»Das ist alles, was Robelon braucht. Harry ist stocksauer, weil Sie die Nacht mit einem anderen Mann verbracht haben. Also sagen Sie Harry, dass es nicht Ihre freie Entscheidung war. Er glaubt Ihnen nicht, also schmücken Sie die Geschichte ein bisschen aus. Sie erzählen, dass Andrew Sie gezwungen hat.

Dass er Sie gegen Ihren Willen festgehalten und vergewaltigt hat.«

»Auf wessen Seite sind Sie eigentlich?« Es war nicht das erste Mal, dass sich ein Opfer zu dieser Frage gedrängt fühlte. »Andrew hat mich vergewaltigt.

Ich schwör’s. Und Harry war in der Nacht vom sechsten März nicht in meiner Wohnung. Warum sollte eine Frau über eine Vergewaltigung lügen?«

133

»Um ihren Hals zu retten. Um jemandem eins aus-zuwischen, der ihr anderweitig wehgetan hat. Ich ha-be keine Zeit, Ihnen alle Gründe aufzuzählen.«

Maxine klopfte erneut und steckte ihren Kopf zur Tür herein. »Der Richter lässt bitten.«

»Letzte Chance, Paige?« Ich stand jetzt so nah vor ihr, dass sich unsere Nasenspitzen fast berührten.

»Wenn Sie mich zum Narren halten, werde ich dafür sorgen, dass man Sie wegen eidlicher Falschaussage anklagt. Gibt es noch etwas, das ich nicht weiß?«

»Nein, ich verspreche es Ihnen, Alex. Harry Strait hat mir Todesangst eingejagt, er war so eifersüchtig, so fordernd. Ich wollte seinen Namen nicht in diese Sache mit hineinziehen. Ich hatte keine Ahnung, dass er Kontakt zu Andrew Tripping hat. Ich weiß noch immer nicht, wie oder wann sie sich getroffen haben oder warum er heute hier ist.«

»Werden Sie mir dieses Wochenende von Harry erzählen? Kommen Sie entweder am Sonntag Nachmittag für ein paar Stunden in mein Büro oder rufen Sie mich an.«

Paige nickte.

»Sie müssen sich an alles erinnern. Wir müssen irgendetwas finden, was Strait und Tripping miteinander verbindet. Wer ist Harry Strait, und was wissen Sie über ihn? Warum hat er Ihnen Angst gemacht, und was meinen Sie mit ›fordernd‹?« Ich hoffte nach wie vor, um vier Uhr mit Trippings Sohn sprechen zu können, aber ich wollte wissen, warum Paige so viel Angst vor Strait hatte.

134

»Ja«, flüsterte Paige Vallis zögerlich. »Ja, ich werde Ihnen alles erzählen.«

»Und falls er jetzt wieder im Gerichtssaal ist, dann müssen Sie in den sauren Apfel beißen und da durch.

Verhandlungen sind öffentlich. Moffett hat keine Handhabe, ihn auszuschließen.«

Ich öffnete die Tür und ging vor ihr in den Gerichtssaal. Die Zuschauerbänke waren leer. Moffett ließ Paige wieder ihren Platz im Zeugenstand einnehmen, bevor er die Geschworenen hereinrief.

Der Erzählfluss, auf den ich mich verlassen hatte, war hoffnungslos dahin. Darüber hinaus machte ich mir Sorgen, dass die Geschworenen Paige Vallis jetzt als hysterisch und flatterhaft ansahen. Die Tränen, das Zittern, die heftige Reaktion auf das Erscheinen des zurückhaltend wirkenden Mannes reichten aus, um drei oder vier von ihnen an Paiges Glaubwürdigkeit zweifeln zu lassen.

»Sie können fortfahren, Ms. Cooper.«

»Danke, Euer Ehren«, sagte ich und ging wieder ans Podium. »Ich werde Ihre Aufmerksamkeit jetzt auf den sechsten März lenken. Erinnern Sie sich, welcher Wochentag das war?«

»Es war ein Mittwoch. Ich war gerade aus unserem Luncheon Meeting gekommen, als Andrew anrief.«

»Was war der Grund seines Anrufs?«

»Er wollte mich Wiedersehen und zum Essen ein-laden.«

»Hatten Sie seit Ihrem letzten Treffen – dem Abend, 135

an dem Sie mit ihm im Odeon waren – von ihm ge-hört?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Worte«, sagte Richter Moffett zu ihr. »Sie müssen mit Worten antworten. Die Protokollantin kann Ihre Kopfbewegungen nicht niederschreiben.«

»Ja, Sir.«

»Ja, Sie haben von ihm gehört?«, fragte der Richter.

»Nein, ich meine, nein, ich habe nicht von ihm ge-hört.« Sie klang durcheinander und wieder leicht hysterisch.

»Haben Sie mit dem Angeklagten zu Abend gegessen?«

»Ja. Ich habe mich um halb acht mit ihm getroffen, in einem Restaurant, das er vorgeschlagen hat, in der Nähe der Grand Central Station.« Paige Vallis beschrieb das Abendessen inklusive einer Flasche Rot-wein und die Unterhaltung, die sich hauptsächlich um den Jungen, Dulles Tripping, gedreht hatte.

»Wie machten Sie es dieses Mal mit der Rechnung für das Abendessen?«

»Andrew übernahm die Rechnung«, sagte sie.

Robelon rief: »Was hat sie gesagt, Euer Ehren? Ich konnte es nicht hören.«

Es war absehbar, dass er Paige Vallis bitten würde, alle Antworten zu wiederholen, die seiner Argumentation nützen könnten. Ich wusste, wie er diese Tatsache zu seinen Gunsten hinbiegen würde. Da Andrew Tripping für das Essen und den Wein bezahlt hatte, 136

würde sein Date natürlich willens sein, mit ihm ins Bett zu gehen. Das wollte Robelon den Geschworenen jedenfalls weismachen.

Paige hatte den Großteil des Abends im Restaurant geschildert, bis zu dem Moment, als Andrew sie fragte, ob sie mit zu ihm kommen wolle, um seinen Sohn Dulles kennen zu lernen.

»Ich sagte Ja. Andrew hatte mir nicht gesagt, dass sein Sohn allein zu Hause war. Ich war überrascht, angesichts seines Alters. Also habe ich eingewilligt mitzukommen.«

Auf dem Weg zu seiner Wohnung in der 36. Stra-

ße Ost hatten sie sich nicht berührt; sie hatten weder Händchen gehalten noch irgendwelche Intimitäten ausgetauscht.

»Andrew schloss die Wohnungstür auf. Drinnen war es stockfinster, also dachte ich –«

»Einspruch.«

»Stattgegeben.«

»Was ist passiert, nachdem Sie die Wohnung betraten?«, fragte ich.

»Andrew schaltete das Licht ein. Dulles schlief noch nicht – obwohl es fast zehn Uhr war. Es war komisch, dass er im Finstern gewartet hatte«, sagte Vallis und schmuggelte ihre »Gedanken« durch die Hintertür wieder herein. »Er saß in einer Ecke des Wohnzimmers auf einem Stuhl, einem Holzstuhl mit gerader Lehne.«

»Wer sprach zuerst?«

»Andrew. Er nannte dem Jungen meinen Namen und bat ihn, sich vorzustellen.«

137

»Hat er das getan?«

»Nein. Er sagte kein Wort und rührte sich nicht vom Fleck. Da befahl ihm Andrew wie ein Militär-kommandant, aufzustehen und mir die Hand zu schütteln.«

»Was haben Sie gesehen, als der Junge näher kam?«

»Tränen liefen ihm über die Wangen. Das war das Erste, was mir auffiel. Als er noch näher kam, sah ich, dass sein linkes Auge übel zugerichtet war und er einige Kratzer im Gesicht hatte.«

»Haben Sie etwas zu ihm gesagt?«

»Ich fiel auf die Knie und packte ihn an den Armen.

Ich fragte ihn, ob mit ihm alles in Ordnung sei. Da schrie ihn sein Vater an, er solle endlich erwachsen werden und sich wie ein Mann benehmen.«

»Was haben Sie als Nächstes getan?«

»Ich versuchte, den Jungen in den Arm zu nehmen und ihm zu sagen, dass alles in Ordnung sei. Aber er wich zurück und wischte sich mit dem Handrücken übers Gesicht. Ich stand auf, um mir sein Auge genauer anzusehen. ›Was ist passiert?‹, fragte ich ihn.«

Dulles, so erzählte Paige Vallis, setzte sich wieder, während sein Vater die Frage beantwortete. »›Er hat Fehler gemacht.‹ Das waren Andrews Worte. ›Dieses Mal wird er alles richtig machen. Nicht wahr, Dulles?‹«

Dann beschrieb sie, wie Andrew zwei Stühle he-ranzog, sie gegenüber von dem Jungen aufstellte und Paige befahl, sich zu setzen.

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»Haben Sie das getan?«

»Ja.«

»Haben Sie nicht versucht zu gehen?«

»Nein. Nicht zu dem Zeitpunkt. Ich habe nicht gedacht, dass –«

»Einspruch.«

»Stattgegeben. Sagen Sie uns nicht, was Sie gedacht, sondern was sie getan haben«, ermahnte Moffett die Zeugin.

»Ja, Euer Ehren.« Sie wandte sich wieder an die Geschworenen. »Andrew fing an, den Jungen wie einen Soldaten zu drillen. Er ließ ihn stramm stehen und bombardierte ihn mit einer Reihe von Fragen.«

»Erinnern Sie sich an diese Fragen?«

»Ich erinnere mich an die erste Frage, die Andrew stellte. ›Die Brut des Löwen‹, sagte er. ›Nenn uns ihre Namen.‹ Dulles antwortete ihm. Er nannte Hannibal und seine drei Brüder – seltsame Namen wie Hasdru-bal und Mago –, die anderen fallen mir nicht ein. Anscheinend war es die richtige Antwort. Dann befahl ihm Andrew, die siegreichen Schlachten von Aetius, irgendeinem römischen Feldherrn, aufzuzählen. Dulles beantwortete auch das richtig. Er wusste alle Orte und Daten.«

Paige zählte noch ein paar Fragen auf, alle über Kriegshelden. Mike Chapman hätte sie wie aus der Pistole geschossen beantworten können; dem zehnjährigen Kind waren die Antworten in den wenigen Monaten, die er bei seinem schizophrenen Vater wohnte, eingedrillt worden.

139

Sie konnte sich an insgesamt fünf Fragen erinnern und schätzte, dass es noch eine Hand voll mehr gewesen waren. Dann verkrampfte sie sich sichtlich, als sie die nächste Szene schilderte.

»Dann fing Andrew an, den Jungen mit Fragen über Benedict Arnold zu bombardieren. ›Tod den Verrä-

tern‹, sagte er immer und immer wieder. ›Du weißt, was mit Verrätern passiert, nicht wahr, mein Junge?‹

Dulles wusste von dem Verrat von West Point und dem Quebec-Feldzug, aber als Andrew ihn etwas über die Schlacht von Valcour Island fragte, erstarrte er.«

»Was hat Andrew daraufhin getan?«

»Er deutete auf den Wandschrank. ›Die Waffe, Dulles, lass mich nicht wieder die Waffe herausho-len.‹«

Paige Vallis beschrieb, wie der Junge auf die Drohung hin zu zittern begann. Sie war aufgestanden, hatte den Jungen an der Hand genommen und Andrew angefleht, aufzuhören und sie den Jungen mitnehmen zu lassen.

»Haben Sie versucht, die Wohnung zu verlassen?«

»Einspruch.«

»Abgelehnt. Fahren Sie fort, Ms. Vallis.«

»Natürlich. Ich sagte Andrew, dass ich Dulles mitnehmen würde. Er versperrte mir die Tür und sagte, er würde den Jungen nicht gehen lassen. Er sagte, dass er Leute hätte, die sich um mich kümmern würden, falls ich zur Polizei gehen würde. Das waren seine Worte. Ich schwor, dass ich nicht zur Polizei gehen würde, dass ich Dulles lediglich zu einem Arzt brin-140

gen wollte. Ich hatte keine Angst um mich – es ging mir nur um den armen Jungen.«

»Ging Andrew Tripping von der Tür weg?«

»Nein, tat er nicht. Er legte dem Jungen die Hand auf die Schulter und fragte ihn, ob er die Waffe vergessen hätte. ›Tod den Verrätern‹, wiederholte er.

›Benedict Arnold war Abschaum.‹« Paige Vallis senkte den Kopf. »Dann machte er die Tür frei.«

»Haben Sie sie aufgemacht?«

»Nein, Miss Cooper. Nicht zu dem Zeitpunkt.«

Es wäre logisch gewesen, sie als Nächstes zu fragen, warum sie das nicht getan hatte, aber das Gesetz war nicht immer logisch. Sie durfte nicht über das sprechen, was in ihrem Kopf vorgegangen war, sondern nur über das, was sie getan und beobachtet hatte. »Was ist als Nächstes passiert?«

»Dulles riss sich los und lief zurück zum Stuhl.

Sein Vater folgte ihm.«

»Was haben Sie getan?«

»Ich bin geblieben. Ich konnte es nicht ertragen, das Kind unter diesen Umständen zurückzulassen.«

Das war eins der größten Probleme, die wir mit den Geschworenen haben würden. Bis hierher hätte ich die Anklage wegen Kindeswohlgefährdung beweisen können, aber nicht viel mehr. Paige Vallis hatte zu diesem Zeitpunkt am sechsten März eindeutig die Möglichkeit gehabt, Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen. Sie war weder Zeugin gewesen, wie Dulles Tripping geschlagen wurde, noch wusste sie, wie er sich die blauen Flecken zugezogen hatte. Sie war da-141

bei gewesen, als Andrew von einer Waffe gesprochen hatte, aber sie hatte die Waffe weder gesehen, noch war sie mit ihr bedroht worden.

»Einspruch«, sagte Peter Robelon. »Ich beantrage die Streichung aus dem Protokoll.«

»Einspruch stattgegeben«, sagte Moffett. Er tippte auf das Geländer vor sich und bat die Stenografin, Paiges Bemerkung, dass sie es nicht ertragen konnte, Dulles zurückzulassen, zu streichen.

Aber die Geschworenen hatten die Worte gehört.

Es war unmöglich, sie aus ihren Köpfen zu radieren.

»Was hat der Angeklagte als Nächstes getan?«

»Er nahm etwas aus seiner Tasche. Etwas Kleines.

Zuerst konnte ich nicht sehen, was es war. Dulles fing zu winseln an. ›Bitte nicht‹, wiederholte er ständig.«

»Konnten Sie irgendwann erkennen, was das Objekt war?«

»Eine Pinzette. Eine kleine Metallpinzette. Er drückte den Kopf des Jungen nach hinten und fuhr ihm mit der Pinzette in die Nase.«

Die Geschworene Nummer vier rutschte in ihrem Stuhl nach unten und schloss die Augen. Eine ange-messene Reaktion. Nummer acht beugte sich vor und schien die Details zu genießen. Zweifellos zu viel ferngesehen.

»Was haben Sie getan?«

»Ich lief hin, um ihn aufzuhalten. Aber ich kam zu spät. Er hatte sie dem Jungen bereits in die Nase gesteckt, und ich hatte Angst, ihm noch mehr wehzutun, wenn ich an seinem Arm rüttelte. Nach ein paar 142

Sekunden zog er dem Jungen ein blutiges Stück Baumwolle aus der Nase.«

»Wurde irgendetwas darüber gesagt?«

»Ja, Andrew sagte mir, dass er Dulles den Tampon in die Nase gesteckt hätte, weil Dulles geblutet hatte.

Für mich sah es aus, als ob der Tampon genauso schmerzhaft gewesen sein musste wie der Schlag, der das Bluten verursacht hatte.«

»Einspruch, Euer Ehren.«

»Stattgegeben.«

Die Geschworenen hörten aufmerksam zu; einige von ihnen sahen gelegentlich zum Tisch der Verteidigung hinüber, um zu sehen, wie Andrew Tripping auf Paige Vallis’ Zeugenaussage reagierte. Ich brauchte unbedingt die Zeugenaussage von Dulles. Ohne ihn war das der einzige Hinweis auf die allabendliche Quälerei durch seinen Vater.

Die Mittagspause unterbrach erneut den Fortgang der Erzählung. Weder Paige noch mir war nach Essen zumute; sie knabberte an einem Sandwich, und ich stocherte in meinem Salat herum. Ich wusste, dass ich bis zum späten Nachmittag fürchterliche Kopfschmer-zen haben würde, weil das Verfahren bloß noch stres-siger werden konnte und ich nichts gegessen hatte.

Wieder im Zeugenstand schilderte Paige den Rest des bizarren Abends. Irgendwann nach Mitternacht erlaubte Andrew seinem Sohn, seinen Schlafanzug anzuziehen und sich auf dem engen Feldbett im Flur schlafen zu legen.

Dann, sagte Vallis, erzählte ihr Andrew mehr als 143

zwei Stunden lang, welch enormer Druck es sei, den Jungen allein großzuziehen.

»Es muss zwei Uhr nachts gewesen sein«, sagte sie.

»Da stand Andrew plötzlich auf und stellte sich vor mich. ›Du kommst jetzt mit‹, sagte er. ›Ich will, dass du mit ins Schlafzimmer kommst und dich ausziehst.‹«

»Was haben Sie getan?«

»Ich habe ›Nein‹ gesagt.« Vallis versuchte, gefasst zu bleiben, und sah mich an Stelle der Geschworenen an. »Ich habe gesagt: ›Tu das nicht, Andrew.‹«

»Hat Andrew darauf geantwortet?«

»Ja. Er sagte: ›Willst du, dass ich dir wehtue? Oder meinem Sohn?‹«

»Was haben Sie getan, Paige?«, fragte ich.

»Ich hatte keine Wahl. Ich … ich –«

»Einspruch, Euer Ehren. Das werden die Geschworenen entscheiden«, sagte Robelon und grinste den Geschworenen zu.

»Stattgegeben.«

»Ich ging ins Schlafzimmer und tat genau, was Andrew Tripping mir befahl«, sagte Paige, die endlich auf Robelon wütend wurde. »Ich hatte Angst, dass er seinen Sohn umbringen würde, und ich hatte Angst, dass er mir etwas antun würde.«

»Seit Dulles ins Bett gegangen war – hat Andrew da noch einmal die Schusswaffe erwähnt?«

Vallis antwortete leise: »Nein.«

»Haben Sie jemals eine Schusswaffe in der Wohnung gesehen?«

»Nein.«

144

»Haben Sie irgendwelche anderen Waffen gesehen?«

»Ja, viele. Seltsames Zeug an den Wänden und auf den Tischen. Macheten und Schwerter und andere merkwürdige Dinger mit Klingen. Ich wüsste nicht einmal, wie die alle heißen.«

»Hat er sie mit irgendwelchen dieser Waffen bedroht?«

»Nein. Nicht explizit.«

Robelon und ich würden beide versuchen, diese Tatsache zu unseren Gunsten auszulegen. Er würde argumentieren, dass Tripping die Mittel gehabt hätte, sie zum Sex zu zwingen. Ich würde es als einen Beweis ihrer Glaubwürdigkeit anführen, dass sie trotz des Vorhandenseins so vieler scharfer Objekte niemals die Drohungen des Angeklagten übertrieben hatte.

Paige Vallis fuhr fort, die Vergewaltigung zu beschreiben, die in der nächsten Stunde in Trippings kargem Schlafzimmer stattfand. Sie wechselten kein Wort, nachdem er von ihr verlangte, dass sie sich auszog und aufs Bett legte. Er bewegte und positio-nierte sie, wie er wollte, und unterwarf sie einer Viel-zahl sexueller Handlungen, die sie den Geschworenen im Detail schildern musste. Sie sagte, dass sie von dem Moment an, als sie das Zimmer betreten hatte, bis zu dem Zeitpunkt, als ihr Peiniger neben ihr eingeschlafen war, geweint hatte.

»Um wie viel Uhr war das?«

»Ungefähr vier Uhr morgens.«

145

»Sind Sie dann gegangen?«

»Nein. Ich lag einfach nur ruhig im Bett, bis das Tageslicht durch die Jalousien drang. Ich stand auf und zog mich an. Leise, sehr leise. Ich weckte Dulles und half ihm beim Anziehen. Dabei sah ich noch mehr blaue Flecken, auf seinen Unterarmen und Oberschenkeln. Andrew musste mich gehört –«

»Einspruch.«

»Ich hörte ein Geräusch in Andrews Schlafzimmer, also trieb ich den Jungen zur Eile an. Als wir die Ein-gangstür erreichten, stand Andrew neben der Wohn-zimmertür im Flur. Ich sagte ihm, dass ich Dulles zur Schule bringen würde und dass ich meine Privatnummer auf den Telefonblock geschrieben hätte, für den Fall, dass ich in Zukunft irgendwie behilflich sein könne.«

»Was hat er gesagt?«

»Er fragte mich noch einmal, ob ich zur Polizei gehen würde, und machte ein paar Schritte auf uns zu.

Ich drehte mich um und sah ihm in die Augen. Ich stellte mich vor den Jungen und schob ihn näher zum Treppenhaus.«

»Haben Sie geantwortet?«, fragte ich.

»Ja. Ich sagte ihm, er solle sich keine Sorgen machen, er solle aber auch nicht näher kommen. ›Ich kann nicht zur Polizei gehen‹, sagte ich. ›Ich habe letztes Jahr einen Mann umgebracht.‹«

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12

Wir können uns unsere Zeugen nicht aussuchen – so hatte ich es den Geschworenen in meinem Eröffnungsplädoyer gesagt. Jetzt würden sie selbst hören, was Paige Vallis einige Monate vor ihrer Bekannt-schaft mit Andrew Tripping passiert war.

»Haben Sie die Wahrheit gesagt, als Sie dem Angeklagten mitteilten, dass Sie einen Mann umgebracht haben?«

Paige war jetzt seltsamerweise ruhiger als zuvor.

»Ja.« Sie änderte ihre Sitzhaltung und sah die Geschworenen direkt an. »Ich meine, nicht vorsätzlich.

Letztes Jahr, kurz nach Thanksgiving, starb mein Vater. Er war fast achtundachtzig und schlief einfach ein. Er hatte seit seiner Pensionierung vor über zwanzig Jahren allein in einem kleinen Haus in Virginia gelebt. Ich war das einzige Kind – er hatte spät geheiratet und wollte keine große Familie, weil er beruflich so viel unterwegs war.«

Robelon stand wieder auf und erhob Einspruch.

»Euer Ehren, das wäre eine schöne Geschichte für den Biografie-Kanal«, sagte er abfällig, woraufhin einige der Geschworenen lächelten, »aber meiner Ansicht nach zählt nur, dass Ms. Vallis einen Mann umgebracht hat. Punkt.«

»Dürfen wir näher treten?«, fragte ich.

Moffett winkte Paige aus dem Zeugenstand, während wir das Thema an der Richterbank diskutierten.

»Worauf wollen Sie hinaus, Alexandra?«

147

»Falls Peter nicht beabsichtigt, meine Zeugin im Kreuzverhör darauf anzusprechen, wie und warum sie … äh, in diese Situation geraten ist, werde ich meine Finger davon lassen. Aber falls er vorhat, auch nur eine einzige Frage über den Tod des Mannes zu stellen, werde ich die Fakten während meiner Befragung ans Tageslicht bringen. Ms. Vallis hat nichts zu verbergen.«

»Wie sieht’s aus, Pete?«

»Ich habe natürlich ein paar Fragen an sie. Aber ich verzichte gern darauf, um das hier zu beschleunigen.«

»Das heißt, Sie werden das Thema auch in Ihrem Schlussplädoyer nicht ansprechen?«, fragte ich. Ich wusste, dass Robelon, nachdem er alle Fakten gehört hatte, ganz wild darauf sein würde, die Geschworenen daran zu erinnern, dass Vallis sich schon einmal verteidigt hatte, als sie sich in tödlicher Gefahr befunden hatte. Er würde argumentieren, dass sie sich gegen Tripping ebenso hätte wehren können. Ich wollte die Unterschiede betonen, und zwar mit dem gleichen Argument wie Paige Vallis, nämlich dass sie sich in der Nacht vom sechsten März nicht um ihre eigene Sicherheit, sondern um die des Jungen Sorgen gemacht hatte.

