt.

Sind Sie auf der Suche nach einem reichen Ehemann, Alex?«

»Keinen Ehemann. Eine Tiara würde mir schon reichen. Was ist mit König Faruk? Wäre er auch auf der Liste?«

»Was haben Sie über Faruk gesagt?«, fragte Robelon.

Sagen Sie Ihrem Mandanten ruhig, dass ich ihm auf der Spur bin, dachte ich bei mir. »Ich habe Graham gefragt, welche Art Sammler er war.«

»Hat das irgendetwas mit Paige Vallis zu tun?«, wollte Hoyt wissen.

»Nein, nein. Eine völlig andere Geschichte.«

»Einer der merkwürdigsten Sammler aller Zeiten«, sagte Hoyt. »Ich meine, er sammelte das Übliche: be-rühmte Juwelen, Briefmarken, seltene Münzen –«

Robelon fiel ihm ins Wort. »Autos. War er nicht der mit den roten Autos?«

Hoyt nickte. »Er hatte eine Leidenschaft für rote Autos. Ein helles Tomatenrot. Davon hatte er Hunderte. Er hat ein Gesetz erlassen, wonach niemand 281

anders in Ägypten ein rotes Auto besitzen durfte, also wenn die Soldaten ein rotes Auto durch die Stadt flit-zen sahen, wussten sie, dass es der König höchstpersönlich war.«

»Unglaublich.«

»Und er hatte ein Faible für antike Waffen.«

»Wie Andrew Tripping?«, fragte ich. Vielleicht war Faruk die Inspiration für die Schwerter, Dolche und Krummsäbel in seiner kahlen Wohnung gewesen.

»Ein bisschen exklusiver. Und er hatte eine ziemliche Menge davon. Falls es Sie wirklich interessiert, können Sie sich die alten Auktionsbücher ansehen. Der Sotheby’s-Katalog umfasst, glaube ich, mehr als tausend Seiten, und das waren nur die Sachen, die Faruk nicht mitnehmen konnte, als er 1952 außer Landes floh.«

»Pornografie?«, fragte ich. Konnte ein Sexualverbrecher pervers genug sein, um wegen einer Origi-nalsammlung erotischer Kunst zu morden, von der Spike Logans Vermutung zufolge noch ein Teil in Queenies Wohnung war?

» En masse. Aber aus irgendeinem Grund wurde sie nur wenige Tage, bevor die Sammlung unter den Hammer kam, aus dem Auktionsangebot genommen«, antwortete Hoyt. »Eigenartigerweise sammelte Faruk auch haufenweise Gerümpel. Büroklammern und Etiketten von Ketchupflaschen, Gehstöcke und Aspirinfläschchen. Er ist kein Vorbild für mich, Alex.

Ich bevorzuge Sammler mit besserem Geschmack, so wie Morgan.«

»Handsignierte Bilder von Adolf Hitler«, sagte Ro-282

belon hinter mir. »Die hat der fette alte Bastard auch gesammelt.«

»Wie kommt es, dass jeder über Faruk Bescheid weiß außer mir?«, fragte ich.

»Peter ist damit aufgewachsen«, sagte Hoyt. »Deshalb hat sich Andrew im College wohl auch zu ihm hingezogen gefühlt.«

»Mein Vater ist Engländer«, sagte Robelon. »Er hat im Ausland für die Regierung gearbeitet.«

»In Ägypten?«

»Nein, nein. In Rom.«

»Was hat das mit König Faruk zu tun?«, fragte ich.

»Dort ist Faruk 1965 im Exil gestorben«, sagte Robelon.

»Lassen Sie uns diesen Fall ad acta legen, Alex. Danach werde ich uns eine Runde Drinks spendieren.

Vielleicht bekommen wir dann die Wahrheit aus meinem Kommilitonen hier heraus. Peter behauptet, dass sein Vater nur ein Botschaftsattaché war. Aber Andrew schwört, dass Robelon senior der wichtigste britische Spitzel in Europa war.«

23

»Wo ist der Tag bloß hin?«, fragte ich Mike, der es sich an meinem Schreibtisch bequem gemacht hatte.

Es war kurz nach halb sieben, und die Gänge waren ruhig und dunkel.

283

»Bring mich beim Abendessen auf den neuesten Stand.«

»Ein ander Mal. Ich sag’s dir auf die Schnelle. Ich bin auf dem Weg nach Downtown. Dort findet um Viertel nach sieben eine Trauerfeier für Paige Vallis statt.«

»Ich dachte, sie ist aus Virginia?«

»Man bringt ihren Leichnam morgen zur Beerdigung dorthin. Aber ihr Boss hat für heute Abend einen Gedächtnisgottesdienst in einer kleinen Kirche an der Battery organisiert und mich dazu eingeladen.

Hast du mit Squeeks gesprochen? Irgendwelche Neuigkeiten?«

»Nein, nichts. Soll ich dich hinfahren?«

»Ich geh zu Fuß.«

»Draußen regnet’s.«

»Ich bin nicht aus Zucker. Mercer kommt auch –

zwar etwas später, aber er bringt mich anschließend nach Hause.«

Ich sperrte mein Büro ab und erzählte Mike auf dem Weg zum Aufzug von meiner Unterhaltung mit Peter Robelon und Graham Hoyt. »Die ganzen Verbindungen zu Faruk und all die Leute, die im diplomatischen Dienst tätig waren – kannst du damit was anfangen?«

»Verschwörung oder Zufall, hm? Du siehst bei so was immer gleich eine Intrige. Ich? Ich glaube an Zufall. Manchmal passieren einfach seltsame Sachen.

Ingrid Bergman kommt rein zufällig in Humphrey Bogarts Kneipe in Casablanca, Farley Granger teilt 284

sich zufällig ein Zugabteil mit jemandem, der sich bereit erklärt, einen Mord für ihn zu begehen. Peter Lorre und Sydney Greenstreet laufen zufällig Sam Spade über den Weg, während sie –«

»Das sind keine Zufälle, Mike. Das sind Filmkon-strukte. Du redest von Fiktionen und ich vom wirkli-chen Leben.«

»Hey, wie viele Leute müssen in einem Raum sein, damit wenigstens zwei von ihnen am selben Tag Geburtstag haben?«

»Keine Ahnung. Dreihundertvierundsechzig?«

»Ha! Dreiundzwanzig. Statistisch gesehen hat jeder zweite von dreiundzwanzig Personen am selben Tag Geburtstag. Vieles im Leben ist Zufall.«

Wir verließen das Gebäude, und ich ging nach rechts in Richtung Centre Street.

»Wart mal, Blondie. Ich hab ’nen Schirm im Au-to.«

»Den brauch ich nicht.«

»Sei nicht so stur.«

Ich schlug meinen Kragen hoch, überquerte mit Mike die Straße und wartete, während er seine Auto-schlüssel herauskramte und im Kofferraum herum-wühlte.

»Da du mich heute Abend versetzt, stell ich dir ei-ne Ersatz -Jeopardy! -Frage«, sagte er. »Militärgeschichte.«

»Da habe ich von vornherein verloren.«

»Die Antwort lernt man in der Grundausbildung.

Drei Dinge, die ein Soldat in Uniform nicht tun soll.«

285

Er hatte einen alten schwarzen Golfschirm gefunden und versuchte, ihn unter einem Spurensicherungs-koffer und orangefarbenen Starthilfekabeln hervor-zuziehen. »Na gut, ich sag’s dir. Einen Kinderwagen schieben, Gummistiefel tragen, und einen Regen-schirm benutzen.«

Er zog den Schirm heraus und bog beim Öffnen zwei verbogene Metallstreben gerade. »Warst du schon mal an einem regnerischen Herbsttag bei einem Armee-Marine-Spiel?«, fragte er. »Die Seeleute sitzen unter ihren Schirmen, die Landratten werden patschnass. Napoleon lachte über die britischen Truppen, die 1815 bei Waterloo Schirme dabei hatten. Rat mal, wer gewonnen hat?«

Ich drehte den Schirm ein paarmal und machte mich auf den Weg. »Bis morgen dann. Richte Valerie schöne Grüße von mir aus.«

Büroangestellte, die vom Wetterumschwung überrascht worden waren, hasteten zum U-Bahn-Eingang im Foley Square. Ich lief daran vorbei, durchquerte den City-Hall-Park und spazierte dann in südlicher Richtung den Broadway hinab, der besser beleuchtet war als die kleinen Seitenstraßen des Finanzdistrikts.

Mir stockte noch immer jedes Mal der Atem, wenn ich an dem riesigen Loch hinter dem Friedhof der Trinity-Kirche vorbeiging, das aller Welt als Ground Zero bekannt war. Ich senkte den Kopf und wich mit einem flauen Gefühl in der Magengrube Fußgängern und Pfützen aus.

Am Bowling Green bog ich nach links und stapfte 286

die letzten drei Blocks im strömenden Regen die Whitehall Street hinunter.

Ich war nun am südlichsten Zipfel von Manhattan

– der Battery – benannt nach der Batterie, die in der Kolonialzeit diese verwundbare Landspitze bewacht hatte. Die Adresse, die mir Paige Vallis’ Boss gegeben hatte, 7 State Street, war, abgesehen von der Festung Castle Clinton, das südlichste Gebäude auf der ganzen Insel.

Im schummrigen Laternenlicht waren die Haus-nummern nur schwer zu entziffern, und ich suchte vergeblich nach etwas, das einer katholischen Kirche ähnelte. Passanten rannten an mir vorbei zur Staten-Island-Fähre und zum Expressbus, die sie in die Randbezirke bringen würden. Ich machte kehrt und erkundigte mich in einem Café nach dem Weg zur Gedenkstätte der heiligen Elizabeth Seton.

Ich hatte mich von der Fassade täuschen lassen. Die kleine Kapelle im frühen Federal-Stil, deren Stufen ich nun erklomm, war im späten achtzehnten Jahrhundert ein Privathaus gewesen. Die schlanken ioni-schen Säulen und die kunstvollen Details im Inneren hatten zweihundert Jahre kommerzieller Stadtpla-nung überlebt; heutzutage beherbergte das Gebäude einen kleinen Altarraum, der nach Amerikas erster Heiligen benannt war.

Der Gottesdienst hatte bereits begonnen. Ich schlüpfte hinten auf eine Bank unter einen schmiede-eisernen Balkon, wo mich die anderen Trauergäste, die Paige die letzte Ehre erwiesen, nicht sehen konnten.

287

Zwischen Gebeten und musikalischen Einlagen sprachen verschiedene Arbeitskollegen ergreifende Nachrufe auf Paige und beklagten ihren frühen, ge-waltsamen Tod. Unter den Anwesenden waren mehr Männer als Frauen, alle in den Wall-Street-Einheits-farben Blau und Grau gekleidet. Die meisten älteren Frauen tupften sich mit Taschentüchern die Augen.

Ich wusste nicht, wer außer ihrem Boss und zwei Kollegen noch von Paiges Verwicklung in den Vergewaltigungsprozess wusste. Erwähnt wurde er nicht.

Ich suchte den Raum nach dem Mann ab, der sich Paige gegenüber als Harry Strait ausgegeben hatte, konnte aber niemanden entdecken, der ihm ähnlich sah.

Bei der letzten Hymne »Now the Day is Over«

standen alle auf und blieben stehen, während der Or-ganist den Schlusschoral spielte. Im Hinausgehen unterhielten sich die meisten Trauergäste schon wieder darüber, wie der Markt heute abgeschnitten hatte und ob die Notenbank als Reaktion auf die jüngsten Anzeichen wirtschaftlichen Aufschwungs die Zinsen er-höhen würde. Einige planten, ihr Gedenken an Paige bei ein paar Martinis in der nächstgelegenen Bar fortzusetzen.

Ich blieb sitzen, um ein paar Minuten in Ruhe nachzudenken. Mercer war bisher nicht aufgetaucht.

Vermutlich hatte er in den engen, verwinkelten Stra-

ßen keinen Parkplatz gefunden.

Ich schloss die Augen und dachte an die Paige Vallis, die ich gekannt hatte, an die Teile ihres Lebens, an 288

denen sie mich hatte teilhaben lassen, an ihre schreckliche Qual in den letzten Tagen und Stunden vor ihrem Tod. Ich brauchte keine Erinnerung daran, dass das Leben nicht fair war. Das erlebte ich täglich in meinem Job.

Kurz vor neun Uhr kam der Hausmeister mit einem großen Besen in der Hand in den Raum und fragte mich, ob es mir etwas ausmachen würde zu gehen. Ich entschuldigte mich, dass ich so lange geblieben war, sprach noch ein Gebet für Paige und nahm meinen Schirm vom Sitz neben mir.

Von Mercer Wallace war noch immer nichts zu sehen. Ich stellte mich zum Schutz vor dem Regen im Treppenhaus des alten Gebäudes unter und hielt in beide Richtungen nach seinem Auto Ausschau. Dann holte ich mein Handy aus der Tasche und schaltete es ein.

»Sie haben eine neue Nachricht«, verkündete die Ansage. » Nachricht Eins. Zwanzig Uhr zwölf. ›Hey, Alex. Ich stecke im Thirty-fourth-Street-Tunnel fest.

Schlimmer Unfall. Ich komme, so schnell ich kann.‹«

Eine große Gestalt in einem Kapuzenparka, einen Schirm über dem Kopf, suchte neben mir vor dem Regen Unterschlupf. Der Mann roch nach Alkohol und murmelte etwas vor sich hin. Ich war nicht darauf erpicht, ihn mir genauer anzusehen, und trat auf den leeren Bürgersteig hinaus.

Der Mann folgte mir. Ich blickte mich um in der Hoffnung, einen Streifenbeamten zu sehen. Der Verkehr auf der State Street war in beiden Richtungen 289

noch relativ stark. Ich lief über die Straße zum Mit-telstreifen, wo ich vergeblich versuchte, ein Taxi anzuhalten.

Der Mann kam hinter mir hergelaufen. Ich konnte mich keuchen hören und sagte mir, dass er nur ein Penner war, der es auf meine Tasche abgesehen hatte.

Ich rannte durch eine Lücke im Verkehr wieder zu-rück auf den Gehsteig und ging in Richtung Broad Street.

Ich warf einen Blick über die Schulter und sah, dass mir der Mann hartnäckig folgte. Er hatte die Kapuze seiner schwarzen Regenjacke tief in die Stirn gezogen, und ich konnte sein Gesicht nicht erkennen. Wo waren all die Yuppies, die in diesen Wolkenkratzer-schluchten südlich der Wall Street bis tief in die Nacht hinein arbeiteten? In dem peitschenden Regen schien niemand auf die Straße gehen zu wollen.

Ich bog um die Ecke und sah das alte Holzschild der Fraunces Tavern, an deren Fassade eine Gedenktafel verkündete, dass sich General Washington an dieser Stelle von seinen Truppen verabschiedet hatte. Ich zog ungefähr zehn Sekunden lang mit aller Kraft an der Tür, bis ich die kleine Blockschrift auf der Fensterscheibe bemerkte: MONTAGS GESCHLOSSEN.

Ich hielt noch immer das Handy umklammert. Es war keine gute Idee gewesen, in diese kleinen, verwinkelten Nebenstraßen zu flüchten. Ich wählte den Notruf und bog im Schutz der Häuserwände um die Ecke zum Coentes Slip. Hinter mir fiel eine Mülltonne aus Metall polternd zu Boden. Ich blickte mich um 290

und sprang gerade noch rechtzeitig zur Seite, als sie auf mich zurollte. Von meinem Verfolger war nichts zu sehen, aber drei riesige Ratten stürzten sich auf den Inhalt der Tonne, deren Deckel weggeflogen war.

Die Vermittlung fragte nach dem Grund meines Anrufs. »Ich werde verfolgt«, sagte ich, ganz außer Atem vor Angst und von der Rennerei.

»Sie müssen langsamer sprechen, Ma’am. Ich kann Sie nicht verstehen.«

»Es ist ein Mann –«

»Haben Sie Asthma gesagt, Ma’am? Ich höre, dass Sie schwer atmen. Ist das ein medizinischer Notfall?«

Wieder sah ich den Mann, als ich mich der Kreuzung Water Street und Broad Street näherte. »Nein.

Ich möchte einen Streifenwagen.«

»Sie sagen, Sie sind in einem Streifenwagen? Ich verstehe Ihr Problem nicht, Ma’am.«

Ich lief über die Straße und trat in eine große Pfüt-ze am Bordstein. Ich hatte schon Tausende dieser Notrufaufnahmen gehört. Vermittler hatten schon wegen fehlerhafter Reaktionen ihre Stelle verloren –

indem sie beispielsweise einem Vergewaltigungsopfer, deren Lungen auf Grund von Messerstichen kol-labiert waren, gesagt hatten, dass sie verdammt noch mal lauter sprechen und mit diesem blöden Gekeuche aufhören solle. Es gab aber auch wunderbar einfühl-same und einfallsreiche Reaktionen, die Leben gerettet hatten. Dieses Kommunikationsproblem war eindeutig meine Schuld.

Ich blieb stehen und bemühte mich, deutlicher in 291

das Telefon zu sprechen. »Ich werde von einem Mann verfolgt. Ich brauche die Polizei.«

»Was hat Ihnen der Mann getan, Ma’am?«

Nichts, dachte ich. Gar nichts.

»Ma’am?«

Ich blickte mich erneut um und sah, wie er den Autos auswich, von deren Scheibenwischer literweise Wasser spritzte. Da ich sein Gesicht nach wie vor nicht erkennen konnte, konzentrierte ich mich auf seinen Unterleib. Er trug eine marineblaue Hose, wie sie Polizisten trugen, und die dazu passenden glänzenden schwarzen Budapester.

»Ich … ich glaube, er will mich überfallen.«

»Wo sind Sie?«

»An der Kreuzung State Street und Whitehall.«

»Bleiben Sie am Apparat! Ich schicke Ihnen jemanden hin.«

Ich lief weiter und überquerte den letzten Ab-schnitt des Highway. Der Schirm fiel mir aus der Hand, als ich in der Nähe der Anlegestelle der Staten-Island-Fähre über die Betonbarriere auf den Fußweg kletterte. Mein langbeiniger Verfolger setzte ebenfalls über den Betonblock; der schneidende Wind, der vom Hafen her wehte, stülpte seinen Schirm nach außen.

Das Schiff trötete laut, ich hörte das Klingeln der Bojenglöckchen und über mir das Kreischen der Mö-

wen. Ich war seit über zwanzig Jahren nicht mehr auf der Fähre gewesen. Ich kannte mich in dem Teil der Insel, an dem sie anlegte, nicht aus, und wusste auch 292

nicht, ob sich der frühere Fahrpreis von fünfzig Cent mittlerweile verdoppelt oder verdreifacht hatte.

Am Drehkreuz vor dem Eingang zu dem düster wirkenden Boot drängte sich eine Menschentraube in die trockene Kabine. Ich lief ebenfalls in die Richtung.

Da krachte etwas auf meine linke Schulter hinab, und ich sank mit einem Flimmern vor den Augen auf ein Knie. Ich stützte mich mit der linken Hand ab und versuchte mich aufzurichten. Der Mann in der schwarzen Regenjacke ließ seinen geschlossenen Schirm wieder auf meinen Rücken herabsausen. Ich wich seinem Schlag aus und rollte in einer kalten Pfütze ab.