»Zu diesem Zugeständnis bin ich nicht bereit.«

Moffett versuchte es mit einem salomonischen Kompromiss. »Alex, worauf wollen Sie hinaus? Dass Ms. Vallis einen Mann in Notwehr getötet hat? Hatte sie eine Waffe?«

»Nein, Euer Ehren. Es war ein Einbrecher – er hat-148

te ein Messer. Er hielt es ihr an die Kehle, bei dem Gerangel gingen sie zu Boden, und er fiel in das Messer.«

»In Ordnung, ich gestatte Ihnen, genauso viel zu fragen. Überspringen Sie die Lebensgeschichte. Und Sie«, sagte Moffett und wandte sich an Peter Robelon, »Sie werden sich auch zu zügeln wissen. Nichts, was über Coops Vorgabe hinausgeht, dann ein kurzes, schmerzloses Schlussplädoyer.«

Das hieß, dass Moffett die Geschworenen bereits zu Robelons Seite tendieren sah und meine Qual nicht unnötig verlängern wollte.

Paige schilderte die Kurzversion des Vorfalls im Haus ihres Vaters. Ich kam wieder auf die Tatnacht zu sprechen, und sie erzählte den Geschworenen, dass Tripping ihr nach jener Äußerung erlaubt hatte, die Wohnung mit seinem Sohn zu verlassen. Ich würde später argumentieren, dass der Angeklagte in der Wohnung geblieben war, weil er Paige Vallis glaubte, dass sie nicht zur Polizei gehen würde.

»Was haben Sie getan, nachdem Sie die Wohnung verlassen hatten?«

»Ich ging mit Dulles auf die Straße, um ihm zu er-klären, was ich vorhatte. Er sollte verstehen, dass man ihm nicht mehr wehtun würde, falls ich zur Polizei ging. Er sollte wissen, dass er das Recht hatte, in seinem eigenen Zuhause sicher zu sein. Als Erstes ging ich mit ihm in einen Coffeeshop und spendierte ihm ein Frühstück. Ich glaube nicht … entschuldigen Sie, Sir … er sah aus, als ob er seit Monaten nichts An-149

ständiges mehr gegessen hätte. Ich unterhielt mich fast eine Stunde lang mit ihm. Danach habe ich den erstbesten Streifenbeamten angesprochen und ihn gebeten, uns ins Revier zu bringen.«

Ich konnte mir Robelons Kreuzverhör schon vorstellen. Also, Ms. Vallis, würde er sagen, nachdem Sie vergewaltigt worden waren – bevor Sie zur Polizei gingen, bevor Sie mit einem Arzt sprachen –, hatten Sie also zwei Spiegeleier mit Speck? Oder waren es Rühreier? Und zum Kaffee noch einen Mimosa oder eine Bloody Mary?

»Und nachdem Sie im Revier Ihre Meldung gemacht hatten, wo sind Sie dann hingegangen?«, fragte ich.

»Ins Krankenhaus. Man hat mich ins Bellevue Hospital gebracht.«

»Sind Sie dort untersucht worden?«

»Ja, von einer Krankenschwester. Ich wurde sehr gründlich untersucht.«

Ich befragte Paige Punkt für Punkt zu der detaillierten Prozedur, die für einen kompletten Beweis-mittelkoffer nötig war, von Abstrichen für DNA-Proben über das Auskämmen des Schamhaares bis hin zu möglichen Resten unter ihren Fingernägeln.

»Wir haben keine Einwände gegen die medizinischen Befunde«, sagte Robelon.

Natürlich nicht. Sie belasteten seinen Mandanten in keiner Hinsicht.

»Hatten Sie irgendwelche Verletzungen, Ms. Vallis?«

150

»Nein.«

Körperliche Verletzungen waren kein zwingender Tatbestand eines Vergewaltigungsverbrechens. Tatsächlich verfügen weniger als ein Drittel aller Frauen, die eine Vergewaltigung melden, über irgendwelche äußeren Anzeichen von Verletzung oder Missbrauch.

Darauf konnte ich jetzt mit Paige nicht näher eingehen, aber die Krankenschwester würde diese Fakten nächste Woche als Expertin mit uns durchgehen.

»Haben Sie Dulles Tripping jemals wieder gesehen oder gesprochen?«

»Nein.«

»Haben Sie, bis Sie heute Morgen diesen Gerichtssaal betraten, den Angeklagten jemals wieder gesehen oder gesprochen?«

»Nein.«

Ich beendete mein Verhör mit der Klärung einiger letzter Ungereimtheiten und sagte dann dem Gericht, dass ich keine weiteren Fragen an die Zeugin hätte. Es war kurz vor sechzehn Uhr, und ich vergewisserte mich mit einem schnellen Blick über die Schulter, dass die Zuschauerränge noch immer leer waren.

Robelon stand auf, um mit seinem Kreuzverhör zu beginnen, aber der Richter winkte uns mit seinem kleinen Finger zu sich heran. »Diese Frau müsste jede Minute mit dem Jungen hier sein. Was halten Sie davon, Ihr Kreuzverhör auf Montagvormittag zu verschieben?«

»Ich wäre aber jetzt so weit, Euer Ehren.«

Natürlich würde Robelon mit seiner Befragung be-151

ginnen wollen. Sobald er damit angefangen hatte, würde Paige Vallis angewiesen werden, sich übers Wochenende nicht mit mir über den Fall zu unterhalten. Seine Strategie war offensichtlich, und obwohl ich Einspruch erhob, konnte ich keine triftigen Grün-de vorbringen, warum ich die Beweislage mit ihr diskutieren müsste. Ich würde meine Neugier über Harry Strait, der sich nicht wieder hatte blicken lassen, im Zaum halten müssen, bis sie aus dem Zeugenstand entlassen wurde.

Außerdem wollte Robelon nicht, dass die Geschworenen übers Wochenende Paiges Zeugenaussage in wohlwollender Erinnerung behielten. Stattdessen wollte er ihnen einbläuen, dass Paige keine Verletzungen erlitten und demnach wohl eingewilligt hatte.

»Guten Tag, Ms. Vallis, ich bin Peter Robelon.«

Damit wollte er deutlich machen, dass er, im Gegensatz zu mir, die Zeugin noch nicht kannte. »Ich entnehme Ihrer Krankenhausakte, dass bei Ihrer Untersuchung keine Verletzungen festgestellt wurden, ist das korrekt?«

»Ja.«

»Irgendwelche Blutungen?«

»Nein.«

»Rötungen oder interne Schwellungen?«

»Ich … äh, nicht dass ich wüsste.«

»Sie hatten keinerlei Beschwerden, richtig?«

»Nicht, nachdem ich das Schlafzimmer Ihres Mandanten verlassen hatte.«

»Keine Wunden, die genäht werden mussten?«

152

»Nein.«

»Es waren keine Nachfolgeuntersuchungen nötig?«

»Doch, ich musste auf sexuell übertragbare Krankheiten hin untersucht werden«, sagte Paige und sah jetzt den Verteidiger anstelle der Geschworenen an.

»Ich machte mir große Sorgen, weil ich zu ungeschütztem Sex gezwungen worden war.« Robelon hatte den gleichen Fehler begangen wie viele Anwälte und es versäumt, sich die scheinbar unleserlichen Notizen des medizinischen Berichts interpretieren zu lassen.

Er bluffte sich durch ein paar weitere Fragen und beschloss dann offenbar, sie noch einmal zu überar-beiten, bevor er das Verhör fortsetzte. Nach knapp zehn Minuten sagte er dem Gericht, dass er bereit sei, die Verhandlung für heute zu beenden.

Moffett entließ die Geschworenen ins Wochenende und befahl den Gerichtspolizisten, Paige Vallis in den Zeugenraum zu bringen, bis ich dafür Sorge getragen hatte, dass sie sicher nach Hause kam. Dann bat er seinen Assistenten, bei Ms. Taggart im Büro nachzu-fragen, warum sie und Dulles sich verspäteten.

Mercer Wallace war, wie vereinbart, um halb vier gekommen, um Paige nach Hause zu bringen. Er war bei ihr, als ich das Zeugenzimmer betrat.

»Alex«, sagte sie und stand auf. »Ich möchte mich noch einmal für heute Vormittag entschuldigen. Da-für … dafür, dass ich die Sache mit Harry Strait ausgelassen habe. Ich würde Ihnen gerne erklären –«

»Das wäre mir sehr recht, Paige. Aber das muss bis nächste Woche warten. Sie haben mir vor Monaten 153

ohne weiteres erzählt, dass Sie in Notwehr einen Mann umgebracht haben, aber mit einem Ex-Lover, der in diesen Schlamassel verwickelt ist, konnten Sie nicht herausrücken?«

Mercer schüttelte den Kopf; er wollte, dass ich Ru-he gab und Paige eine Verschnaufpause gönnte.

»Ich will Ihnen doch gerade sagen, dass es mir Leid tut. Ich hatte keine Ahnung, dass es relevant sein könnte.«

»Schon gut. Hören Sie, solange Sie Robelons Zeugin sind, kann ich mit Ihnen nur über verwaltungs-technische Dinge reden«, sagte ich.

Maxine war mir gefolgt und reichte Paige ihre Handtasche. Mercer nahm ihre Aktentasche, die sie in meinem Büro abgestellt hatte.

Paige öffnete die Tasche und holte eine braune Papiertüte daraus hervor. »Ich weiß nicht, was ich damit tun soll, deshalb wollte ich sie Ihnen geben, Alex. Das Krankenhaus hat sie mir geschickt, weil sie die Privatadresse von Dulles’ neuen Pflegeeltern nicht wussten.«

Ich zog eine blaue Baseballjacke aus der Tüte. Auf der Rückseite stand in weißen Buchstaben YAN-KEES, auf der Vorderseite war das Logo des Baseball-teams. Ich lächelte. Wenigstens hatten der Junge und ich eine Sache gemeinsam.

»Ich dachte, ich würde ihn heute hier treffen und sie ihm selbst zurückgeben können«, fuhr sie fort.

»Deshalb habe ich sie behalten. Ich würde gerne mit ihm sprechen, um zu sehen, wie –«

154

»Vergessen Sie’s, Paige«, sagte ich. »Vielleicht, wenn das alles hier vorbei ist. Selbst wenn ich wollte, könnte ich Ihnen das jetzt nicht gestatten. Aber die Jacke wird mir sehr helfen, wenn ich Dulles endlich kennen lerne. Sie wird das Eis zwischen uns brechen.

Vielleicht kann ich ihm eine Mütze dazu besorgen.«

»Also werden Sie sie ihm von mir geben?«

»Aber sicher!«

»Wir haben Karten für die Playoff-Spiele Ende des Monats«, sagte Mercer zu ihr. »Vielleicht lasse ich Alex zu Hause und nehme den Jungen mit.«

»Ich glaube, die Jacke war wie eine Schmusedecke für den Jungen. Die einzige Konstante in seinem Leben. Seine Großmutter hatte sie ihm geschenkt, und an dem Morgen, an dem ich ihn mitnahm, wollte er die Wohnung nicht ohne sie verlassen«, sagte sie und schüttelte den Kopf.

Ich faltete die Jacke zusammen und legte sie wieder in die Tüte. Ich war froh, etwas aus Dulles’ glückli-cheren Tagen zu haben, womit ich die Unterhaltung mit ihm beginnen könnte.

»Brauchen Sie noch etwas, bevor Sie nach Hause gehen?«, fragte ich. »Sie werden Mercer anrufen oder anpiepen, falls Harry Strait dieses Wochenende vor Ihrer Tür steht, ja? Oder falls Sie irgendwelche Anrufe erhalten, die mit dem Fall zu tun haben?«

»Natürlich.«

Ich dankte ihr für ihre Kraft und Geduld und verabschiedete mich von Mercer und ihr. Ich begleitete sie noch zum Hauptkorridor, damit Maxine und ich 155

den Gerichtssaal wieder durch die Haupttür betreten konnten.

Mike Chapman lehnte an einer Säule in der Nähe des Bereichs, der für die direkten Prozessbeteiligten reserviert war. Er hielt eine rotweiße Marlboro-Schachtel in der Hand – seltsam, da er keine Zigaretten rauchte –, und es sah aus, als ob ein dünner Me-talldraht zwei, drei Zentimeter daraus hervorragte.

Als ich näher kam, sprach er in das Drahtstück, während Andrew Tripping nur einen Meter entfernt nervös auf und ab ging.

»Was ist los?«, fragte ich, während Mike Mercer über meinen Kopf hinweg zuwinkte.

»Agent vier-zwo an Kommandozentrale«, flüsterte Mike laut in das Stück Draht. »Das Subjekt ist nervös. Blonde Strafverfolgerin nähert sich, das Subjekt weiß nicht, wohin –«

»Würdest du bitte damit aufhören, bevor ich mir auch noch eine Verwarnung einfange?«

»Funktioniert bei paranoiden Schizophrenen wunderbar. Wenn ich noch ein paar Minuten in diese Bü-

roklammer spreche, wird dein Tripping ausflippen. Ich habe der Kommandozentrale gemeldet, dass der Angeklagte meiner Meinung nach für einen Geheimauf-trag in Attica bereit sei, beispielsweise als Freundin des gefährlichsten Insassen eingeschleust zu werden.«

»Steck dein Spielzeug weg«, sagte ich und drückte die Flügeltür auf.

»Mercer sagte, du brauchtest jemanden, der dir hilft, deine Akten nach unten zu tragen.«

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Ich reichte ihm die Papiertüte mit der Yankees-Jacke. »Da, pass darauf auf. Ich habe nicht genug Beweise in dem Fall, als dass mir die Akten zu schwer würden.«

»Ich bin auch gekommen, um dir zu sagen, dass wir eventuell Glück haben, was die Fingerabdrücke aus Queenies Wohnung angeht.«

»Habt ihr frische? Ich meine, schließlich hört es sich an, als ob die ganze Zeit Kinder ein- und ausgegangen wären, um was für sie zu erledigen.«

»Sie sollten gut sein. Du kennst doch diese Plastik-toilettenaufsätze für die Klobrille, wenn man aus irgendeinem Grund nicht mehr so weit runter kann?«

»Sicher.« Queenie Ransome hatte einen Gehirnschlag gehabt, und ich musste erneut daran denken, wie die Ermittler jeden Aspekt ihrer Intimsphäre se-zierten und ihr auch noch die letzte Würde raubten.

»Anscheinend musste der Mörder mal und hat den Aufsatz auf den Boden gelegt. Man fand an den Seiten ein paar gute Abdrücke. Beide Hände, jeweils vier Finger. Klar und sauber.«

»Habt ihr sie durch den Computer laufen lassen?«

»Himmel, Ms. Cooper, wo wär ich bloß ohne Ihre guten Ratschläge?«

»Also keine Treffer?«

»Nein, noch nicht. Aber damit haben wir zumindest schon mal was an der Hand.«

»Wir sehen uns unten im Büro. Ich bin hier noch nicht fertig«, sagte ich und ging zurück in den Gerichtssaal.

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Ein paar Minuten später schwang die Tür auf, und Nancy Taggart und Dulles’ Anwalt Graham Hoyt kamen mit grimmigen Gesichtern den Mittelgang herunter.

»Ich mag es nicht, wenn man mich warten lässt, Ms. Taggart. Sie halten uns auf. Und bei Ihnen ist es schon das zweite Mal, Mr. Hoyt«, sagte Moffett, während er von der Richterbank herabkam, seine schwarze Robe aufhakte und auf sein Amtszimmer zuging.

»Robelon – Sie und Ihr Mandant sind bis Montag entlassen. Wir fangen um Punkt neun Uhr dreißig an.«

Hoyt schüttelte sowohl Andrew Tripping als auch Peter Robelon die Hand, als sie mit Emily Frith im Schlepptau an ihm vorbeigingen. Er flüsterte Robelon etwas ins Ohr.

»Folgen Sie mir«, sagte der Richter, als die anderen den Raum verlassen hatten. »Würden Sie bitte den Jungen und die Pflegemutter holen?«

»Wir müssen Ihnen sagen, dass das nicht geht, Eu-er Ehren. Es gibt da ein Problem«, erwiderte Taggart.

Sie vermied es, mich anzusehen.

»Was ist denn jetzt schon wieder?«

Nancy Taggart begann dem Richter die Sachlage zu erklären. Ich stand auf und klopfte ungeduldig mit dem Kugelschreiber auf die Akte. Ich wollte Moffett unbedingt sagen, dass das nach dem gestrigen Anruf der Pflegemutter vorhersehbar gewesen wäre. Jetzt hatten wir einen ganzen Tag verloren, nur weil Taggart verlangt hatte, die Sache ihren fähigen Händen zu überlassen.

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»Euer Ehren, Ms. Taggart ist nicht ganz offen mit Ihnen. Ich würde Ihnen gerne erzählen, was gestern Nachmittag passiert ist, und Ihnen von meiner anschließenden Unterhaltung mit Ms. Taggart berich-ten. Ich bot ihr jegliche Hilfe an, die sie brauchte, um die Pflegemutter zu finden –«

Taggart zeigte auf den Flur hinter sich. »Mrs. Wykoff, die Pflegemutter, ist hier. Sie ist nicht das Problem. Dulles ist verschwunden, Sir. Er ist weggelaufen.«

13

Es war Freitagabend, achtzehn Uhr. Ich saß zusammen mit Mike Chapman, Mercer Wallace und Brenda Whitney, der Leiterin der Presseabteilung, in Battaglias Büro.

»Glauben Sie, dass er abgehauen ist oder entführt wurde?«, fragte der Bezirksstaatsanwalt. Der Rauch seiner Zigarre vermischte sich mit dem der billigeren Marken, die er Mike und Mercer angeboten hatte.

Brenda hustete, während ich antwortete: »Die Pflegemutter denkt, dass der Junge einfach aus dem Auto gesprungen ist, während sie ins Schulgebäude ging, um ihr älteres Kind abzuholen. Aber da ich noch nie mit ihr gesprochen habe«, sagte ich, »kann ich schlecht ihre Glaubwürdigkeit beurteilen.«

»Was unternimmt die Polizei, um ihn zu finden?«, fragte Battaglia die Detectives.

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»Ich habe im Präsidium angerufen. Der Chief of Detectives hat ein paar Jungs von der Major Case Squad drauf angesetzt. Wir zapfen die Telefone an, überprüfen den Background und das Umfeld der Pflegemutter und fragen die Schullotsen, ob sie den Jungen gesehen haben«, antwortete Mike.

»Wo ist Mrs. Wykoff jetzt?«

»Pat McKinney hat die Ermittlungen der Abteilung für Kindesmissbrauch übertragen. Ich bin mir nicht sicher, wer sie vernimmt. Er denkt, dass sie mehr aus ihr herausbekommen werden, wenn sie sich keine Sorgen machen muss, dass ich die Informationen im Prozess verwende. Das Jugendamt hat ihr das eingebläut.«

»McKinney hat Recht«, sagte Battaglia und kaute auf seiner Zigarre. »Außerdem stecken Sie mitten in der Verhandlung. Sie können sich nicht auch noch darum kümmern.«

»Ich weiß«, sagte ich. »Aber das Leben des Jungen ist verdammt noch mal wichtiger als die Vergewaltigung von Vallis. Ich sage es nur ungern, aber sie ließ sich vergewaltigen, weil sie den Jungen schützen wollte. Ich bin bereit, den Fall auf sich beruhen zu lassen, falls es dem Jungen so viel Angst macht.«

»Und ihn zu seinem durchgeknallten Vater zu-rückgehen zu lassen?«, fragte Mercer. »Auf keinen Fall.«

»Boss, ich weiß, dass ich mich nicht auf die Zeugenaussage konzentrieren kann, falls wir den Jungen bis Montag nicht gefunden haben.«

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»Seien Sie nicht so voreilig, Alex. Tun Sie, was Sie tun müssen, und vertrauen Sie darauf, dass die Polizei ihre Arbeit macht. Können Sie bei Moffett nicht etwas Zeit herausschinden?«

»Er würde die ganze Sache ohnehin am liebsten so schnell wie möglich loswerden. Wir werden das Kreuzverhör von Vallis am Montag beenden. Dann habe ich als Zeugen die Bedienung vom Coffeeshop, die Cops und die Krankenschwester. Ohne den Jungen. Und falls Robelon sein Gesuch überzeugend vor-bringt, wird der Richter die Klage wahrscheinlich ab-weisen, weil der Tatbestand einfach nicht ausreichend ist.«

»Brenda, wie gehen wir damit um?« Der Bezirksstaatsanwalt war ein Genie im Umgang mit der Presse. »Die Presseabteilung der Polizei hat die Sache doch sicher bereits rausgegeben.«

»Man wird uns eine Kopie der Pressemitteilung faxen. Sie wollen es in keinster Weise mit dem Prozess in Verbindung bringen. Sie bleiben bei dem Vermissten-Kind-Ansatz. Der Chief hatte gehofft, es noch bis zu den Sechs-Uhr-Nachrichten zu schaffen. Um elf wird die Story wahrscheinlich der Aufmacher sein.«

»Du rufst besser Paige an und erzählst ihr davon, bevor sie es im Fernsehen sieht«, sagte ich zu Mercer.

Er hatte Paige Vallis nach Hause gebracht und war in mein Büro zurückgekommen, bevor mich Battaglia zu sich zitiert hatte.

»Das wird sie ziemlich mitnehmen. Sie wird sich für sein Verschwinden die Schuld geben«, sagte er.

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»So viel zu den Geschworenen«, stöhnte ich. Vor lauter Sorge um den Jungen hatte ich nicht an die Pressemitteilungen gedacht, mit deren Hilfe man die Öffentlichkeit zur Suche nach Dulles mobilisieren wollte. Die Geschworenen würden am Wochenende die Fernsehnachrichten sehen und die Zeitungen lesen. Paige hatte in ihrer Zeugenaussage so viel über Dulles erzählt, dass sie sein Verschwinden garantiert mit dem Prozess in Verbindung bringen würden.

»Hat der Richter ihnen denn nicht gesagt, dass sie alle Medienberichte ignorieren sollen, die mit dem Fall zu tun haben?«, fragte Battaglia.

Chapman blies einen Rauchring, stand auf und nahm sich noch eine Zigarre aus dem Humidor des Bezirksstaatsanwalts. »Na klar. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Geschworenen die Schlagzeilen nicht lesen, ist ebenso groß wie die, dass ich zu einer Ménage à trois mit Sharon Stone und Blondie hier in den Whirlpool steige oder Sie mit fünfundachtzig nicht mehr hinterm Schreibtisch sitzen. Seien Sie realistisch, Mr. B. – sie werden die Story verschlingen.«

»Ich werde Sie am Wochenende auf dem Laufenden halten«, sagte ich zu Battaglia und Whitney.

Wir gingen zurück in mein Büro. Mercer verabschiedete sich und machte sich auf den Weg zur Abteilung für Kindesmissbrauch, die im sechsten Stock des gegenüberliegenden Gebäudes untergebracht war.

Er würde den Detectives alles sagen, was er über Dulles Tripping wusste. Nancy Taggart war wahrscheinlich auch schon zur Befragung dort.

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»So viel zu meinem Plan, mich mit meinem Zeugen anzufreunden.« Ich nahm Mike die Papiertüte ab und sperrte die Yankees-Jacke in einen Aktenschrank.

»Ist sonst noch was?«

»Na ja, bevor dein Wochenende ruiniert wurde, wollte ich dich eigentlich fragen, ob du morgen Vormittag für ein paar Stunden mitkommen kannst. Ich wollte gern jemanden dabeihaben, wenn ich mich in Queenies Wohnung umsehe.«

»Was ist mit Sarah?«, fragte ich.

»Irgendwie kann ich mir schlecht vorstellen, einen Tatort mit einem Baby und einem Kleinkind im Schlepptau zu begutachten. Zu viel Gesabbere verrin-gert die Chance auf brauchbare DNA.«

»Warum hat jeder bloß so viel Verständnis für Mütter?«, fragte ich lächelnd. »Warum habe ich keine Entschuldigungen, die es mit Stillen, laufenden Nasen oder Windelgroßeinkäufen aufnehmen können?«

»Hey, falls du sonst nichts Besseres zu tun hast als den Samstag im Bett rumzuhängen, dann hast du keine Wahl. Soll ich dich nach deiner Ballettstunde abholen?«

Mike kannte meinen Tagesablauf. Ich hatte seit meiner Kindheit Tanzstunden genommen; mein wö-

chentlicher Kurs war für mich nicht nur sportliche Betätigung, sondern auch eine Möglichkeit, berufli-chen Stress abzubauen.

»Zehn Uhr, vor Williams Studio.«

»Und tu mir einen Gefallen. Hüpf dieses Mal unter die Dusche, bevor du dich anziehst. Als ich dich das 163

letzte Mal nach der Stunde abgeholt habe, hast du ge-rochen wie eine Ziege.«

»Das letzte Mal«, erinnerte ich ihn, »bist du mitten in der Stunde aufgetaucht, weil du die Leiche eines Vergewaltigers gefunden hattest, hinter dem Mercer und ich seit zwei Jahren her waren. Vertrau mir, ich werd sogar etwas Parfüm auflegen.«

»Ich werd’s dir noch schmackhafter machen. Ich hab dir doch erzählt, dass die Kinder behaupten, Queenie hätte für sie getanzt? Erinnerst du dich?«

»Natürlich.«

»Vor ihrem Gehirnschlag muss sie ein heißer Feger gewesen sein.« Mike nahm einige Fotos aus seiner Aktenmappe. »Du hättest dich gut mit ihr verstanden. Sie war ebenfalls Tänzerin.«

Ich nahm Mike die verblichenen Schwarzweißfotos aus der Hand.

»Siehst du, was ich meine?«, fragte er. »Nur ein bisschen exotischer als du. Denk mal, wie viel Geld sie an den Kostümen gespart hat.«

Auf den meisten Bildern bot die Kamera freien Ausblick auf den Körper von McQueen Ransome. Ei-ne Tiara mit Strasssteinen auf dem Kopf, lange schwarze Seidenhandschuhe bis über die Ellbogen und ein Paar hochhackige Schnürsandalen – sie prä-

sentierte ihre tolle Figur mit viel Selbstbewusstsein und Stolz, offenbar auf einer Bühne vor Publikum.

Kein Wunder, dass große Fotografen wie Van Derzee mit ihr gearbeitet hatten.

Ich suchte auf der Rückseite nach irgendwelchen 164

Zeit- oder Ortsangaben. Auf manchen Fotos war handschriftlich das Jahr vermerkt – 1942.

»Wo hast du die gefunden?«, fragte ich.

»In einem der Stapel aus den ausgeleerten Schubladen.«

»Sind noch mehr davon in der Wohnung?«

»Eine ganze Menge. Ich habe mir nur ein paar geschnappt, um dich zu ködern. Ob sich wohl jemand an diesen alten aufreizenden Fotos aufgegeilt hat?«

»Hoffentlich nicht. Die alte Queenie hat wenig Ähnlichkeit mit der Neunzehn- oder Zwanzigjährigen auf diesen Fotos. Aber du hast Recht – ich bin morgen Vormittag mit von der Partie.« Ich raffte meine Akten zusammen, um mich auf den Nachhauseweg zu machen.

»Bleibst du nicht bis Jeopardy! ?«, fragte Mike.

»Jake ist wieder da. Abendessen zu Hause. Warum machst du dich nicht auch vom Acker und lädst zur Abwechslung mal Val zum Essen ein?«

»Noch immer hier?« Lee Rudden, einer der besten jungen Anwälte in meiner Abteilung, stand mit zwei Flaschen Bier in der Hand an der Tür. Freitags brachten die meisten Abteilungsleiter gern Sechserpacks mit, um die lange Arbeitswoche mit einem kollegialen Umtrunk ausklingen zu lassen. »Ein kaltes Bier, Alex?«

»Nein danke. Ich wollte gerade gehen.«

»Ich sage nicht Nein«, sagte Mike und nahm Lee ein Bier ab.

»Haben Sie eine Minute Zeit? Kann ich Sie kurz um Rat fragen?«

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Ich nahm die Eieruhr aus Messing von meinem Schreibtisch und drehte sie um. »Ich gebe Ihnen drei.

Die Uhr läuft.« Einer meiner Lieblingsprofessoren im Jurastudium hatte uns mit einer ähnlichen Antwort amüsiert. Jedes Mal, wenn ihn ein Student um eine Minute bat, wurden daraus unweigerlich mindestens zehn, und jetzt machte ich mit meinem Mitarbeitern die gleiche Erfahrung.

»Erinnern Sie sich an den Fall, den Sie mir am Montag übertragen haben? Das Mädchen, das wegen des Marilyn – Manson-Konzerts aus Long Island in die Stadt gekommen war?«, fragte Lee.

Ich nickte, obwohl der Wochenanfang schon eine Ewigkeit her schien. »Ja. Jemand rief die Polizei, weil sie allein in der Penn Station am Bahnsteig stand und sich die Augen ausheulte.«

»Richtig. Also, heute habe ich sie endlich zur Vernehmung herzitieren können. Zwölf Ohrringe im linken Ohr, gepiercte Zunge und gepiercter Bauchna-bel. Achtzehn Jahre alt. Sie war mit ihren Freunden zum Madison Square Garden gekommen, aber sie verloren sich vor dem Konzert aus den Augen. Die anderen wollten noch Stoff besorgen.«

»Und das Mädchen?«

»Sie wartete neben dem Bühneneingang und hielt ein selbst gemachtes Poster hoch, um die Aufmerksamkeit des Bassisten auf sich zu lenken.«

»Raus damit: Was stand darauf?«, fragte ich.

»Fuck me, Twiggy!«

Chapman lachte und nahm einen kräftigen Schluck 166

Bier. »Jetzt sagen Sie nicht, sie beschwert sich, dass er sie beim Wort genommen hat?«

»Nein, nein«, erwiderte Lee. »Des Weges kam ein unternehmungslustiger junger Mann, der sich als Mitglied der Bühnencrew ausgab. Er bot Alicia an, ihr als Gegenleistung für einen Blowjob Tickets ganz vorne vor der Bühne zu besorgen. Damit Twiggy das Schild auch wirklich gut zu sehen bekäme.«

»Das nenn ich einen neuen Schwarzmarktpreis«, sagte Mike.

»An dem Preis störte sich Alicia kein bisschen. Sie gingen in eine Gasse um die Ecke in der 33. Straße, und sie vollbrachte die Tat. Aber das Arschloch ließ die Tickets nicht rüberwachsen. Sie fand ihre Freunde nicht wieder und kaufte sich schließlich von ihrem Geld für die Heimfahrt einen billigen Platz ganz hinten.«

»Und die Tränen?«

»Tränen um Twiggy und die vertane Chance. Sie sagt, sie hätte den Cop angelogen und ihm erzählt, dass sie vergewaltigt worden sei, weil das einmal einer Freundin von ihr in der Stadt passiert sei und die Cops sie die weite Strecke nach Hause gefahren hätten – kostenlos.«

Ich scheuchte die beiden aus meinem Büro. »Hört sich an, als brauchten Sie mich überhaupt nicht.«

»Ich will nur wissen, ob ich sie wegen Falschaussage anklagen soll.«

»Haben die Cops den Kerl, mit dem sie Oralsex hatte, eingesperrt?«

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»Ja. Ursprünglich hatte sie behauptet, dass er sie gezwungen hat. Jetzt gibt sie zu, dass sie es freiwillig gemacht hat. Aber er ist seit fünf Tagen im Gefängnis.«

»Wie viel Zeit hat der Cop auf die Sache ver-schwendet?«, fragte Mike.

»Er hat die halbe Nacht mit dem Mädchen im Krankenhaus verbracht und sie dann zu Mama und Papa nach Hause geschleppt, um ihnen die ganze Situation zu erklären. Die Eltern hätten ihn fast kast-riert, obwohl er nur der Überbringer war.«

»Loch sie ein«, sagte Mike. »Was meinst du, Coop?«

»Ganz deiner Meinung. Geh’n wir.«

Wir bogen um die Ecke in den dunklen, ruhigen Hauptkorridor. Eine Gestalt saß mit dem Rücken zu uns am Sicherheitsschalter gegenüber den Aufzügen und sprach in ein Handy. Zu dieser späten Stunde waren nur noch die Schalter in der Eingangslobby besetzt.

Als wir den Tisch passierten, drehte sich der Mann um und sprach uns an. »Ms. Cooper? Alex? Könnte ich Sie kurz sprechen?« Es war Graham Hoyt.

Ich legte Mike die Hand auf den Arm; ich wusste, dass er das als Zeichen auffassen würde, bei mir zu bleiben. Ich wollte einen Zeugen, wenn ich mich mit Dulles’ Anwalt unterhielt. »Sicher. Wie sind Sie um diese Uhrzeit noch hereingekommen?«

»Ich habe einen alten Kommilitonen besucht und hatte eine Idee, über die ich mich mit Ihnen unterhalten wollte. Ich bin auf dem Weg nach draußen an Ih-168

rem Büro vorbei, und als ich Stimmen hörte, beschloss ich, auf Sie zu warten.«

»Wer ist denn Ihr Kommilitone?«, fragte Mike mit einem misstrauischen Unterton in der Stimme.

»Jack Kliger, von der Abteilung für Wirtschaftskriminalität. Ich habe ihm eine Flasche Champagner vorbeigebracht. Er und seine Frau haben gerade Nachwuchs bekommen.«

Jack war ein bisschen älter als ich und hatte an der Columbia-Universität Jura studiert. Es stimmte, dass seine Frau vor kurzem ihr drittes Kind entbunden hatte. Ich könnte ihn nächste Woche nach Hoyt fragen, aber sie schienen sich offensichtlich zu kennen.

»Worüber wollten Sie mit mir sprechen? Ich habe eine Verabredung und würde gerne pünktlich sein.«

Er sah Chapman an, dann wieder mich.

»Mike Chapman«, stellte ich vor. »Mordkommission. Er bleibt hier.«

»Ich bin in einer schwierigen Lage«, begann Hoyt zögerlich. »Peter Robelon weiß nicht, dass ich hier bin. Er und Andrew Tripping würden mir wahrscheinlich den Kopf abreißen, wenn sie wüssten, dass ich mit Ihnen über Dulles rede. Aber ich bin der Meinung, dass Sie und ich uns auf eine Lösung einigen sollten, die im besten Interesse des Kindes ist.«

»Daran ist doch etwas faul, Mr. Hoyt.« Ich ging zum Aufzug und drückte den Knopf. »Haben Sie dem Gericht nicht gestern erst erzählt, dass Dulles’ Verletzungen vom Lacrosse herrührten? Ich glaube nicht, dass wir uns über irgendetwas einigen können.«

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»Sie haben einen Detective hier als Zeugen. Was, wenn ich Ihnen sage, dass ich es einrichten kann, Sie mit dem Jungen sprechen zu lassen?«

Ich drehte mich um und musterte ihn scharf.

»Ich wäre dazu bereit, Ms. Cooper.«

»Warum zum Teufel haben Sie dann dem Richter dieses Märchen über seine blauen Flecken aufge-tischt?«

»Weil ich neben Peter Robelon und Andrew Tripping stand. Das war die offizielle Version der Verteidigung für diesen Teil der Anklage. Das wussten Sie.«

»Alles der Reihe nach. Wissen Sie, wo sich der Junge im Augenblick befindet?« Ich deutete aus dem Fenster hinüber zur Abteilung für Kindesmissbrauch.

»Zur Zeit findet eine groß angelegte Suchaktion nach dem Jungen statt. Falls Sie etwas wissen, ist das unsere erste Pflicht.«

»Dessen bin ich mir durchaus bewusst. Ich habe keinen Schimmer, wo er ist. Aber ich glaube, dass Dulles, falls er von den Wykoffs weggelaufen ist –

und ich kann nur hoffen, dass ihn niemand entführt hat –, eher meine Frau oder mich kontaktieren wird als Robelon.«

»Weil Sie sein Verfahrenspfleger sind?«, fragte ich.

»Weil wir ihn seit seiner Geburt kennen.«

»Wie das?«

»Andrew, Peter und ich haben alle drei zusammen in Yale studiert. Ich habe Peter im ersten Studienjahr kennen gelernt. Wir haben viele Kurse zusammen belegt und danach beide Jura studiert.«

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»Und Andrew?«

Hoyt war direkt. »Ich mochte Andrew nie besonders. Ich war bis über beide Ohren in die Frau verliebt, die er später geheiratet hat. Dulles’ Mutter, Sally Tripping. Wir sind ein paar Jahre zusammen gewesen. Sie war auch in unserem Jahrgang. Sally hat mich wegen Andrew verlassen.«

»Das spricht nicht für Sie, Kumpel«, sagte Chapman.

»Andrews Krankheit war damals noch nicht er-sichtlich. Er ist sehr intelligent, möglicherweise sogar brillant. Er hat erst nach dem Studium durchgedreht.

Ich glaube, er wurde beim Militär mit Schizophrenie diagnostiziert.«

»Hatten Sie mit Sally bis zu ihrem Tod – ihrem Selbstmord – Kontakt?«, fragte ich.

»Leider nein. Das ist einer der Gründe, warum ich dem Jungen helfen möchte. Ich fühle mich wohl ein bisschen schuldig. Vielleicht wäre sie noch am Leben, wenn ich ihr ein besserer Freund gewesen wäre. Na-türlich«, fuhr er fort, »glaube ich nach wie vor nicht, dass sie sich das Leben genommen hat. Vielleicht wä-

re die Sache anders verlaufen, wenn Sie die Ermittlungen geleitet hätten, Mr. Chapman.«

Mich interessierte Hoyts Beziehung zu Dulles.

»Am besten reden Sie auch mit den Detectives der Major Case Squad. Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn wir Ihre Privatnummer überwachen, für den Fall, dass der Junge anruft?«

Ȇberhaupt nicht. Ich habe wahrscheinlich eine 171

bessere Telefonanlage als die New Yorker Polizei, aber tun Sie, was in Ihrer Macht steht.«

»Kannst du ihn zur Abteilung für Kindesmissbrauch rüberbringen?«, fragte ich Mike.

»Sicher.«

»Was springt für Sie dabei heraus?«, fragte ich, überrascht von seinem Hilfsangebot. »Ich meine, wenn Sie ein Treffen zwischen mir und Dulles arrangieren.«

»Ich möchte, dass es dem Jungen gut geht, Ms.

Cooper. Um ganz ehrlich zu sein, ich möchte, dass er ohne seinen Vater aufwächst. Das bringt mich juristisch in eine schwierige Position, deshalb hoffe ich, dass dieses Gespräch unter uns bleibt. Ich habe in den letzten zehn Jahren viel Geld gemacht.«

»Als Anwalt?«, fragte Mike. »Coop hat davon nichts weiter als alle zwei Wochen einen städtischen Gehaltszettel und einen Haufen Stress.«

»Gelungene Geldanlagen. Mandanten, die mir luk-rative Deals zuschustern. Ein paar gute Ratschläge und einen Haufen Glück. Unterm Strich? Ich habe eine Frau, die ich anbete, eine Wohnung am Central Park West, ein Strandhaus auf Nantucket und eine dreißig Meter lange Yacht, die mich dort hinbringt. Was ich nicht habe«, sagte Graham Hoyt, »ist ein Kind. Meine Frau und ich würden Dulles gerne adoptieren. Wir können ihm ein gutes und stabiles Leben bieten – vielleicht sogar ein glückliches Leben.«

»Und Andrew weiß das?«

»Natürlich nicht. Deshalb wäre es mir ja so recht, 172

wenn Sie ihn ins Gefängnis befördern würden. Im besten Fall macht er den Weg zur Adoption frei. Im schlimmsten Fall ist er erst einmal weg vom Fenster, bis Dulles alt genug ist, für sich selbst zu entscheiden.«

»Wie steht’s mit Peter Robelon?« Battaglia traute ihm nicht, aber das hing wohl teilweise damit zusammen, dass Robelon bei den nächsten Wahlen gegen ihn antreten wollte. »Weiß er, was Sie vorhaben?«

»Hören Sie, Ms. Cooper. Warum setzen wir drei uns nicht morgen für ein, zwei Stunden zusammen?

Dann erzähle ich Ihnen alles. Hoffentlich wird Dulles bis dahin vernünftig geworden sein und zu Mrs. Wykoff zurückkehren – oder mich anrufen. Sie sagen mir, was Sie von dem Jungen wollen, und ich erzähle Ihnen die Familiengeschichte, soweit ich sie kenne.

Schließlich haben wir im Grunde genommen dasselbe Ziel. Was sagen Sie dazu?«

Der morgige Tag war ohnehin gelaufen. »Wollen Sie am Nachmittag hierher in mein Büro kommen?«

»Gegenvorschlag: Kommen Sie doch um zwei Uhr in meinen Club. Er ist direkt in Midtown. Wir können zusammen zu Mittag essen und uns einen Plan ausdenken.«

Er holte eine Visitenkarte hervor und notierte die Adresse.

»Ich habe Sie nach Robelon gefragt. Glauben Sie nicht, dass er dagegen etwas einzuwenden hätte?

Tripping muss ihm doch einen Haufen Kohle für seine Verteidigung bezahlen.«

»Tripping hat kein Geld«, sagte Hoyt.

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»Aber ich dachte, er hätte einiges geerbt.«

»Ein heruntergekommenes Cottage auf einem halben Hektar Land in Tonawanda County, eine Speise-kammer mit den selbst gemachten Marmeladen seiner Mutter und das Gen seines Vaters für Geistes-krankheit.«

»Und seine Arbeit?«

»Es gibt genügend Ex-Agenten, die Privatfirmen oder die Regierung in Sicherheitsangelegenheiten beraten. Einen wie Andrew, mit seinen psychischen Problemen im Hintergrund, will niemand anheuern.

Er verdient so gut wie gar nichts. Wir alle schustern ihm hin und wieder ein paar Jobs zu und greifen ihm finanziell unter die Arme, damit er seinen Lebensunterhalt und die Kaution bezahlen kann.«

»Also, was ist für Robelon drin?«

»Sagen Sie Paul Battaglia, dass er sich nicht auf mich berufen soll, bis die Adoptionssache unter Dach und Fach ist. Aber es wird ihn interessieren, dass Tripping ihm alles liefern kann, was er über Robelon wissen will. Das ist der wahre Grund, warum ich heute zu Jack Kliger gegangen bin. Tripping behauptet, Informationen über einige Insidergeschäfte zu haben, die Peter Robelon angeblich eingefädelt hat.«

»Er hat Peter erpresst, ihn vor Gericht zu vertreten?«, fragte ich ungläubig.

Hoyt nahm seinen Aktenkoffer und ging mit uns zum Aufzug. »Peter Robelon würde über Leichen gehen, um Andrew Tripping vor einer Gefängnisstrafe zu bewahren.«

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14

Mike verfrachtete mich in der Centre Street in ein Taxi und wünschte mir einen schönen Abend. Dann brachte er Graham Hoyt zu den Detectives, die mit der Suche nach Dulles beschäftigt waren.

Die Fahrt nach Uptown dauerte über eine halbe Stunde. Freitagabends strömte alles aus den Vororten in die Restaurants, Theater, Clubs und Bars der Stadt.

Zu Hause angekommen, schloss ich die Wohnungstür auf. Es war schön, zu Hause zu sein, und ich freute mich auf den ruhigen Abend mit Jake. Ich zog meine Kostümjacke und meine hochhackigen Schuhe aus und ging auf Zehenspitzen in die Küche. Jake war gerade dabei, etwas vorzubereiten, das wie himmli-sche fettuccine alle vongole duftete, und stand, das Austernmesser in der Hand, am Ausguss, um als Vorspeise ein Dutzend Venusmuscheln zu öffnen. Ich trat hinter ihn, schlang meine Arme um seinen Hals und knabberte an seinem Ohrläppchen.

»Kannst du das Essen nicht erwarten?« Er drehte sich um und küsste mich.

»Ich bin am Verhungern. Ich hab dir nicht viel weggebissen. Wie wär’s, wenn du mich mal fest in den Arm nimmst?«

»Ich bin voller Muschelsaft«, sagte er und streckte die Arme von sich.

»Scheißegal.« Ich zog meine Seidenbluse über den Kopf und fing an, mich auszuziehen. »Es war eine lange Woche.«

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»Du musst es heute im Gericht allen gezeigt haben.

So wie du rangehst.«

»Im Gegenteil. Von meinem Fall ist kaum noch etwas übrig. Am Montag bin ich vielleicht nicht mehr so gut gelaunt, wenn Peter Robelon mit dem Kreuzverhör meiner Zeugin fertig ist. Also falls du ein paar Streicheleinheiten brauchst, dann musst du sie dir heute holen.« Ich stand nackt mitten in der Küche.

»Siehst du, jetzt kannst du mir keine Fettflecken mehr auf die Klamotten machen.«

»Das hier sind nicht einmal Austern, und sieh einer an, welche Wirkung sie auf dich haben.« Jake legte das Messer beiseite und nahm mich in die Arme.

Wir küssten uns ausgiebig, dann nahm ich Jake an der Hand und zog ihn ins Schlafzimmer.

Fast gelang es seinen Händen, die düsteren Gedanken vom Tag aus meinem Kopf zu verscheuchen. Ich hatte meinem traurigen Tagesgeschäft in den letzten Monaten zu oft erlaubt, unser Gefühlsleben zu beein-trächtigen, und das hatte unser Zusammensein unnö-

tig verkompliziert.

Ich drehte mich auf die Seite, schmiegte mich an ihn und ließ mich von ihm liebkosen. »Hast du heute Abend die Nachrichten gesehen?«, fragte ich.

»Ich hatte den Fernseher nicht an. Ich war bei Grace’s Marketplace einkaufen und hatte gerade mit dem Kochen angefangen. Warum?«

»Der Sohn des Angeklagten in meinem Fall ist verschwunden. Die Polizei gibt heute Abend sein Bild 176

und seine Beschreibung raus. Ich wollte nur wissen, wie es rüberkam.«

Jake strich mir über die Haare. »Lass uns gemütlich zu Abend essen, und dann können wir uns um elf die Lokalnachrichten ansehen. Wie kommt es, dass du so ruhig bist?«

»Die Major Case Squad kümmert sich um die Sache. Battaglia ist der Meinung, dass ich mich da raus-halten soll. Der Anwalt des Jungen kam heute nach der Verhandlung vorbei, um mit mir zu sprechen. Er kennt Dulles seit seiner Geburt, und er hat Mike und mir erzählt, welch cleverer Junge Dulles ist. Anscheinend ist er schon öfter von zu Hause weggelaufen, als er noch in Upstate wohnte, aber nach ein, zwei Tagen immer wieder zurückgekommen.«

»Wo geht er normalerweise hin?«, fragte Jake.

Graham Hoyt hatte Mike und mir im Aufzug er-zählt, dass Dulles in der Regel bis zur Schlafenszeit bei einem Schulfreund auftauchte. Als er noch bei seiner Großmutter gelebt hatte, hatte er ständig davon geträumt, eine richtige Familie zu haben. Er freundete sich mit einem Mitschüler an, der warmherzige und liebevolle Eltern hatte sowie Schwestern und Brüder, mit denen er lachen, spielen und streiten konnte. Ich erklärte das Jake.

»Wie viel Zeit habe ich noch bis zum Essen?«, fragte ich und schlüpfte aus dem Bett.

»So viel du willst. Es ist alles vorbereitet.«

Ich ließ mir im Badezimmer ein duftendes Schaumbad ein. Als der Dampf den Spiegel beschlug 177

und der Schaum bis an den Wannenrand reichte, schaltete ich die Düsen ein und kletterte in das ent-spannende Nass. Jake kam mit zwei Gläsern eisge-kühltem Corton-Charlemagne und kniete sich neben die Badewanne. Während er mir mit einem Wasch-lappen sanft den Nacken und die Schultern massierte, nippte ich an meinem Champagner und schilderte ihm meinen Tag vor Gericht.

Es wurde halb zehn, bis wir uns zum Essen an den Tisch setzten; um elf Uhr schickten wir uns an, ins Bett zu gehen. »Willst du dir nicht noch die Nachrichten ansehen?«, fragte er mich.

»Besser nicht. Mercer hätte mich schon angerufen, falls Dulles irgendwo aufgetaucht wäre.«

Ich schlief unruhig, in Gedanken bei dem Jungen, und stand um sechs Uhr auf, ohne Jake zu wecken, kochte mir eine Kanne Kaffee, mühte mich mit dem Samstagskreuzworträtsel der New York Times und zog mich an.

Ich küsste Jake zum Abschied und nahm dann ein Taxi zum Studio auf der West Side. Die nächste Stunde über ging ich ganz in den Aufwärmübungen und Exercises auf und konzentrierte mich auf die Bewegungen: Dehnungen und Pliés an der Stange, Bodenübungen und einstudierte Schrittfolgen zur Musik von Tschaikowsky.

Im Umkleideraum unterhielt ich mich mit den anderen Kursteilnehmerinnen über die Ereignisse der vergangenen Woche. Ich schlug eine Einladung zu einem spontanen Einkaufsbummel und eine andere 178

zum Brunch in einem Straßencafé auf der Madison Avenue aus. Es kam nicht oft vor, dass ich sie um ihre alltäglichen Aktivitäten beneidete, aber wenn ich beruflich nur noch mit Tragödien und Gewaltverbrechen zu tun hatte, fragte ich mich manchmal, wie es wohl wäre, ein so heiteres und unbeschwertes Leben zu führen wie die meisten von ihnen.

Chapmans Dienstwagen, ein zerbeulter alter schwarzer Crown Vic, stand in zweiter Reihe vor dem Gebäude, als ich es kurz nach zehn Uhr verließ. Mike aß ein Rühreisandwich und hatte mir einen Becher Kaffee in den Becherhalter auf der Beifahrerseite gestellt. »Willst du die Hälfte?«

»Nein, danke. Ich habe vorher gefrühstückt.«

»Aber du musst doch schon wieder Appetit haben.