Ich schrie. Es musste mich doch jemand auf dem Weg zur abfahrbereiten Fähre hören! Aber die Auto-hupen, die Nebelhörner, das ferne Sirenengeheul von einem, wie ich hoffte, nahenden Streifenwagen übertönten meine Schreie.

Gerade als mir der Mann mit seinem schweren Schuh in die Seite treten wollte, rappelte ich mich hoch und rannte schnurstracks auf das Boot zu. Die Stäbe des riesigen eisernen Drehkreuzes standen mir im Weg. Man konnte nicht darunter hindurchkrie-chen, also schwang ich mich über die Stange auf die andere Seite. Wieder ging der Mann auf mich los; noch im Drehen winkelte ich mein rechtes Bein an und trat ihm so fest ich konnte in den Magen. Er schrie auf und taumelte ein paar Schritte nach hinten.

Jetzt blieben die Leute stehen. Mit meinen nassen, verklumpten Haaren und den schlammigen, durchnässten Klamotten musste ich einen ziemlich deran-293

gierten Eindruck machen. Ich war über das Drehkreuz gesprungen und hatte einem Fremden scheinbar grundlos in die Eingeweide getreten.

Ich lief an den Schaulustigen vorbei. Ein Mann in einer braunen Uniform mit dem Logo der New Yorker Verkehrsbehörde auf der Jacke streckte die Hand nach mir aus. Ich schrie ihn an, mir aus dem Weg zu gehen, schubste ihn mit beiden Händen gegen eine Säule und sprang gerade noch rechtzeitig auf die Fäh-re, bevor die Gangway weggezogen wurde. Zehn Meter entfernt hielt ein Polizeiauto an der Stelle, wo ich die Straße überquert hatte.

Ein anderer Wächter der Verkehrsbehörde packte mich unsanft an der Schulter, und ich verzog vor Schmerzen das Gesicht. »Nun mal langsam, gute Frau. Beruhigen Sie sich«, befahl er. »Jetzt wird nicht mehr getreten und geschubst. Sie sind verhaftet.«

24

Ich war wahrscheinlich die glücklichste Gefangene aller Zeiten.

»Ich habe das Geld für die Fahrkarte«, sagte ich dem Beamten, obwohl ich wusste, dass er diese Story wahrscheinlich jeden Tag zu hören bekam.

»Die Fahrt ist umsonst, Lady. Das ist nicht das Problem.«

»Nein, nein. Ich meine, ich weiß, dass ich über –«

294

»Sie sind wohl seit 1997 nicht mehr an Bord gewesen. Es gibt keine Fahrmünzen mehr. Sie sind nicht in Schwierigkeiten, weil Sie schwarzfahren wollten.«

Es war mir egal, dass ich grundlos Handschellen angelegt bekam, solange ich in den sicheren Händen von PO Guido Cappetti war.

»Angriff auf einen Peace Officer«, sagte er zu mir.

»Ich habe gesehen, wie Sie ihn weggeschubst haben.«

»Das bestreite ich ja gar nicht«, sagte ich. »Aber ich habe das nur getan, weil ich von einem Mann verfolgt und angegriffen worden bin.«

»Ich hab niemanden gesehen, der Ihnen was tun wollte.«

»Er hat mich die Whitehall Street hinunter verfolgt und mich mit einem Schirm attackiert.«

Cappetti rief über sein Funkgerät einen Streifenwagen. »Möglicherweise eine 730er.«

»Ich bin nicht verrückt.«

Er war überrascht, dass ich den Code kannte. »Ist Ihnen das schon mal passiert?«

»Nein. Aber ich bin Staatsanwältin. Bezirksstaatsanwaltschaft von Manhattan.«

»Was Sie nicht sagen, Schätzchen. Und ich bin der Polizeipräsident.«

»Habe ich einen Anruf frei?«

»Auf dem Revier.«

»Ich habe auf einen Detective gewartet, als ich angegriffen wurde. Ich kann Ihnen mein Handy geben.

Wenn Sie ihn anrufen, kann er mich abholen und Ihnen bestätigen, dass ich die Wahrheit sage.«

295

Cappetti hörte mir zu, nahm dann das Telefon aus meiner Tasche und wählte die Nummer, die ich ihm nannte. »Sind Sie Mercer Wallace?« Er stellte noch einige Fragen, bis er sich überzeugt hatte, dass Mercer tatsächlich ein waschechter New-York-City-Cop war. »Hier bei mir ist eine gewisse Alexandra Cooper.

Sie sagt, sie sei Staatsanwältin.« Wieder eine Pause.

»Wirklich?« Und dann: »Ach ja?«

Mercer hatte Cappetti gebeten, mich nicht aus den Augen zu lassen, wenn die Fähre auf Staten Island anlegte. Cappetti hatte mir die Handschellen abgenommen, und ich saß neben ihm und starrte durch den Nieselregen auf den grandiosen Anblick des Hafens von New York. Die brennende Fackel in der ausgestreckten Hand der Freiheitsstatue, die weite Mündung des Hudson River, die Bürogebäude von Lower Manhattan, und das Kabelnetz der Brooklyn Bridge regten meine Fantasie an, während ich mir die Schultern knetete und überlegte, wer mein Angreifer gewesen sein mochte.

Cappetti und ich mussten fast eine Stunde warten, bis sich Mercer durch Bay Ridge und über die Verrazano-Brücke gekämpft hatte. Er kam in die Wartehal-le der Anlegestelle und nahm mich in die Arme.

»Lass mich los, bevor ich dich schmutzig mache«, warnte ich ihn.

»Kann Ihre Gefangene gehen, Officer Cappetti?«

Cappetti bejahte.

»Habe ich den Fährbediensteten verletzt? Ich möchte mich gerne bei ihm entschuldigen.«

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»Nein«, antwortete Cappetti. »Hier laufen andauernd irgendwelche Verrückte herum. Womöglich hatten Sie einen guten Grund.«

»Warum gehst du nicht in den Waschraum und machst dich frisch?«, fragte Mercer.

Ich zögerte. Es war dumm von mir, aber ich hatte schon mit zu vielen Vergewaltigungen zu tun gehabt, die in öffentlichen Waschräumen passiert waren.

Mercer bemerkte mein Zögern.

»Komm schon. Ich seh ihn mir an und warte vor der Tür auf dich.«

Ich ging in die triste Damentoilette, mit den abgewetzten gelben Fliesen, den nackten Glühbirnen und den leeren Papierspendern. Ich vermied es, mich im Spiegel anzusehen, während ich mir das Gesicht und die Hände wusch. Ich wusste, dass Mercer fünf Minuten mit Cappetti allein sein musste, um herauszufinden, ob jemand mein seltsames Erlebnis bestätigen könnte.

Als wir über die Verrazano-Brücke, eine der längsten Hängebrücken der Welt, nach Manhattan zurück-fuhren, war es beinahe elf Uhr. Die Skyline war mittlerweile komplett im Nebel verschwunden, und auch der riesige Wolkenkratzer am anderen Ende der Brü-

cke war nur noch schemenhaft zu erkennen.

»Wie wär’s mit einem Drink?«, fragte Mercer.

Ich nickte.

»Mike sitzt an der Bar im Lumi’s«, sagte Mercer.

Das Lumi’s war eins meiner Lieblingsrestaurants –

warm und ruhig, nur einen Block von meiner Woh-297

nung entfernt, mit einer hervorragenden Küche, und sicher hatte die Besitzerin in dem kleinen Kamin neben dem Eingang ein Feuer gemacht.

»Du hast ihm schon davon erzählt?«

»Du weißt, dass er Überraschungen nicht ausste-hen kann, Alex. Da kann er genauso gut seine grauen Zellen anstrengen und seinen Senf dazugeben.«

Während wir zur Upper East Side hinauffuhren, erzählte ich Mercer, was passiert war. Wir parkten an dem Hydranten vor dem Restaurant.

Lumi unterhielt sich gerade mit Mike, als wir das Restaurant betraten. »Heiliger Strohsack«, sagte er, stand auf und kreuzte zwei Finger, als wolle er einen Vampir abwehren. »Du kannst es wohl gar nicht bis Halloween abwarten, was?«

Lumi küsste mich zur Begrüßung auf die Wangen und führte mich in ihr Büro, versah mich mit Haar-bürste, Lippenstift und einem ihrer Pullover und schloss die Tür, damit ich mich wieder halbwegs zu-rechtmachen konnte.

»Sie zittern immer noch«, sagte sie, als ich an die Bar zurückkam. »Haben Sie Hunger?«

Ich wärmte meine Hände am Feuer. »Es ist drau-

ßen so kalt geworden. Nein danke. Vielleicht, wenn mir etwas wärmer ist.«

»Ich werd mir ein Ossobuco genehmigen«, verkündete Mike. »Und als Vorspeise einen Artischo-ckendip. Mercer?«

»Ich hab zu Hause gegessen. Hau rein.«

»Also, jetzt beschreib ihn mal!«

298

»Kann ich nicht.«

»Hast du ihn denn nicht gesehen?«

»Sein Gesicht? Nein.«

»Na, war es ein Weißer oder ein Schwarzer oder –«

»Ich weiß es nicht.«

»Hör bloß auf mit dem farbenblinden Scheiß«, sagte Mike. »Ich hasse es, wenn meine Zeugen das tun.«

Mercer lachte. »Sie hat sein Gesicht nicht gesehen.«

»Was ist mit den Händen?«

»Handschuhe.«

»Ich hab dir verdammt noch mal einen Schirm gegeben. Warum zum Teufel hast du nicht als Erste zu-geschlagen?«

»Weil ich ihn für einen betrunkenen Penner hielt, der mir aus Versehen zu nahe auf die Pelle gerückt war. Oder mich um Geld anhauen wollte.«

»Du hättest ihm die Schirmspitze in den Hintern rammen sollen, den Schirm aufmachen und ihn wie Mary Poppins davonfliegen lassen sollen. Schade um die vertane Chance.«

»Erzähl ihm von der Hose und den Schuhen«, sagte Mercer.

»Marineblaues Wollgabardine, fein säuberlich ge-plättete Uniformhosen mit Bügelfalte. Und Polizei-schuhe.«

»Willst du damit sagen, dass es ein Cop war?«

»Oder ein Feuerwehrmann. Oder irgendein anderer uniformierter Stadtbeamter, mit Ausnahme eines Verkehrsbeamten.«

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»Bist du in letzter Zeit irgendjemandem auf den Schlips getreten?«

»Das Einzige, was mir einfällt, ist, dass ich neulich einen Sergeant der Strafvollzugsbehörde in den Bau geschickt habe. Er hat drüben im Bayview eine Gefangene geschwängert.«

»Gib uns seinen Namen, und wir klemmen uns dahinter.«

»Laut Aussage des Opfers stecken mindestens fünf Wärter mit unter der Decke. Sie decken sich gegenseitig, teilen die neuen Häftlinge unter sich auf und verlangen Schutzgeld.«

Mercer verfolgte eine andere Spur. »Hat Mrs.

Gatts vielleicht Verwandte in dem Bereich?«

Ich zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf. »Ich weiß nichts über sie.«

»Nun, dann wollen wir da mal ein bisschen nachforschen.«

»Du jonglierst zurzeit mit zu vielen Bällen, Coop, und einige haben’s in sich.«

»Wisst ihr was?«, sagte ich. »Falls der Tripping-Fall am Mittwoch tatsächlich abgeschlossen ist, fliege ich nach Martha’s Vineyard und sitze den Sturm dort aus. Feuer im Kamin, Hummer zum Abendessen –«

»Mit Jake?«, fragte Mike.

»Mit oder ohne Jake. Ihr seid alle eingeladen.«

»Du würdest bei dem Wetter fliegen?«, fragte Mi-ke, der Flugangst hatte.

»Falls die Piloten fliegen, bin ich mit von der Partie. Wenn sie entscheiden, am Boden zu bleiben, beu-300

ge ich mich ihrem Urteil. Ich muss das Haus dichtma-chen. Mein Hausmeister ist nicht da, weil er zur Hochzeit seines Bruders geflogen ist. Überlegt es euch, Jungs. Wir könnten die Herbstsaison mit einem gemeinsamen Wochenende auf dem Land einläuten.«

Ich würde mich dort sogar bei schlechtem Wetter entspannen können.

»Das müsst ihr zwei unter euch ausmachen«, sagte Mike und widmete sich seinem Ossobuco.

»Zuerst«, sagte Mercer, »müssen wir herausfinden, ob dieser unangenehme Zwischenfall etwas mit Paige Vallis zu tun hat –«

»Oder mit Queenie«, sagte Mike.

»Oder einem anderen Schurken aus meinem gro-

ßen, ständig wachsenden Fanclub.«

»Hast du den Typ schon während des Gottesdienstes in der Kirche gesehen?«

»Nein. Ich habe ihn erst beim Hinausgehen bemerkt. Jedenfalls ist mir drinnen niemand aufgefallen, der so gekleidet war wie er.«

Mike stocherte mit einer winzigen Gabel in dem Knochenmark herum. »Vielleicht ist er dir vom Gerichtsgebäude aus gefolgt.«

»Das hätte sie doch gemerkt.«

»Coop? Unter meinem großen, dicken Golfschirm kriegt sie doch nicht mit, dass ihr irgend so ein Dödel hinterherläuft. Falls er ihr von der Centre Street gefolgt ist, würde das die Uniformhosen erklären, und warum derjenige wusste, wo er auf sie warten musste«, sagte Mike.

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Ich knabberte an einer Brotstange und nippte an meinem Scotch. Lumi hatte eine kleine Schüssel Ri-sotto gebracht, und ich machte mich darüber her, da mir jetzt doch der Magen knurrte. »Wisst ihr, was ich morgen tun werde? Ich werde mir von Battaglia ein FOIA-Gesuch an die CIA absegnen lassen.«

»Ist es nicht herrlich, wenn sie denkt, Mercer?« Mi-ke reckte die Nase in die Luft und schnüffelte. »Heiße kleine Hirnstromwellen, die unter diesen Wasserstoff-strähnchen aus allen Rohren feuern, während ich hier sitze und mein Essen genieße. Wovon redest du da?«

»Freedom of Information Act, das Gesetz zur In-formationsfreiheit. Zwischen all diesen Leuten muss es eine Verbindung geben, die mit der CIA und dem Nahen Osten zu tun hat. Wir verlangen Einsicht in die Akten von Victor Vallis und Harry Strait. Und wer weiß? Eventuell haben sie sogar eine über McQueen Ransome.«

Es machte einen Riesenunterschied, sich anhand schriftlicher Unterlagen ein Bild von einem bestimmten Menschen und seinen Aktivitäten zu machen.

»Wahrscheinlich hatte J. Edgar Queenies Akte bei sich zu Hause. Er hätte wahrscheinlich nur zu gern einige ihrer schicken Kostüme anprobiert – Satinge-wänder, Pluderhosen, Handschuhe bis über die Ellbogen«, warf Mike ein.

»Und König Faruk«, sagte ich zu Mercer. »Die Regierung muss irgendein Dossier über ihn geführt haben. Es muss einen Weg geben, die Verbindung zwischen diesen beiden Morden herauszufinden.«

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»Welche anderen Themen sind in beiden Fällen aufgetaucht?«, fragte Mercer.

»Pornografie. Queenie besaß sie, Faruk sammelte sie. Antike Waffen«, sagte ich. »Faruk sammelte sie.

Andrew Tripping tut das auch. Und seltene Münzen.

Sowohl Spike Logan als auch Graham Hoyt haben sie erwähnt.«

»Was ist mit den Münzen, die wir in Queenies Schrank gesehen haben?«, fragte Mike.

»Wahrscheinlich nur Kleingeld. Ich habe sie mir nicht genauer angesehen.«

»Sind sie immer noch dort?«, fragte Mercer.

»Nachdem Mike und ich die signierte Erstausgabe von Hemingway fanden, haben wir die Wohnung versiegeln lassen, damit alles inventarisiert werden kann.«

»Na ja, das hat Spike Logan nicht abgeschreckt.«

»Weißt du was?«, sagte Mercer. »Mike wird dafür sorgen, dass man dich heute Nacht garantiert in Ruhe lässt. Ich hol dich morgen früh um sieben Uhr ab, und dann sehen wir uns erneut in Queenies Wohnung um – wegen der Münzen, und möglicherweise haben wir ja noch was übersehen.«

Mike und ich verabschiedeten uns von Mercer und tranken aus. Da Mikes Auto die Straße hinunter in der Nähe meiner Wohnung stand, gingen wir zu Fuß nach Hause.

Als wir die Wohnung betraten, war es offensichtlich, dass mich ein leeres Nest erwartete. »Ein Schlummertrunk?«, fragte ich Mike.

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»Nö, du musst morgen früh raus, und bei mir zu Hause wärmt jemand das Bett vor. Irgendwelche ungebetenen Nachrichten?«

Ich hörte den Anrufbeantworter neben dem Bett ab und ging dann zurück ins Wohnzimmer. Kein einziger Anruf. Ich ließ mich auf das Sofa fallen und machte es mir gemütlich in der Hoffnung, dass Mike noch bleiben und mir Gesellschaft leisten würde. Etwas in unserer Beziehung veränderte sich, und ich sehnte mich nach unserer alten, unbeschwerten Freundschaft.

»Ich will den Riegel hinter mir zuschnappen hören, Coop«, sagte Mike und drückte mir zum Abschied einen Kuss auf den Kopf.

Ich schloss die Tür hinter ihm ab und legte die Kette vor. Dann nahm ich ein langes Bad, massierte meine Schultern mit Tigerbalsam und ging danach ins Bett, zu erschöpft, um noch zu lesen oder die Verfolgungsjagd des heutigen Abends Revue passieren zu lassen.

Am nächsten Morgen fuhren Mercer und ich zu McQueen Ransomes Wohnung. Sie sah im Großen und Ganzen so aus wie beim letzten Mal. Die Wand-schranktür stand noch immer einen Spaltbreit offen, auf den Kleiderbügeln hingen noch immer die baum-wollenen Hauskleider, und auf dem Boden lagen Dutzende von Silbermünzen.

Mercer und ich zogen Gummihandschuhe an. Er legte einen Stoß Beweisumschläge aus Plastik neben uns auf den Boden, und wir knieten uns hin, um die Münzen aufzusammeln.

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»Ist an diesen Münzen irgendetwas Ungewöhnliches?«, fragte ich.

»Bisher sehen sie alle nach amerikanischen Münzen aus«, sagte er und besah sich Vorder- und Rückseite, bevor er sie eintütete. »Verschiedene Nennwer-te, aber, wie mir scheint, nichts Außergewöhnliches.«

»Ich weiß nicht, wie es bei deinem Stapel aussieht, aber die hier drüben sind alle alt«, sagte ich. »Hier ist nichts, was nach 1930 geprägt wurde.«

»Du hast Recht. Ich hab hier auch circa zehn Münzen von 1907.«

»Wir bringen sie besser zu einem Experten, um sie schätzen zu lassen.«

Mercer hob ein kleines weißes Stück Papier auf und inspizierte es genau. »Ich weiß, dass er hier mit McQueen Ransome verabredet war, aber ich glaube kaum, dass er deshalb in ihrem Schrank herumkrie-chen musste – vor allem, nachdem er herausgefunden hatte, dass sie tot war.«

»Wovon redest du?«, fragte ich.