Hier, nimm schon«, sagte er und hielt mir das Sandwich vors Gesicht.

Ich schob seinen Arm weg. »Hast du irgendwas von Dulles Tripping gehört?«

»Alles ruhig. Laut Mercer waren alle sehr kooperativ: Mrs. Wykoff, dein Kumpel Hoyt, die Schulbe-hörden. Alle sind optimistisch. Weißt du, dass er laut Unterlagen des Jugendamtes in den letzten zwei Jahren öfter als ein Dutzend Mal von zu Hause ausge-büxst ist?«

»Es ist ein großer Unterschied, in einer Kleinstadt zu einem Freund zu laufen oder sich als Zehnjähriger in New York City zurechtzufinden, wenn man erst seit einem Jahr hier wohnt.«

»Hey, es deutet nichts auf eine Entführung hin, 179

und es gibt keine Meldungen, dass ein verletztes Kind in ein Krankenhaus eingeliefert wurde. Also, mach dir nicht so viele Gedanken in deinem verdrehten Hirn«, sagte Mike. Er aß mit einer Hand und steuerte mit der anderen das Auto auf der Amsterdam Avenue Richtung Uptown.

Er parkte vor einem Hydranten in der Nähe von McQueen Ransomes Wohnung. Ein Streifenbeamter, der vom Revierleiter geschickt worden war, nahm uns am Hauseingang in Empfang und ließ uns in die Wohnung. Ein halbes Dutzend neugieriger Teenager folgten uns die Stufen hinauf und fragten uns, was wir in »Miss Queenies« Wohnung wollten. Ich schloss die Tür hinter uns und öffnete ein Fenster. In den muffigen Räumen war seit Queenies Tod nicht mehr gelüftet worden.

Die Wohnung war ein einziges Chaos. Die Fotos der Spurensicherung hatten nur einen Bruchteil davon gezeigt. »Hat es schon so ausgesehen, als ihr hier eingetroffen seid, oder waren das die Cops?«, fragte ich. Manchmal richteten die Ermittler ein größeres Durcheinander an als die Täter.

»Der Mörder hat die Wohnung so zugerichtet. Der Vermieter gibt uns noch eine Woche, dann will er alles in Kisten packen und wegschmeißen. Die Dame, die sich um Queenies Finanzen gekümmert hat, meint, dass sie in Georgia noch zwei Nichten hat, die eventuell kommen und das Bankkonto auflösen – es ist nicht mehr viel drauf – und ein paar von den Mö-

beln und die Familienfotoalben mitnehmen.«

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In dem kleinen Wohnzimmer neben dem Eingang standen ein Sofa, zwei Sessel, ein Fernsehgerät und ein kleines Tischchen mit einem altmodischen Plat-tenspieler. Mike schaltete ihn ein und legte die Nadel auf die Platte, die Queenie als Letztes gehört haben musste.

»Edward Kennedy Ellington. The Duke«, sagte Mi-ke. »Passt zu Queenie.«

Das Stück hieß »Nightly Creatures«. Der unvergleichliche amerikanische Jazzsound erfüllte den Raum und hob unsere gedrückte Stimmung ein wenig.

Die Fotos an den Wohnzimmerwänden waren weniger freizügig als die über Queenies Bett. Die meisten zeigten Queenie, auf einigen posierte sie offenbar mit Freunden und Familienmitgliedern.

»Das muss ihr Sohn sein«, sagte ich zu Mike. Auf einem Foto trug sie ein helles Kostüm mit einem engen, wadenlangen Rock, einen Hut im Stil von Ma-mie Eisenhower und eine Handtasche und hatte ihren Arm um die Schulter eines Jungen gelegt, der noch jünger wirkte als Dulles Tripping. Sie standen am Fu-

ße des Washington Monument.

»Sieht der Junge für dich wie ein Afroamerikaner aus?«, fragte Mike mit Blick auf das hellhäutige Kind mit den sandfarbenen Haaren.

»Queenie Ransome war ja selbst relativ hellhäutig.

Vielleicht war sein Vater ein Weißer.«

»Schau dir das hier an«, sagte Mike. »Hier trägt sie Uniform.«

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Auf dem Foto trug Ransome ein Käppi und Khakis, die an eine Armeeuniform erinnerten. Offenbar führ-te sie auf einer Bühne einen Stepptanz vor und salu-tierte dazu. Hinter ihr hing die Flagge der Truppen-betreuungsorganisation USO von einer Fahnenstan-ge. Ich nahm das Foto von der Wand und drehte es um.

»Dasselbe Jahr wie die Nachtclubfotos, die du gestern im Büro dabei hattest – 1942. Sieht so aus, als wäre sie vor den Truppen aufgetreten.«

»Hier ist noch ein Porträt von James Van Derzee«, sagte Mike. »Ziemlich spektakulär.«

Die wiederum vom Fotografen signierte Studioauf-nahme war wahrscheinlich nach dem zweiten Weltkrieg entstanden und zeigte Queenie, damals Mitte zwanzig, vor dem für diese Ära typischen künstlichen Hintergrund in einem seidenen Abendkleid, die Haare hochgesteckt und gegen eine Marmorsäule gelehnt.

Die Fotogalerie endete bei einem kleinen Bücherregal an der hinteren Wand. Alle Bücher waren aus dem Regal gezogen und auf den Boden geworfen worden. Ich hob ein paar der Bücher auf – populäre Romane aus den fünfziger und sechziger Jahren –

und blätterte in ihnen, fand aber weder lose Blätter noch etwas, das zwischen den Seiten gesteckt hätte.

»Was gibst du mir für eine Erstausgabe von Hemingway?«, fragte Mike. » Wem die Stunde schlägt. «

»1940. Das bringt heutzutage ein hübsches Sümm-chen.« Er wusste, dass ich Bücherraritäten sammelte.

»Bei der letzten Auktion ging sie für ungefähr fünf-182

undzwanzigtausend über den Tisch, wenn ich mich recht erinnere.«

»Hebt seine Unterschrift den Wert?«

»Du machst Witze. Lass mich sehen.« Ich nahm ihm das Buch aus der Hand. Der Einband war jung-fräulich, aber bei dem Aufprall auf den Boden war der Buchrücken kaputtgegangen. »›Für Queenie – die selbst ein Fest fürs Leben ist – Papa.‹ Pack das ein und stell es sicher. Lass uns alle Bücher durchsehen.«

»Vermutlich hat sie nicht nur für die Jungs hier im Viertel ihre Beine geschwungen. Hättest du sie nicht gern kennen gelernt?«, fragte Mike und legte eine neue Platte auf. »Einfach nur hier zu sitzen und ihren Geschichten zuzuhören? Muss ’ne Klassefrau gewesen sein.«

Ich ging um die Ecke ins Schlafzimmer und schaltete das Licht ein. »Kann ich hier was anfassen?«

»Alles schon durchgesehen«, sagte Mike und folgte mir.

Die Kommodenschubladen standen offen, und ihr Inhalt lag über den ganzen Boden verstreut. Queenies altes rosafarbenes Lederschmuckkästchen war mit schwarzem Rußpulver bedeckt. »Habt ihr hier drin irgendwas gefunden?«

»Nur das, was du siehst.«

Eine lange verknotete künstliche Perlenkette, wie sie die Flapper in den zwanziger Jahren getragen hatten, einige große Broschen aus farbigem Glas und viele helle Ohrgehänge aus Bakelit oder Plastik. Ein Flohmarkthändler würde sich über diese Sachen freu-183

en, aber nichts davon hatte Verkaufswert, und selbst der kleinste Dieb hätte sie zurückgelassen.

Ich öffnete den Wandschrank und sah die Kleiderbügel durch.

»So viel zu den Abendkleidern und Tiaras. Trag sie, solange du kannst, Coop. Am Ende bleibt dir nur das«, sagte Mike. Eine Sammlung karierter und geblümter Hauskleider und ein paar Kleider, die am ehesten für einen Gottesdienst oder eine Beerdigung geeignet wä-

ren. »Der Gerichtsmediziner hat gefragt, ob du ein passendes Kleid für ihre Beerdigung aussuchen könntest.«

»Es wird tatsächlich eine richtige Beerdigung geben?«

»Das Dezernat organisiert eine. Bisher konnte noch niemand die Nichten in Georgia ausfindig machen, und die Jungs wollen alle etwas für Queenie arrangieren. Irgendwann nächste Woche – ich sag dir noch Bescheid.«

In der Mordkommission existierte eine stillschwei-gende Tradition, dass sie selbst eine Beerdigung orga-nisierte, falls das Opfer keine Angehörigen mehr hatte. Queenie würde nicht weit von dem noch immer nicht identifizierten Baby beerdigt werden, das die Detectives Baby Hope getauft hatten, sowie dem ob-dachlosen Gitarrespieler namens Elvis, der in der U-Bahn-Station an der 125. Straße wegen der paar Dollar, die er sich erbettelt hatte’, umgebracht worden war.

»Was ist das auf dem Boden?«, fragte ich.

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»Die Scheißkerle haben auf der Suche nach Bargeld sogar all ihre Schuh- und Hutschachteln ausgekippt.

Das da ist der traurige Rest.«

Der dunkle Holzboden des Wandschranks war übersät mit Silbermünzen. »Das war wahrscheinlich ihr eiserner Vorrat – das Trinkgeld für die Kids, wenn sie für sie einkaufen gingen.«

Ich kniete mich nieder und ließ die Münzen durch meine Finger gleiten. Sie fielen klirrend zu Boden.

Mike und ich kannten Opfer, die für weit weniger Geld umgebracht worden waren als auf dem Boden von Queenies Schrank lag.

»Versprich mir, dass jemand ein gründliches Inventar erstellt«, sagte ich. »Für dich sieht es vielleicht nicht nach Wertvollem aus, aber die ganzen Erinne-rungsstücke hier sollten nicht einfach so weggewor-fen werden.«

»Schau dir bitte mal diese Fotos an«, sagte er und deutete mit einer ausholenden Handbewegung auf die Schlafzimmerwände. »Hast du so was schon mal gesehen? Es ist, als ob sie sich selbst eine Gedenkstätte errichtet hätte. Ich meine, sie war verdammt gut gebaut, aber könnten diese Fotos – könnte ihre Vergangenheit – etwas mit dem Mord zu tun haben?«

Anhand der Tatortfotos erkannte ich das Bett wieder, auf dem ihre Leiche gelegen hatte. Nach Ansicht der Detectives war sie dort getötet worden. Zusätzlich zu dem Porträt von Van Derzee über dem Kopfende hingen noch sieben weitere erotische Aufnahmen an der Wand, mit jeweils unterschiedlichem Hinter-185

grund. Keine Bühne, kein Studio, keine tanzende Queenie – sie waren schlicht und einfach pornografisch.

So eine Situation hatte ich in einem Kriminalfall noch nie gehabt. Vor sechzig Jahren mochten die Bilder aufreizend gewirkt haben, doch konnte ich mir nicht vorstellen, dass heutzutage jemand auf die teilweise gelähmte, über achtzigjährige Frau genauso reagierte hätte.

»Frag mich was Leichteres!«, sagte ich. »Aber auszuschließen ist es nicht.«

Gegenüber dem Fußende des Bettes stand eine Fri-sierkommode. Rechts vom Spiegel war ein weiteres Foto der jungen Ransome, als tanzende Scheherazade in Pluderhosen mit winzigen Glöckchen in den hoch erhobenen Händen. Links vom Spiegel standen sich auf einem weiteren Foto zwei Frauen im Profil gegenüber, beide in bodenlangen, trägerlosen Satinklei-dern.

»Das musst du dir ansehen! Queenie Nase an Nase mit Josephine Baker.« Ich erkannte die amerikanische Tänzerin, die den Großteil ihres Lebens in Paris verbracht hatte und als eine der sinnlichsten Künstlerin-nen aller Zeiten galt.

»Den Talentschuppen verschieben wir auf später, Coop. Merkst du was?«

»Was?«

»Die Schwingungen.« Mike setzte sich auf einen Hocker neben der Kommode und stützte sich auf Queenies Metallgehhilfe. »Manchmal, wenn ich ein-186

fach nur so dasitze, inmitten der Welt des Opfers, umgeben von ihrem Hab und Gut, bekomme ich ein Gespür dafür, wer eingedrungen ist, um ihr wehzutun, oder wonach derjenige gesucht hat.«

»Was, wenn es reine Willkür war?«, fragte ich.

»Das spielt keine Rolle. Manchmal sagen mir der Ort und seine Menschen etwas«, sagte er leise. »Das hier fällt total aus dem Rahmen. Ich möchte, dass es sich anfühlt, als wäre sie meine eigene Großmutter gewesen, aber so, wie es hier aussieht …«

»Dich stören die Fotos?«

»Dich nicht?«, fragte er zurück.

»Eigentlich sind sie recht schön«, sagte ich und zer-zauste ihm die Haare. »Das kommt von deiner Klos-terschulerziehung, Mikey.«

Eine Zeit lang waren nur die kratzigen Töne von Ellingtons Jazzsound aus dem Nebenzimmer zu hö-

ren. Dann klingelte mein Handy.

»Hallo?«

»Alex, hier ist Mercer.«

»Irgendwelche Neuigkeiten?«

»Er ist noch nicht wieder aufgetaucht. Aber es gibt einen Hoffnungsschimmer. Ich bin gerade erst im Büro eingetrudelt. Gestern wurde es spät, bis wir alle vernommen hatten, die den Jungen vor seinem Verschwinden gesehen hatten. Hast du von Paige ge-hört?«

»Nein. Aber sie ist noch im Zeugenstand. Du weißt, dass sie Anweisung hat, nicht mit mir zu sprechen.«

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»Sie hat mir letzte Nacht eine Nachricht auf meiner VoiceMail im Büro hinterlassen, so gegen zweiundzwanzig Uhr. Ich habe sie erst jetzt abgehört.

Dulles Tripping hat sie angerufen, nachdem ich sie zu Hause abgesetzt habe. Sie hatte ihm an dem Morgen im Coffeeshop ihre Telefonnummer auf ein Stück Papier geschrieben. Paige sagte, dass er sich ganz gut anhörte, nur etwas ängstlich und einsam. Hast du ei-ne Handynummer von ihr?«

»Von Paige? Nein. Ich habe sie immer im Büro oder zu Hause angerufen. Weiß sie, wo er ist?«

»Nein. Das ist es ja. Bei Paige zu Hause geht niemand ran, und ich dachte, du könntest mir sagen, wie ich sie erreichen kann. Sie hat mir auf Band gesprochen, dass sie versuchen würde, den Jungen persönlich ins Gericht zu bringen.«

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Das Gebäude, das wie eine überdimensionale Ge-burtstagstorte aussah, hatte die auffälligsten Fenster in ganz New York. Sie waren den bauchigen Achterdecks alter holländischer Segelschiffe nachempfun-den, und vor der hundertjährigen Fassade des New Yorker Yachtclubs in der 44. Straße West vorzufah-ren, war wie ein Ausflug in eine andere Ära.

Ich kam ein paar Minuten zu spät zu meiner Verabredung mit Graham Hoyt. Mike hatte beschlossen, 188

dass ich auch ohne seine Hilfe einen Deal mit Dulles’

Anwalt aushandeln könnte, und wollte stattdessen Mercer helfen.

»Funk uns an, falls du was Neues erfährst«, sagte Mike.

»Natürlich. Das Gleiche gilt für dich.«

»Bist du dir sicher, dass man dich durch die Vor-dertür reinlassen wird? Der Lieutenant sagt, dass es schwerer ist, in diesen Yachtclub reinzukommen, als dich ins Bett zu kriegen.«

»Mich auszuführen ist auf jeden Fall günstiger als die Mitgliedsgebühren hier«, erwiderte ich und knallte die Autotür zu. »Bis später.«

Ich hatte schon so manche Stunde in dem gegenü-

berliegenden Gebäude – der Anwaltskammer von New York City – verbracht und etliche Cocktails in der eleganten Lobby des Royalton Hotel getrunken. Aber dieses architektonische Schmuckstück, mit seinen ga-leonenartigen Fenstern, war eins von Manhattans gro-

ßen Geheimnissen. Die elitäre Mitgliedschaft, sagen-umwobene Geschichte und die unerschwinglichen Mitgliedsgebühren hatten mich schon lange neugierig gemacht. Mit Geld allein konnte man sich nicht einkaufen – man musste wirklich über den Bootssport Bescheid wissen, um aufgenommen zu werden. Ich war wider Willen beeindruckt, dass Graham Hoyt hier Mitglied war.

Hoyt wartete in der Lobby auf mich, also nickte der Portier nur und ließ mich den Hauptsalon durchque-ren.

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»Sollen wir uns im Modellraum unterhalten?«

»Ganz wie Sie möchten. Ich bin das erste Mal hier«, sagte ich.

Der Modellraum war eindeutig das Herzstück des Clubs. In dem riesigen Saal schien die ganze Geschichte des Segelsports ausgestellt zu sein: Hunderte von Schiffsmodellen, Globen und Astrolabien, und sowohl der riesige Kamin als auch die Wände waren umlaufend mit Tangsträngen aus Kalkstein verziert.

»Kommt Chapman auch noch?«, fragte Hoyt, während wir es uns in der Ecke in zwei Sesseln gemütlich machten.

»Nein. Er kümmert sich um einen anderen Fall.

Haben Sie irgendetwas von Dulles gehört?«

»Leider nein. Jenna – meine Frau – hütet das Telefon. Ich bin fest entschlossen, keine Panik aufkommen zu lassen, bevor nicht wenigstens noch ein Tag um ist.« Er beugte sich vor und legte seine Hände auf die Knie. »Alex, warum sagen Sie mir nicht einfach, was Sie haben und was Sie für die beste Lösung halten? Vielleicht fällt uns etwas ein, womit ich Andrew überzeugen kann, dass es im besten Interesse des Jungen wäre, auf schuldig zu plädieren.«

»Ich glaube, dass er sich der Stärken und Schwä-

chen meines Falls sehr wohl bewusst ist.« Meine persönlichen Gedanken über die Zeugen hätte ich nie und nimmer jemandem offenbart.

»In dem offen gelegten Material, das Sie Peter Robelon vor dem Prozess übergeben haben, hieß es, dass Paige Vallis jemanden umgebracht hätte. Was hat es 190

damit auf sich? Glauben Sie nicht, dass Peter sie während des Kreuzverhörs in Stücke reißen wird?«

»Hören Sie, Graham, Sie verstehen doch sicher, warum ich nur ungern –«

»Ich bin kein Prozessanwalt, Alex. Ausschließlich Unternehmensrecht. Fühlen Sie sich bitte nicht auf den Schlips getreten. Ich möchte bloß nicht, dass die Geschworenen Paiges Glaubwürdigkeit in Frage stellen und Dulles’ Fall mit dem ihren verwerfen.«

Er erzählte mir, wie er und seine Frau sich im Laufe der Jahre mit dem Jungen angefreundet hatten und dass sie ihm helfen – ja ihn sogar in ihre Familie aufnehmen wollten. Offensichtlich waren sie der Überzeugung, ihm eine bessere Zukunft bieten zu können.

»Sobald er erst einmal wieder unversehrt auftaucht«, sagte Hoyt, »kann ich die Leute vom Jugendamt wahrscheinlich überreden, Sie mit ihm sprechen zu lassen, solange das in einem außerbehördlichen Rahmen geschieht – ich möchte ihm keine weiteren Polizeireviere oder Gerichtssäle zumuten. Und natürlich unter der Bedingung, dass ich dabei sein kann.«

»Ich nehme an, Sie erwarten dafür eine Gegenleistung von mir?«

Hoyt richtete sich auf. »Ich möchte, dass Sie Andrew Tripping einen Deal vorschlagen. Ein bedingtes Schuldgeständnis. Etwas, das die vorliegende Sache beschleunigt und ihm eine sofortige Gefängnisstrafe einbringt, damit Dulles wieder durchatmen kann. Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr dem Jungen die 191

ganze Sache zusetzt – diese Hassliebe zu seinem Vater, die die Seelenklempner bezeugen können.«

Alle Psychiater kamen zu denselben Befunden. Der Junge empfand die natürliche Liebe eines Sohnes zu seinem Vater, überlagert von Angst. Er wusste, dass er sich in Sicherheit bringen konnte, wenn er die Wahrheit sagte, aber falls ihm der Richter oder die Geschworenen nicht glaubten, war er erneut seinem Vater ausgeliefert und in größerer Gefahr als zuvor.

»Die Möglichkeit stand Tripping von Anfang an offen«, sagte ich. »Ich habe mit Peter darüber gesprochen, die Anklage von einer Vergewaltigung ersten Grades zu einer Vergewaltigung dritten Grades he-runterzustufen.«

»Tut mir Leid, im Strafrecht kenne ich mich nicht aus. Wo ist der Unterschied?«

»Die Haftdauer. Es ist nach wie vor ein Schwerverbrechen, aber es würde ihm weniger Jahre im Staatsgefängnis einbringen«, sagte ich. Der Fall war kompliziert. Die Hauptpunkte der Anklageschrift bezogen sich auf die Vergewaltigung von Paige Vallis.

Ich hatte als Unterpunkte die körperliche Züchtigung des Jungen und die Kindeswohlgefährdung hinzuge-fügt, weil ich davon ausgehen konnte, dass sie in dem höherrangigen Gericht, vor dem der Vergewaltigungsprozess stattfand, mehr Beachtung finden würden. Es war eine unorthodoxe Vorgehensweise, aber ich hielt es für einen Versuch wert.

»Können wir nicht noch einmal –?«

»Dafür ist es zu spät, Graham. Ich habe der Vertei-192

digung gesagt, dass das Angebot nur gilt, solange Paige nicht in den Zeugenstand treten und ihre Geschichte in der Öffentlichkeit erzählen muss. Der Ball war monatelang auf Andrews Seite, doch er wollte nicht spielen.«

»Aber Sie würden ihr die Peinlichkeit eines Kreuzverhörs ersparen. Dem Montag sieht sie sicherlich nicht mit Freuden entgegen.«

»Wissen Sie etwas, das ich nicht weiß?«, fragte ich.

»Hat Peter irgendeine Überraschung für sie in petto?«

Bluffte er oder hatte Robelon noch mehr belastende Informationen, die Paige Vallis mir gegenüber bisher nicht er wähnt hatte?

Graham Hoyt legte den Kopf schief und dachte ei-ne Moment nach. Zu lange für meinen Geschmack.

Warum war die Anklägerin so oft die Letzte, die etwas erfuhr?

»Ich habe um halb fünf einen Termin auf der anderen Seite der Stadt«, sagte ich. »Ich glaube, wir sind uns einig, dass Dulles’ seelisches Wohlbefinden das Wichtigste ist. Dafür bin ich zu fast jedem Deal bereit. Aber wir müssen den Jungen schnell finden –

oder alles Verhandeln ist sinnlos.«

»Natürlich ist es unser primäres Anliegen, ihn unversehrt zu finden.«

Wir unterhielten uns noch ein paar Minuten über die Bemühungen der Polizei und die Tatsache, dass es bisher noch keine schlechten Neuigkeiten gegeben hatte. »Es freut mich jedenfalls zu hören, wie opti-193

mistisch Sie sind, was Dulles angeht«, sagte ich lä-

chelnd und stand auf.

»Es bleibt mir nichts anderes übrig. Jenna ist entschlossen, das Richtige für den Jungen zu tun. Es hat ihr das Herz gebrochen, keine Kinder zu haben, und hier böte sich uns die Möglichkeit, zwei Probleme auf einmal zu lösen«, sagte Hoyt. Sein düsterer Ge-sichtsausdruck verflog in Sekundenschnelle. »Wollen Sie sich noch ein bisschen umsehen, bevor Sie gehen?