Mercer hielt mir das Stück Papier hin. »Spike Logan hat gesagt, dass er von Martha’s Vineyard hierher gefahren ist, oder? Nun, er muss gestern das Fäh-renticket hier verloren haben. So niedergeschlagen war er wohl doch nicht, dass es ihn vom Suchen ab-gehalten hätte.«

305

25

»Stellen Sie mich bitte zu Monica Cortellesi durch«, bat ich Laura, während ich die Tür zu meinem Büro aufschloss. Ich hatte Mercer erklärt, dass sie unser Betrugsdezernat leitete und uns am ehesten sagen könnte, wen wir zur Schätzung der Münzen kontaktieren sollten.

»Wer ist dein Kontakt bei der Polizei von Oak Bluffs?«, fragte er.

»Warum soll Spike Logan spitzkriegen, dass wir ihm auf die Schliche gekommen sind? Solange wir wissen, wo er sich aufhält, können wir uns genauso gut erst einmal mit Anrufen zurückhalten, bis wir beschlossen haben, wie wir weiter vorgehen.«

»Alex«, sagte Laura. »Cortellesi ist auf Leitung zwei.«

»Monica? Nur eine kurze Frage. Mit wem spreche ich am besten, wenn ich etwas über seltene Münzen wissen will?«

»Ich kann Ihnen die Nummer des Verbandes amerikanischer Münzsammler nennen. Sie sitzen in Co-lorado Springs. Sie machen viel –«

»Zu weit weg.«

»Wie wär’s dann mit der 57. Straße?«, fragte sie.

»Perfekt.«

»Stark’s. Wahrscheinlich die erste Adresse des Landes für Privathändler.«

»Zuverlässig?«

»Wie Fort Knox. Ein Familienbetrieb, in den drei-306

ßiger Jahren von zwei Brüdern gegründet. Es gibt wahrscheinlich kaum etwas, bei dem sie Ihnen nicht helfen können.«

Ich bedankte mich bei ihr und reichte Mercer den Zettel, auf dem ich mir den Namen notiert hatte.

»Würdest du dort anrufen und einen Termin vereinbaren, während ich an den FOIA-Gesuchen für die CIA arbeite?«

Laura kam mit einer Hand voll Nachrichten herein.

»Sie sollen Christine Kiernan anrufen. Sie hat wegen eines neuen Falls die ganze Nacht kein Auge zugetan.

Die anderen können warten.«

»Würden Sie mir bitte für morgen einen Flug auf den Vineyard buchen?«, fragte ich.

»Müssen Sie am Vormittag nicht vor Richter Moffett erscheinen?«

»Doch. Aber das wird hoffentlich kurz und schmerzlos sein. Buchen Sie mir einen Flug für den späten Nachmittag. Falls ich den Tripping-Fall am Vormittag abschließen kann, genehmige ich mir ein langes Wochenende.«

Während ich am Computer an den Aktengesuchen arbeitete, telefonierte ich, den Hörer zwischen Kopf und Schulter geklemmt, mit Christine. »Was gibt’s?«

»Eine Vergewaltigung mit Diebstahl in Hell’s Kit-chen. Kann ich kurz raufkommen?«

»Sicher. Ist das Opfer bei Ihnen?«

»Nein. Sie ist noch im Krankenhaus. Wurde übel zugerichtet, als sie sich dem Kerl widersetzt hat.«

Bis Christine mit ihrer Akte in mein Büro kam, 307

hatte ich die Antragsformulare ausgefüllt und Laura mit der Bitte um Unterschrift zu Battaglia geschickt.

»Ich erhielt den Anruf um drei Uhr nachts.« Sie reichte mir eine Kopie des Tatortberichts.

»Das ist alles, was Sie an schriftlichen Unterlagen haben?«

»Ja. Die Cops hatten noch keine Zeit, die Polizeibe-richte zu tippen.«

»Was ist passiert?«, fragte ich.

»Meine Klägerin ist Mitte zwanzig. Sie studiert Medizin an der NYU und ist vor kurzem in ein saniertes Brownstone-Haus oberhalb der 40. Straße West gezogen. Riskante Ecke.«

Jedes Mal, wenn ein heruntergekommenes Viertel von Manhattan saniert wurde, führte das in der ersten Zeit zu einem Anstieg der Kriminalitätsrate. Vor dreißig Jahren, als TriBeCa von einem Gewerbe- und Lagerhallengebiet zu einer Wohngegend mit Lofts umgewandelt wurde, sahen sich die ersten Anwohner regelmäßig Überfällen und Angriffen ausgesetzt. Es gab noch keine Straßenlaternen, keine örtlichen Händler, die einem vertraut waren, keine Lebensmit-telläden, in denen man vor Verfolgern hätte Schutz suchen können, dafür aber viele Randexistenzen und zwielichtige Gestalten, die in den herrenlosen Häusern kampierten. Ein ähnliches Schicksal ereilte die Bewohner der Alphabet City – die Gegend zwischen Avenue A und Avenue D –, als sie die Drogenhändler und Prostituierten vertrieben, um das Viertel nicht länger verfallen zu lassen.

308

»Auf dem Nachhauseweg vom Krankenhaus?«

»Genau. Vierundzwanzigstundenschicht, sie war erschöpft und nahm ihre Umgebung nicht mehr so wahr. Es goss in Strömen, und sie hatte die Kapuze ihres Anoraks über den Kopf gezogen.«

»Das kommt mir bekannt vor.«

»Sie hat den Kerl nicht kommen hören. Er packte sie in der Eingangshalle ihres Hauses.«

»Er ist mit ihr ins Haus?«

»Ja. Er drückte ihr etwas Spitzes und Scharfes in den Rücken. Sie glaubt, dass es ein Teppichmesser war. Er befahl ihr, unter die Treppe zu gehen und den Mund zu halten, oder er würde ihr die Kehle aufschlitzen.«

»Hoffentlich hat sie seine Anweisungen befolgt«, sagte ich leise. Ich hatte an zu vielen Autopsien von Opfern teilgenommen, die sich erfolglos gegen einen bewaffneten Angreifer zur Wehr gesetzt hatten.

»Das hat sie. Sie zog sich aus und legte sich auf den Boden. Als er gerade in sie eindringen wollte, fiel ihm eine Injektionsspritze aus der Jackentasche. Sie flippte aus und fing an zu schreien.«

»AIDS?«

»Das war ihr erster Gedanke. Sie fragte mich im Krankenhaus unter Tränen, welchen Sinn es hätte, die Vergewaltigung zu überleben, wenn sie sich dabei eine tödliche Krankheit zuzog?«

»Also hat er sie verprügelt, damit sie ruhig war.«

»Er hat ihr einige Gesichtsknochen gebrochen und einen Zahn ausgeschlagen.«

309

»Und sie auch noch vergewaltigt?«, fragte ich.

Christine nickte.

»Hat man ihr das Prophylaktikum zur Vermeidung einer HIV-Übertragung angeboten?« Es gab neue Medikamente, die nach Meinung der Ärzte das Virus hemmten, aber sie mussten innerhalb der ersten vierundzwanzig Stunden nach der Vergewaltigung eingenommen werden.

»Ja. Sie wird wahrscheinlich heute Vormittag damit anfangen.«

»Was hat er gestohlen?«

»Ihren Aktenkoffer.«

»Hat sie OP-Kleidung getragen?«

»Ja. Er hat gedacht, dass sie Ärztin sei. Er fragte sie pausenlos, ob sie irgendwelche Medikamente oder Blankorezepte dabei hätte.«

»Und?«

»Nein. Nur einen Stapel Fachbücher, einen Geld-beutel und ein Handy.«

Ich sah zu Christine auf. »Haben Sie das Handy schon orten lassen?«

»Ich habe noch gar nichts gemacht. Ich komme gerade erst vom Roosevelt Hospital und wollte Sie über die Details unterrichten.«

»Wissen Sie, wie das geht?«

»Nein«, sagte sie zögerlich. »Wie macht man das?«

»Es ist ein triangulierter Anruf. Es funktioniert wie GPS, Global Positioning Satellites. Falls der Täter mit dem gestohlenen Handy telefoniert, kann uns die Mobilfunkfirma genau sagen, wo er sich während des 310

Telefonats aufhält. Bloß ein Versuch. Man muss es machen, bevor der Akku leer ist und er das Telefon wegwirft.«

Die meisten Diebe, die ihrem Opfer das Handy klauten, benutzten es, bis der Akku leer war. Früher hatte es oft Wochen oder Monate gedauert, bis wir die Anrufe des Täters von dem gestohlenen Telefon zurückverfolgen konnten. Heutzutage konnten wir mit Hilfe der neuen Technologie womöglich den Vergewaltiger finden, bevor er erneut zuschlug.

»Sie müssen TARU anrufen«, sagte ich. TARU war die Hightech-Einheit der New Yorker Polizei, die für Lauschangriffe und elektronische Überwachungen jeglicher Art zuständig war. »Setzen Sie einen Gerichtsbeschluss auf, und die Abteilung wird innerhalb einer Stunde Ortungsvorrichtungen eingerichtet haben.«

Ich konnte den Rauch von Battaglias Zigarre riechen, noch ehe der Bezirksstaatsanwalt um die Ecke bog. Ich schickte Christine an die Arbeit und bot ihm einen Stuhl an.

»Lassen Sie mich raten«, sagte ich. »Richter Moffett hat Sie angerufen. Sie sollen mich davon überzeugen, Trippings Schuldgeständnis für das geringfü-

gigere Delikt ohne Einspruch oder weitere Nachfra-gen zu akzeptieren.«

»Können Sie mir auch sagen, wie die Yankees am Wochenende gegen die Red Sox spielen werden?«

»Dafür brauchte es wohl kaum hellseherische Fä-

higkeiten, Paul.«

311

»Legen Sie diese Sache ad acta, Alex. Sie haben wichtigere Fälle. Aber da ich schon mal hier bin –

können Sie einem Freund von mir einen Rat geben?«

»Sicher.«

»Was würden Sie mit einer Mitarbeiterin machen –

allein erziehende Mutter, Juraabschluss, Abteilungs-leiterin –, die auf eine Dienstreise geht und damit in einem Hochglanzfrauenmagazin unter der Über-schrift ›Romanze im Expresszug‹ porträtiert wird.«

»Wie meinen Sie das?«

»Sie hat dem Magazin tatsächlich ein Foto von sich gegeben und beschreibt in dem Artikel, wie sie den Typen auf dem Rückweg von Albany im Zug kennen lernt, ein paar Drinks mit ihm hat und dann auf einen One-Night-Stand mit in seine Wohnung geht.«

»Hat sie zugegeben, dienstlich unterwegs gewesen zu sein? Wenn ja, würde ich sie entlassen. In meiner Abteilung würde das nach außen, geschweige denn den eigenen Mitarbeitern gegenüber, ein völlig falsches Signal senden. Dumm und gefährlich. Aber schließlich ist nicht jede Staatsanwältin für Sexualverbrechen zuständig.«

»Nun, die Frau, von der ich rede, schon. Bei der Staatsanwaltschaft in einem anderen Bezirk. Können Sie sich vorstellen, was sie für ein Vorbild abgibt?«

»Sie reden doch nicht etwa von –«

Battaglia kaute auf seiner Zigarre und stand auf.

»Doch, Ihre Freundin Olivia. Tun Sie mir einen Gefallen, Alex. Falls Sie jemals beschließen, Ihr Sexle-ben an die große Glocke zu hängen, bitte keine Fotos.

312

Werfen Sie einen Blick in die Oktoberausgabe dieses Magazins für die Singlefrau von heute. Die Frau des Bezirksstaatsanwalts hat es im Wartezimmer ihres Zahnarztes gesehen.«

»Entschuldigen Sie bitte die Störung, Mr. Battaglia.

Alex, Will Nedim sagt, es sei ziemlich wichtig.«

»Eine Sekunde, Paul. Das interessiert Sie vielleicht.

Nedim kümmert sich um die Angeklagte, die man mit McQueen Ransomes Nerzmantel erwischt hat. Wir haben versucht, sie zur Kooperation mit uns zu bringen.«

Ich hob den Hörer ab. »Will? Der Boss ist gerade bei mir. Irgendwelche Neuigkeiten?«

»Tiffany Gatts hat es sich womöglich anders überlegt.«

»Das hör ich gern. Hat Helena Lisi Sie angerufen?«

»Nein. Tiffany selbst. Sie ließ ausrichten, dass sie doch mit mir sprechen will.«

»Was haben Sie vor?«

»Wie wär’s, wenn ich sie morgen in mein Büro bestelle?«

»Natürlich mit ihrer Anwältin.«

»Natürlich. Ich dachte, Sie würden vielleicht auch dabei sein wollen.«

»Auf keinen Fall«, sagte ich. »In meiner Gegenwart würden Sie gar nichts aus ihr herauskriegen. Ich bin ein rotes Tuch für Tiffany Gatts. Falls sie mit Ihnen zurechtkommt, sollten wir es dabei bewenden lassen.«

Ich würgte Nedim ab, weil ich Battaglia nicht län-313

ger aufhalten wollte. »Keine Neuigkeiten, Paul. Aber falls wir Glück haben, verschafft uns dieses Mädchen eventuell den Durchbruch in der Sache mit Kevin Bessemer.«

Er wedelte zum Abschied mit seiner Zigarre, ein Zeichen, dass ich mich wieder an die Arbeit machen sollte. Ich erledigte ein paar Sachen und bestellte dann für Mercer und mich etwas zum Mittagessen.

»Bernard Stark wird uns um vier Uhr empfangen«, berichtete er. »Er ist das Oberhaupt der Firma und sagt, er freut sich, wenn er uns helfen kann. Mike wird sich direkt dort mit uns treffen. Das ist die gute Nachricht.«

Ich lächelte. »Und die schlechte?«

»Laut Auskunft der Telefonfirma in Massachusetts hat Spike Logan am Nachmittag, bevor er nach New York fuhr, auf Martha’s Vineyard einen Anruf erhalten.«

»Du glaubst, dass er von Queenies Tod wusste?«

»Laut Unterlagen handelt es sich bei dem Anrufer um den Nachbarn der Verstorbenen. Ich habe beim Dezernat nachgefragt. Der Nachbar war zu dem Zeitpunkt, als er Logan anrief, schon vernommen worden; zweifelsohne wollte er Logan die traurige Nachricht mitteilen. Dieser Scheißkerl wusste also mit Sicherheit bereits, dass sie tot war.«

Mittlerweile war es halb drei. Wir aßen gerade unsere Sandwiches an meinem Schreibtisch, als Laura mit einem Bündel Faxkopien hereinkam. »Ich habe einen Anruf von einer Sekretärin bei der CIA erhalten«, 314

sagte sie. »Sie werden davon noch Kopien mit der Post schicken, mit all den offiziellen Unterschriften und Siegeln, aber das wird noch einen Monat dauern. Der Agent sagte, dass man ihn gebeten hat, Mr. Battaglias Gesuch so schnell wie möglich Folge zu leisten.«

»Muss nett sein, wenn man so einen Namen hat, dass man sich elegant ins Zeug legen kann und noch am selben Tag Antworten erhält«, lobte Mercer.

»Vielleicht finden wir da ein paar Antworten zu unserem komischen Trupp.«

Ich blätterte in den fotokopierten Dokumenten, obwohl der Stapel eindeutig zu dünn war, um etwas Wichtiges zu enthalten. Unsere Gesuche um Akten-einsicht waren in allen vier Fällen – Victor Vallis, Harry Strait, McQueen Ransome und König Faruk –

mit ein und derselben Antwort beschieden worden: Als Koordinator für Informationen und Privatsphäre muss ich Ihnen leider mitteilen, dass die CIA die Existenz bzw. Nichtexistenz entsprechender Unterlagen weder bestätigen noch leugnen kann. Die Tatsache der Existenz bzw. Nichtexistenz von Unterlagen, die dahingehende Informationen enthalten, unterliegt der Geheimhaltung aus Gründen der nationalen Sicherheit, siehe Ab-schnitt 1.3 (a)(5) – Auswärtige Beziehungen – der Exekutivorder 12368.

Mercer sprach laut aus, was ich dachte. »Der König von Ägypten wurde vor fast einem halben Jahrhun-315

dert ins Exil geschickt, und er ist seit über dreißig Jahren tot. Was zum Teufel hat das mit unserer mo-mentanen nationalen Sicherheit zu tun?«

26

Ich starrte ebenso fasziniert auf die glänzenden Gold-und Silbermünzen in der Schaufensterauslage der Gebrüder Stark wie damals Holly Golightly auf die Diamanten bei Tiffany’s. Jede Münze lag einzeln auf einem dunkelblauen Samtkissen, eine Präsentations-weise, die mehr an ein Museum als an einen Einzelhändler erinnerte.

Als Mike eintraf, meldeten wir uns am Empfang an. Er warf einen schnellen Blick auf die Münzvitri-nen. »Nette Sparschweinchen, hm?«

»Hast du heute irgendetwas erreicht?«, fragte Mercer.

»Nicht viel. Ich habe die meiste Zeit damit verbracht herauszufinden, wer unserer lieben Ms. Cooper gestern Abend eins übergebraten hat.«

»Hast du dich beim ersten Revier erkundigt, ob sie schon ähnliche Fälle gehabt haben?«, fragte ich.

Mike wandte sich an Mercer. »Ich kann wohl von Glück reden, dass sie morgens nicht bei mir antanzt, um sicherzugehen, dass ich Unterwäsche anziehe.«

»Und sie haben bisher keine Fälle in der Art gehabt?«

316

»Downtown gibt es ein paar kritische Fleckchen.

Aber die Gegend zwischen der Fähranlegestelle und der Promenade mit den ganzen Bushaltestellen ist ziemlich gut bewacht. Dort laufen zu viele Wall-Street-Yuppies rum, die sich sonst über die Bettler und Penner aufregen würden.«

»Hast du die Sache mit dem Gefängniswärter überprüft?«

»Wir sind gerade dabei. Arbeitsschichten, Fotos, Größe, Gewicht und so weiter. Aber ich habe noch etwas herausgefunden.«

»Was?«, fragte Mercer.

»Es könnte auch ein Gerichtspolizist gewesen sein.

Die tragen ebenfalls blaue Uniformhosen. Einer von denen könnte vor dem Gericht auf Coop gewartet haben und ihr zur Kirche gefolgt sein.«

»Ich habe keine Feinde bei der Gerichtspolizei – ich schwör’s.« Ich lachte. »Meine Abteilung ist wahrscheinlich für mehr Überstunden verantwortlich als jede andere Einheit der Staatsanwaltschaft. Und Laura bäckt ihnen jedes Mal, wenn ich vor Gericht gehe, Kekse.«

»Und was ist mit deiner Freundin Etta Gatts? Ihr Schwager ist Gerichtspolizist. Der Lieblingsonkel der kleinen Tiffany, der Bruder ihres verstorbenen Vaters.«

»Im Strafgericht?« Ich kramte in meinem Ge-dächtnis, ob ich einen Gerichtspolizisten namens Gatts kannte.

Mike verneinte. »Oberstes Gericht, Zivilrecht. 60

Centre Street.«

317

»Aber damit habe ich –«

»Sie hat dir gedroht, dass ihre Leute mit dir noch nicht fertig sind. Erinnerst du dich?«

»Ja, aber Tiffany hat heute Will Nedim angerufen.

Er denkt, dass sie drauf und dran ist, Kevin Bessemer zu verpfeifen.«

»Na, womöglich ist ihre Mama noch nicht auf dem neuesten Stand. Denk dran, du bist gestern Abend auf dem Weg nach Downtown direkt an den Stufen des Gerichts vorbeigelaufen.«

»Wie hätte er wissen sollen, wer ich bin?«

»Sei nicht naiv, Coop. Vielleicht war er dabei, als Etta Gatts nach Tiffanys Verhaftung in dein Büro kam. Er hat die richtige Uniform, den richtigen Ausweis – es wäre doch denkbar, dass sie ihn angerufen und um Hilfe gebeten hat. Jeder hätte ihm zeigen können, wer du bist. Eventuell hat er sogar deine Reifen auf dem Gewissen.«

Mercer nickte. »Motiv, Gelegenheit –«

»Bald werd ich nur noch zu P.J. Bernstein’s gehen können.« Der Deli gleich bei mir um die Ecke, keine zwanzig Meter von meiner Haustür entfernt, war der beste Platz zum Auftanken und Entspannen, wenn ich mich nicht zu weit von zu Hause wegbewegen wollte.

»Das Schlimmste, das dir dort passieren kann, ist, dass du von den Latkes Herzrasen kriegst«, sagte Mi-ke.

»Mr. Stark kann Sie jetzt empfangen«, sagte die Rezeptionistin und drückte einen Knopf auf ihrem 318

Schreibtisch, um die erste der verschlossenen Türen, die zu den Büros führten, zu öffnen. Sobald wir durch sie hindurchgegangen waren, drückte sie erneut, und ein Metallgitter, wie es in Banksaferäumen verwendet wird, klickte auf. Zudem waren noch Überwachungskameras installiert.

Bernard Stark stand hinter seinem Schreibtisch.

Das Fenster bot Ausblick auf den gesamten Central Park und den wolkenverhangenen Himmel. Ich schätzte Mr. Stark auf Ende sechzig. Dafür hatte er sich gut gehalten, selbst wenn sein graues Haar schon schütter wurde. Er trug einen gut sitzenden Maßanzug, war tief gebräunt und begrüßte uns mit einem herzlichen Lächeln.

»Ich habe schon sehr oft mit der Bundesregierung zusammengearbeitet, Mr. Wallace – der Bundesmünzanstalt, der Bundesnotenbank, dem Finanzministerium. Mit Ihnen hatte ich noch nicht so oft die Ehre. Was kann ich für Sie tun?«

Mercer machte den Anfang. »Wir tun uns mit einer Ermittlung schwer und dachten, dass Sie uns eine Orientierungshilfe geben könnten, bevor wir die Spur verlieren und in die falsche Richtung laufen.«

»Wir würden Ihnen Ihre Expertise und Ihren Zeit-aufwand natürlich entsprechend honorieren, Mr.

Stark«, fügte ich hinzu.

»Lassen Sie doch erst einmal hören, worum es sich handelt. Vielleicht kann ich Sie einfach in die richtige Richtung weisen.« Er zwinkerte mir zu. »Dafür be-rechne ich nichts.«

319

»Ich befürchte, wir haben zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht viele Informationen«, sagte Mercer. »Wir versuchen, einen Mord aufzuklären. Offenbar waren einer oder auch mehrere der Meinung, dass die Verstorbene etwas Wertvolles in ihrem Besitz hatte.«

»War sie Sammlerin?«, fragte Stark. »Sind Sie deshalb zu mir gekommen?«

»Nein, sie war keine Sammlerin. Wir haben ein paar Wertsachen in ihrer Wohnung gefunden, aber dabei handelt es sich um Geschenke, die sie vor vielen Jahren erhalten hat.«

»Verstehe. Stammte sie aus einer prominenten Familie? Womöglich eine Kundin unserer Firma oder jemand, dessen Nachruf ich in der Zeitung gelesen haben könnte?«

Nur wenn Sie die Amsterdam News abonniert haben, dachte ich. »Nein, der Mord wurde in der Presse nicht einmal erwähnt.«

Mercer nahm einen Asservatenbeutel aus seiner Jackentasche und reichte ihn Bernard Stark.

»Darf ich den Inhalt auf meinem Schreibtisch aus-leeren, um ihn mir anzusehen?«

»Sicher.«

Stark ließ die zwanzig Münzen aus der Tüte auf seine kunstvoll punzierte Lederschreibunterlage gleiten. Dann ordnete er sie nach Größe und Farbe, indem er sie mit dem Zeigefinger wie Damesteine auf einem Spielbrett bewegte.

»Was sehen Sie?«, fragte Mike.

Der Münzhändler ließ sich Zeit mit der Antwort.

320

»Die meisten davon sind relativ alt. Das lässt sich un-schwer an den Jahreszahlen erkennen.«

»Und ihr Wert?«, fragte der Detective ungeduldig.

»Was sind sie wert?«

»Diese hier«, sagte Stark und zeigte auf mehrere kleine Münzen, die alle gleich aussahen. »Das sind nur polierte Platten, so genannte PP-Münzen. Die wurden nie in Umlauf gebracht.«

»Können Sie ungefähr sagen, was sie bei einer Auktion einbringen würden?«, fragte Mike.

»Für diese Gruppe hier, aus dem Jahr 1871, würden Sie vielleicht hundert Dollar pro Münze bekommen.

Für diese hier, von 1881, eventuell zweihundert.«

Nicht gerade eine königliche Summe, andererseits hatten wir alle drei schon Fälle gehabt, in denen Leute für vie weniger umgebracht worden waren.

Mercer nahm noch eine Tüte mit Münzen aus seiner Tasche.

»Ah.« Stark holte eine Juwelierlupe aus seiner Schublade de und hielt sie ans Auge. »Wie ich sehe, haben Sie auch einige ausländische Stücke. Rumä-

nien, Schweden, Griechenland – alle nicht besonders wertvoll, aber durchaus interessant. Sie sagten, sie gehörten einer Dame, die keine Sammlerin war?«

Bernard Stark brauchte nicht zu wissen, dass die Besitzerin sie von einem der größten Sammler der Welt geklaut hatte. Er war auch so schon neugierig genug.

»Soweit ich weiß, hat die Verstorbene … nun …

sie hat die Münzen möglicherweise von einem alten 321

Freund geerbt oder so ähnlich, aber wir sind uns noch nicht sicher.«

»Da hatte jemand ein gutes Auge, Ms. Cooper.

Transylvanien, 1764.«

Wir beugten uns alle drei vor, um uns die Münze in seiner Hand genauer anzusehen.

»Ein Zweidukatstück. Die letzte Münze dieser Art, die ich gesehen habe«, sagte er, »ging für fast tausend Dollar über den Tisch.«

Die Bodegas in Queenies Viertel akzeptierten im Allgemeinen keine transylvanischen Zweidukatmünzen. Die hatte sie ihren Laufburschen vermutlich nicht als Trinkgeld in die Hand drücken können.

»Nichts für ungut, Mr. Stark, aber können Sie wirklich allein vom Hinsehen erkennen, ob diese Dinger echt sind?«, fragte Mike.

»Sie wollen mir doch nicht in mein Handwerk pfu-schen, oder, Detective?« Der ältere Mann lachte.

»Deshalb kommen die Leute mit ihrem Gold und Silber zu mir. Das ist mein Job, Mr. Chapman, so wie es Ihrer ist, Verbrechen aufzuklären. Falls mein Auge nicht gut genug ist, gibt es natürlich noch andere We-ge, den Edelmetallgehalt der Münzen nachzuweisen.«

Er betrachtete jede Münze von beiden Seiten.

»Sehen Sie die kleine hier?«, fragte Stark, dem die ganze Sache sichtlich Spaß machte. »Ein ziemlich ungewöhnliches Stück. Die findet man kaum noch.«

»Was ist das für eine Münze?«, fragte Mike.

»Ein Zehn-Cent-Stück von 1844. Aber auf dem hier sitzt Lady Liberty. Die Münze hat eine hübsche 322

Oberfläche aus Natursilber, die, wie wir es nennen, eine champagnerfarbene Patina angesetzt hat. Na los, raus damit, Mr. Wallace – haben Sie noch mehr?«

Mercer reichte ihm auch den dritten Plastikbeutel.

Er enthielt einige PP-Münzen von geringem Wert, aber als Stark ein großes Silbermedaillon in die Hand nahm und dessen hellgrüne Patina studierte, lächelte er wieder breit. »Ein sehr erlesenes Stück. Äußerst erlesen. Sehen Sie sich das Datum auf diesem Pracht-exemplar an.«

Er streckte uns die Münze entgegen. Die lateinische Aufschrift am oberen Rand bedeutete Amerikanische Freiheit. »Vierter Juli 1776«, sagte ich.

Mike suchte etwas am unteren Rand. »Da sind keine Zahlen. Was für eine Münze ist das?«

»Es ist eine Medaille, keine Münze. Auf dem Re-vers sehen Sie Herkules als Knaben – das Symbol für die amerikanischen Kolonien –, der sich gegen den feigen britischen Leoparden verteidigt. Können Sie die lateinische Aufschrift übersetzen?«

»Nein, tut mir Leid.«

»›Nur Gottes Beistand machte den Knaben kühn.‹

Von dem römischen Dichter Horaz«, sagte Stark. »Jedes Mitglied des Kontinentalkongresses erhielt nach den Schlachten bei Saratoga und Yorktown eine dieser Silbermedaillen.«

Jetzt war Mike ganz Ohr. Wie jedes Mal, wenn es um Militärgeschichte ging. »Sie haben solche also schon mal gesehen?«

»Davon gibt es nur noch sehr wenige, Mr. Chap-323

man. Es war eine herrliche, aber sehr begrenzte Prä-

gung.«

»Was würde man Ihrer Schätzung nach dafür auf der Straße bekommen?«

»Falsche Frage, Detective. Sie hat überhaupt keinen Straßenwert – das will ich Ihnen ja gerade erklären.

Sie ist nie als Münze ausgegeben worden. Aber auf dem Auktionsmarkt ist sie viel wert. Die letzten davon erzielten mehrere tausend Dollar.«

Starks Sekretärin kam mit einem großen Tablett ins Zimmer, das nach Decoupage-Art mit Münzen aller Größen und Farben bedeckt und lasiert war. Darauf standen eine Kaffeekanne und verschiedene Säf-te. Wir bedienten uns.

Stark stellte sich mit seiner Tasse und Untertasse ans Fenster, gegen das jetzt der Regen peitschte. »Ich helfe Ihnen gerne, aber ich hoffe, dass Sie vorhaben, mich in Ihr kleines Geheimnis einzuweihen.«

»Geheimnis?«, fragte Mike.

»Meine Familie ist seit fast einem Jahrhundert in diesem Geschäft, und wir wissen, wo die meisten seltenen Münzen der Welt im Laufe der Jahre gekauft oder verkauft worden sind. Sobald Sie zur Tür hinaus sind«, sagte Stark, »kann ich unsere Unterlagen nach Libertas Americana durchsuchen und wahrscheinlich herausfinden, wo dieses Stück die letzten fünfzig Jahre über gesteckt hat.«

Ich wollte ihn nicht auf die Probe stellen, aber Queenie hatte die Münze schon länger in ihrem Besitz gehabt.

324

»Ich kann Ihnen sehr viel mehr nützen, wenn ich weiß, womit ich es zu tun habe«, fuhr Stark fort. Er wandte uns den Rücken zu und sah aus dem Fenster.

Ich nickte Mike zu – der Mord an Queenie war sein Fall.

»Wir wissen nicht, wonach wir suchen sollen, Mr.

Stark. Wir wissen auch nicht, wonach die Ganoven gesucht haben, und wir haben keine Ahnung, ob sie es gefunden haben. Die Tote«, sagte er nach kurzem Zögern, »war eine zweiundachtzigjährige gebrechli-che Frau, die allein in einer Wohnung in Harlem lebte.«

»Mit diesen Münzen? Einfach so, in ihrer Wohnung?«

»Sie lagen auf dem Boden ihres Wandschranks und sind von demjenigen, der die Wohnung auf den Kopf gestellt hat, zurückgelassen worden. Diese Person ist vielleicht, vielleicht aber auch nicht, ihr Mörder.«

Mike zögerte erneut, bevor er weitersprach. »Als junge Frau hatte die Ermordete eine Affäre mit einem der reichsten Männer der Welt. Er war der Sammler«, sagte er und spielte mit den Münzen auf der grünen Schreibunterlage. »Sie hat diese Dinger von ihm.«

Wir hatten Starks Jagdinstinkt geweckt. Er setzte sich wieder an seinen Schreibtisch und drehte sich zum Computerbildschirm. »Ich bin mir sicher, dass ich ihn in unserer Datenbank überprüfen kann. Seit wir im Geschäft sind, gibt es keinen Amerikaner, der nicht wenigstens einen Teil seiner Münzen von uns 325

erworben hat, sei es auf einer Auktion oder auf priva-tem Wege.«

»Das ist Teil des Problems. Der Typ war kein Amerikaner.« Mike sah noch einmal zu Mercer, der ihm zunickte. »Es war der König von Ägypten.«

Bernard Stark schob den Stuhl zurück und sah Mi-ke an. »Diese Frau hatte einen Teil von Faruks Sammlung in ihrem Schlafzimmerschrank? Kein Wunder, dass sie tot ist.«

27

Bernard Stark schob die Münzen beiseite, stand auf und schloss die Tür. »Wer auch immer mit Faruks Schätzen in Berührung gekommen ist, den hat nie was Gutes ereilt. Es überrascht mich, dass die Regierung nie bei ihrem Opfer angeklopft und volle Re-chenschaft verlangt hat.«

Mike war jetzt bereit, Stark ins Vertrauen zu ziehen. »Sagen wir, Queenie ist nicht auf dem ehrbars-ten Weg an diese Dukaten gekommen. Sagen wir, sie fand, dass ihr der alte Junge ein paar Kröten schulde-te, also schnappte sie sich ein hübsches Säckchen Gold und Silber.«

»Das ergibt mehr Sinn. Das hieße, die Bundesbehörden hätten nicht gewusst, wo sie suchen sollen, und vieles davon wäre wieder auf den Markt gekommen, ohne dass Ihr Opfer auch nur den leisesten 326

Schimmer gehabt hätte, wie wertvoll die gestohlenen Sachen waren«, dachte Stark laut vor sich hin.

»Glauben Sie wirklich, die Bundesbehörden haben nichts Besseres zu tun als sich für ein paar verrostete alte Medaillen und Münzen zu interessieren, die nur ein paar tausend Dollar wert sind?«, fragte Mike.

»Wenn es um König Faruk geht, würde ich die Behauptung wagen, dass vom Secret Service bis zur CIA jeder hinter ihnen her ist.«

Stark hatte soeben das Zauberwort gesprochen.

Wie in aller Welt kam er auf die CIA?

Mercer übernahm in seiner gewohnt ruhigen Art das Kommando. »Mir scheint da etwas entgangen zu sein, Mr. Stark. Wir wissen, dass Faruk königlichen Schmuck aus aller Welt sammelte und dass seine Sammlung von Fabergé-Eiern ein kleines Vermögen wert war. Aber damit es sich für Ms. Ransome ge-lohnt hätte, hätte sie ganze Wagenladungen von Münzen davonkarren müssen. Wir wissen, dass sie das nicht getan hat.«

»Um herauszufinden, wie viele Fabergé-Modelle existieren und was sie auf dem freien Markt wert sind, müssen Sie mit einem Schmuckexperten sprechen. Was die Münzen angeht, kann ich Ihnen versichern, Detective, dass sie nur die richtige nehmen musste. Nur eine einzige Münze, die Faruk besaß, und ich kenne viele Leute, die dafür einen Mord begangen hätten.«

»Vielleicht hat sie sie genommen«, sagte ich.

»Wenn Sie uns die Münze vielleicht beschreiben –«

327

»Queenie – so haben Sie sie doch genannt, nicht wahr? – Queenie hat die Münze, von der ich rede, nicht.« Stark lächelte mich an. »Die ist nämlich auf verschlungenen Pfaden in unseren Händen gelandet.

Ich wollte damit nur sagen, dass unter all den Raritä-

ten, die Faruk erwarb, eine allein durchaus ein Vermögen wert sein kann.«

»Nun, was ist mit der Münze, die Sie eben erwähnt haben – die bei Ihnen gelandet ist. Vielleicht gab es davon noch ein Exemplar.«

»Ah, Ms. Cooper. Das ist der Stoff, aus dem die Träume sind – so wie der Malteser Falke, dem ein Privatschnüffler hinterherjagte. Diese Münze – unsere Münze – war ein Adler, und ich bin mir hundert-prozentig sicher, dass es davon auf der ganzen Welt nur eine gibt.«

»Aber Sie haben die CIA und den Secret Service erwähnt«, sagte Mike. »Würden Sie uns bitte erklä-

ren, was es damit auf sich hat?«

»Sie sollten die Geschichte wohl besser kennen, Detective. Möglicherweise bringt Sie das bei Ihren Ermittlungen auf eine brauchbare Schiene. Hat einer von Ihnen schon mal vom Doppeladler gehört?«

Stark ging zu einer Vitrine an der gegenüberliegenden Wand. Er holte einen kleinen Schlüssel aus seiner Brusttasche, schloss die Vitrine auf und nahm ein schwarzes Lederkästchen vom obersten Fach.

Er setzte sich, öffnete das Kästchen und betrachtete die große Münze, bevor er sie uns reichte. »Das hier ist wohlgemerkt nur eine Kopie des echten Gold-328

stücks. Aber sie ist vielleicht die schönste Münze, die je geprägt wurde.«

Ich nahm die glänzende Münze aus ihrem Nest und fuhr mit dem Finger über sie. »Sie ist wunder-schön.«

Stark nahm einen Zettel, der innen am Deckel des Kästchens befestigt war. »Das ist ein Ausschnitt aus dem Auktionskatalog, als wir das Stück verkauften.

Er beschreibt sie besser, als ich es kann.« Er paraphra-sierte, was auf dem Zettel stand. »Lady Liberty, die in losem Gewände gegen den Wind marschiert. In ihrer linken Hand hält sie einen Ölzweig, in ihrer ausgestreckten rechten eine brennende Fackel. Am unteren Rand ist eine Miniaturabbildung des Capitols, acht-undvierzig Sterne bilden den Rand der Münze, und unter den Füßen von Liberty brechen die Sonnen-strahlen hervor. Das Ausgabejahr war 1933.«

Mike nahm mir die Münze aus der Hand und drehte sie um. Auf der Rückseite stand über einer fein gestochenen Seitenansicht eines fliegenden Adlers der Nennwert der Münze in US-Währung: zwanzig Dollar.

»Sie haben eine davon auf einer Auktion verkauft?«, fragte Mike.