J. P. Morgans Narretei.«

»Gern.« Vielleicht würde ich für Paul Battaglia noch ein paar Dinge über Peter Robelon in Erfahrung bringen können; es schadete nie, etwas Insiderklatsch für den Boss zu haben. »Ich wusste nicht, dass Morgan für den Club verantwortlich war.«

»Nicht für den Club. Der wurde 1844 gegründet, auf einer Yacht, die im Hafen von New York vor Anker lag. Aber er war verantwortlich für den Erwerb dieses großartigen Gebäudes. Dort über der Treppe hängt sein Porträt. Und das da sind einige seiner Yachten.«

Das Gemälde des Commodore war weniger interessant als die Modelle seiner Schiffe. »Die Corsair II«, sagte Graham. »Vierundsiebzig Meter lang.«

»Das ist keine Yacht«, sagte ich, »das ist –«

»Ein Koloss. Genau. Wissen Sie, dass die Regierung Morgan bei Ausbruch des spanischamerikani-schen Krieges gebeten hat, die Corsair zu einem Ka-nonenboot umzurüsten, um den Hafen von Santiago zu blockieren?«

Ich sammelte womöglich nicht nur ein paar Infos 194

für Battaglia, sondern auch noch Wissenswertes für Chapman. »Hat er die Yacht zurückbekommen?«

»Nein, er hat sich einfach eine größere gebaut. Die Corsair III. Dreiundneunzig Meter lang. Schneller und leistungsstärker. Sie wog über sechshundert Tonnen und hatte zweitausendfünfhundert PS. ›Geschäfte kann man mit jedem machen‹, pflegte Morgan zu sagen, ›aber segeln kann man nur mit einem Gentleman.‹« Wenn ich mir ansehe, was sich in den letzten Jahren in den Vorstandsetagen im ganzen Land getan hat, muss ich zugeben, dass er nicht Unrecht hatte. »Segeln Sie gerne, Alex?«

»Ich mag alles, was mit dem Wasser zu tun hat. Ich habe ein Haus auf Martha’s Vineyard.« Ich musste an Adam Nyman denken und daran, wie er mich während unserer Verlobungszeit gern auf seiner Schalup-pe mit aufs Meer hinausgenommen hatte. »Ich bin früher ziemlich oft gesegelt.«

»Wenn wir das hier alles hinter uns haben«, sagte Hoyt, »werde ich Jenna bitten, einen Termin mit Ihnen auszumachen. Zurzeit sind ein paar Hurrikane in der Karibik unterwegs – wollen wir hoffen, dass sie hier im Nordosten keine größeren Schäden anrichten werden.«

»Nun, es ist die Jahreszeit dafür. Ist auch ein Modell Ihres Bootes dabei?«

Hoyt führte mich zur gegenüberliegenden Wand unter einen prunkvollen Innenbalkon und zeigte auf ein Schiff mit einem schwarzen Rumpf, das aussah, als hätte es ihn ein paar Millionen gekostet.

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»Die Pirate?«, fragte ich. Kein sehr origineller Na-me, sondern die exakte Übersetzung von corsair.

»J. P. Morgan ist mein Held.«

»Ein Räuberbaron als Vorbild. Ist es das, was Sie an ihm bewundern?«, neckte ich ihn lächelnd.

»Nein, nein. Der größte Sammler aller Zeiten.

Deshalb verehre ich den Mann. Eine dieser Leiden-schaften, die man entweder teilt oder nicht versteht.«

»Ich habe eine ähnliche Vorliebe für seltene Bücher

– nur eine andere Preisklasse.« Die Pierport-Morgan-Bibliothek in Midtown Manhattan beherbergte eine der erlesensten Sammlungen der Welt.

»Er hatte fantastische Sammlungen: Gemälde und Skulpturen, Manuskripte, Steinway-Pianos, Emaille-waren aus Limoges, chinesisches Porzellan, Schnupf-tabakdosen, gotische Elfenbeinschnitzereien. Stellen Sie sich nur vor, sich jeden Ihrer Träume erfüllen zu können!«

»Und was sammeln Sie?«, fragte ich.

»Einiges. Mein Geschmack ist ziemlich eklektisch.

Zeitgenössische Kunst, Armbanduhren, mittelalterli-che Drucke, Briefmarken. Nichts, was meinen Rahmen übersteigt. Ich kann mir vorstellen, dass die Hälfte der Anwaltskanzleien der Stadt Sie liebend gern an Bord holen und Ihnen das zahlen würden, was Sie wert sind, wenn Sie eines Tages bereit sind, die Bezirksstaatsanwaltschaft zu verlassen. Wie schaffen Sie es bloß, mit dem Gehalt einer Staatsanwältin ein Haus auf Martha’s Vineyard zu unterhalten?«

»Meine Familie greift mir unter die Arme«, sagte 196

ich. Seine Frage verwies mich in meine Schranken.

Ich wusste, welch großes Glück ich hatte, dass mir die Erfindung meines Vaters einen solchen Lebensstan-dard ermöglicht hatte. Ich war drauf und dran gewesen, Graham Hoyt zu fragen, wie er seinen Lebensstil mit seinen Anwaltshonoraren und ein paar guten In-vestitionen finanzieren konnte, aber jetzt – in die Defensive gedrängt – besann ich mich eines Besseren.

»Ist mir ein Rätsel, wie Battaglia es regelmäßig schafft, die Besten und Gescheitesten für sich zu gewinnen. Mein Vater hat oft gesagt: ›Wenn man den Leuten Peanuts zahlt, kriegt man nur Affen, die für einen arbeiten.‹«

Ich verkniff mir eine Antwort auf sein zweifelhaftes Kompliment. Die jungen Anwälte, mit denen ich jeden Tag Schulter an Schulter arbeitete, hatten sich wie ich für den öffentlichen Dienst entschieden, weil sie der Gesellschaft etwas zurückgeben wollten. Ihre Ein-stiegsgehälter betrugen knapp ein Viertel dessen, was ein Associate in einer Anwaltskanzlei für Unternehmensrecht verdiente, und ihr einziger Bonus lag in dem Gefühl, sinnvolle Arbeit zu leisten. Sie brauchten keine Yachten oder Kunstsammlungen, um glücklich zu sein.

Ich blieb unter dem Ölgemälde eines großen schwarzhäutigen, nur mit einem Lendenschurz be-kleideten Mannes stehen, der einen langen Stab mit der Flagge des New Yorker Yachtclubs in der Hand hielt. Ich bezweifelte, dass er ein Mitglied war.

»Ein eigenartiger Anblick.«

»James Gordon Bennett – Sie wissen schon, der 197

Verleger des New York Herald – schickte einen seiner Reporter, Henry Stanley, 1871 nach Afrika, um den berühmten Dr. Livingstone zu finden, der seit Monaten vermisst wurde. Bennett war damals unser Commodore. Als Stanley auf dem Rücken eines Maultiers aus dem Dschungel geritten kam, ging ihm dieser Nubier mit unserem Clubwimpel voran. Sportsmänner ohne Furcht und Tadel.«

»Ganz schön geschichtsträchtig«, sagte ich mit einem flüchtigen Blick auf die Porträts und Gedenkta-feln, die vom Boden bis zur Decke reichten. »Danke, dass Sie dieses Treffen vorgeschlagen haben. Muss ich mir Sorgen machen, dass Peter Robelon angeklagt wird, bevor ich den Fall abgeschlossen habe? Das Letzte, was ich jetzt brauche, ist, dass der Prozess platzt, weil uns der Verteidiger abhanden gekommen ist.«

»Keine Angst. Man fängt gerade erst an, Informationen zu sammeln und einen Fall daraus zu basteln.«

»Gibt es irgendetwas, das ich Paul Battaglia als Friedensangebot überbringen kann? Er sähe es nur zu gern, wenn ich den Tripping-Fall so schnell wie möglich über die Bühne bringen würde.«

»Sie meinen, etwas, das selbst Jack Kliger noch nicht über Peter Robelon weiß?«, fragte Hoyt.

»Das wäre ein guter Anfang.«

Er vergrub die Hände in den Hosentaschen und klimperte mit seinem Kleingeld. Ich versicherte ihm lächelnd, dass alles, was er mir erzählte, lediglich Battaglia weichklopfen würde, meine Entscheidungen zu unterstützen.

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»Erinnern Sie sich, was vor einigen Jahren mit ImClone passiert ist? Sam Waksal hat nach und nach die Aktien abgestoßen, als er Wind davon bekam, dass die Gesundheitsbehörde das Medikament, das sein Pharmaunternehmen testete, nicht zulassen würde.«

»Natürlich. Klassischer Insiderhandel. Sogar sein Vater und seine Tochter waren involviert, ganz zu schweigen davon, dass Martha Stewart in die ganze Sache mit hineingerutscht ist.«

»Sagen Sie Ihrem Boss, dass Robelon in dasselbe Netz hineingeraten ist. Die Börsenaufsichtsbehörde wurde auf die Firma seines Bruders aufmerksam. Eine kleine Firma, die normalerweise fünfhunderttausend Aktien am Tag handelt, schoss auf drei Millionen empor. Peters Handy war aktiver als die 101. Division der Luftwaffe während eines Shock-and-Awe-Angriffs.«

»Und Jack Kliger weiß –?«

»Er kennt nur die Spitze des Eisbergs, Alex«, fiel mir Hoyt ins Wort, um meinen Forscherinstinkt zu bremsen. »Ich rufe Sie am Montagvormittag vor der Verhandlung an.«

Ich ging die 44. Straße hinunter und dann auf der Fifth Avenue in Richtung Norden. Es war ein herrlicher Herbstnachmittag, aber trotz des klaren Himmels und der milden Temperaturen machte ich mir eine mentale Notiz, meinen Hausmeister auf Martha’s Vineyard anzurufen und ihn zu bitten, mein Haus dicht zu machen. Nur für den Fall, dass Hoyts Hurrikanwarnung zutraf.

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Um halb fünf lag ich gemütlich auf dem Friseur-stuhl und ließ mir von Elsa meine blonden Strähnchen auffrischen und von Nana für den heutigen Theaterbesuch eine schicke Frisur verpassen.

Als ich um halb sieben nach Hause kam, waren keine neuen Nachrichten auf meinem Anrufbeantworter. Jake kam kurz nach mir von einer Jogging-runde durch den Park zurück.

»Was steht an?«, fragte er.

»Wir treffen uns mit Joan und Jim kurz vor acht vorm Theater. Nimmst du die Tickets?« Ich deutete auf die Kommode, während ich ein schwarzseidenes Etuikleid aus dem Schrank nahm. »Anschließend Abendessen im ›21‹. Hältst du es bis dahin aus?«

»Ja, ich habe im Büro eine Story recherchiert und mir dort etwas zum Mittagessen besorgt.«

Wir nahmen ein Taxi zum Barrymore-Theater, wo unsere Freunde schon unter der Markise auf uns warteten. Ralph Fiennes gab die Hauptrolle in Othello, und die Kritiken vom Londoner West End waren fa-belhaft gewesen. Wir machten es uns auf unseren Plätzen gemütlich und plauderten, bis die Lichter ausgingen und sich der Vorhang hob. Ich hatte meinen Pieper in den Vibriermodus geschaltet und in meine Handtasche auf dem Schoß gelegt, sodass ich unauffällig aus meinem Gangsitz schlüpfen konnte, falls mich in den nächsten Stunden jemand wegen Dulles zu erreichen versuchte.

In der Pause nach dem zweiten Akt gingen wir in die Lobby, um uns die Beine zu vertreten und etwas 200

zu trinken. An der Bar sah ich Mike Chapman gegen eine der Säulen gelehnt stehen, einen Cocktail in der Hand und im Programmheft blätternd.

Nach all den Spannungen zwischen Jake und mir in der letzten Zeit hoffte ich, dass Mike nur deswegen einen unserer wenigen gemeinsamen Abende störte, weil er erfreuliche Neuigkeiten über den vermissten Jungen zu vermelden hatte. Jake folgte mir zu Mike, und ich versuchte, mir meine Enttäuschung über sein Erscheinen nicht anmerken zu lassen.

»Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage.«

»Falsches Stück«, sagte ich. »Hör zu, gibt es –?«

»›Ja, da liegt’s: Was in dem Schlaf für Träume kommen mögen, wenn wir die irdische Verstrickung lösten‹«, sagte Mike und gab mit seinem Wodka Gim-let in der Hand eine Hamletimitation zum Besten.

»Tut mir wirklich schrecklich Leid, Jake, aber der nächste Tanz gehört mir. Es ist mal wieder so weit.«

»Was? Lass das Rumalbern und rede ausnahms-weise so, dass man dich versteht«, sagte ich.

»Es hat wieder einen Mord gegeben.«

Er kippte seinen Drink hinunter und stellte sein leeres Glas auf die Bar.

»Doch nicht etwa Dulles?« Ich schlug die Hand vor den Mund und war erleichtert, als Mike den Kopf schüttelte.

»Das hier wird dir arg zusetzen, Coop. Auf geht’s, ich bin auf dem Weg ins erste Revier«, sagte er und nahm meine Hand. »Paige Vallis ist ermordet worden.«

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16

Ich konnte nicht begreifen, dass Paige Vallis tot war.

Und es wollte mir nicht aus dem Kopf, dass Andrew Tripping das beste Mordmotiv hatte.

Mike führte mich die zwei Treppen hinauf in die Einsatzzentrale. Aus den düsteren Mienen der Detectives, die mich begrüßten, schloss ich, dass sie wussten, wie erschüttert ich über den Tod meiner Zeugin war.

Immer wieder hörte ich in meinem Kopf die Worte, die Richter Moffett zu Beginn der Verhandlung gesagt hatte: »Mord. Sie hätten ihn wegen Mordes anklagen sollen.«

Er hat niemanden umgebracht, hatte ich gedacht.

Nicht, dass ich es beweisen könnte.

Ich hatte Mike auf der langen Fahrt zum südlichsten Polizeirevier Manhattans mit Fragen bombardiert, von denen er keine hatte beantworten können.

Nun fingen wir damit an, nachdem ich einige der Detectives begrüßt hatte, mit denen ich schon zu tun gehabt hatte.

»Wissen wir den genauen Todeszeitpunkt?«, fragte ich.

Niemand antwortete.

»Wer hat hier das Sagen?«, fragte Mike.

Wir befanden uns im Territorium der Mordkommission Manhattan South außerhalb seines Zuständigkeitsbereichs. Keiner der anwesenden Polizisten wollte sich gern von einem Kollegen aus dem Norden 202

oder einer Staatsanwältin in einem schwarzen Abendkleid und eleganten, hochhackigen Schuhen die Leviten lesen lassen.

»He, Squeeks. Bist du der Boss hier?«, sagte Mike und zeigte auf einen Mann, der im hinteren Teil des Zimmers gerade den Telefonhörer auflegte.

Will Squeekist war fünf Jahre lang Detective im Rauschgiftdezernat gewesen und vor kurzem zur Mordkommission befördert worden. Der Spitzname, den ihm Mike vor Jahren auf der Polizeiakademie verpasst hatte, war hängen geblieben und passte zu dem schmächtigen Mann mit der Quiekstimme.

»Kommt her und lasst uns anfangen«, rief Squeeks zurück. »Hallo, Alex, wie geht’s?«

»Bis eben noch ganz gut.«

»Nehmen Sie Platz«, sagte er und bot mir seinen Schreibtischstuhl an. In den meisten Einsatzzentralen der alten Reviere waren Sitzplätze Mangelware.

»Nein danke. Bleiben Sie sitzen.«

»Ich muss mit dem Rücken zu meinen Jungs stehen, während ich mir was von der Seele rede. Also, tun Sie mir den Gefallen und setzen Sie sich.«

Squeeks trat vor seinen Schreibtisch und betrachtete mich. »Entschuldigen Sie die kühle Begrüßung, Alex. Aber ein paar von ihnen haben ein Problem damit.«

»Womit?« Ich hatte ihre Begrüßung wohl falsch interpretiert.

»Wie wir gehört haben, war die Tote eine Zeugin von Ihnen. Paige Vallis. Stimmt das?«

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»Ja. Wo ist das Problem?«

Squeeks zögerte. »Sie wollen wissen, warum sie keinen Schutz hatte, irgend–«

Mike kam mir zu Hilfe. »Habt ihr sie nicht mehr alle? Sie war Zeugin der Anklage in einem 08/15-Vergewaltigungsfall. Sie war –«

Ich kochte. »Was heißt hier 08/15-Vergewaltigungsfall, Mike? Überlass das gefälligst mir! Glaubt ihr, ihr seid in Hollywood oder was? Könnt ihr euch erinnern, wann das letzte Mal eine Zeugin während eines Prozesses vor dem Obersten Gericht unter Schutz gestellt wurde? Wir verhandeln täglich vierzig Schwerverbrechen, und die Zeugen gehen im Gerichtsgebäude wie in einem normalen Bürogebäude ein und aus. Das hier ist kein Mafiafall, es gibt keine Drogenkartellverbindungen, Tripping war kein Waf-fenschmuggler oder Mafiaboss. Wer ist der Klug-scheißer, der mir die Schuld für diesen Mord anhängen will?« Ich stand auf. »Das wollen wir doch lieber gleich klären.«

Ich kam hinter dem Schreibtisch hervor und steuerte auf die Detectives zu, die neben der Kaffeema-schine zusammenstanden. Mike packte mich am Arm und versuchte mich aufzuhalten, aber ich schüttelte ihn ab.

»Sie fühlt sich ohnehin schon Scheiße, Squeeks«, sagte Mike. »Ihre Zeugin ist tot. Was hätte Coop anders machen sollen?«

»Sie hätte dem Terrorismus-Sonderkommando Bescheid geben können.«

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Ich blieb wie angewurzelt stehen und drehte mich um. »Was?«

»Einige von uns meinen, Sie hätten das Sonderkommando informieren sollen, dass Ihre Zeugin auf Grund ihrer Vorgeschichte in Gefahr war«, wiederholte Squeeks.

»Nun, da müsste ich zuerst darüber Bescheid wissen, nicht wahr? Der Angeklagte hat viele Dinge behauptet, die sich als falsch herausgestellt haben. Bei euch gibt es nichts dazwischen. Wenn ich euch bitte, mir Beweise für meine Fälle ranzuschaffen, dann heißt es, ihr habt kein Personal dafür oder niemand wird für die Überstunden geradestehen. Jetzt be-schuldigt ihr mich, eine Verschwörung übersehen zu haben, die es meiner Ansicht nach gar nicht gab. Als ob das Sonderkommando diesen schizophrenen Möchtegernspion ernst genommen hätte! Das ist doch totaler Schwachsinn.«

»Ich rede nicht von Andrew Tripping.«

»Von wem dann, Squeeks? Ich bin mit meinem Latein am Ende.«

»Dem Terroristen. Dem Kerl, den sie in Virginia umgebracht hat.«

Mike setzte sich auf die Tischkante. »Wen hat sie umgebracht?«

»Lasst uns ein paar Schritte zurückgehen«, sagte ich. »Ich weiß, dass sie einen Mann umgebracht hat, und ich dachte, sie hätte mir alles erzählt, was ich darüber wissen muss. Ihr seid offensichtlich besser im Bilde als ich.«

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»Komisch, Alex. Die Jungs, die schon mit Ihnen zusammengearbeitet haben«, sagte Squeeks und zeigte mit dem Daumen über die Schulter, »sagen, dass Sie mehr über Ihre Opfer wissen als die Opfer selbst.

Sie sagen, Sie gehen erst vor Gericht, wenn Sie das letzte Körnchen Information aus ihnen herausge-presst haben.«

»Das stimmt«, sagte Mike. »Nimm die Hände aus den Hüften, Blondie, und entspann dich. Das ist ein Kompliment.«

»Meine Jungs glauben, dass Sie über alles Bescheid gewusst haben, Alex.«

Ich schüttelte verwirrt den Kopf.

Squeeks fuhr fort. »Wir haben die Tote überprüft.

Nur den Namen, nicht einmal die Fingerabdrücke.

Das ist Routine. Wir hatten mit nichts gerechnet –

und bingo – fiel uns eine Verhaftung wegen Mordes unten in Fairfax in den Schoß.«

»Ich weiß. Ich habe selbst mit dem dortigen Bezirksstaatsanwalt gesprochen«, sagte ich. »Er hat mir die komplette Akte zur Verfügung gestellt. Darin stand nichts von einem Terroristen.«

»Vielleicht hat jemand die Akte bereinigt«, sagte Mike. »Kannst du sie ihnen zeigen, Coop?«

»Fahr mich rüber in mein Büro, und ich hole alle Unterlagen. Ich war der Meinung, ich hätte eine Kopie der Originalgerichtsunterlagen. Ihr könnt euch die gesamte Akte ansehen.«

Ich griff zum Telefon und wählte Battaglias Privatnummer. »Paul? Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie 206

wecke. Aber es gibt üble Neuigkeiten.« Ich erzählte ihm von dem Mord an Paige Vallis, der in wenigen Stunden sicherlich die Schlagzeilen der Sonntagszei-tungen beherrschen würde. »Und ich brauche ein paar Dinge von Ihnen. Am liebsten sofort. Ein Staatsanwalt in Virginia hat mir Informationen über einen alten Fall gegeben. Es kann sein, dass er auf Geheiß seines Chefs vorher einige Informationen entfernt hat«, sagte ich und bat ihn, dem Bezirksstaatsanwalt in Fairfax ein bisschen Honig ums Maul zu schmie-ren, damit er mit den Fakten rausrückte. »Und noch etwas. Würden Sie bitte Ihren Kontakt bei der CIA anrufen und ihn um Informationen über einen Agenten namens Harry Strait bitten? Kann sein, dass er etwas mit der Sache zu tun hat.« Ich hielt inne. »Ich weiß, es ist mitten in der Nacht, Paul, aber Sie sind der Einzige, dem sie diese Auskünfte geben werden.«

Squeeks wartete, bis ich aufgelegt hatte. »Sagen Sie mir doch, was Sie über Vallis’ Fall wissen.«

Mike hörte zu, während ich die Fakten darlegte.

Paiges Vater war in seinem Haus in Virginia mit achtundachtzig eines natürlichen Todes gestorben.

Paige war hingeflogen, um die Beerdigung zu organisieren und sich um die Verteilung seiner Habe zu kümmern.

»Der Staatsanwalt hat mir gesagt, dass es Teil eines Musters, einer Einbruchsserie gewesen sei«, sagte ich.

»Die Todesanzeige nannte wie üblich das Datum und den Zeitpunkt der Beerdigung. Die Einbrecher überprüfen die Adresse des Verstorbenen, gehen davon 207

aus, dass jeder, der ihn kannte und liebte, in der Kirche sein würde, und brechen in der Zwischenzeit ein.

Paige sagte, dass sie vom Friedhof nach Hause kam und den Einbrecher an der Hintertür überraschte. Er ging mit dem Messer auf sie los, sie kämpften, und als sie zu Boden stürzten, fiel er in das Messer.«

»Mit seinen eigenen Waffen geschlagen«, sagte Mike.

»Genau. Der Fall ging vor die Grand Jury. Paige er-zählte, wie es gewesen war, und die Geschworenen spendierten, wenn ich mich recht erinnere, stehend Applaus.«

Squeeks schlug seine Fallakte auf und warf einen Blick auf seine Notizen. »Haben Sie den Namen des Mannes?«

»In meinem Büro. Ich glaube, er hieß Nassan. Abraham Nassan.«

»Fast. Ibrahim.«

»Was willst du damit sagen?«, fragte Mike.

»Dass das eindeutig ein arabischer Name ist. Cooper hätte doch wissen müssen –«

»Wenn ich es Ihnen sage, in den Gerichtsunterlagen stand Abraham. Ich habe sogar ein Foto von dem Kerl. Was hätte ich wissen müssen?«

»Hat man Ihnen denn nicht gesagt, dass er Teil einer Zelle war? Eines Arms von Al Qaida?«, fragte Squeeks.

»Mir hat man gesagt, er wäre Abie, der Einbrecher.

Abie, der Fassadenkletterer.« Ich schlug mit der Hand auf den Schreibtisch. »Eine Reihe von Einbrüchen, die 208

alle nach der gleichen Masche abliefen. Einer wie der andere. Fall erledigt.«

»Coop dachte, Abraham wäre einer von ihrer Sip-pe, kein Araber«, sagte Mike.

Ich kramte in der Handtasche nach meinen Schlüsseln. »Schicken Sie jemanden rüber zum Hogan Place.

Hier ist mein Büroschlüssel. Der Ordner ist vom Bü-

cherregal aus im dritten Aktenschrank. Lassen Sie alles herbringen und sehen Sie es sich selbst an. Warum zum Teufel sollte ein Staatsanwalt eine Akte säubern, bevor er sie an mich weiterleitet?«

Squeeks antwortete: »Der Polizeipräsident denkt, dass der Bezirksstaatsanwalt in Fairfax auf Anweisungen der Bundesbehörden gehandelt hat. Es war eine große Ermittlung am Laufen, eine Nachuntersuchung in Zusammenhang mit dem Flugzeugabsturz am Pentagon, und die Bundesbehörden wollten mög-lichst nichts nach außen dringen lassen, um die Öffentlichkeit nicht in Panik zu versetzen. Wozu die braven Bürger Virginias alarmieren, falls einer der Terroristen in Notwehr ums Leben gekommen war?

Aber ich kann nicht glauben, dass sie Ihnen nicht die Wahrheit gesagt haben.«

»Tja, ist aber so. Kann uns jemand Kaffee holen?

Schwarz für Mike und mich. Wir müssen uns noch über viele andere Leute unterhalten«, sagte ich.

»Wissen Sie, womit Victor Vallis sein Geld verdient hat?«, fragte Squeeks.

»Paiges Vater? Ich weiß, dass er im diplomatischen Dienst war.«

209

»In Ägypten. Das hat Paige im Zeugenstand gesagt.«

Squeeks warf Chapman einen viel sagenden Blick zu, der wohl heißen sollte, dass ich die Verbindung zu einer internationalen Verschwörung hätte herstellen sollen.

»Und er war auch noch in Frankreich, im Senegal, in Hongkong, im Libanon und in Ghana stationiert.«

An die Länder konnte ich mich erinnern. »Vielleicht hätte ich bei der UNO eine Umfrage machen sollen, in welche Gefahr das Paige brachte.«

»Wussten Sie, dass er nach dem ersten Golfkrieg sein Rentnerdasein aufgab und wieder als Berater tä-

tig war?«

»He, Squeeks«, sagte Chapman und tippte dem kleineren Mann mit dem Finger auf die Brust. »Wenn du schon vor lauter Wissen übersprudelst, warum hast du dann Blondie nicht angerufen?«

»Weil ich das alles erst herausgefunden habe, als sie Paige Vallis im Leichenschauhaus auf Eis gelegt haben.«

»Ja, es ist erstaunlich, wie die Leute mit der Wahrheit rausrücken, sobald jemand tot ist.«

»Die Regierung wusste, dass Victor Vallis ein Experte für den Nahen Osten war«, sagte Squeeks. »Sie haben ihn bis zu seinem Tod als CIA-Consultant beschäftigt. Er wusste über alles Bescheid – wer die Drahtzieher und Hintermänner waren, in welchen Höhlen sie sich versteckt hielten, wohin die Geld-ströme in der Region flossen.«

210

»Hat Paige davon gewusst?«, fragte ich. »Ich schwöre Ihnen, sie hat mir gegenüber nie etwas davon erwähnt.«

»Ich habe keine Ahnung, ob ihr Vater ihr erzählt hatte, dass er nach wie vor involviert war.«

»Hat dieser Ibrahim etwas rausschaffen können?

Ich meine, hat vor dem Haus von Vallis ein Komplize gewartet?«, fragte Mike.

»Er schien allein gewesen zu sein. Der Chief sagt, in dem Haus war nicht viel, das man hätte klauen können, und er muss erst ein paar Minuten dort gewesen sein, bevor Paige kam. Wie Alex schon sagte, starb Mr. Vallis eines natürlichen Todes, also schien es auch da keine Verbindung zu dem Einbruch zu geben.«

»Können wir über den Mord reden, Squeeks? Mike sagte mir, bei Ihrem Anruf hätten Sie ihm keine seiner Fragen beantwortet. Ist es nicht an der Zeit, dass wir ein paar Einzelheiten erfahren?«

Squeekist lehnte sich an seinen Schreibtisch und kratzte sich am Ohr.

»Haben Sie irgendetwas am Tatort gefunden, was auf eine Verbindung zu dem Vorfall in Virginia schließen lässt?«

Er schüttelte den Kopf.

»Es erscheint mir nämlich irrwitzig, das Offensichtliche zu übersehen. Sie ist meine einzige Zeugin gegen den Angeklagten Andrew Tripping. Haben Sie schon herausgefunden, wo er war, als sie umgebracht wurde? Auch er hat sich brennend für ihre Ägypten-211

verbindungen interessiert. Auch er war Experte für den Nahen Osten. Angeblich hat er während seiner Zeit bei der CIA kurz dort gearbeitet.«

»Beruhige dich, Coop. Na los, Squeeks. Spuck aus, was du hast. Ich weiß nicht einmal, wann und wie sie gestorben ist«, sagte Mike.

Squeekist wollte sich nur ungern in die Karten blicken lassen, aber er wusste, dass wir Informationen hatten, die ihm nützlich sein konnten. »Es geschah wahrscheinlich irgendwann letzte Nacht, gegen Samstagmorgen. In dem Haus, in dem sie wohnte.«

»Wissen Sie von ihrem Anruf bei Mercer Wallace?

Und von dem Jungen?« Squeeks verneinte und bat mich um eine Erklärung. »Mercer hat gesagt, dass sie ihm um circa zweiundzwanzig Uhr eine Nachricht in seinem Büro hinterlassen hat. Ihre Telefonunterlagen können uns möglicherweise verraten, von wo aus der Junge angerufen hatte.«

Mike machte sich eine Liste der Dinge, die erledigt werden mussten.

»Ist der Mörder gewaltsam in ihre Wohnung eingedrungen?«

»Nein. Es geschah nicht in ihrer Wohnung, sondern im Treppenhaus vom Erdgeschoss zum Waschraum im Keller.«

»Hat das Haus einen Portier?«, fragte Mike.

»Nein«, sagte ich. »Nur einen Summer und eine Gegensprechanlage.«

»Keine Überwachungskameras?«

»Nein.«

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»Wie ist sie ermordet worden?«, fragte ich.

»Erwürgt. Entsprechende Merkmale und Verfär-bungen am Hals«, sagte Squeeks.

»Mit der bloßen Hand?«

»Nein. Mit einer Schnur. Der Gerichtsmediziner wird uns vermutlich bestätigen, dass es ein dünnes Seil war. Eventuell eine Wäscheleine. Davon hängen genug im Keller.«

»Hat sie mitten in der Nacht ihre Wäsche gewa-schen?«, fragte Mike.

»Es sieht nicht danach aus.«

»Denkst du –«

»Ein paar von unseren Jungs sind gerade dort und hören sich bei den Nachbarn um. Vielleicht hat sie jemanden reingelassen, den sie kannte, vielleicht ist ihr jemand von der Straße gefolgt, vielleicht –«

»Vielleicht war es ein Unbekannter«, warf Mike ein.

»So viel Pech kann kein Mensch haben«, sagte ich.

»Erzählen Sie mir von Ihrem Fall.« Squeeks harrte mit seinem Notizblock auf Informationen von mir.

Fast zwei Stunden versuchte ich mich an alles zu erinnern, was mir Paige Vallis von sich erzählt hatte und was zum Thema Andrew Tripping wichtig sein könnte. Ich hatte keinen Appetit auf die Doughnuts und Muffins, die den anderen Detectives als Abendessen dienten, aber ich trank drei Becher Kaffee, die mich noch mehr aufputschten.

»Vergiss nicht, ihm von Harry Strait zu erzählen«, erinnerte mich Mike.

213

»Wer ist das?«, fragte Squeeks und notierte sich den Namen.

»Ein CIA-Agent. Paige war mal mit ihm zusammen. Nicht sehr lange. Sie versuchte, die Beziehung zu beenden, aber er hat es nicht gut aufgenommen.

Ich weiß nicht, ob er sie verfolgt und ihr aufgelauert hat.«

»Was heißt das, Sie wissen es nicht?«, fragte mich der Detective.

»Sie hatte ihn gestern das erste Mal mir gegenüber erwähnt. Ich wusste nichts von seiner Existenz, bis er in den Gerichtssaal marschiert kam.«

»Sie haben ihr keine Fragen über ihn gestellt?«

Squeeks musterte mich und schüttelte den Kopf.

»Wie zum Teufel kann ich über jemanden Fragen stellen, wenn ich nicht einmal weiß, dass er existiert?«

»Reiz sie nicht, Squeeks. Sie ist einen Kopf größer als du und hat dreimal so viel Mumm.«

»Sie hat mir Dinge verheimlicht, so viel ist sicher.

Ich dachte, es wäre das Übliche – dass sie sich einer Beziehung schämte, Sachen in der Art. Erst gestern Vormittag hat sie mir anvertraut, dass dieser Strait sie die Nacht zuvor angerufen hatte und sie dazu bringen wollte, nicht auszusagen.«

»Er hat ihr gedroht?«, fragte Squeeks.

»Sie hat es abgestritten. Sie hat mir nur gesagt, dass er ihr Angst gemacht hat, weil er zu der Zeit, als sie zusammen waren, so fordernd gewesen war. ›Er hat mir eine Todesangst eingejagt‹, hatte Paige wört-214

lich gesagt. Sie hatte versprochen, mir mehr darüber zu erzählen, aber ich durfte nicht mit ihr sprechen, bis sie aus dem Zeugenstand entlassen wurde. Deshalb rief sie Mercer an, um ihm zu sagen, dass sie Dulles, Trippings Sohn, finden wollte.«

»Erzähl ihm von der Anwaltschwemme, Coop.«

Ich seufzte. »Sie sollten wohl über alle Beteiligten Bescheid wissen. Da ist ein Typ namens Graham Hoyt.« Ich buchstabierte den Namen. »Er ist der Verfahrenspfleger des Jungen. Er behauptet, an einer Adoption von Dulles interessiert zu sein. Er glaubt, dass er und seine Frau Jenna eine gute Beziehung zu dem Jungen haben und sein Vertrauen gewinnen können. Und er unterstützt einen meiner Kollegen in der Staatsanwaltschaft bei einer Ermittlung, in die Trippings Verteidiger verstrickt ist. Robelon. Peter Robelon.« Ich nannte ihm den Namen der Kanzlei, für die er arbeitete. »Hoyt behauptet, dass sich Robelon seine Hände bei einem Aktienbetrug dreckig gemacht hat.«

»Wissen Sie mehr darüber?«

»Reden Sie mit Jack Kliger von der Abteilung für Wirtschaftskriminalität.« Ich hielt inne. »Da sind noch mehr. Eine Anwältin vom Waisenhaus und ein Justiziar des Jugendamtes. Ihre Namen und Telefonnummern stehen in meiner Akte.«

»Und der Informant. Vergiss den Informanten nicht.«

»Mike hat Recht«, sagte ich. »Es scheint schon so lange her zu sein, wie aus einem anderen Fall. Ich 215

hatte überlegt, einen Informanten zu benutzen. Sein Name ist Bessemer.«

»Davon habe ich gehört.« Squeeks lächelte zum ersten Mal, seit wir ins Revier gekommen waren.

»Scheint so, als ob ein paar Jungs dafür Federn lassen mussten. Ist er auch in diesen Schlamassel verwickelt?«

»Ich habe noch nicht mit ihm gesprochen. Er war auf dem Weg zu mir, als er sich aus dem Staub machte. Er ist im Gefängnis Trippings Zellengenosse gewesen.«

»Denken Sie, dass Bessemer irgendetwas über Paige Vallis weiß?«, fragte Squeeks.

»Nur, was ihm Tripping eventuell erzählt hat. Es gibt keine Hinweise, dass er jemals Kontakt zu meiner Zeugin gehabt hätte. Aber er ist noch immer auf freiem Fuß, und ich habe keine Ahnung, was er im Schilde führt.«

Während wir uns zwischen Mitternacht und zwei Uhr früh unterhalten hatten, hatte ein ständiges Kommen und Gehen geherrscht. Nun war es eine ganze Weile ruhig gewesen; als das Telefon klingelte, schraken wir alle auf.

Mike hob ab. »Ja, Mr. B. sie ist noch hier. Sie sitzt auf dem heißen Stuhl.« Er notierte sich eine Nachricht und legte auf. »Das war Battaglia. Er hat jemanden bei der CIA erreicht, und sie haben ihn mit den Informationen, die du wolltest, zurückgerufen. Harry Strait arbeitet nicht mehr für die CIA. Hier ist die Kontakt-person, die dir weitere Auskünfte geben kann.«

216

Ich nahm Mike den Zettel aus der Hand. »Er muss doch einen Rentenscheck oder irgendwelche Pensions-bezüge bekommen. Irgendwie werden sie ihn doch finden können.«

»Schwierig, Blondie. Sogar für einen so tollen Verein wie die CIA. Harry Strait ist seit fast zwanzig Jahren tot.«

17

Ich schlüpfte gegen vier Uhr morgens zu Jake unter die Decke. Er rührte sich nicht, und ich wusste nicht, ob er nur so tat, als würde er schlafen, um sich nicht mein Gejammere über den Tod meiner Mandantin anhören zu müssen. Ich fuhr ihm mit dem Finger die Wirbelsäule hinab und küsste ihn auf den Rücken, aber er reagierte nicht.

Als ich um sieben Uhr die Augen aufschlug, war die andere Hälfte des Bettes bereits leer. Ich nahm Jakes Hemd von der Stuhllehne und zog es an.

Er saß mit einer Tasse Kaffee im Wohnzimmer und las den vorderen Teil der New York Times. Ich blieb im Türrahmen stehen und wartete darauf, dass er aufsah. »Guten Morgen. Es tut mir Leid wegen gestern Abend.«

»Es ist nicht deine Schuld.«

»Wie war das Abendessen?«

»Ich war nicht in Stimmung mitzugehen. Ich bin 217

gleich nach dem Stück hierher zurück. Hast du etwas gegessen?«

»Ich hatte keinen Hunger«, sagte ich. »Ich hol mir eine Tasse Kaffee. Willst du auch noch eine?«

»Nein, danke.«

Ich ging in die Küche und schenkte mir Kaffee ein.

Ich war kurz vorm Verhungern und legte einen English Muffin in den Toaster. Bis er fertig war, ging ich zurück ins Wohnzimmer. Jetzt war Jake in den Style-Teil vertieft. »Diese Hochzeiten müssen faszinierend sein.«

»Da sind tatsächlich einige nette Geschichten dabei«, sagte Jake.

»Die Braut hat im Hauptfach Altphilologie an der Columbia-Universität studiert und schreibt ihre Doktorarbeit über die Sexualmoral im alten Rom.

Der Bräutigam macht ein Fernstudium an der Universität von Paducah. Beide mögen Beagles, Dra-chenfliegen und Pepperonipizza«, spottete ich. »Die Braut, eine Katholikin, und der Bräutigam, ein Jude, wurden am Strand von Southampton von einem buddhistischen Priester getraut. Muss ich das wirklich alles wissen?«

»Ich versuche nur herauszufinden, welche Hürden manche dieser Paare auf dem Weg zum Altar über-wunden haben. Vielleicht inspiriert mich das.«

»Ich wusste nicht, dass es dir an Inspiration mangelt.«

Jake legte die Zeitung beiseite und betrachtete mich. »Die meiste Zeit tut es das nicht. Aber momen-218

tan weiß ich nicht mehr weiter. Ich weiß, wie fertig du gestern Nacht warst, und ich verstehe, warum du mit Chapman nach Downtown fahren musstest. Aber was soll ich jetzt tun, um die Scherben zu kitten? Ich habe es satt, dir über einen Fall Fragen zu stellen und zu hören, dass du nicht darüber reden willst. Oder schlimmer noch, dass du auf Anweisung deines Chefs nicht mit mir darüber reden darfst, weil ich Reporter bin. Wie ich’s mache, ist es falsch.«

Ich stand auf und ging zurück in die Küche. »Im Fall Tripping bin ich sehr offen zu dir gewesen. Am Freitagabend habe ich dir alles erzählt, was im Gericht passiert ist. Ich möchte dich von nichts ausschließen, was mir wichtig ist.« Ich rief ihm über die Schulter zu. »Bist du bereit mir zu sagen, wer deine Informanten sind?«

Jake folgte mir in die Küche. »Wovon redest du?«

»Du weißt, dass du bei einer großen Story deine Quellen nicht enthüllen darfst. Umgekehrt gibt es eben auch Situationen, in denen es mir nicht frei-steht, dir alles zu erzählen.«

»Das meine ich nicht, Alex. Ich will wissen, was du in dir drinnen unter Verschluss hältst. Ich möchte wissen, was du denkst und fühlst, wenn dir diese Geschichten auf den Magen schlagen und dir schlaflose Nächte verursachen.«

Der Muffin war verbrannt. Ich warf ihn in den Mülleimer und holte einen neuen aus der Packung.

Jake nahm ihn mir aus der Hand und legte ihn in den Toaster.

219

»Peter Robelon hat gestern Nacht angerufen. So gegen Mitternacht.«

»Scheiße«, sagte ich und setzte mich an den Ess-tisch. Die Leiche war noch nicht einmal kalt, und schon machten die Geier sich darüber her. »Wusste er von Paige?«

»Er sagte, dass er die Spätnachrichten auf einem der Lokalsender gehört hatte. Sie haben ihren Namen nicht genannt, aber er hat die Adresse erkannt und wusste, dass es ein Loftgebäude mit nur wenigen Be-wohnern ist.«

»Natürlich kennt er das Terrain genau. Er hatte einen Privatdetektiv angeheuert, der die Nachbarn über Vallis ausgehorcht hat. Erzähl mir nicht, dass er rum-geschleimt hat und anrief, um sein Beileid zu bekun-den?«

»Er hörte sich absolut angemessen an. Er hielt es für eine Tragödie und wollte sichergehen, dass du Bescheid weißt – so in der Art.«

»So wie du es sagst, hört es sich nach einer netten Konversation an.«

»War es auch. Anscheinend weiß er, dass wir ein Paar sind. Er sagte, er kenne meine Stimme aus dem Fernsehen. Wir haben uns ein paar Minuten unterhalten und das Über-sechs-Ecken-Spiel gespielt.

Freunde von mir, die auch Freunde von ihm sind und so weiter.«

Ich sagte nicht, was ich dachte.

»Hoppla, habe ich was falsch gemacht? Du ziehst wieder diese Cooper-Schnute. Peter Robelon ist nicht 220

dein Feind, auch wenn sein Mandant schuldig sein sollte.«

»Ich weiß, dass er nicht mein Feind ist. Aber wenn du mit ihm plaudern willst, dann mach das von deinem Büro aus. Ich trau dem Kerl nicht über den Weg.

Du solltest es genauso wenig.«

»Also gut, dann werde ich unsere Verabredung zum Mittagessen absagen.«

»Geh ruhig. In Ordnung. Ich will dich nicht von deiner unermüdlichen Informationssammelwut ab-halten, Jake. Aber wenn er von einem meiner Kollegen unter Anklage gestellt wird, will ich ganz sicher nicht, dass man fünfzehnminütige Telefonate von meinem Privatanschluss zu seinem nachweisen kann.«

»Was meinst du damit, unter Anklage gestellt?«, rief er mir hinterher, während ich ins Bad ging, um zu duschen und mich anzuziehen.

»Er hat Dreck am Stecken«, sagte ich und schloss die Tür hinter mir.

Als ich zwanzig Minuten später wieder in die Kü-

che kam, hatte Jake den Muffin gegessen und war wieder ins Wohnzimmer gegangen. Ich schüttete Cornflakes in eine Schüssel und aß sie allein am Tisch.

»Was wirst du heute tun?«, fragte ich.

»Die Zeitung lesen. Ins Fitnessstudio gehen. Jemanden finden, der in einem netten Straßencafé wie beispielsweise Swifty’s mit mir brunchen und diesen herrlichen Herbsttag genießen will. Wie sieht’s aus?«

221

»Wenn du mit dem Brunch bis zwei Uhr warten kannst und mich ein paar Stunden hinunter ins Revier fahren lässt, damit ich herausfinden kann, ob es was Neues gibt, verspreche ich, dass ich besser gelaunt zurückkomme.«

»Es ist mir egal, ob du besser oder schlechter gelaunt bist, solange du mir deine Laune erklärst. Hilf mir, dich zu verstehen.«

»Wirst du morgen mit der Frühmaschine nach D.C. zurückfliegen?«, fragte ich.

»Nein. Ich nehme den Sechs-Uhr-Flug heute Abend. Morgen findet um neun Uhr im Weißen Haus ein Briefing statt, das ich nicht verpassen darf.«

Es war eine subtile Art, mich unter Druck zu setzen. Keine Chance auf eine nächtliche Versöhnung im Bett, also kam ich besser rechtzeitig zum Brunch nach Uptown. Ich war enttäuscht und gleichzeitig erleichtert. Solange ich in diesem Schlamassel steckte, war es leichter, wenn Jake nicht in der Stadt war. Das allein sagte mir etwas über unsere Beziehung, das ich nur ungern zugeben wollte.

Seit ich vor wenigen Stunden das erste Revier verlassen hatte, hatte sich nichts Neues getan. Squeeks und sein Partner hatten auf den Pritschen im Umkleideraum geschlafen und waren schon wieder am Tatort, um nach Hinweisen und Spuren zu suchen.

Ich setzte einige Beweisaufnahmeanträge für die Telefonunterlagen auf, obwohl wir vor Montag keine Resultate erhalten würden. Dann benachrichtigte ich Paiges Vorgesetzten und zwei Arbeitskollegen, mit 222

denen sie befreundet gewesen war, damit sie nicht durch die Presse von dem Mord erfahren würden.

Vor allem aber saß ich am Schreibtisch und fühlte mich nutzlos und unglücklich.

Um halb zwei ging ich nach unten, rief ein Taxi und sagte Jake per Handy Bescheid, dass ich ihn im Restaurant auf der Lexington Avenue treffen würde.

»Ein paar gute Nachrichten für dich, Alex. Peter Robelon hat gerade noch einmal angerufen. Ich soll dir ausrichten, dass sowohl er als auch Graham Hoyt heute von Dulles Tripping gehört haben. Es scheint ihm gut zu gehen. Er sagte, er sei von seinem gespar-ten Taschengeld mit dem Bus nach Upstate gefahren, in die Stadt, in der er bei seiner Großmutter gelebt hatte. Ziemlich reif für einen Zehnjährigen. Er war bei einem Freund. Und ja, Liebling, Robelon hat den Anruf zurückverfolgen lassen. Die Vermittlung hat bestätigt, dass der Anruf von einem Münzfernsprecher in Upstate New York kam. Ich bringe die Nummer mit.«

»Gott sei Dank geht es ihm gut«, sagte ich. »Ich habe mein Handy dabei. Du hättest Robelon bitten können, mich anzurufen.«

»Nachdem du gesagt hast, dass du nicht willst, dass irgendwelche Nachweise von Telefonaten zwischen euch beiden auftauchen? Ich habe versucht, das Richtige zu tun, Alex. Entschuldige, wenn ich wieder einen Fehler gemacht habe.«

»Nein, nein! Du hast Recht. Die ganze Sache mit dem Jungen macht mich nur so nervös. Ich will nicht, 223

dass er noch mehr aus dem Ruder läuft, wenn er he-rausfindet, dass Paige ermordet worden ist.«

Ich nahm einen Post-it-Zettel aus meinem Scheckbuch. »Sag mir die Nummer des Münzfernsprechers.

Ich werde sie an die Detectives weiterleiten, damit sie herausfinden können, woher genau der Anruf kam.«

Ich wollte das Dienstliche erledigt haben, bevor wir uns zum Essen trafen.

Jake saß an einem kleinen, runden Tischchen für zwei, inmitten des schicken Stammpublikums von der Upper East Side.

»Hast du dich um die Nachricht gekümmert?«

»Ja. Die Cops hatten versucht, den Rektor der Schule in Tonawanda ausfindig zu machen, um die Namen und Adressen der Kinder zu bekommen. Vor morgen geht gar nichts. Die Schule ist übers Wochenende geschlossen.«

Ich wartete, bis der Ober meine Bestellung – einen Cobb Salad und eine Virgin Mary – aufgenommen hatte. Ich verzichtete auf Alkohol, für den Fall, dass sich heute bei unseren Ermittlungen noch ein Durchbruch ergab. Jake bestellte sich Twinburgers und einen Wodka Tonic.

»Sollen wir den Tag noch mal von vorne anfangen?

Willst du mich nicht fragen, wie es mir geht?«, fragte ich.

»Gern«, sagte Jake lächelnd. »Solange du darüber reden willst.«

Ich erzählte ihm, wie sehr mich die Nachricht von Paiges Tod und, schlimmer noch, die Beschuldigung 224

der Detectives getroffen hatten, ich hätte sie nicht ausreichend beschützt. Ich schilderte ihm ihre inne-ren Verstrickungen und wie viel sie mir verheimlicht hatte, obwohl ich alles getan hatte, um ihr Vertrauen zu gewinnen.

»Glaubst du, dass du alles weißt, was es zu wissen gibt?«

»Das ist wohl nie der Fall«, antwortete ich. »Bewusst oder unbewusst filtern wir immer, was wir anderen erzählen.«

»Immer?«

Ich sah ihn an. »Meistens. Und mit Sicherheit bei den Leuten, mit denen wir keine intime Beziehung haben. Leute wie Paige wollen, dass ich gut über sie denke, sie nicht verurteile oder kritisiere.«

»Und was fangen die Cops mit diesem Harry Strait an?«

»Ein klassischer Fall von Identitätsdiebstahl. Der richtige Strait starb an einem Herzanfall an seinem Schreibtisch. Keine Kontroverse, kein Skandal, kein Verbrechen. Jemand hat sich seine Geburts- und Sterbedaten aus den Unterlagen oder vom Grabstein besorgt, zweifelsohne einen Haufen Dokumente gefälscht und läuft jetzt als Harry Strait herum.«

»Haben sie irgendeine Ahnung, warum?«

»Keinen blassen Schimmer. Und falls er morgen alles in den Mülleimer schmeißt und beschließt, jemand anders zu sein, finden sie vielleicht nie heraus, wer er ist. Sie werden Paiges Wohnung und Büro 225

gründlich durchsuchen. Hoffentlich hat er eine Telefonnummer oder Ähnliches hinterlassen.«

Wir gingen zurück in die Wohnung und verbrachten ein paar ruhige Stunden miteinander, bevor Jake zum Flughafen fuhr. Solange ich mich auf das Hier und Jetzt konzentrierte, fühlte ich mich bei ihm sor-genfrei und glücklich. Nur wenn ich an unsere Zukunft dachte und an die Hürden, die in der Vergangenheit aufgetaucht waren, wurde ich nervös.