»Korrektur, Mr. Chapman. Machen Sie sich keine Hoffnungen. Wir haben die einzige Münze dieser Art auf einer Auktion verkauft. Im Juli 2002. Es war diejenige, die Faruk besessen hatte.«

»Sie meinen, dass davon nur eine geprägt worden ist. Deshalb sind Sie sich so sicher?«

329

»Nein, tatsächlich sind viele hergestellt worden, aber die Regierung hat sie nie ausgegeben. Sie sind alle zerstört worden.«

»Ich muss Sie einfach fragen, Sir, wie viel Sie dafür bekommen haben?«

Stark beantwortete Mikes Frage nur zu gern. »Es stand in allen Zeitungen, Mr. Chapman. Ich habe nichts zu verbergen.« Stark nahm Mike die PP-Münze aus der Hand und hielt sie zwischen Daumen und Mittelfinger hoch. »Der Doppeladler ging für mehr Geld über den Tisch als jede andere Münze in der Geschichte«, sagte er und warf sich stolz in die Brust. »Über sieben Millionen Dollar.«

Ich warf einen Blick auf Mercers drei Plastikbeutel mit angeblich seltenen Münzen, die alle zusammen nur ein paar tausend Dollar wert waren. Es schien mir unfassbar, dass ein einzelnes Goldstück mit einem Nennwert von zwanzig Dollar für sieben Millionen Dollar versteigert werden konnte.

Mike war ebenso ungläubig. »Also, nur mal angenommen, Mr. Stark, es gäbe davon eine zweite. Die gleiche wie die, die Sie da in der Hand halten. Nehmen wir mal an, wir würden sie bei den anderen finden und Ihnen bringen. Was würden Sie mir dafür geben?«

»Nichts, Mr. Chapman. Keinen Cent.«

Mike lachte. »Aber ich würde doch wenigstens meine zwanzig Dollar bekommen.«

»Nein, das stimmt nicht. Ihre hypothetische Mün-ze wäre nicht einmal die zwanzig Dollar wert, die auf 330

der Rückseite eingraviert sind. Die Münze war buchstäblich mit dem Tag, an dem sie hergestellt wurde, ungültig.«

Mike hielt seine Finger genauso wie Stark, nur dass er statt einer Münze ein Gänseei zu halten schien.

»Nichts, nada, nothing.«

»Wenn Sie sie einschmelzen würden, würden Sie vermutlich den Preis des Goldgewichts bekommen, aber das wäre auch schon alles.«

»Wie das?«

»Sehr einfach, Detective. Nachdem die Münzanstalt die Münzen herstellt – das gilt für alle Münzen –

, müssen sie zum gesetzlichen Zahlungsmittel gemacht werden, andernfalls bleiben sie – wie der Doppeladler – ungültig. Erst durch diese Prozedur, die das Finanzministerium bei jeder Währung wiederholen muss, wird eine Münze zum gesetzlichen Zahlungsmittel.« Stark seufzte. »Dass diese Münze so wertvoll ist, verdankt sie nur ihrer Geschichte, ihrer Einzigartigkeit.«

»Würden Sie mir bitte davon erzählen?«

»Aber gern. Wenn ich Ihnen genügend Unterhaltung biete, kann ich Ms. Cooper möglicherweise ein paar von diesen kleinen Schmuckstücken abluchsen.

Ich würde gerne alles sehen, was Sie im Schrank der Dame gefunden haben.«

Er begann mit der Zeit nach dem Goldrausch der 1840er Jahre, der die junge amerikanische Nation zu einem der reichsten Länder der Welt machte. »Die Münzanstalt der Vereinigten Staaten brauchte ange-331

sichts der boomenden Wirtschaft einen neuen Nennwert, etwas Höheres als das ursprüngliche Ein-Dollar-Goldstück. Der bis dahin höchste Nennwert war die Zehn-Dollar-Münze gewesen. Also brachte man eine Gesetzesvorlage in den Kongress ein, zur Einführung eines Zwanzig-Dollar-Stücks, das mit beinahe einer ganzen Unze Gold gegossen wurde.«

Stark ging wieder an die Glasvitrine und kam mit einigen Münzen zurück. »Von diesen Zwanzig-Dollar-Goldmünzen existieren jede Menge«, sagte er.

»Zwischen 1850 und 1933 gab es fast jedes Jahr eine Prägung.«

Ich inspizierte die ältere Version, die er mir reichte.

»Diese hier ist nicht annähernd so elegant wie die Ih-re, hab ich Recht?«

»Das haben Sie Teddy Roosevelt zu verdanken.

Während seiner Präsidentschaft lernte er zufällig den Mann kennen, den die meisten für Amerikas größten Bildhauer halten.«

»Wer war das?«, fragte Mercer.

»Saint-Gaudens. Augustus Saint-Gaudens. Roosevelt beschwerte sich bei ihm, dass es den amerikanischen Münzen an künstlerischer Qualität mangelte.

Der alte Teddy wollte etwas, das es mit den alten Griechen aufnehmen konnte, ein herrliches Design und hohes Relief. Er hatte den Richtigen für die Aufgabe gefunden. Der neue goldene Doppeladler wurde zum Symbol amerikanischen Reichtums und amerikanischer Macht und war von der ersten Sekunde an, nachdem er in Umlauf war, ein heiß begehrtes Objekt.«

332

»Auf dem Ding ist nur ein Vogel abgebildet«, sagte Mike. »Warum heißt er Doppeladler?«

»Weil es der doppelte Betrag der alten Zehn-Dollar-Münze war, der man den Spitznamen Adler gegeben hatte.«

»Was beendete den Flug des Adlers?«, fragte ich.

»Ein anderer Roosevelt, Ms. Cooper. Teddys Cousin, Franklin. Bei seiner Amtseinführung, 1933, steckte das Land mitten in der Großen Depression.

Eine Tageszeitung kostete zwei Cent, eine Schachtel Zigaretten einen Vierteldollar. Das Einzige, was während dieser Krise seinen Wert behielt, war das Gold selbst.«

»Also kam es zu einem Ansturm auf die Banken, und die Leute fingen an, Goldmünzen zu horten«, sagte Mercer.

»Und zwei Tage nach seinem Amtsantritt schloss Präsident Roosevelt alle Banken, verfügte ein Embargo auf den Export des wertvollen Metalls und hob den Goldstandard auf. Nach März 1933 hat die Münzanstalt der Vereinigten Staaten nie wieder eine Goldmünze ausgegeben.«

»Das heißt, Faruks Stück wurde vor FDRs Prokla-mation angefertigt?«

»Ah, jetzt sind wir beim Kern der Sache, Mr.

Chapman. Das Finanzministerium verbot der Münzanstalt von dem Zeitpunkt an, irgendwelche Goldmünzen zum gesetzlichen Zahlungsmittel zu machen.

Aber es versäumte, auch die Herstellung der Münzen zu verbieten.«

333

»Faruks Doppeladler wurde geprägt, als wir schon nicht mehr auf dem Goldstandard waren?«, fragte ich.

Stark nickte. »Die Münzanstalt war schließlich auch nur eine Fabrik. Die Prägestempel waren fertig, die Goldbarren lagen bereit, und innerhalb eines Monats nach dem Embargo wurden einhunderttausend Doppeladler gegossen. Das Finanzministerium bemerkte den Fauxpas und befahl der Münzanstalt sofort, die Münze für ungültig zu erklären.«

»Also existierten die Doppeladler …«

»Ja, Mr. Chapman«, sagte Stark. »Aber sie waren nur so viel wert wie ein kleines Goldmedaillon. Sie wurden nie gesetzliches Zahlungsmittel.«

Mike lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Das sind ein Haufen vergoldeter Vögel. Wie konnte man da den Überblick behalten?«

»Es gibt herrlich altertümliche Vorschriften, die seit den Anfangstagen unserer Republik existieren«, antwortete er. »Nach römischem Vorbild setzten unsere Vorfahren eine Kommission zur Prüfung von Edelmetallen ein. Einige hundert Probeprägungen wurden in verschlossenen Kisten zu einer ganzen Reihe aufwändiger Untersuchungen zum Wiegen und Testen eingereicht, während alle anderen in der Münzanstalt eingelagert wurden.«

»Was geschah mit den einhundertausend Münzen?«

»1937 erging endlich die Anordnung des Finanzministeriums – auf direkten Befehl des Präsidenten –

die ganze Prägung einzuschmelzen. Soweit die Regierung wusste, blieb keine einzige Münze übrig.«

334

»Wann ist der Adler dann aus dem Käfig entflo-gen?«, fragte Mike.

»Ich befürchte, das war, als unsere Firma das erste Mal darin verwickelt wurde«, sagte Stark. »1944.

Mein Vater war schon seit circa zehn Jahren recht gut im Geschäft, als er eine große Privatsammlung auf-kaufte, um sie zu versteigern. Der Besitzer war ein gewisser Colonel James Flanagan.« Stark trank einen Schluck Kaffee. »Mein Vater setzte eine Anzeige in alle Zeitungen, um die Auktion anzukündigen. Für den letzten Posten, den größten Preis, lautete die An-nonce: ›Der überaus seltene Doppeladler von 1933.‹

Er war begeistert von seinem Coup.«

»Damit war vermutlich die Katze aus dem Sack«, sagte Mike.

»Ich brauche wohl kaum zu erwähnen, dass diese Formulierung die Aufmerksamkeit einiger Münz-sammlergrößen auf sich zog, die alle mitbieten wollten. Einer von ihnen rief die Münzanstalt an, um zu fragen, was die Münze so selten machte. Er wollte wissen, wie viele Münzen die Regierung für gültig erklärt und ausgegeben hatte.«

»Die Antwort war ›keine‹?«

»Genau. Ab da traten die Bundesbehörden ziemlich schnell auf den Plan. Durch die Münzanstalt kam der Secret Service ins Spiel –«

Ich unterbrach Stark und sah Mike und Mercer an.

»Ich weiß, dass der Secret Service der Polizeischutz des Finanzministeriums ist, aber ich kann mich beim besten Willen nicht daran erinnern, warum das so ist.

335

Ich verbinde mit dem Namen nur die Schutztruppe des Präsidenten.«

Mike half mir auf die Sprünge. »Der Secret Service wurde 1865 gegründet, um in Fälschungsdelikten zu ermitteln, die Fälschung von US-Währung zu verhindern und allen Gesetzen Geltung zu verschaffen, die sich auf US-Münzen und Regierungswertpapiere bezogen. Das war anfangs seine einzige Aufgabe. Erst nach dem Attentat auf Präsident McKinley wurde er zur Schutztruppe.«

Stark fuhr mit seiner Erzählung fort. »Mein Vater saß also 1944 am zweiten Auktionstag an seinem Schreibtisch, als ein paar Agenten hereinplatzten und ihm verkündeten, dass die Flanagan-Münze aus der Münzanstalt gestohlen worden war, dass sie absolut wertlos sei und dass sie sie beschlagnahmen würden, bevor sie unter den Hammer kam.«

Mike interessierte sich für die Fakten. »Von wem hatte Flanagan den ungültigen Doppeladler gekauft?«

»Genau das wollte der Secret Service wissen«, sagte Stark und machte einen leicht bekümmerten Eindruck. »Sie fragten meinen Vater auch, wo er die Informationen für den Katalogeintrag herhätte, wonach sich mindestens zehn solcher Stücke in privater Hand befänden.«

»Wusste er darauf eine Antwort?«

»Aber gewiss. Er und mein Onkel waren extrem kooperativ«, sagte Stark und lächelte wieder. »Schließlich hatten sie für die Münze die enorme Summe von 336

sechzehnhundert Dollar bezahlt. Sie hatten alle Kauf-verträge und brachten die Agenten zu dem Juwelier, der sie in seinem Safe aufbewahrte.«

»Also haben die Bundesbehörden diesen einen Doppeladler auf alle Fälle zurückbekommen«, sagte Mike.

»Darauf können Sie wetten, Detective. Es war eine der ersten Lektionen, die ich von meinem Vater gelernt habe. Und dann war dieser Hauptagent die nächsten Monate über damit beschäftigt, auch die anderen Doppeladler, von denen mein Vater gesprochen hatte, einen nach dem anderen aufzuspüren – in Phi-ladelphia, Baltimore, Memphis und London.«

»Wie viele wurden aus der Münzanstalt gestohlen?«, fragte ich.

»Zehn. Das dachte man, als man noch einmal die Prüfprobe untersuchte, die ich erwähnt habe, die einzige Gruppe von Münzen, die nicht eingeschmolzen wurde.«

»Und wie viele konnten die Bundesbehörden 1944

aufspüren?«

»Neun. Alle bis auf die, die in König Faruks Besitz gelangte.«

»Hat man jemals herausgefunden, wer sie der Münzanstalt gestohlen hatte?«

»Es scheint nichts zu geben, was diese Ermittler nicht herausgefunden haben. In dem Jahr, in dem die Doppeladler verschwanden, war ein Mann namens George McCairn der Chefkassierer der Münzanstalt –

ein Gauner, wie sich herausstellte. Er wurde später 337

wegen Diebstahls einiger anderer wertvoller Münzen aus der Münzanstalt verhaftet.«

»Also wurde er eingesperrt?«, fragte Mike.

»Für den Diebstahl dieser anderen Stücke. Was die Doppeladler angeht, wurde er nie angeklagt, weil er alles abstritt. Aber die Bundesbehörden dachten, dass die Methode die gleiche wäre. Als man die Münzen zum Wiegen brachte – und er war wohlgemerkt der Einzige, der einen Schlüssel zu den Proben hatte –, nahm er einfach zehn von ihnen aus der Tasche und ersetzte sie durch gleich schwere und gleich große Münzen, die aber wertlos waren.«

»Das alte Vertauschspiel«, sagte Mike.

»Genau. Keiner hat jemals einen Blick in die Taschen geworfen«, sagte Stark. »Und sobald man wusste, dass die Doppeladler nie gesetzliches Zahlungsmittel werden würden, überließ man sie bis zur Einschmelzung einfach ihrem Schicksal.«

»Wie ist man auf genau zehn gekommen?«, fragte Mercer.

Stark zögerte. »Auf Grund des Gewichts, das während der Münzprobe verzeichnet wurde. Besser ging es nicht.«

»Dieser Secret-Service-Agent hat verdammt schnell gearbeitet«, sagte Mike und notierte sich die Personen und Daten, die Bernard Stark erwähnt hatte. »Wie, sagten Sie, hieß der Mann?«

»Der Mann, der die Doppeladler aufspürte? Sein Name war Strait. Harry Strait.«

338

28

»Habe ich etwas Falsches gesagt?«, fragte Stark und beobachtete uns neugierig.

Wir mussten wohl alle drei gleich überrascht auf Straits Namen reagiert haben.

Mike machte sich Notizen und nahm dann den Faden wieder auf. »Nein, nein. Also, dieser Doppeladler, der nach Ägypten gelangte, wie kam der wieder hierher zurück? Was wissen Sie darüber?«

Stark schürzte die Lippen. »Nicht sehr viel. Ich glaube, diese Geschichte müssen Sie sich vom Secret Service erzählen lassen.«

Er griff nach seiner Rollkartei und notierte uns den Namen des Inspektors, mit dem er bei der Versteigerung der Münze zu tun hatte. »Harry Strait ist tot«, sagte er, »aber ich glaube, dass Ihnen dieser Mann weiterhelfen kann.«

»Aber die Münze, die Sie 2002 verkauft haben, war gültig?«

»O ja. Wir würden uns hüten, noch einmal in so einen Schlamassel zu geraten. Ich weiß nichts über die fünf Jahrzehnte, in denen die Münze in Ägypten war, aber ein bekannter britischer Händler brachte sie 1996 in die Vereinigten Staaten zurück. Wie sagen Sie zu Spitzeln?«

»Informanten?«

»Genau. Einer davon hat dem Secret Service einen Tipp gegeben; daraufhin haben sie ein paar Telefon-leitungen abgehört und den armen Vogel auf dem 339

Heimflug abgefangen. Das Ganze ging nicht ohne Prozesse, eidliche Zeugenaussagen und großes Hick-hack ab, aber letztendlich gab die Regierung zu, dass ein großer Fehler begangen worden war.«

»Schlimmer als McCairns Diebstahl?«

»Viel schlimmer. Als Faruk seinen Doppeladler kaufte, gab FDRs Finanzminister – mir fällt jetzt sein Name nicht mehr ein –«

»Morgenthau«, sagte ich. »Henry Morgenthau.«

»Ja, natürlich. Morgenthau gab also eine Exportli-zenz an die königliche Gesandtschaft von Ägypten aus, die diese eine Münze zum gesetzlichen Zahlungsmittel machte.«

»Warum?«

»Das weiß niemand genau. Wahrscheinlich um der Regierung Peinlichkeiten zu ersparen. Er wusste, dass sie außer Landes an einen König ging, den wir als Verbündeten behalten wollten, und dachte, dass nicht viel passieren würde, wenn man die Zwanzig-Dollar-Münze, die man Faruk versehentlich versprochen hatte, an die königliche Sammlung gehen ließ.«

»Als der Doppeladler dann schließlich verkauft wurde, bekamen Sie und Ihre Firma also sieben Millionen Dollar, Mr. Stark?«, fragte Mike.

»Wir haben sie uns redlich mit Uncle Sam geteilt, Detective – zu unserer beiden Zufriedenheit.«

»Nur mal angenommen, Sir, als Gedankenspiel.

Was, falls ich noch eine gestohlene Münze finden würde? Angenommen, in den vierziger Jahren haben sich alle vertan und McCairn fischte nicht zehn, son-340

dern ein rundes Dutzend aus der Tüte«, sagte Mike.

»Angenommen, ich komme morgen mit einem weiteren Asservatenbeutel in Ihr Büro und bringe Ihnen noch so ein Teil – Liberty hält die Fackel hoch, 1933

und so weiter?«

»Ohne das Zertifikat, das es zum gesetzlichen Zahlungsmittel macht – und es ist äußerst unwahrscheinlich, dass Morgenthau zwei davon unterschrie-ben hat –, wäre es nur ein hübsches Goldstück. Tragen Sie es als Glücksbringer in der Tasche oder lassen Sie es einschmelzen und einen Ring für Ihre Freundin draus machen.«

»Also ist es das Stück Papier, das die Münze so wertvoll macht?«

»Jetzt haben Sie’s kapiert.«

»Aber wie kam dieser Engländer an die Münze von Faruk?«, wollte Mercer wissen.

»Die eidesstattlichen Aussagen sind alle versiegelt. Eventuell können Sie die Agenten dazu bringen, es Ihnen zu sagen. Und dann, Ms. Cooper«, sagte Stark und stand auf, um uns hinauszugeleiten,

»wenn Sie mir einige von Ms. Ransomes Münzen zum Inventarisieren bringen, können Sie mir die ganze Geschichte erzählen. Die interessiert mich seit Jahren.«

Wir bedankten uns für seine Hilfe und machten uns durch die verschiedenen Sicherheitsschleusen wieder auf den Weg nach unten in die Lobby.

Als wir aus dem Aufzug traten, vibrierte das Handy in meiner Jackentasche. »Rufst du den Secret Ser-341

vice an und machst uns für morgen Mittag einen Termin aus?«, sagte ich zu Mike, bevor ich abhob.

»Alex?«

»Ja.«

»Christine Kiernan. Die Ortung des Handys hat geklappt.«

»Sie haben den Vergewaltiger?« Ich drehte mich zu Mercer um und reckte den Daumen in die Luft.

»Wo?«

»Genau wie Sie gesagt haben. Er stand an der Ecke 102. und Madison Avenue und telefonierte mit seiner Großmutter in der Dominikanischen Republik.«

»›Ruf doch mal an.‹ Funktioniert immer. Passt die Beschreibung auf ihn?«

»Soweit das Opfer eine geben konnte, einschließ-

lich einer Operationsnarbe in der Leistengegend. Er hatte das Handy der Medizinstudentin und zwei ihrer Ausweise.«

»Einstichspuren?«

»Ja, er ist ein Junkie. Stocknüchtern.«

»Vorstrafen?«

»Kommt drauf an, unter welchem Namen man ihn überprüft.« Sie lachte. »Sobald uns die Fingerabdrü-

cke seinen richtigen Namen verraten, wissen wir mehr. Aber er kennt das Prozedere schon. Er begrüßt jeden im Revier, als sei er dort Stammgast.«

»Soll ich hinkommen und bei der Aussage helfen?«

»Er redet nicht. Hat sofort nach einem Anwalt verlangt. Angeblich hat er das Handy auf der Straße gefunden und die Ausweise in der Mülltonne. Mehr hat 342

er nicht gesagt. Ich werde per Gerichtsbeschluss einen Speicheltest anordnen und eine Strafanzeige aufset-zen. Ich glaube nicht, dass ich Sie vor morgen damit belästigen muss.«

»Gut gemacht, Christine.«

»Danke. Bis morgen.«

Ich klappte das Handy zu.

»Wo bekommt man hier in der Gegend was Ordentliches zu trinken?«, fragte Mike.

Ich blickte auf meine Uhr: halb sieben. »Lasst es uns bei Michael’s probieren, drüben in der 55. Straße.

Dort können wir in Ruhe versuchen, Ordnung in dieses Chaos zu bringen.«

»Regnet es noch?« Mike öffnete die Tür und sah nach draußen. »Wo steht euer Auto?«

Mercer zeigte die Straße hinauf. Da Mikes Auto näher war, überquerten wir in dem leichten Nieselregen die 57. Straße und fuhren dann die zwei Blocks südlich auf der Fifth Avenue zur 55. Straße West.

Wir waren fast mit dem Essen fertig, als Mercers Pieper losging. Er verließ den Tisch, um zurückzuru-fen.

»Hast du noch immer vor, morgen nach Martha’s Vineyard zu fliegen?«, fragte Mike.

»Unbedingt. Wie sieht’s aus? Kommt ihr mit, Val und du? Ich würde mich freuen.«

Er fuhr mit dem Finger über den Rand seines Wodkaglases. »Val geht es nicht besonders gut, Alex.«

Als Mike Valerie Jacobson kennen gelernt hatte, 343

hatte sie gerade eine Mastektomie und intensive Che-motherapie hinter sich. Der Krebs war so aggressiv, dass sie sich laut Auflage der Ärzte bei jeder kleinsten gesundheitlichen Veränderung unter Beobachtung begeben musste.

»Willst du mir davon erzählen?«

»Vielleicht ist es gar nichts. Ich weiß nur, dass es ihr Angst macht, auch wenn sie will, dass ich mir keine Sorgen mache. Sie ist hauptsächlich müde, erschöpft, lustlos. Sie machen diese Woche eine ganze Reihe Tests mit ihr. Vielleicht könntest du sie anrufen und ein bisschen aufheitern.«

»Gott, wie konnte es nur so weit kommen, dass du mich darum bitten musst! Ich habe seit zwei Wochen nicht mehr mit ihr gesprochen. Zuerst mein Urlaub und dann der Prozess. Natürlich rufe ich sie an.

Glaubst du nicht, dass ihr ein paar Tage auf dem Vineyard –«

»Sie kann momentan nicht, Alex.«

»Sieh mich an, Mike.« Ich legte meine Hand unter sein Kinn, damit er mir in die Augen sah. »Vertrau mir, okay? Du musst mit mir über diese Dinge reden.

Ich kann keine Gedanken lesen.«

Mercer kam zurück und legte seine Hand auf meine schmerzende Schulter. »Trinkt aus, Leute. Wir müssen einen Boxenstopp in der Notaufnahme einlegen.«

Was vermutlich hieß, dass das Opfer eines Sexualverbrechens eingeliefert worden war und man Mercer zur Erstvernehmung eingeteilt hatte. »Eine Vergewaltigung?«

344

»Nein. Unser Kumpel Andrew Tripping wird wegen multipler Stichwunden behandelt.«

»Ist er –?«

»Er wird’s überleben. Nichts Lebensgefährliches, nur ein paar Löcher im Rücken.«

»Bellevue?«

»Nein. New York Hospital.«

York Avenue und 68. Straße. Mein Viertel.

Wir warfen einige Geldscheine auf den Tisch, um unsere Rechnung zu begleichen, und verließen das Restaurant. Es hatte aufgehört zu regnen, und der nasse Asphalt glitzerte im Scheinwerferlicht des Ge-genverkehrs, als wir zuerst in nördlicher, dann in östlicher Richtung zum Krankenhaus fuhren.

Die Krankenschwester war überrascht, uns zu sehen, vor allem nachdem wir ihr unsere Dienstmarken gezeigt hatten. Sie deutete mit dem Kopf auf eine kleine Nische, die durch einen grünen Vorhang von der Station abgetrennt war. »Er ist sediert worden.

Ich sehe besser erst nach. Ich weiß nicht, ob es eine gute Idee ist, jetzt mit ihm zu sprechen.«

Als sie davoneilte, flüsterte ich Mercer zu: »Ich weiß nicht, ob es eine gute Idee ist, überhaupt mit ihm zu sprechen. Er hat einen Verteidiger und soll morgen früh vor Richter Moffett ein Schuldgeständnis ablegen.«

»Ich kann ihm doch ein paar Fragen über die Stichwunden stellen, oder? Dieses Mal ist er das Opfer.«

»Frag vorher die Krankenschwester. Denkst du nicht, dass man ihn bereits vernommen hat? Ich 345

nehme an, dass man ihn im Krankenwagen hergebracht hat.«

Ich ging in den Warteraum, während Mike und Mercer die Nische betraten. Knapp fünfzehn Minuten später waren sie zurück.

Mike schüttelte den Kopf. »Ich werd einfach nicht schlau aus ihm. Er ist von Haus aus ein bisschen me-schugge, stimmt’s?«

»Als paranoid und schizophren diagnostiziert.«

»Also sind andauernd irgendwelche Leute hinter ihm her, richtig?«

»Meistens.«

»Für den Fall, dass du noch nicht genug Sachen hast, über die du dir Sorgen machen kannst, Coop –

Mr. Tripping war auf dem Weg zu dir.«

»Warum denn das?«

»Er konnte wohl nicht bis morgen früh warten. Ich habe ihm keine Fragen über den Prozess gestellt, ich habe ihn nur gefragt, was heute Abend passiert ist.«

»Was hat er gesagt?«

»Er redet wirres Zeug. Ich weiß nicht, ob das an ihm liegt oder an den Medikamenten. Er murmelte etwas von allen möglichen Verschwörungstheorien.

Die Anwälte haben es auf ihn abgesehen, Terroristen sind hinter ihm her, die CIA will ihn tot sehen, und er wird nie wieder seinen Jungen zu Gesicht bekommen. Was davon ergibt einen Sinn?«, fragte Mike.

»Das wüsste ich auch gern! Warum ich?«, sagte ich. »Das ist das Einzige, was mir momentan Sorgen macht.«

346

»Er sagt, er will, dass du ihn ins Gefängnis steckst.

Deshalb hätte er dich gesucht.«

»Den Gefallen tu ich ihm gern«, sagte ich. »Aber dafür braucht er nur vor Gericht zu erscheinen. Mir gefällt die ganze Sache nicht. Und wer hat ihn verfolgt und überfallen? Was hat er gesagt?«

Mercer beschrieb mit der Hand einen Kreis. »Er ist sich nicht sicher, hat nichts gesehen, kann niemanden beschreiben –«

»Das ist doch lächerlich. Herrgott noch mal, er behauptet, CIA-Agent gewesen zu sein.«

»Du hast dich gestern Abend bei deinem Verfolger auch nicht besser angestellt«, sagte Mike.

Ich wirbelte herum, aber mir fiel leider keine Antwort ein. »Was sagen die Ärzte? Wie ernst ist es?«

»Nicht sehr ernst«, sagte Mercer. »Der Assistenz-arzt hat in der Krankenakte vermerkt, dass er unter psychiatrische Beobachtung gestellt werden soll. Er schließt nicht aus, dass sich Tripping die Stichwunden selbst zugefügt hat.«

»Wie kommt er denn darauf?«

»Er hat viele kleine Stichwunden weiter oben im Rücken. Alle nicht lebensgefährlich und alle an Stellen, die man selbst mit dem Messer erreichen könnte.«

»Großartig. Das ist eine narrensichere Methode, Zeit zu schinden, anstatt morgen in den sauren Apfel zu beißen und sich schuldig zu bekennen. Es muss einen Grund geben, warum er nicht ins Gefängnis will.«

»Heute behauptet er das Gegenteil, Alex. Er sagt, 347

dass das Gefängnis der einzige Ort sei, an dem er in Sicherheit sein würde.«

29

»Halb zehn! Wo ist die Zeit nur hin?«, fragte ich Mi-ke und Mercer, als wir meine Wohnung betraten.

»Kann mir einer von euch einen Drink machen?«

Sie gingen in die Küche, während ich im Schlafzimmer in ein Paar Jeans schlüpfte und meinen Anrufbeantworter abhörte. Ich hatte ein paar private Anrufe, unter anderem eine Nachricht von Jake, und eine eher kühle Nachricht von Peter Robelon.

»Alex? Hier spricht Peter. Ich habe gerade einen Anruf von der Notaufnahme des New York Hospital erhalten. Andrew Tripping ist heute Abend überfallen worden. Sie werden ihn nach der Behandlung wieder nach Hause schicken, aber ich glaube nicht, dass er bis zur morgigen Gerichtsverhandlung wieder fit sein wird. Ich werde eine Vertagung beantragen. Und, Alex? Halten Sie Ihre Cops von Andrew fern. Das hat nichts mit Ihrem Fall zu tun, okay?«

Als ich ins Wohnzimmer kam, hatten es sich die Jungs mit ihren Drinks vor dem Fernseher gemütlich gemacht. Das Spiel der Yankees war auf Grund einer Regenpause erst im fünften Inning. Da ich fürs Erste abgeschrieben war, streckte ich mich auf dem Sofa aus und nippte genüsslich an meinem Scotch.

348

Ich setzte die beiden um Mitternacht vor die Tür und verabredete mit Mercer, dass er mich am Morgen abholen und zur Gerichtsverhandlung begleiten würde.

Am nächsten Vormittag betraten wir gemeinsam um Punkt neun Uhr dreißig Richter Moffetts Gerichtssaal. Außer den Anwälten des Jugendamtes und des Waisenhauses war noch niemand da. Da ich es nicht mochte, wenn sich mein Gegner in meiner Abwesenheit mit Moffett unterhielt, beschloss ich, dem Richter auch nichts von der Messerstecherei zu er-zählen.

Fünfzehn Minuten später hielt der Gerichtspolizist die Tür auf, und Peter Robelon schob Andrew Tripping im Rollstuhl in den Saal. Graham Hoyt ging ein paar Schritte hinter ihnen und trug Robelons Prozessakten.

Ich sah Mercer an und verdrehte die Augen.

»Was ist das, Mr. Robelon? Ein kleiner Unfall?«

»Ich wünschte, dem wäre so, Euer Ehren. Leider ist es sehr viel ernster. Mein Mandant ist gestern Abend überfallen und in einem sinnlosen Akt der Gewalt mehrmals in den Rücken gestochen worden.«

»Wissen Sie darüber Bescheid, Alexandra?«, fragte der Richter.

»Ich bin der Meinung, dass es nicht so ernst ist, wie es aussieht, Euer Ehren.«

»Jetzt ist Ms. Cooper auch noch Ärztin«, sagte Robelon. »Mr. Tripping wurde heute Nacht um zwei Uhr aus dem Krankenhaus entlassen. Er hat starke 349

Schmerzen und muss diverse Nachuntersuchungen einhalten. Er … er kann nicht einmal aus diesem Stuhl aufstehen.«

»Das ist lächerlich, Euer Ehren. Er hat ein paar leichte Stichverletzungen oben am Rücken. Ich bin darüber informiert. Falls Sie es ihm befehlen würden, ist er durchaus in der Lage, aufzustehen und das Schuldgeständnis abzulegen, über das die Verteidigung und ich gesprochen haben –«

Moffett drohte mir mit seinem Hammer. »Als ich das letzte Mal auf die Anweisung eines Ihrer Kollegen hin so vorgegangen bin, junge Lady, habe ich mir eine Verwarnung vom Berufungsgericht eingefangen.«

Ich hatte den falschen Nerv getroffen. Vor einigen Jahren war ein Kollege in einem Fall, der Boulevard-schlagzeilen machte, von den Cops reingelegt worden.

Der Angeklagte war ein Berufsverbrecher und notori-scher Simulant, der schon des Öfteren Krankheiten vorgetäuscht hatte, um einem Prozess aus dem Weg zu gehen. Als er wegen einer Mordanklage dem Richter vorgeführt wurde, versicherte der Polizist, der die Festnahme vorgenommen hatte, dem jungen Staatsanwalt, dass der Mörder entgegen seiner Beteuerun-gen aus dem Rollstuhl aufstehen und vor das Gericht treten könne.

Der Anwalt leitete die Nachricht dem Richter weiter. Keiner von beiden konnte wissen, dass der Bruder des Mordopfers dem Angeklagten kurz zuvor die Kniescheiben zertrümmert hatte. Moffett brüllte den 350

Kerl fünf-, sechsmal an und drohte ihm mit einer Anklage wegen Missachtung der Justiz, falls er sich weigerte aufzustehen. Als der Mann es schließlich versuchte, brach er zusammen, woraufhin der Rechtshilfeverein eine Beschwerde gegen Moffett einbrachte, die ihn fast seine Wiederernennung gekostet hätte.

»Euer Ehren, wenn Sie uns eine kleine Verschnaufpause gönnen, gibt es in der Tat Fortschritte zu vermelden. Ms. Cooper und ich hatten eine Unterredung.

Mein Mandant hat mich ermächtigt, das Angebot der Staatsanwaltschaft anzunehmen, sich eines geringfü-

gigeren Delikts für schuldig zu erklären. Wir hatten den festen Vorsatz, heute Vormittag damit fortzufah-ren, aber angesichts Mr. Trippings Gesundheitszu-stand und seiner Verletzungen –«

»Euer Ehren, das ist lächerlich. Ja, wir hatten uns über ein Schuldgeständnis unterhalten. Diese … diese plötzlichen Kratzer auf dem Rücken des Angeklagten sind nichts weiter als eine Absicherung für Mr. Robelons geplante Strategie. Obwohl er mir versichert hat, den Fall abschließen zu können, wollte er seinen Mandanten noch länger auf freiem Fuß lassen. Ich erwiderte, dass ich darauf nicht eingehen würde, und nun hat er sich offensichtlich dieses Theater hier ausgedacht, um noch mehr Zeit zu gewinnen.«

»Wofür sollte er die Zeit brauchen, Alexandra?

Wenn er sich schuldig bekennt, bekommt er ein, zwei Wochen Zeit, um sich um alles Notwendige zu kümmern. Was soll das Ganze?«

»Ich habe keine Ahnung, warum er mehr Zeit will.

351

Vielleicht hat er nicht vor, ins Gefängnis zu gehen.

Vielleicht plant er, sich der Festnahme zu entziehen.

Vielleicht –«

Robelon war außer sich. »Hören Sie auf herumzu-fantasieren, Ms. Cooper! Wann machen Sie endlich Schluss damit, das Gericht mit Ihren Hirngespinsten gegen den Angeklagten einzunehmen?«

»Sehen Sie ihn an, Alexandra.« Moffett zeigte auf Tripping, der tief in seinen Rollstuhl gerutscht war und beide Arme über die Lehnen hängen ließ. »Er kann sich nicht einmal aufrecht halten. Haben Sie irgendwelche Medikamente erhalten, Mr. Tripping?«

Tripping wirkte benommen und antwortete nicht.

Moffett versuchte es noch einmal. »Mr. Tripping, hören Sie mich?«

»Es tut mir Leid, Euer Ehren. Ich habe schreckliche Schmerzen –«

Robelon fiel ihm ins Wort. »Ich möchte nicht, dass die Aussagen meines Mandanten protokolliert werden, Euer Ehren. Man hat ihm als Schmerzmittel ein Morphinderivat verabreicht. Offensichtlich«, sagte er mit einem höhnischen Lächeln an meine Adresse, »ist jemand der Ansicht, dass er Schmerzen hat.«

»Also gut, wir machen Folgendes: Ms. Cooper, Sie unterliegen. Ich kann kein Schuldgeständnis von jemandem entgegennehmen, der mit Betäubungsmit-teln voll gepumpt ist.«

»Das tun Sie doch jeden Tag, Euer Ehren. Nur andere Betäubungsmittel.«

»Der Junge, Dallas –«

352

»Dulles«, korrigierte ich ihn.

»Dallas, Dulles, wie auch immer – ist er in Sicherheit?«

»Es geht ihm gut«, sagte Robelon. Hoyt, Taggart und Irizarry nickten wie eine Reihe von Wackelpup-pen.