Nachdem er gegangen war, machte ich es mir mit Thomas Hardy und den D’Urbervilles auf dem Sofa gemütlich. Die raue Landschaft von Dorset und das Treiben der böswilligen Kräfte des Universums passten wunderbar zu meiner Stimmung.

Am Montagmorgen machte ich mich schon früh auf den gefürchteten Weg ins Büro, um für die Auf-regungen im Gefolge von Vallis’ Tod und für meinen Auftritt vor Richter Moffett gerüstet zu sein.

Ich schloss die Tür hinter mir und recherchierte online Gesetzestexte. Ich fand nichts Brauchbares. Als ich nach oben in den Gerichtssaal kam, bot sich mir ein unerwartetes Bild. Tripping, Robelon und Frith saßen am Tisch der Verteidigung. Sie wirkten entspannt und ruhig. Dahinter saß Graham Hoyt neben den Anwälten des Waisenhauses und des Jugendamtes.

Aber die nächsten beiden Reihen waren voller Ge-richtsreporter. Ich wusste, dass die Boulevardblätter den Mord in TriBeCa mit der Tatsache, dass Paige Vallis in diesem Fall im Zeugenstand gewesen war, in 226

Zusammenhang brachten. Doch ich vermutete, dass Robelon sie eingeladen hatte, damit sie ihm dabei zusehen konnten, wie er die Aufhebung der Anklage gegen seinen Mandanten erwirkte. Ich hatte gehofft, die Angelegenheit ohne die Presse über die Bühne zu bringen.

Richter Moffett erschien als Letzter. Die Medien waren ihm gegenüber stets fair gewesen, und er wür-de dafür sorgen, dass sie auch weiterhin positiv über ihn berichteten. Er setzte sich und begann mit einem Statement über den Mord an Paige Vallis und welch großer Zufall es gewesen sei, dass sie an ihrem letzten Tag in seinem Gerichtssaal als Zeugin ausgesagt hatte.

»Möchten Sie einen Antrag stellen, Mr. Robelon?«, fragte Moffett.

»Ja, Euer Ehren. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt möchte ich im Namen meines Mandanten beantragen, sämtliche Anklagepunkte gegen ihn fallen zu lassen. Es spricht eindeutig alles für die Einstellung des Verfahrens. Ich hatte mich auf die Gelegenheit gefreut, Ms. Vallis ins Kreuzverhör zu nehmen, was nun nicht mehr möglich sein wird. Wir trauern nicht nur um die Tote, sondern wir bedauern auch, dass Mr. Tripping damit die Chance genommen wurde, seinen Namen reinzuwaschen.«

Robelons Effekthascherei dauerte circa zehn Minuten. Dann bat mich der Richter um eine Stellung-nahme. Ich redete mehr belangloses Zeug, als mir lieb war, sprach zuerst über die Vergewaltigungsanklage, 227

war – bei allem Respekt – nicht der Meinung des Gerichts, dass Vallis’ Tod zufällig mit dem Prozess zu-sammenfiel, und betonte, dass sie in dieser Angelegenheit nicht das einzige Opfer war. In der Anklageschrift stünden noch weitere Punkte – Misshandlung und Kindeswohlgefährdung –, die sich auf den vermissten Jungen bezogen.

»Was schlagen Sie vor, Ms. Cooper?«, fragte Moffett spöttisch. »Soll ich ein ganzes Verhör aus dem Protokoll streichen lassen? Die Geschworenen bitten, das bisher Gehörte zu vergessen und sich auf Ihre anderen Zeugen zu konzentrieren? Haben Sie dafür Präzedenzfälle?«

»Nein, Sir. Zu diesem Punkt konnte ich noch nichts finden. Ich hätte gerne noch etwas Zeit –«

»Sie brauchen keine Zeit, Sie brauchen ein Wunder.« Moffett blickte zu den Reportern, um zu sehen, wie viele seine schlagfertige Antwort notierten.

»Es gab noch eine ganze Reihe offener Fragen. Dulles Tripping wird nach wie vor vermisst –«

Robelon stand auf und fiel mir ins Wort. »Mr.

Hoyt und ich können Sie in der Angelegenheit auf den neuesten Stand bringen. Dem Jungen geht es gut.

Er ist in Upstate New York bei Freunden. Wir arrangieren gerne ein Treffen zwischen ihm und Ms. Cooper, sobald er wieder in der Stadt ist.«

Graham Hoyt, der hinter Robelon stand, zwinkerte mir zu, als wollte er sagen, dass er diesen Deal für mich eingefädelt hatte.

»Kann ich ein paar Stunden haben, um mit dem 228

Leiter unserer Berufungsabteilung zu sprechen?«, fragte ich. John Bryer war der brillanteste Rechtswis-senschaftler in unserer Behörde. Jedes Mal, wenn unsere Prozessanwälte vor Gericht in Schwierigkeiten gerieten, weil sie wieder einmal voreilig aus der Hüfte geschossen hatten, war die schnellste Lösung, Bryer anzurufen. Wenn irgendjemandem etwas Geniales einfiel, um meinen Fall am Leben zu erhalten, dann ihm. »Ich möchte noch Papiere vorlegen, um eine Prozessweiterführung beantragen zu können, Euer Ehren.«

»Tun Sie, was Sie nicht lassen können, Ms. Cooper.

Ich gebe Ihnen zwei Tage. Wir sehen uns am Mittwochvormittag wieder. Und rufen Sie meinen Assistenten an, falls Sie irgendein Gesetz finden, das auf Ihrer Seite ist. Lassen Sie die Geschworenen herein, Mac.«

Der Gerichtspolizist öffnete die Tür, und die Geschworenen drängten in den Gerichtssaal. Ihren Blicken nach zu schließen hatten die meisten die Neuigkeiten über Paige gehört. Ich konnte ihnen keinen Vorwurf machen, trotz der Anweisungen des Gerichts. Einige von ihnen hielten gefaltete Zeitungen in der Hand. Eines der Revolverblätter hatte ein Foto der ernsthaften jungen Frau mit der Schlagzeile ZEUGIN DER ANKLAGE – ERMORDET über-schrieben.

Der Richter entschuldigte sich bei den Geschworenen für die Unannehmlichkeiten, ermahnte sie ab-surderweise erneut, keine Presseberichte über den 229

Fall oder die Zeugen zu lesen, und entließ sie bis Mittwochvormittag. Ich blickte stur geradeaus und vermied jeglichen Blickkontakt, während sie den Saal verließen.

Als ich in mein Büro zurückkam, saß Mike Chapman auf meinem Stuhl, die Füße auf dem Schreibtisch, und kaute an einem Bagel. »Guten Morgen, Sonnenschein. Du siehst aus, als ob du zur Abwechslung mal ein bisschen Glück gebrauchen könntest.

Ah, die Wunder des Automatisierten-Fingerabdruck-Identifizierungs-Systems«, sagte er.

»Fingerabdrücke? Wo?«

»In Queenies Wohnung. Die Abdrücke, die wir von dem Toilettenaufsatz genommen haben. Das wird dir gefallen.«

»Sag mir einfach den Namen. Ich bin zu kaputt, um zu raten.«

»Little Miss Sweet Sixteen. Die Pelzmantel-Lolita deines Informanten Kevin Bessemer.«

»Was?«

»Tiffany Gatts war in Queenie Ransomes Wohnung.«

18

»Falls du den kleinsten gemeinsamen Nenner zwischen den beiden ermordeten Frauen suchen solltest, sieht es ganz danach aus, als hätte ihn der Computer 230

für dich gefunden. Klein und gemein«, sagte Mike.

»Die alte Dame wegen eines seit langem toten Nagetiers umzubringen! Kevin Bessemer und Tiffany Gatts.«

Ich dachte an die Initialen im Futter von Queenies Mantel: R du R. »Warum ist mir nicht gleich in den Sinn gekommen, dass der Nerz ihr gehören könnte?

R wie in Ransome.«

» R wie in Robelon«, entgegnete Mike. »Ihre Initialen passen nach wie vor nicht zum Monogramm. Ich weiß nicht, wie du darauf kommst, dass eine Sozialhilfeempfängerin einen Pariser Pelzmantel besitzt.

Wir müssen mit dem Mädchen reden.«

»Hast du bei der Strafvollzugsbehörde nachgefragt? Ist Tiffany Gatts noch im Gefängnis?«

»Ja.«

»Welcher Staatsanwalt kümmert sich um ihren Fall?«

»Nedim. Will Nedim.«

»Ruf ihn an. Sag ihm, der Verteidiger beziehungsweise die Verteidigerin des Mädchens soll so schnell es geht hierher kommen. Er muss Tiffany per Gerichtsbeschluss wenn möglich noch heute Nachmittag beibringen. Mal sehen, ob sie umfällt und Bessemer verpfeift, wenn wir ihr sagen dass sie des Mordes verdächtigt wird«, sagte ich.

»Normalerweise bin ich nicht ganz auf den Kopf gefallen. Wenn ich mich im Wald verlaufe, kann ich den Brot krümeln folgen, bis ich wieder draußen bin«, sagte Mike »Tripping sitzt im Gefängnis, weil er Paige Vallis 231

vergewaltigt und seinen eigenen Sohn verprügelt hat.

Kevin Bessemer ist sein Zellengenosse. Bessemer wartet bis zum Beginn des Prozesses und beschließt dann, Tripping zu verpfeifen. Auf dem Weg hierher hält Bessemer zu einer schnellen Nummer mit Gatts, woraufhin sich beide spurlos aus dem Staub machen. Man findet die Leiche von Ransome. Gatts kommt hinter Gitter. Paige Vallis sagt aus. Trippings Sohn verschwindet.

Vallis wird umgebracht. Aber mir will beim besten Willen nicht einfallen, was Queenie Ransome mit Paige Vallis zu tun haben könnte. Kannst du mir ein paar Krümelchen auf den Weg streuen?«

»Sicher. Deshalb werden wir zunächst dem schwächsten Glied in dieser Kette ein bisschen auf den Zahn fühlen. Hol mir Gatts her. Kevin Bessemer ist die einzige Verbindung zu beiden Fällen.«

Um zwei Uhr saßen Mike Chapman, Will Nedim und ich mit Helena Lisi, der Anwältin von Tiffany Gatts, in meinem Besprechungszimmer. Ich hatte die neuen Beweise vorgelegt, wonach Gatts in McQueen Ransomes Wohnung gewesen war. Lisi hatte die Erlaubnis erteilt, ihre Mandantin aus der Frauenhaftan-stalt zu holen und in mein Büro zu bringen.

Als die Detectives Gatts in Handschellen herein-führten, verließen wir das Zimmer, damit Lisi und das Mädchen in Ruhe miteinander sprechen konnten.

»Lisi ist dein Jahrgang, oder?«

Sie hatte vor über zehn Jahren, kurz bevor ich zur Bezirksstaatsanwaltschaft gekommen war, als Pflicht-verteidigerin mittelloser Häftlinge beim Rechtshilfe-232

verein angefangen. »Ja. Sie und ihr Ehemann, Jimmy Lisi, haben vor ein paar Jahren eine eigene Kanzlei eröffnet. Sie kümmern sich vor allem um niedere Verbrechen in Manhattan und in der Bronx.«

»Gesocks und Gesindel?«

»Genau. Nicht unbedingt jemand, den du bei einer großen Ermittlung anheuern würdest, aber okay für ein paar Tüten Stoff und einen gestohlenen Pelzmantel, der eigentlich in den Mottenkugeln liegen sollte«, sagte ich.

»Gib mir eine scharfe Schere und ein paar Stunden Sprechunterricht, und ich mache Helena Lisi zu einer ernsthaften Konkurrentin für dich.«

Lisi war klein, gedrungen und hatte graubraune, widerspenstige Zotteln, die ihr bis über den Hintern hingen und die sie mit einem schwarzen Samtband aus dem Gesicht zu halten versuchte. Sie sprach mit einem Brooklyn-Akzent und einer schrecklichen, weinerlichen Stimme, die mir durch und durch ging.

»Ich nehme sie so, wie sie ist«, sagte ich. »Wenn sie ernster zu nehmende Mandanten hätte und nicht in neunundneunzig Prozent ihrer Fälle eine außerge-richtliche Einigung erreichen würde, würde ich es nicht bis zum Schlussplädoyer durchhalten. Die Stimme schafft mich einfach.«

»Denkst du, dass Helena von der Uhuabteilung kommt?« Mike machte sich seit Jahren einen Spaß daraus, ein Lexikon zu kreieren, das er Chapmans Ganovenlexikon nannte, voller Straßenslang aus dem Bereich der Strafjustiz. Vom Gericht bestellte Anwäl-233

te wurden von einem Gremium ausgewählt, das der Berufungsabteilung des Obersten Gerichts von New York unterstand, und das Wort »Berufung« war von den Verteidigern so verschliffen worden, dass sie es die »Uhuabteilung« nannten.

»Helena Lisi würde wahrscheinlich gut in Mrs.

Gatts’ Budget passen. Frag Nedim. Meine Vermutung ist, dass die Mutter sie als Privatanwältin für ihr kleines Mädchen angeheuert hat.«

Laura, meine Sekretärin, unterbrach uns, um mir mitzuteilen, dass mich der Assistent des Richters sprechen wollte. Ich wählte die Durchwahl. »Hallo?

Hier ist Alex Cooper.«

»Richter Moffett bat mich, Ihnen zu sagen, dass Dulles Trippings Pflegemutter gerade angerufen hat.

Der Junge ist wieder zu Hause, gesund und unversehrt.«

»Gott sei Dank«, sagte ich und stützte meine Stirn in die Hand. »Irgendeine Ahnung, wo er gesteckt hat?«

»Wir wissen nur, dass er in Upstate New York bei Freunden gewesen ist.«

»Danke für Ihren Anruf. Vielleicht ist mein Fall doch noch zu retten.«

»He, Alex. Im Vertrauen – aber das muss unter uns bleiben.«

»Natürlich.«

»Machen Sie sich keine großen Hoffnungen. Ich habe gehört, wie sich Moffett mit Robelon über den Jungen unterhalten hat.«

234

»Wann?«

»Gerade eben. Peter Robelon rief an, um sicherzugehen, dass Mrs. Wykoff Moffett erreicht hat. Ich habe den Richter sagen hören, dass er den Prozess als abgeschlossen betrachtet. Also machen Sie sich nicht verrückt mit Ihren Recherchen, Alex. Moffett lässt Sie nie und nimmer mit dem Fall weitermachen.«

»Danke für die Warnung«, sagte ich. Gute Nachrichten, schlechte Nachrichten.

Helena Lisi stand in der Tür. »Darf ich reinkommen?«

Chapman stand auf und schob noch einen Stuhl heran. »Nehmen Sie Platz.«

»Das wird nicht nötig sein. Alex, ich habe Tiffany geraten, nicht mit Ihnen zu kooperieren.« Lisis Stimme klang wie das Kratzen von Fingernägeln auf einer Kreidetafel.

»Das überrascht mich. Haben Sie ihr die neue Beweislage erklärt? Haben Sie ihr gesagt, dass ihr eine Anklage wegen Mordes bevorsteht?«

»Und dass P. Diddy schon Puff Great-Granddaddy sein wird, wenn sie wieder das Tageslicht erblickt, falls Coop sie für den Mord an einer Zweiundachtzigjährigen hinter Gitter bringt?«

»Das sehe ich nicht so, Detective. Sie haben gegen Tiffany nichts in der Hand. Sie und ihre Mutter wohnen in derselben Straße wie die Tote. Jedes der Kinder wird Ihnen sagen, dass sie bei Ms. Ransome ein- und ausging, wie alle anderen auch. Tiffany ging für sie einkaufen, half ihr mit der Wäsche –«

235

»Wir reden hier von frischen Fingerabdrücken, Ms.

Lisi. Keine alten, verschmierten.«

Sie ignorierte Chapman und wandte sich an mich.

»Alex, versicherungsstatistisch betrachtet hätte McQueen Ransome eine Lebenserwartung –«

»Was haben Sie gerade gesagt?«, fragte Mike.

»Ich sagte, falls man sich eine Versicherungsstatis-tik afroamerikanischer Frauen unterhalb der Armuts-grenze ansieht, würde man feststellen, dass die durch-schnittliche Lebenserwartung –«

»Das ist die bescheuertste Bemerkung, die ich jemals gehört habe«, sagte Mike. »Werden Sie sich bei der Anklageerhebung vor die Richterbank stellen und einen Kautionsantrag stellen, mit der Begründung, dass Queenie ohnehin eines Tages tot umgefallen wä-

re? Ich würde Ihnen nur zu gerne Ihre Zotteln ungefähr zehn Minuten lang um den Hals wickeln, bis Sie nach Luft schnappen müssen. Wenn ich dann wieder loslasse, öffnen sich vielleicht einige der Arterien, die normalerweise Ihr Gehirn mit Sauerstoff versorgen sollten.«

»Ich soll meiner Mandantin raten, mit jemandem zu kooperieren, der so mit mir spricht?«, fragte Helena. »Ihre Mutter ist ohnehin der Ansicht, dass Sie ih-re Tochter unrechtmäßig festhalten, Alex.«

»Fingerabdrücke in der Wohnung der Toten und Ms. Ransomes Mantel am Leib sind eine ziemlich stichhaltige Kombination, wenn Sie mich fragen«, sagte ich.

»Was soll die Sache mit dem Mantel? Die alte Da-236

me war wohl kaum eine Adlige. Erklären Sie mir, wie Ransomes Name mit dem Monogramm in dem Mantel übereinstimmen soll.«

Ich konnte es nicht.

»Vielleicht hat sie ihn in einem Secondhandladen gekauft«, warf Mike ein.

Helena Lisi ignorierte ihn. »Ich habe Tiffany alles gesagt. Sie will nicht mit Ihnen sprechen, und damit ist der Fall erledigt. Würden Sie sie bitte vor dem Abendessen ins Gefängnis zurückbringen lassen, damit sie keine Mahlzeit verpasst?«

Ich folgte Helena über den Flur in das Besprechungszimmer, wo eine Polizeibeamtin zusammen mit ihrem Partner auf das Mädchen aufpasste. Als ich das Zimmer betrat, schnalzte Tiffany mit der Zunge und sagte kaum hörbar: »Was will das Miststück hier?«

Ich bat die beiden, sie ins Gefängnis zurückzubrin-gen. Als sie Tiffany befahlen aufzustehen und ihr die Handschellen wieder anlegten, trat sie mit dem Fuß gegen das Tischbein.

»Ich habe Ihnen nichts zu sagen, also lassen Sie meine Anwältin in Ruhe, verstanden?«

»Tiffany«, sagte Helena und schnippte ihre Haare über die Schulter. »Kein Wort mehr.«

»Ich kann sagen, was ich will. Sie kann mir nichts verbieten. Ich will nicht in ihrem Büro sein, ich will sie nicht sehen –«

»Sei still, Tiffany!«, sagte Helena. »Ich möchte, dass du sofort ruhig bist.«

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»Scheiße. Sagen Sie mir nicht, wann ich ruhig sein soll. Sie arbeiten für uns. «

»Tiffany, ich bitte dich, still zu sein, weil ich weiß, was am besten für dich ist. Ich bin deine Anwältin.«

»Ja, aber diese blöde Kuh da nicht«, sagte das Mädchen mit einer Kopfbewegung in meine Richtung.

»Es gibt keinen Grund, irgendetwas zu sagen«, ermahnte Helena erneut ihre aufgebrachte Mandantin.

Tiffany sah zu mir auf, während die Detectives sie wegzuziehen versuchten. »Sie können mir keinen Mord anhängen, Schätzchen. Als ich zu der alten Dame kam, war sie schon tot.«

19

»Wie oft hast du das schon gehört? ›Ich wollte sie ja umbringen, aber als ich hinkam, war sie schon tot‹«, äffte Mike das Mädchen nach.

Ich tat Tiffany Gatts’ Dementi nicht so leichtfertig ab wie er. »Es ist ein Unterschied, ob dir jemand so eine Aussage an den Kopf wirft, der das System schon in- und auswendig kennt. Aber dieses Mädchen schlägt wie wild um sich, weil sie sich nicht anders zu helfen weiß. Womöglich ist es die Wahrheit.«

»Werd jetzt bloß nicht weich, Blondie.«

»Keine Angst. Aber sie muss Helena in den zehn Minuten im Besprechungszimmer überzeugt haben, 238

dass sie sich bei einer Mordanklage keine Sorgen zu machen braucht. Helena hat nicht einmal versucht, einen Deal vorzuschlagen, oder angeboten, das Mädchen umzustimmen.«

»Vielleicht hat Tiffany draußen auf dem Treppenab-satz gewartet, während Kevin Bessemer in die Wohnung ging und Queenie umbrachte. Dann stimmt es auch, dass die alte Dame bereits tot war, als sie reinkam. Sie spielt mit dir, Coop.«

Laura öffnete die Tür. »Erwarten Sie jemanden vom FBI?«

Ich verneinte.

»Zwei Agenten sind hier. Sie sagen, Sie müssten Ihnen ein paar Fragen stellen.«

Ich winkte sie herein. Eine attraktive junge Frau in einem eleganten grauen Nadelstreifenanzug und ein älterer Mann. Er sah aus, als hätte ihn ein Castingbü-

ro für die Rolle des FBI-Agenten besetzt, während sie den Seiten eines Modemagazins entstiegen zu sein schien.

»Claire Chesnutt.« Sie gab Mike und mir die Hand und zeigte uns ihren Ausweis. »Das hier ist mein Partner, Art Bandor.«

Wie Chesnutt erklärte, hatten sie den Auftrag, den Mann zu finden, der sich als der verstorbene Harry Strait ausgab, und wollten mir diesbezüglich ein paar Fragen stellen.

»Ich weiß nicht sehr viel.«

»Das ist uns bewusst. Falls Sie nichts dagegen haben, wäre es wichtig, Sie beide getrennt zu verneh-239

men. Sie haben ihn auch gesehen, nicht wahr?«, fragte sie Chapman.

»Lassen Sie uns ins Besprechungszimmer gehen«, schlug ich vor. »Dann kann Mike in der Zwischenzeit mein Telefon benutzen, bis er an der Reihe ist.«

Ich ging mit Chesnutt und ihrem stummen Partner über den Flur und sagte ihnen alles, woran ich mich aus meiner Unterhaltung mit Paige Vallis erinnern konnte.

»Hat sie Ihnen gesagt, wie sie den Mann, der sich als Strait ausgab, kennen gelernt hat?«

»Nein.«

»Hat er ihr jemals einen Ausweis gezeigt?«

»Ich habe keine Ahnung. Nicht, dass sie es mir gegenüber erwähnt hätte.«

»Warum dachte sie, dass er für die CIA arbeitete?«

»Es tut mir Leid«, sagte ich zu Chesnutt. »Ich hatte keine Gelegenheit, ihr diese Fragen zu stellen.«

Die Agentin interessierte sich am meisten für eine körperliche Beschreibung. Ich schloss die Augen, um mir den Mann, den ich im Gerichtssaal gesehen hatte, wieder ins Gedächtnis zu rufen. Ein durchschnittlich großer, durchschnittlich gebauter Weißer. »Wie ich schon gesagt habe, es tut mir Leid. Irgendwie ist es zutiefst peinlich, wenn man selbst solche Auskünfte geben muss.«

Chesnutt hatte eine nette Art. »Ich weiß, dass Sie ihn nicht oft gesehen haben. Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen.«

»Wie verbreitet ist dieses Problem mit dem Identitätsdiebstahl?«

240

»Es wird zunehmend schlimmer, da es das Internet so viel leichter macht, aber gegeben hat es das Problem schon seit jeher. Früher hat man sich das Geburts- und Todesjahr vom Grabstein besorgt und dann Dokumente mit dem Namen der Toten ge-fälscht. Jetzt kann man sich online in Dateien oder Benutzerkonten einhacken und bekommt alles, von Sozialversicherungsnummern bis zu Kreditkartenin-formationen. Man muss nicht einmal mehr außer Haus gehen.«

»Warum Harry Strait?«, fragte ich. »In welchem Bereich war er für die CIA tätig?«

Chesnutt lächelte mich an. »Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht.«

Und falls sie es wüsste, würde sie es mir garantiert nicht sagen.