»Wir vertagen die Angelegenheit auf Anfang Oktober. Falls ich ihn heute ein Schuldgeständnis ablegen lasse, wird er es später widerrufen wollen. Wir würden nur unsere Zeit verschwenden.«

Ich hatte keine Chance, aber es gab noch eine Sache, die das Gericht wissen sollte. »Euer Ehren, sind Sie sich bewusst, dass sich dieser Vorfall – diese Farce

– nur zwei Blocks von meinem Haus entfernt abge-spielt hat?«

»Sie haben sie wirklich nicht mehr alle, Alex«, sagte Robelon ruhig, bevor er aufstand und sich erneut an das Gericht wandte. »Euer Ehren, dieser Überfall ereignete sich einen Block vom Frick-Museum, einen Block von der ukrainischen Botschaft, einen Block vom neunzehnten Polizeirevier. Glücklicherweise leidet keiner der Insassen dieser Gebäude unter Verfol-gungswahn. In dieser Stadt herrscht kein Kriegsrecht, oder? Mr. Tripping hat sich einfach einen schönen Abend auf der Upper East Side gemacht.«

»Euer Ehren, er hat der Polizei gesagt, dass er auf dem Weg zu mir war. Sie wissen, dass ich in der Hinsicht nicht zur Panik neige, aber mich beunruhigt der Gedanke, dass der Angeklagte einen legitimen Grund zu haben glaubte, um mit mir zu sprechen.«

353

»Ist das die Wahrheit, Sir? Sie konnten nicht bis heute Vormittag warten, um mit Ms. Cooper zu sprechen?«

Robelon beugte sich zu Tripping hinab, legte ihm die Hand auf den Arm und riet ihm, nicht zu antworten. Dann richtete er sich wieder auf. »Mein Mandant sagt, das sei absolut lächerlich. Das ist eine Lüge.«

»Zweiter Oktober, Punkt neun Uhr dreißig. Wir nehmen Ihr Schuldgeständnis entgegen, und Sie können sich darauf einstellen, noch am selben Tag verurteilt zu werden. Bringen Sie Ihre Zahnbürste und Ihren Pyjama mit, Mr. Tripping. Das nächste Mal lasse ich keine Ausflüchte mehr gelten.« Moffett sah mich an. »Möchten Sie ein Näherungsverbot, Ms. Cooper?«

Dieses Stück Papier würde mir gar nichts nützen, falls Tripping durchdrehte. »Eine Ermahnung wird genügen, Sir. Sagen Sie dem Angeklagten, dass er vor Gericht oder durch seinen Verteidiger mit mir kom-munizieren kann, falls er mir etwas zu sagen hat.«

»Noch ein letzter Punkt, wenn Sie gestatten«, sagte Robelon. »Ich hatte Ms. Cooper um ihre Zustim-mung gebeten, damit sich Mr. Tripping und sein Sohn noch einmal sehen können. Alle Ärzte sind der Ansicht, dass es für beide der gesündeste Weg wäre, sich zu verabschieden.«

Ich gab mich geschlagen. »In Ordnung. Solange das Treffen unter Aufsicht stattfindet und nur unter der Bedingung, dass es sofort beendet wird, falls der Angeklagte irgendetwas tut, das den Jungen aufregt.«

»Dann ist mein letzter Tagesordnungspunkt«, sag-354

te Moffett, »die Anklage wegen Vergewaltigung gegen den Beschuldigten abzuweisen, habe ich Recht, Mr. Robelon?«

»Das ist korrekt, Euer Ehren.«

Ich verließ den Gerichtssaal, während das Team der Verteidigung sich noch demonstrativ gegenseitig auf die Schulter klopfte.

»Wo ist Mercer?«, fragte ich Laura.

»Ich soll Ihnen ausrichten, dass ihn ein Detective Squeeks – wenn ich den Namen richtig verstanden habe – wegen des Mordes an Vallis ins erste Revier zitiert hat. Reine Routinesache. Man wollte ihm noch ein paar Fragen über Ihren ursprünglichen Fall stellen. Er hat gesagt, dass er pünktlich um zwölf Uhr zu Ihrer Verabredung drüben in der Federal Plaza sein wird.«

Die Detectives, die sich um den Mord an Vallis kümmerten, strengten sich sichtlich an, mich außen vor zu halten.

Ich kümmerte mich um den Stapel Korrespondenz auf meinem Schreibtisch, erledigte einige Telefonate und holte die Tripping-Akte aus meinem Aktenschrank, damit ich auf Martha’s Vineyard den Schluss-bericht schreiben konnte. Ich riet meinen Mitarbeitern ständig, sich schriftlich abzusichern. Es gab immer wieder eigenartige Angeklagte wie Andrew Tripping, die garantiert irgendwann erneut mit der Justiz in Berührung kommen würden; folglich dokumentierte man besser, warum eine frühere Anklage fallen gelassen worden war.

355

Als ich die Unterlagen zusammensuchte, fand ich hinten im Aktenschrank Dulles’ Yankeejacke. Sie mir zu überlassen war eine letzte freundliche Geste von Paige Vallis gewesen, und ich hatte gehofft, durch sie mit dem Jungen leichter ins Gespräch zu kommen. Da ich ihn jetzt nicht mehr vernehmen musste, stopfte ich sie in eine Mappe, um sie Robelon oder Hoyt zu geben.

»Ich fahre wahrscheinlich direkt nach diesem Meeting zum Flughafen, Laura. Falls mich jemand sprechen will – ich bin die nächsten Tage auf Martha’s Vineyard, um etwas Abstand zu gewinnen. In der Zwischenzeit ist Sarah der Boss«, sagte ich und schloss hinter mir ab.

Das Jacob Javits Federal Office Building lag nur ein paar Straßen südlich von meinem Büro auf dem Foley Square. Der moderne Wolkenkratzer aus Granit und Glas beherbergte eine ganze Reihe von Regierungsbehörden, und ich hatte schon des Öfteren dort zu tun gehabt, meistens im Zusammenhang mit gemeinsamen Ermittlungen mit dem FBI.

Auf der Federal Plaza waren die Sicherheitsvorkeh-rungen wie üblich streng. Ich zückte meinen Foto-ausweis und stellte mich in die Schlange für Regie-rungsangestellte. Als ich meinen Aktenordner und mein Handy aus dem Metalldetektor nahm, sah ich auf der anderen Seite der Lobby ein bekanntes Gesicht. Ich war mir sicher, dass es der Mann war, der sich Paige gegenüber als Harry Strait ausgegeben hatte.

356

Ich raffte meine Sachen zusammen und heftete mich an seine Fersen, wobei ich Dutzenden von Leuten ausweichen musste, die rein- oder rauswollten und mit ihren nassen Schuhen den Fliesenboden zur Rutschbahn machten.

Solange Strait in Sichtweite war, wollte ich nicht zu laufen anfangen. Um mich herum waren genug bewaffnete Männer, die mich zur Seite nehmen würden, falls ich einen hysterischen oder durchgeknallten Eindruck machte.

Er schien allein zu sein und verließ das Gebäude durch den Ausgang zur Duane Street, einer schmalen Einbahnstraße, die den Broadway kreuzte und am Foley Square beim Bundesgericht endete. Er blieb kurz stehen und sah sich um, bevor er die Stufen zum Gehsteig hinabging.

Jetzt war ich bis auf wenige Meter an ihn herange-kommen. Ich hielt in der Menschenmenge nach jemandem Ausschau, der mir dabei helfen könnte, den Kerl zu stellen. Ich hatte leichte Verspätung zu unserem Meeting und hoffte insgeheim, dass Mike oder Mercer auch unpünktlich waren.

Ich hielt einem uniformierten Wächter in der Nähe des Ausgangs meinen Ausweis unter die Nase. »Arbeiten Sie hier?«

»Ja, Ma’am.«

»Ich muss meinen früheren Chef einholen«, sagte ich und reichte ihm meinen Ordner. »Könnten Sie kurz darauf aufpassen?«

Er zögerte, sah dann aber den Aufkleber mit dem 357

Emblem der Bezirksstaatsanwaltschaft und dem Vermerk TÖTUNGSDELIKT. Er nahm den Ordner und rief mir hinterher: »Um zwei Uhr werde ich abgelöst.«

Ich reckte den Daumen empor und folgte Strait, der nach Westen ging. Als ich nur noch eineinhalb Meter hinter ihm war, rief ich seinen Namen: »Harry?«

Keine Reaktion.

»Harry Strait«, rief ich lauter.

Im Weitergehen drehte der Mann den Kopf und entdeckte mich. Übergangslos beschleunigte er seine Schritte und bog nach links in die Straße, die am Af-rican Burial Ground, dem denkmalgeschützten Friedhof afrikanischer Sklaven, vorbeiführte. Ich folgte ihm und schlängelte mich durch die Autos, die bei Rot an der Ampel anhalten mussten.

Jetzt fing er an zu rennen, und die Entfernung zwischen uns wurde zunehmend größer. Er schubste andere Passanten beiseite und war weg, noch ehe sie ihrem Ärger Luft machen konnten. Stattdessen bekam ich ihren Unmut ab. »Hey, wo zum Teufel müssen Sie denn so eilig hin?«

»Langsamer, junge Lady!«

Als er den Broadway überquerte, schaltete die Fuß-

gängerampel vor mir auf Rot. Die Autos hupten mich an, als ich mich zu weit vorwagte und ungeduldig ei-ne Lücke im Verkehr abwartete. Während ich mich durch die Schlange vor dem McDonald’s kämpfte, sah ich Strait in Richtung Church Street gehen.

Er bog erneut ab, in eine kleine Gasse namens 358

Thimble Place. Ich war jetzt völlig außer Atem. Ich war in der High School Langstreckenschwimmerin gewesen, aber nie gut im Laufen.

Als ich von Thimble Place in die Thomas Street einbog, blieb ich kurz stehen und verschnaufte. Eine schwarze Limousine scherte aus einer Parklücke aus.

Ich holte tief Luft und lief auf das Auto zu, während Strait – oder wie auch immer er in Wirklichkeit hieß

– mit der linken Hand am Türgriff zog und den Fahrer anschrie: »Verdammt noch mal, mach endlich auf!«

Als ich auf ihn zueilte, drehte er sich um und richtete eine Pistole auf mich. »Keinen Schritt weiter!

Verschwinden Sie!«

Er stieg ein, und das Auto raste in Richtung Broadway davon. Ich hätte schwören können, dass der Mann am Steuer Peter Robelon gewesen war.

30

»Natürlich hat er eine Pistole«, sagte Mike. »Er ist Agent.«

Mike, Mercer und ich warteten im Empfangsbe-reich des Büros des Secret Service.

»Woher zum Teufel willst du wissen, dass er Agent ist?«, fragte ich. »Wir haben keine Ahnung, wer er ist. Er hat mich vor zwei Stunden mit einer Waffe bedroht, und du nimmst ihn in Schutz?«

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»Jetzt mal langsam, Blondie. Du hast ihn hier im Gebäude gesehen, in der Mittagsstunde, wo die Si-cherheitsmaßnahmen straffer sind als deine Strumpf-hosen. Vermutlich ist er echt. Vielleicht hatte der alte Harry einen Sohn. Vielleicht ist er ein Strait junior –

Agent Harry Strait der Zweite. Irgendwie muss er ja hier rein- und rausgekommen sein, ohne dass es Stunk gegeben hat. Ich möchte schwer bezweifeln, dass er dich mit der Waffe bedrohen wollte. Er hatte sie wahrscheinlich aus einem guten Grund gezogen.«

»Und wenn ich es dir sage: Ich war dieser Grund.«

»In Ordnung. Wir haben es gemeldet. Du hast das Nummernschild zum Teil gesehen, und bis heute Abend werden wir wissen, wem das Auto gehört. Du bist dem Kerl wie eine Furie hinterhergejagt. Vielleicht glaubte er, sich verteidigen zu müssen.«

»Wie können wir herausfinden, wer er ist? Es muss von jedem, der hier in Federal Plaza arbeitet, Foto-ausweise geben.«

»Du konntest vorgestern nicht einmal den FBI-Agenten beschreiben. Willst du jetzt hier sitzen und tausende Fotos von weißen Männern mit Bürsten-schnitten und teigigen Gesichtern anschauen?«

»Ja, zum Beispiel. Ich habe ihn heute in der Menge sofort wiedererkannt.«

Es war kurz vor zwei Uhr. Wegen meiner Verspä-

tung war uns die Mittagspause dazwischengekom-men, und der Agent, der sich bereit erklärt hatte, mit uns zu sprechen, hatte einen anderen Termin einhalten müssen.

360

Eine gepflegte Frau, jünger als ich, kam auf uns zu.

»Alvino. Lori Alvino. Tut mir Leid, was Ihnen heute passiert ist. Haben Sie Ihren Mann gekriegt?«, fragte sie und gab mir die Hand.

»Das tut sie nie, jedenfalls nicht für lange. Fangen Sie nicht auch noch an, sich darüber Gedanken zu machen. Ich bin Mike Chapman. Das hier sind Mercer Wallace und Alex Cooper.«

Sie führte uns in ihre Bürosuite, die ein gutes Stück größer war als die meisten Agentenkämmer-chen, die ich im Laufe der Jahre gesehen hatte.

»Sie müssen ganz schön was zu sagen haben, Lori«, sagte Mike. »Große Bude, Glaswände, toller Blick auf die Brooklyn Bridge.«

»Ich weiß, wo das Geld ist«, sagte sie und grinste.

»Dafür lieben mich die Bundesbehörden. Mein Auf-gabenbereich ist es, alle Vermögenswerte der Bundesmünzanstalt im In- und Ausland wiederzuerlangen. Mein Boss sagt, ich soll Ihnen alles erzählen, was ich über die Münzsammlung von König Faruk weiß, stimmt das?«

»Ja, Ma’am.«

Alvino bestätigte, was wir bereits von Bernard Stark wussten, und knüpfte da an, wo er aufgehört hatte. »Die US-Regierung hat damals regelmäßig mit Faruks Leuten zusammengearbeitet. Das war während des Zweiten Weltkriegs, um 1944. Faruk war damals bereits König – vierundzwanzig Jahre jung und reicher als Krösus.«

»Hat er damals schon Münzen gesammelt?«

361

»Und ob. Seine Händler waren überall in den Vereinigten Staaten verstreut. Sie überschlugen sich beinahe, um ihm etwas Ungewöhnliches unter die königliche Nase zu halten. Je teurer, desto besser.«

»Wie kamen die Münzen nach Ägypten? Hat man so kleine Wertsachen einfach verschickt?«

»Auf keinen Fall. Faruk tätigte seine Käufe über die königliche Gesandtschaft und ließ sich die Sachen regelmäßig mit diplomatischem Kuriergepäck schicken.

Praktisch jede Woche. Und glauben Sie mir – seine Leute kannten alle Vorschriften.«

»Welche Vorschriften?«

»Nachdem FDRs Gold Reserve Act rechtskräftig wurde, war der Export von Gold illegal, außer das Finanzministerium erteilte eine Sonderlizenz.«

»Nicht einmal ein einziges Goldstück?«, fragte ich.

»Eine einzige Münze?«

»Nicht einmal das«, antwortete Lori Alvino. »Um diese Lizenz zu bekommen, musste man beweisen, dass die Münze, die man ins Ausland verschicken wollte, vor 1933 – das heißt, bevor wir aus dem Goldstandard ausgetreten sind –, einen besonderen Samm-lerwert gehabt hatte.«

»Wie hat man das bewiesen?«

»Das war Sache der Kuratoren des Schlosses.«

»Welches Schloss?«, fragte ich verwirrt.

»Entschuldigen Sie bitte. Ich rede vom Smithsonian Institute – wir nannten es früher das Schloss, wegen seines Hauptgebäudes, des roten Sandsteinschlosses.

362

Die Experten am Smithsonian entschieden über die Einzigartigkeit der jeweiligen Münze.«

»Kam das oft vor?«, fragte ich.

»Eigentlich eher selten«, antwortete Alvino. »Während des Krieges hatten die Leute andere Sachen im Kopf als ihre Münzsammlungen. Der gesamte europäische Markt brach praktisch zusammen, und damit hatte Faruk sozusagen freie Hand.«

Mercer beugte sich vor. »Das fällt zwar nicht gerade unter Vor- und Frühgeschichte, aber es hat doch auch recht wenig mit Ihren heutigen Aufgaben zu tun. Wie kommt es, dass Sie so gut darüber Bescheid wissen? Haben Sie in letzter Zeit einen Auffrischungskurs absolviert?«

Alvino wurde rot. »Ich hatte vor ein paar Wochen Gelegenheit, die Akten durchzusehen, weil jemand anderer ebenfalls Einsicht in diese ganzen Papiere nehmen wollte«, sagte sie und zeigte auf mehrere Ordner mit Dokumenten über Faruks Sammlung.

Chapman schenkte ihr sein bestes Vertrauen-Sie-mir-und-Sie-werden-gar-nicht-merken-dass-ich-Sie-reinlege-Grinsen. »Jemand, den ich kenne, Lori?«

Sie erwiderte sein Lächeln und zuckte mit den Schultern. »Da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen. Ich hatte Anweisung von meinem Boss, all das hier für eine Präsentation zusammenzustellen, die er vor ein paar Regierungsbeamten halten musste. Zu dem ei-gentlichen Meeting war ich nicht eingeladen, also weiß ich nicht, wer daran teilgenommen hat.«

Mike fuhr sich durch sein dichtes, schwarzes Haar 363

und schaltete in seinen ernsthaften Modus. Er wollte Informationen, und wenn er dafür bluffen musste.

»Ich muss einen Mord aufklären. Der Lieutenant hat mir gesagt, dass diese Kerle ganz schön gefährlich sind«, sagte er mit einem Seitenblick auf Mercer.

»Und jetzt verschwende ich kostbare Zeit damit, etwas herauszufinden, was Sie schon längst wissen.«

Lori registrierte seine Ungeduld und wollte behilflich sein. »Reden wir Ihrer Meinung nach von denselben Leuten?«

»Sie waren hier, um mit Ihrem Boss über Faruk zu sprechen, richtig?«

Lori bejahte.

»Lassen Sie uns sichergehen, dass wir auf der gleichen Wellenlänge liegen. Auf welche Münzen aus Faruks Sammlung haben Sie sich konzentriert?« Mike blätterte in seinem Notizblock, als würde er nach bestimmten Namen suchen, die er mit ihren Aussagen vergleichen könnte.

»Ich habe ihnen verschiedene Informationen zu-sammengestellt – über einige Silbermünzen aus der Zeit des Bürgerkrieges und einige Goldbarren aus San Francisco von circa 1849. Aber Lob bekam ich nur für meine Recherchen über den Doppeladler.«

Mike schlug sich mit dem Block auf das Knie. »Da-für schulde ich Ihnen was, Lori. Ich glaube, über die Bürgerkriegsstücke haben wir bereits alles, was wir brauchen. Für die anderen beiden interessieren wir uns auch. Haben Sie schon mal einen Mord aufge-klärt?«

364

»Nein, hab ich nicht.« Sie war jetzt ebenfalls ernst.

»Es gibt nichts Befriedigenderes. Sagen Sie uns, was Sie über die Barren und den großen Vogel wissen. Sie sind eine Partnerin ganz nach meinem Herzen.«

»Gewiss«, sagte Lori Alvino. Sie erzählte uns zehn Minuten lang von Faruks Objekten aus der Zeit des Goldrausches – wo sie herkamen und wie sie aussahen. So wie es klang, waren es zwar schöne und ungewöhnliche Stücke, aber viel zu viele – und vermutlich auch zu großformatig –, als dass sie zu McQueen Ransomes Beständen gehört hätten.

»Haben Sie schon mal von Max Mehl gehört?«, fragte Alvino.

Wir schüttelten alle drei den Kopf.

»Er war ein Händler. Aus Texas, glaube ich. Er stellte den ersten Kontakt zu König Faruk her, als er das herrliche Zwanzig-Dollar-Goldstück verkaufen wollte.« Wir hörten ihr aufmerksam zu, während sie weitersprach. »Mehl wusste von der Gier des Königs nach seltenen und schönen Sachen. Er hat Faruk nicht nur von der Einzigartigkeit der Münze überzeugt, sondern ihm auch versichert, dass er sie außer Landes bekommen würde.«

»Wie hat er das angestellt?«, fragte ich.

»Noch am selben Tag, an dem Faruk sein Interesse an der Münze bekundete, rief Mehl im Finanzministerium an. Die Leiterin der Münzanstalt brachte den Doppeladler höchstpersönlich ins Schloss.«

»War das normal?«, fragte Mercer.

365

»Machen Sie Witze? An dem Flug dieses Vogels war nichts normal.«

Je mehr sie darüber sprach, desto überzeugter war ich, dass wir auf der richtigen Spur waren.

»Ebenfalls noch am selben Tag«, fuhr Alvino fort,

»prüfte der Kurator die Münze und erklärte sie für besonders wertvoll, da sie auf die Zeit vor der Präsidentenorder von 1934 zurückdatierte. Nach Ansicht meines Bosses stand er dabei, offen gesagt, so unter Druck, dass er nicht einmal wusste, was er unter-schrieb.«

»Aber er erklärte sich bereit, die Lizenz anzufor-dern, die die Münze zum gesetzlichen Zahlungsmittel machte?«, fragte ich.

»Wahrscheinlich aus Unwissenheit. Keine Anzeichen von Bestechung, obwohl einige da anderer Meinung sind. Wie dem auch sei, er ersuchte um die Genehmigung, durch die das Zwanzig-Dollar-Stück letztendlich ein kleines Vermögen wert war.«

»Beim Finanzminister höchstpersönlich?«

»Ganz genau. Dann nahmen die Beauftragten des Königs die Münze an sich, verstauten sie im Kuriergepäck und brachten sie persönlich nach Kairo in Faruks Vergnügungspalast.«

»Wann war das?«

»Das war ja die Ironie bei der ganzen Sache. Wie Sie wissen, sind einige dieser 1933 geprägten Münzen ein paar Jahre später gestohlen worden. Tausende wurden eingeschmolzen, weil wir aus dem Goldstandard ausgetreten sind.«

366

»Das ist uns bekannt.«

»Die königliche Gesandtschaft holte Faruks Doppeladler am 11. März 1944 aus der Münzanstalt ab«, sagte Alvino mit einem Blick auf ihre Notizen. »Exakt eine Woche später erfuhr der Secret Service, dass die Gebrüder Stark eine weitere der angeblich nicht existierenden Münzen versteigern wollten. Sie waren stocksauer.«

»Hat unsere Regierung jemals versucht, die Münze von Faruk zurückzubekommen?«

»Natürlich, Detective. Meine Vorgänger wussten, dass Morgenthau die Lizenz versehentlich erteilt hatte. Sie versuchten, sie auf diplomatischem Wege zu-rückzubekommen«, sagte Alvino. »Aber bedenken Sie das Datum. Wir befanden uns mitten im Zweiten Weltkrieg. Ägypten war ein wichtiger Punkt auf der Landkarte, da es den Suezkanal und die Durchfahrt zum Indischen Ozean kontrollierte. Niemand wollte wegen eines gestohlenen Doppeladlers die Pferde scheu machen.«

Wie nebensächlich musste den Diplomaten inmitten der Kriegswirren ein Goldstück im Wert von zwanzig Dollar erschienen sein!

»Und nach Kriegsende?«, fragte Mercer.

Alvino kramte in den Dokumenten auf ihrem Schreibtisch. »Ich kann Ihnen den Brief zeigen, in dem mein Vorgänger den König um Rückgabe des Doppeladlers bat. Leider erforderte es das Protokoll, für jegliche Korrespondenz mit ausländischen Regie-rungen zuvor die Genehmigung des Außenministeri-367

ums einzuholen. Sie wurde nicht erteilt.«

»Warum?«

»›Politisch nicht ratsam‹ lautete die offizielle Formulierung. Der Arabisch-Israelische Krieg von 1948

zeichnete sich als nächster internationaler Konflikt-herd bereits ab, und zu dem Zeitpunkt war Faruk im In- und Ausland schon äußerst unbeliebt. Er hatte andere Sorgen als die Rückgabe des Adlers.«

»Glauben Sie, dass damals irgendjemand ihren zu-künftigen Wert voraussehen konnte?«

Sie lachte. »Vielleicht in der Größenordnung von ein paar tausend Dollar. Sieben Millionen waren damals eine astronomische Summe. Das hätte niemand für möglich gehalten.«

»Sieben Millionen sind noch immer ziemlich ab-gefahren, wenn Sie mich fragen«, sagte Mike. »Al-so, der Dicke wird 1952 entthront. Er geht ins Exil nach …?«

»Rom«, antwortete Alvino. »Er liebte la dolce vita.

In jungen Jahren nannte man ihn den Nachtschwärmer.«

»Das haben wir gehört«, sagte Mike.

»Alte Gewohnheiten legt man nicht so schnell ab.

Er zog nach wie vor jede Nacht von einem Club zum nächsten – Hunt Club, Piccolo Slam, Boîte Pigalle, Via Veneto. Er düste nach Monaco zu Grace Kellys Hochzeit mit seinem Kumpel Prinz Rainier. Der ewige Playboy.«

»Weiß man, ob er bei seiner Flucht aus Ägypten den Vogel dabei hatte oder nicht?«, fragte Mike.

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»Gute Frage«, erwiderte Alvino. »Ich bin mir nicht sicher, ob irgendjemand die Antwort darauf weiß. Die ägyptischen Revolutionäre unter der Führung von General Nasser zwangen Faruk, das meiste zurückzulassen. Aber er hat in den Monaten vor seiner Ver-bannung eindeutig genug Geld, Schmuck und Wertsachen außer Landes geschafft, um auch im Exil den Rest seines Lebens in Saus und Braus zu leben.«

»Der Mann ohne Heimat. Aber womöglich mit einem Doppeladler«, sagte Mike und überschlug in Gedanken die Chronologie. »Er bekam also 1944 die Münze, verließ 1952 Ägypten – und die Münze kam schließlich wann wieder zum Vorschein?«

»Erst knapp fünfzig Jahre später. Man war davon ausgegangen, dass sie in Kairo zurückgeblieben war, als sie 1955 in einem Auktionskatalog von Sotheby’s von Faruks Schätzen auftauchte. Sobald die Secret-Service-Agenten davon Wind bekamen, forderten sie die ägyptische Regierung über den amerikanischen Konsul auf, den Doppeladler aus der Auktion zu entfernen und ihn an die Vereinigten Staaten zurückzugeben.«

»Also kam die Münze nie unter den Hammer?«

»Richtig. Aber wir haben sie auch nicht zurückbekommen«, sagte Alvino. »Nassers Berater behaupteten, dass das Ganze ein großes Missverständnis sei.

Dass Faruk sie mitgenommen hätte. Dass sie in Ägypten seit Jahren keiner mehr gesehen hätte. Sie verschwand von der Bildfläche – spurlos und ohne Erklä-

rung.«

»Die Münze, die die Gebrüder Stark im Jahr 2002

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versteigert haben – Faruks Siebenmillionen-Dollar-Adler – wann kam die wieder hierher zurück?«, fragte Mike.

»Erst 1996, über fünfzig Jahre nachdem man sie dem König von Ägypten geliefert hatte.«

»Wer hat sie zurückgebracht?« Die verschlungenen Wege der Münze machten mich neugierig.

»Ein prominenter englischer Münzhändler arran-gierte ein, wie er dachte, privates Treffen mit einem amerikanischen Kollegen. Frühstück im Waldorf-Astoria.«

»Sie haben dieses schadenfrohe Grinsen auf dem Gesicht, Lori«, sagte Mike. »Heißt das, Ihre Jungs haben unter dem Tisch gelauert?«

»Ganz recht. Ein paar abgehörte Telefonate und an-gezapfte Leitungen später, und der Secret Service übernahm die Rechnung für die Rühreier mit Schinken.«

»Und fing den Doppeladler ein?«

»Genau.«

»Hat der Brite gesagt, wo er die Münze gekauft hat?«, fragte Mercer.

»Das ist nach wie vor eine ziemlich undurchsichti-ge Geschichte«, antwortete Lori. »Er hat uns viel Un-sinn erzählt – dass ein ägyptischer Colonel sie nach dem Coup an einen Händler verkauft hätte. Er konnte weder Namen nennen noch schriftliche Beweise vorlegen.« Lori Alvino zögerte. Dann schien sie sich zu erinnern, dass ihr Boss sie gebeten hatte, uns alles zu erzählen. »Außerdem hatte unser Nachrichtendienst andere Informationen.«

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»Nämlich?«, fragte Mike.

»Ich weiß, Sie denken, dass die Bundesbehörden nicht gut miteinander auskommen«, sagte Lori und musterte uns der Reihe nach.

»Wir arbeiten nicht oft genug mit Ihnen zusammen, um das beurteilen zu können«, antwortete Mike nicht ganz aufrichtig.

»Nun, ich möchte nicht, dass Sie das für eine dieser kindischen Rivalitäten zwischen den Behörden halten.

Aber so lief es nun mal.«

»Da halten wir uns raus.«

»Die CIA hat die ganze Sache vermasselt«, sagte sie mit Nachdruck.

»Die Sache mit dem Doppeladler?«

»Das zusätzlich«, sagte Lori. »Aber ich rede von den politischen Schwierigkeiten, die sie verursacht haben – mit Faruk, den Rebellen, dem Coup. Und nebenbei verschwand auch die Münze, zusammen mit vielen anderen Wertsachen.«

Die CIA hatte bei unserem Fall von Anfang an im Hintergrund mitgespielt. Andrew Tripping war CIA-Agent gewesen. Victor Vallis stand womöglich in den Diensten der Agency, als er Anfang der fünfziger Jahre nach Kairo zurückkehrte. Der falsche Harry Strait hatte sich Paige Vallis gegenüber als CIA-Agent ausgegeben, obwohl der richtige Harry Strait in Wirklichkeit für den Secret Service gearbeitet hatte. Was verband diese Individuen miteinander, mit den Regierungsbehörden, mit unserem Fall?

371

»Hat die CIA tatsächlich irgendetwas mit König Faruk zu schaffen gehabt?«, fragte ich.

»Und ob. Teddy Roosevelts Enkel – sein Name war Kermit – war Anfang der fünfziger Jahre der Mann der CIA in Kairo. Er freundete sich schnell mit dem König an.«

»War das so einfach?«

»Nun ja, für Faruk waren die Roosevelts so etwas wie das Königshaus der Vereinigten Staaten. Auf diese Weise verschaffte er sich Zugang. Außerdem hatte Roosevelt unter seinen Mitarbeitern einen Insider.«

»Was meinen Sie damit?«

»Kermit Roosevelt beschäftigte als Assistenten einen Angehörigen des diplomatischen Diensts, der in den dreißiger Jahren Faruks Privatlehrer gewesen war – einen brillanten Mann, der sechs oder sieben Sprachen sprach und mehr über Weltgeschichte wusste –«

Mike stieß einen leisen Pfiff aus. »Victor Vallis.«

»Richtig«, sagte Lori. »Ich hätte nicht gedacht, dass die CIA so bereitwillig Informationen für Sie herausgerückt hat.«

Wo Sie Recht haben, haben Sie Recht, dachte ich.

Die Tatsache, dass wir hin und wieder einen Namen oder Fakt kannten, schien sie zu ermuntern, uns noch mehr Einzelheiten anzuvertrauen.

»Anscheinend war der König Victor sehr zugetan –

sie waren praktisch gleichaltrig, und er behandelte seinen ehemaligen Privatlehrer wie einen Bruder.

Vallis konnte sich im Palast völlig frei bewegen.«

372

»Obwohl Faruk wusste, dass er für die CIA arbeitete?«

»O nein. Er glaubte, dass er nur einen unwichtigen Job bekleidete. Vallis wohnte praktisch im Kö-

nigspalast, er hatte sogar eine eigene Wohnung dort.«

»Das nenn ich Insider«, warf Mercer ein.

»Hat die CIA Faruks Regentschaft unterstützt?«, fragte ich.

Lori Alvino schüttelte den Kopf. »Nicht sehr lange.

FDR verfolgte zwei Ziele. Er brauchte Ägypten als demokratischen Stützpfeiler im Nahen Osten, da der Rest der Region mit dem Kommunismus liebäugelte.

Und er erkannte als einer der Ersten die Bedeutung des arabischen Öls zur Ankurbelung der amerikanischen Wirtschaft. Faruk war unberechenbar, und das wussten die Amerikaner.«

»Also haben die Vereinigten Staaten General Nasser und Anwar Sadat unterstützt?«

Sie schürzte die Lippen. »Nicht mit Waffen und Panzern und Flugzeugen. Nur mit dem Versprechen, dass die Amerikaner, falls der Coup gelang, nicht ein-greifen würden, um den König zu retten.«

»Und als es dann so weit war?«

»Nassers Rebellen übernahmen die Kontrolle über die ägyptische Armee, schlossen die Flugplätze, damit Faruk nicht in einem seiner Privatflugzeuge entkommen konnte, und hielten die königliche Yacht im Hafen fest. Der König rief höchstpersönlich die Botschaft an, damit Truman zu seinen Gunsten interve-373

nierte – FDR war schon lange tot –, aber der Präsident weigerte sich. Seine Gegner verbannten ihn ins Exil –

mit siebzig Stück Gepäck, die Gerüchten zufolge randvoll mit Schmuck und Goldbarren waren. Die Amerikaner machten keinen Finger krumm, um Kö-

nig Faruk zu helfen.«

»Aber die Rebellen ließen ihn am Leben«, sagte Mike.

»Nasser war nicht dumm. Er wollte keinen Bürgerkrieg riskieren oder aus Faruk einen Märtyrer machen«, sagte Lori.

»Rechnen wir mal nach«, sagte Mike. »Faruks Palast hatte fünfhundert Zimmer, randvoll mit unermessli-chen Schätzen. Bestenfalls konnte er mit all seinen Koffern und Taschen entkommen. Bleiben ungefähr an die vierhundert Räume voller Sachen – was ist daraus geworden?«

Lori zuckte mit den Schultern. »Manches wurde von Sotheby’s versteigert. Einiges, darunter alle seine herrlichen Rennpferde, nahmen sich die aufständischen Soldaten, und der Rest – angefangen von seiner Zigarren- bis hin zu seiner Pornografiesammlung –

landete in Nassers Hauptquartier.«

»Die CIA wusste davon?«, fragte ich.

»Manche Etagen sicherlich. Die Geschichten waren legendär. Ein Unbekannter nippte in Shepheard’s Bar in Kairo an einem Martini und zog ein Feuerzeug mit Faruks Initialen heraus; ein junger amerikanischer Agent kam in die Vereinigten Staaten zurück, im Ge-päck eine einzigartige Münzkollektion aus der Zeit 374

der Konföderation – zufällig ein Aushängeschild der königlichen Sammlung – und so weiter.«

»Hat man sich denn niemanden vorgeknöpft?«

»Schwierig. Die meisten behaupteten einfach, sie hätten die Sachen vom König geschenkt gekriegt.

Und mit der Zeit wurde es immer schwieriger, ihnen auf die Schliche zu kommen.«

»Und Victor Vallis? Kursierten irgendwelche Geschichten über ihn? Hat er etwas aus dem Palast genommen?«

»Dieser Privatlehrer war ein komischer Kauz. Er schien sich nicht für das Blendwerk um ihn herum zu interessieren. Er war Wissenschaftler. Bei ihm hatte niemand Bedenken, weil er vorher anfragte.«

»Was wollte er?«

»Briefe, Korrespondenz, Regierungsschreiben. Er war ein Papiermensch. Er hätte seine Schuhe mit Gold ausstopfen können, aber anscheinend hat er das nicht getan. Er wollte ein Buch über Faruk schreiben, aber ich bin mir nicht sicher, ob je etwas daraus geworden ist. Wenige Tage nachdem der König ins Exil ging, zog er ebenfalls aus dem Palast aus. Nasser erlaubte ihm, kistenweise Dokumente mitzunehmen, in der Annahme, dass die CIA froh wäre, ihn los zu haben.«

Mercer kam noch immer mit den Namen durcheinander. »War Harry Strait auch bei der CIA?«

»O nein. Er war einer von uns. Der Beste. Mr.

Stark hat Ihnen sicher erzählt, was für hervorragende Arbeit Harry geleistet hat, um den verirrten Doppel-375

adler zurückzubekommen. Feinste Secret-Service-Arbeit.«

»Hatte er einen Sohn?«

»Harry? Nie verheiratet. Er gehörte zu denen, die nur für die Arbeit gelebt haben.«

»Sie sind sehr großzügig mit Ihren Informationen gewesen, Lori.« Ich wollte ihr nicht verraten, dass die CIA uns keine Einsicht in die Akten von Vallis, Tripping und Strait gewährt hatte. Aber bei einem ent-thronten ägyptischen König lag der Fall natürlich anders. »Wie kommt es, dass die CIA ein halbes Jahrhundert nach dem Coup Faruks Akte noch als eine Angelegenheit der nationalen Sicherheit betrachtet?

Es war nicht leicht für uns, etwas in Erfahrung zu bringen.«

»Zehn Jahre im Exil, la dolce vita in Rom«, sagte Mike. »Wein, Weib und Gesang. Er verdrückt sein letztes Abendmahl, nuckelt an einer großen dicken Zigarre und kippt vornüber. Fett und fröhlich. Wenn man das Schicksal vieler anderer Monarchen bedenkt –

von der Guillotine bis zum Erschießungskommando –, war das alles in allem kein schlechter Tod.«

»Das ist nur die offizielle Version, Mike«, sagte Lo-ri Alvino. »So stand es in den Zeitungen. Tatsache ist, dass König Faruk ermordet wurde.«

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»In Rom hätten sie damals dringend einen guten Mordermittler gebraucht, Mike«, sagte Lori. »An dem Fall ist ganz massiv gedreht worden.«

Mike stand am Fenster und starrte hinaus auf den Verkehr, der zähflüssig in Richtung Osten über die Brooklyn Bridge rollte. Wir dachten beide das Gleiche. Was verband den unnatürlichen Tod eines ägyptischen Königs in Rom im Jahr 1965 mit den jüngsten hiesigen Morden an einer Tänzerin aus Harlem und der Tochter eines ehemaligen CIA-Angestellten?

»Wie ist es passiert?«, fragte Mike.

»Das meiste, was in den Geschichtsbüchern und alten Zeitungsartikeln steht, stimmt. Der Mann wog fast hundertachtzig Kilo. Er rauchte wie ein Schlot und nahm Bluthochdruckmedikamente. Seine letzte Mahlzeit nahm er in einem schicken, gut besuchten Restaurant ein.«

»Es stand wohl etwas auf der Speisekarte, womit er nicht gerechnet hatte?«

»Lassen Sie mich überlegen«, sagte sie. »Ich glaube, er hatte ein Dutzend Austern, einen saftigen Hummer Newburg, gefolgt von Lammbraten, dazu ungefähr sechs verschiedene Beilagen und als Nach-tisch flambierte Crêpe Suzette. Dann steckte er sich eine Havanna an und kippte tot vornüber auf den Tisch.«

»Was hat die Autopsie ergeben?«

»Welche Autopsie?«, fragte Lori Alvino. »Das ist ja 377

der springende Punkt. Niemand hat eine Autopsie angeordnet. Es hieß, der König sei an seinem exzessi-ven Lebenswandel gestorben. Eine Gehirnblutung. Es schien so offensichtlich, dass es niemand in Frage stellte.«

»Aber in Wirklichkeit?«, fragte Mercer.

Lori Alvino stützte den Kopf in die Hände und er-zählte uns, was in den offiziellen Akten stand. »Es gibt ein Gift namens Alacontin. Haben Sie schon mal davon gehört?«