»Hat schon mal jemand versucht, sich für ihn aus-zugeben?«

»Es tut mir Leid, Ms. Cooper. Ich bin hier, um Fragen zu stellen. Nicht, um welche zu beantworten.«

Ich nahm ihre Karte, für den Fall, dass mir noch irgendwelche Einzelheiten einfallen würden, und tauschte dann den Platz mit Mike Chapman.

»Machen Sie es sich gar nicht erst gemütlich«, sagte Laura. »Battaglia will Sie sehen.« Ich schnappte mir die Telefonnachrichten von ihrem Schreibtisch und ging weiter in den Exekutivflügel. Rose Malone winkte mich direkt in Battaglias Büro.

»Setzen Sie sich«, sagte er und nahm die Zigarre aus dem Mund. »Als Erstes will ich wissen, wie Sie 241

damit fertig werden. Ich meine, mit dem Tod der jungen Frau.«

Nach außen wirkte Battaglia wie gepanzert. Er ließ sich nur selten auf eine Diskussion über Gefühle ein, aber er hatte Menschenkenntnis genug, um zu wissen, wie sehr einen eine solche Tragödie mitnehmen konnte. Manchmal, wenn ich es am meisten brauchte, überraschte er mich mit einer Frage oder einem Rat, die mir zeigten, dass er genau wusste, was in mir vorging.

»Vielleicht werde ich in ein paar Wochen nicht mehr die Schuld bei mir suchen. Im Moment zerreißt es mir fast das Herz. Der Mord an Paige Vallis, die Zukunftsperspektive des Jungen – es ist schrecklich.

Haben Sie irgendwelche Informationen für mich?«

»Versprechen Sie mir, gut auf sich aufzupassen, Alex. Wenn die ganze Sache in ein, zwei Wochen vorbei ist, dann nehmen Sie sich etwas Auszeit und –«

»Ich habe gerade erst zwei Wochen Urlaub gehabt, Paul.«

»Von wegen. Sie haben sich auf den Prozess vorbereitet. Warum fahren Sie und Jake nicht ein bisschen weg?«

Ich nickte. Battaglia hatte einen sechsten Sinn, was Menschen anging. Ich wusste, dass er herausfinden wollte, ob sich unsere Beziehung stabilisiert hatte und ich privat die entsprechende Unterstützung bekam.

»Gute Idee, Boss. Haben Sie schon von Ihrem Kollegen in Virginia gehört?«

Er klemmte sich die Zigarre wieder zwischen die 242

Zähne und führte die Konversation aus dem Mundwinkel heraus fort. »Die Akte, die Ihnen der Staatsanwalt geschickt hat, war zweifelsohne gesäubert.

Nationale Sicherheit und der ganze Schwachsinn.

Manchmal fragt man sich, wie diese Kerle überhaupt gewählt worden sind.«

Er blickte auf die Notizen, die er sich während des Telefonats mit dem Bezirksstaatsanwalt gemacht hatte.

»Mal sehen«, fuhr er fort. »Der Mann, der bei dem Einbruch ums Leben kam, hieß Ibrahim Nassan.«

»Das haben mir die Cops Samstagnacht gesagt.«

»Gebürtiger Ägypter. Achtundzwanzig Jahre alt.

Seit nicht einmal zwei Jahren in den Vereinigten Staaten.«

»Gehörte er wirklich zu Al-Qaida?«

»Er war eine Weile in einem ihrer Ausbildungsla-ger. Nach seinem Tod hat man seine Wohnung durchsucht. Er hatte ein Zimmer in einer Pension in Washington gemietet. Ziemlich kahl, bis auf einen Computer. Man fand einige E-Mails, die ihn mit anderen Terroristen in Verbindung brachten, aber nichts, was auf eine aktive Beteiligung an irgendwelchen Aktionen hier in den Vereinigten Staaten hin-gedeutet hätte.«

»Familie?«

»Nein«, sagte Battaglia. »Die Eltern waren wohl-habende Kaufleute, der Vater hat in Oxford studiert.

Er hat irgendwann rebelliert, aus keinem ersichtli-chen Grund.«

243

»Also hing der Einbruch in Wirklichkeit mit Mr.

Valus’ Arbeit für die CIA zusammen?«

»Nun, das ließ sich ebenfalls nie eindeutig feststellen. Man vermutet es. Sie wissen, dass bei dem Einbruch nichts abhanden kam, oder?«

»Ja, weil der Täter das Haus nie verlassen hat«, sagte ich. »Weiß man, wonach er gesucht hat?«

»Sie behaupten, sie hätten keine Ahnung.« Battaglia blätterte in den Notizen. »Victor Vallis. Karrie-rediplomat. Scheint in ganz Europa und im Nahen Osten stationiert gewesen zu sein.«

»Er war auch in Kairo, richtig? Ich weiß, dass Paige darüber gesprochen hat.«

»Ja. Zwei Mal sogar.«

»Irgendwelche Verbindungen zur CIA?«, fragte ich.

»Bisher haben sie keine finden können.«

»Wann war Vallis dort? In Ägypten, meine ich.«

»Wo ist Chapman, wenn man ihn braucht? Seine Militärgeschichte könnte hier nützlich sein«, sagte Battaglia.

»Ich werde es ihm ausrichten. Er ist in meinem Büro.«

»Das zweite Mal war Victor Vallis von 1950 bis 1954 in Kairo. Das war zu der Zeit, als der König entthront wurde und General Nasser die Regierungsge-schäfte übernahm.«

»Welcher König?«

»Faruk. Der letzte König Ägyptens.«

»Was hatte Vallis zu der Zeit für eine Position in-ne?«

244

»Politischer Berater der amerikanischen Delegation. Nicht sehr hochrangig.«

»Und das erste Mal, als er dort war?«

»Mitte der dreißiger Jahre. Wahrscheinlich sein erster Job nach dem Studium«, sagte Battaglia. »Aber damals arbeitete er noch nicht für die Regierung.«

»Sondern?«

»Er war Privatlehrer. Der Privatlehrer des Königs.

Sie sind zu jung, um über Faruk Bescheid zu wissen«, sagte der Bezirksstaatsanwalt. »Er war der Playboy-Pascha – ein verzogener Prinz, der zu einem korrupten Monarchen und einem Nazisympa-thisanten heranwuchs. Ich hasste seine politische Einstellung.«

»Und Victor Vallis hat ihm Unterricht erteilt?«

»Er hat fast drei Jahre lang bei der Familie im Palast in Alexandria und in Kairo gewohnt und den Prinzen in allen Fächern unterrichtet: Fremdsprachen, Geschichte, Geografie.«

»Hat der Bezirksstaatsanwalt herausgefunden, was die Bundesbehörden hinter diesem Einbruch vermuteten?«, fragte ich. »Ausländische Intrigen? Terrorismus?«

»Er sagt, die Akte sei noch immer nicht geschlossen. Niemand hat eine Ahnung von irgendetwas. Sie haben nach Verbindungen zwischen Victor Vallis und der Familie des Einbrechers gesucht, aber falls die CIA etwas weiß, haben sie es sicherlich nicht dem örtlichen Bezirksstaatsanwalt verraten.«

»Danke, dass Sie angerufen haben«, sagte ich, wäh-245

rend er mir seine Notizen reichte. »Ich gebe sie Laura zum Abtippen.«

Ich ging zurück in mein Büro, wo sich Chapman gerade mit meiner Stellvertreterin Sarah Brenner unterhielt. »Sind die FBI-Agenten weg?«

Mike bejahte.

»Da kommt man sich vielleicht blöd vor. Konntest du Ms. Chesnutt eine Beschreibung von Harry Strait geben?«

»Keine sehr gute.« Er wiederholte sie für mich.

»Hört sich nicht besser an als meine.«

»Für mich klingt es, als hättet ihr Peter Robelon beschrieben«, sagte Sarah.

»Oder den Angeklagten, Andrew Tripping«, sagte ich. »Absolut austauschbare weiße Männer. Mit dem, was ich ihnen gesagt habe, werden sie nicht weit kommen.«

»Nun, vergiss Harry Strait kurz und begleite mich in mein Büro. Ich habe es Mike gerade erzählt. Die Streifenbeamten haben einen Bekannten von Queenie Ransome hergebracht, mit dem du reden musst.«

»Kevin Bessemer?«, fragte ich.

»Leider nein. Aber ich glaube, du wirst dem Kerl ein paar Fragen stellen wollen.«

»Wo haben sie ihn gefunden?«

»In Ransomes Wohnung, heute Vormittag.«

»Ein Einbruch?«, fragte Mike.

»Nein. Das ist ja gerade das Interessante daran. Er hatte einen Schlüssel.«

246

20

»Ist er unter Arrest gestellt?«, fragte ich den Cop, der vor Sarahs Büro Wache stand.

»Nicht direkt. Wir wussten nicht, weswegen wir ihn anklagen sollten.«

»Einbruch?«

»Er hat einen Schlüssel, Ma’am. Er sagt, er kennt die Frau, die dort wohnt.«

»Die Frau, die dort wohnte, ist tot.«

»Ja, aber er behauptet, sie hätte ihm die Erlaubnis gegeben, sich in der Wohnung aufzuhalten.«

»Vermutlich nicht in letzter Zeit.«

»Deshalb haben wir ihn hergebracht. Wir überlassen es Ihnen, ob Sie ihn anklagen wollen oder nicht.«

»War das Absperrband noch vor der Tür?«

»Ja, Ma’am. Anscheinend hat er es einfach angeho-ben und ist in die Wohnung marschiert.«

»Dachte Ihr Sergeant denn nicht, dass das aus-reicht, um ihn wegen unerlaubten Betretens zu ver-haften?«

»Er sagt, er wird nicht fürs Denken bezahlt. Dafür gibt es Anwälte.«

Ich wartete auf Chapman, und gemeinsam gingen wir in Sarahs kleines Büro. »Mein Name ist Alexandra Cooper«, sagte ich. »Das ist Mike Chapman. Er ist Detective, und ich bin Staatsanwältin.«

»Spike Logan.« Er hatte an Sarahs Schreibtisch den Kopf auf die verschränkten Arme gelegt. Jetzt reckte 247

er sich und gähnte. »Würden Sie mir sagen, was das Ganze hier soll?«

»Gern«, sagte Mike. »Und dann haben wir ein paar Fragen an Sie.«

»Bin ich in U-Haft?«

Mike beäugte mich.

»Nein«, antwortete ich.

»Oder meinen Sie damit, noch nicht?«, sagte Logan. »Kann ich gehen?« Er stand auf, als wollte er mich auf die Probe stellen.

Ich trat zur Seite, um ihn durchzulassen.

»Das ist fair«, sagte er und setzte sich wieder.

»Wir würden gerne mit Ihnen über McQueen Ransome sprechen«, sagte ich. »Vielleicht fangen wir damit an, was Sie heute Vormittag in ihrer Wohnung getan haben.«

»Sie hat mich eingeladen. Ich hatte einen Termin mit ihr. Um elf Uhr.«

»Was für einen Termin, und wann haben sie diesen Termin vereinbart?«

»Jeden dritten Montag im Monat. Seit Jahresan-fang. Hören Sie, die Cops haben mir gesagt, dass Queenie tot ist. Dass sie umgebracht wurde. Ich ha-be wahrscheinlich mehr Fragen an Sie als Sie an mich.«

Mike holte zwei Stühle aus dem Vorraum, und wir setzten uns. Ich konnte mir nicht vorstellen, warum Queenie regelmäßig einen jungen Mann in ihrer Wohnung empfangen würde, aber Mike war bereit, mir die Fragerei abzunehmen.

248

»Sie wussten also nicht, dass Ms. Ransome tot war, als Sie heute zu ihr gingen?«

»Genau. Ich war das letzte Mal vor einem Monat in der Stadt gewesen. Ich bin erst gestern Abend hergefahren. Sie müssen mir sagen, was passiert ist, Mann.«

»Haben Sie denn nicht das Band vor ihrer Tür gesehen?«, fragte ich.

»Lady, in einem Treppenhaus in Harlem ist Poli-zeiabsperrband nicht so selten wie auf irgendwelchen Eingangsstufen in Beverly Hills.«

»Fangen wir von vorne an«, sagte Mike. »Erzählen Sie uns doch bitte von sich. Wer sind Sie, woher kennen Sie Ms. Ransome, was war der Zweck Ihrer Treffen?«

Logan lehnte sich zurück und streckte die Beine aus. Der sehr dunkelhäutige junge Mann war schlank und schmächtig und mit einer Jeans und einem Sweatshirt bekleidet. Er hatte einen Schnauz- und einen Ziegenbart, trug eine dunkel eingefasste Brille und hatte einige Piercings in beiden Ohren.

»Ich bin dreißig Jahre alt. Ich wurde hier in der Stadt geboren und bin auf die Martin Luther King High School gegangen. Danach habe ich an der NYU

studiert. Jetzt mache ich meinen Doktor.«

»Wo?«

»Harvard. In Afroamerikanistik.«

»Haben Sie einen Ausweis bei sich?«

»Im Auto, Uptown. Nur meinen Führerschein. Im Handschuhfach.«

249

»Keinen Studentenausweis?«

»Ich bin dieses Semester nicht eingeschrieben. Ich bin beurlaubt.«

»Wo wohnen Sie? Und woher sind Sie letzte Nacht gekommen?«

»Massachusetts. Oak Bluffs.«

Logan musste meine Reaktion bemerkt haben. Ich sah Mike an, um zu sehen, ob ihm der Name auch aufgefallen war. Oak Bluffs war eine der sechs Städte auf Martha’s Vineyard. Sie hatte eine ungewöhnliche Geschichte und war seit über hundert Jahren die Sommerfrische für afroamerikanische Angehörige der höheren Berufsstände, Wissenschaftler und Intellektuelle.

»Bei wem wohnen Sie?«

»Ich wohne allein. Ich hüte den Winter über das Haus meines Onkels.«

»Sind Sie jemals verhaftet worden?«

Logan zögerte einen Augenblick und sah von einem zum anderen. »Ein paar Mal.«

»Wofür?«

»Demos auf dem Campus. Sie werden das ohnehin überprüfen, hab ich Recht?«

»Unbedingt.«

»Einmal wegen Überfalls. Aber es war eine Verwechslung. Der Staatsanwalt in Boston hat die Anklage fallen gelassen. Mein Anwalt sagte mir, dass ich mit Nein antworten könnte, falls mich die Cops jemals danach fragen würden, da es angeblich aus meinem Vorstrafenregister gestrichen wurde. Ich sage es 250

Ihnen nur für den Fall, dass es dennoch dort auftaucht, damit Sie wissen, dass ich Sie nicht anlügen will.«

»Wie lange ist das her?«

»Fünf, sechs Jahre. Seitdem hatte ich keine Schwierigkeiten mehr.«

»Wovon leben Sie?«

»Ich habe ein Stipendium.«

»Sie haben mir gerade gesagt, dass Sie dieses Semester nicht studieren.«

»Nun ja, meine Mutter hilft mir aus. Ich muss keine Miete zahlen, und ich habe von meinem letzten Job etwas Geld gespart. Werden Sie jetzt bloß nicht feindselig, Bruder«, sagte Logan, während er mit dem Finger auf Mike zeigte und sich aufrichtete. »Ich bin vielleicht der einzige Freund, den Queenie hatte.«

»Wie haben Sie sie kennen gelernt?«

Logan verschränkte die Arme über der Brust und sah zur Decke hinauf. »Es war letztes Jahr im Spät-herbst. Ich recherchierte für eine Seminararbeit an der Uni. Mein Vater ist vor ungefähr zwanzig Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen, und ich wollte von klein auf die Geschichte seiner Familie zu-rückverfolgen. Wie sein Großvater in den Norden kam, sich eine Schulbildung aneignete, sich selbstständig machte. Ich wollte alles über ihn herausfinden und woher ich kam. Also bin ich in das Archiv des Schomburg Center.« Das Schomburg, auf dem Malcolm X Boulevard, war die Forschungsstätte für afroamerikanische Kultur. »Sie hatten haufenweise Do-251

kumente über meine Großeltern und Fotos von Schulen, Clubs und Vereinen in Harlem, auf denen auch mein Vater und einige seiner Verwandten zu sehen waren.«

»Sind Sie mit Queenie verwandt?«

»Wäre ich gerne gewesen. Ich habe versucht, Leute zu finden, die meinen Vater kannten. Meine Mutter hatte eine Menge Fotos von meinem Vater als kleiner Junge. Häufig war noch ein anderer Junge auf den Fotos, ein kleiner weißer, der angeblich sein bester Freund gewesen war. Auf der Rückseite der Fotos stand sein Name, Fabian Ransome.«

Ich dachte an das Foto von Queenie und ihrem Sohn, das wir in ihrer Wohnung gesehen hatten. Mi-ke hatte von den Nachbarn erfahren, dass ihr Sohn mit nicht einmal zehn Jahren verstorben war.

»Ich wollte den Jungen schon immer kennen lernen, um von ihm mehr über die Kindheit meines Vaters zu erfahren. Im Schomburg fand ich Zeitungs-ausschnitte aus den vierziger und fünfziger Jahren, mit Fotos von McQueen Ransome. Ihr Name fiel mir ins Auge, und auf vier oder fünf der Fotos war auch Fabian zu sehen.«

»Wie haben Sie sie gefunden?«

»Indem ich alles abgeklappert habe«, sagte er. »Sie stand nicht im Telefonbuch, und es gab nicht mehr viele Leute, die sich an ihre Glanzzeiten erinnerten, aber schließlich hörte ich von der alten Dame, die für die Kids tanzte, wenn sie Besorgungen für sie erledig-ten.«

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»Wie hat sie reagiert, als Sie bei ihr aufgekreuzt sind?«

Logan strich sich lächelnd über sein Ziegenbärtchen. »Mann, sie lebte richtig auf. Ich glaube, sie sehnte sich nach einer Familie. Sie war so glücklich, ein Bindeglied zu ihrem Sohn gefunden zu haben, dass sie mich willkommen hieß, als wäre ich ihr eigen Fleisch und Blut.«

»Erinnerte sie sich an Ihren Vater?«

»Sie hat mir die tollsten Geschichten über ihn er-zählt. Dinge, die ich ohne sie nie erfahren hätte. Ich bin einmal im Monat in die Stadt gekommen. Sie legte Musik auf – niemals meine Kassetten oder CDs, nur ihre alten Schallplatten –, und ich brachte ihr ihr Lieblingsessen mit – Gumbo, Reis und Bohnen, Af-fenbrotbaumfrucht und Zitronenkuchen. Wir redeten stundenlang, dann machte sie das Essen warm, und wir konversierten, wie sie es nannte, beim Essen ewig weiter.«

»Haben Sie Ihre Arbeit geschrieben? Ihre Familiengeschichte?«, fragte Mike. »Können wir eine Kopie davon haben?«

»Die Arbeit über meinen Vater? Ich hab sie nie abgeschlossen. Queenie hat mich auf ein anderes Thema gebracht.«

»Und das wäre?«

Logan sah Mike an. »Ich habe mich verliebt.«

»In wen?«

»In sie, Mann.« Logan lehnte sich zurück und schlug sich auf die Knie. »Ich habe sie überredet, mir 253

ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Eine oral history für das Schomburg, und dann könnte ich Material daraus für meine Doktorarbeit benutzen. Nicht ihre privaten Sachen, sondern Dinge, die sich auf meine Familie bezogen.«

»Warum? Was gefiel Ihnen an ihr?«, fragte Mike.

Ich dachte an die Kostüm- und Aktfotos in Queenie Ransomes Schlafzimmer.

»Queenie? Die Dame hatte vielleicht ein Leben.«

Logan wurde immer lebhafter, während er uns er-zählte, was er über ihre Kindheit in Alabama wusste, und wie sie von zu Hause weggelaufen und nach New York gekommen war, um Tänzerin zu werden.

»Ein seriöser Bühnenstar?«, fragte Mike.

»Das war ihr Traum. Aber so weit kam sie nicht, Detective. Es gab in den vierziger Jahren am Broadway nicht gerade viele Rollen für farbige Mädchen.«

»Aber sie kannte Josephine Baker.«

»Sie haben die Bilder in ihrer Wohnung gesehen?

Ich habe noch nie eine so schöne Frau gesehen. Jemand hat die Baker auf sie aufmerksam gemacht, gleich zu Beginn des Zweiten Weltkriegs. Josephine inszenierte ein Revival von Chocolate Dandies, der Revue, mit der sie in den zwanziger Jahren berühmt geworden war. Sie kam zum Casting nach New York.

Queenie bewarb sich für die Tanztruppe, aber sie hatte echte Starqualitäten. Sie schaffte es gleich bis in die vorderste Reihe.«

Mike dachte an die Fotos, die wir gesehen hatten.

254

»Ist sie während des Krieges vor den Truppen aufgetreten?«

»Ja. Zuerst folgte sie Josephine Baker überallhin, bis sie sich dann etwas später auf eigene Füße stellte.

Sie wissen, dass de Gaulle den beiden den Orden der Ehrenlegion verliehen hat?«

»Nein. Erzählen Sie uns bitte davon.«

»Ich habe alles auf Band, alle Geschichten, die sie mir erzählt hat. Queenie und Baker waren beide während des Krieges als Spioninnen tätig. Stars konnten sich viel freier bewegen als alle anderen. Sie behauptete, dass sie sogar geheime Militärberichte von Eng-land nach Portugal gebracht hat, die mit unsichtbarer Tinte auf ihre Notenblätter geschrieben waren. Sie war schwer gefragt.«

»Wie war das mit de Gaulle?«

»Baker arbeitete mit dem französischen Roten Kreuz zusammen. Sie war sehr aktiv in der Résistance und hat auch Queenie dazu gebracht, sich zu engagie-ren. Die beiden waren besonders gut darin, ihren –

wie soll ich sagen? – Charme spielen zu lassen, um ausländische Würdenträger dazu zu bringen, jungen Mädchen aus Osteuropa Visa auszustellen. Sie haben viele Menschenleben gerettet.«

»Das hört sich ziemlich gefährlich an«, sagte Mike.

»Sie schien regelrecht aufzublühen, wenn es ge-fährlich wurde. Es gab nicht viel, was ihr Angst machte. Aber das war wahrscheinlich nur die zweit-gefährlichste Sache, die Queenie jemals gemacht hat.«

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»Sie machen mich neugierig. Was war die gefährlichste?«

»Spionage für die amerikanische Regierung.«

»Sie hat Leute bespitzelt?«

»Genau.«

»Wen?«

»Den König von Ägypten.«

»Faruk?«, fragte ich und setzte mich kerzengerade auf.

»Ja, Ma’am, Faruk. Der Nachtschwärmer – so nannte sie ihn. McQueen Ransome war die Geliebte des Königs, Ms. Cooper.«

Josephine Baker, die Revue Nègre, die französische Résistance, General Charles de Gaulle. Ich dachte an das Pariser Etikett in dem alten Nerzmantel, den Tiffany Gatts gestohlen hatte, und zeichnete die Buchstaben R du R mit der Fingerspitze auf der grünen Schreibtischunterlage nach.

»Ransome du Roi«, sagte ich zu Mike Chapman.

»Die Geliebte des Königs.«

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Es war noch keine halbe Stunde her, dass Battaglia Faruks Namen erwähnt hatte. Paige Vallis’ Vater war Mitte der dreißiger Jahre der Privatlehrer des Play-boyprinzen gewesen. Später, nach Faruks Entthro-nung, hatte Vallis in Ägypten einen diplomatischen 256

Posten bekleidet. Ich hatte vor unserem Gespräch mit Spike Logan noch keine Gelegenheit gehabt, Mike von meiner Unterredung mit Battaglia zu erzählen.

»Diese Tonbandaufzeichnungen, die Sie von Queenie gemacht haben – wo sind die jetzt?«, fragte Mike.

»In einem Banksafe auf Martha’s Vineyard.«

Mir schwirrten Dutzende von Fragen durch den Kopf, die ich unbedingt mit Mike besprechen wollte.

Andererseits wollte ich Logans Redefluss nicht unterbrechen, indem ich Mike beiseite nahm, um ihn auf den neuesten Stand zu bringen. Logan sollte nicht mitbekommen, dass er womöglich auf etwas Wichtiges gestoßen war.

»Was dagegen, uns die Bänder zu überlassen?«, fragte Mike.

Logan zögerte.

»Ms. Cooper kann Sie per Gerichtsbeschluss dazu zwingen.«

Der Gerichtsbeschluss würde in Massachusetts kein Gewicht haben, und es würde wahrscheinlich ein paar Tage dauern, einen entsprechenden Antrag von der dortigen Staatsanwaltschaft zu bekommen, aber das wusste Logan nicht.