I
»Das hängt davon ab, was wir unter Zivilisation verstehen«, sinnierte der Prokurator.
Angesichts der Leiche war ich nicht in Stimmung für philosophische Diskussionen. Wir befanden uns in Britannien, wo die Armee das Gesetz vertrat. So weit von Rom entfernt funktionierte das Gesetz nach Faustregeln, aber hier bedeuteten die besonderen Umstände, dass sich dieser Mord nur schwer beiseite wischen ließ.
Wir waren vom Zenturio eines kleinen örtlichen Militärtrupps gerufen worden. Die Anwesenheit des Militärs in Londinium diente hauptsächlich dazu, den Statthalter Julius Frontinus und seinen Stellvertreter, den Prokurator Hilaris, zu schützen, aber da die Provinzen nicht mit Vigiles bemannt sind, müssen die Soldaten für Ruhe und Ordnung sorgen. Also begab sich der Zenturio an den Tatort, wo er zu einem sehr besorgten Mann wurde. Bei genauerer Betrachtung nahm ein anscheinend lokales Routineverbrechen eine ganz andere »Entwicklung« an.
Der Zenturio berichtete uns, er sei in die Schenke gekommen und habe nur eine normale Messerstecherei oder Prügelei erwartet. Einen Ertrunkenen mit dem Kopf voran in einem Brunnen zu finden war etwas ungewöhnlich, vielleicht sogar aufregend. Der »Brunnen« war ein tiefes Loch in einer Ecke des kleinen Hinterhofs der Schenke. Hilaris und ich beugten uns vor und schauten hinein. Das Loch war mit den wasserfesten Dauben eines massiven germanischen Weinfasses ausgekleidet; das Wasser stand fast bis zum Rand. Hilaris teilte mir mit, dass diese importierten Fässer größer als ein Mensch waren, und nachdem der Wein geleert war, wurden sie oft auf diese Weise weiterverwendet.
Als wir ankamen, war die Leiche natürlich schon entfernt worden. Der Zenturio hatte das Opfer an den Stiefeln herausgezogen und vorgehabt, den Kadaver in eine Ecke zu hieven, bis der örtliche Dungkarren ihn abtransportierte. Des Weiteren hatte er vorgehabt, sich mit einem Becher Wein auf Kosten des Hauses hinzusetzen, während er die Attraktionen der Schankkellnerin beäugte.
Doch da gab es nicht viel Attraktives zu beäugen. Nicht nach aventinischen Maßstäben. Das hängt davon ab, was wir unter attraktiv verstehen, hätte Hilaris sinnieren können, wenn er der Typ dazu gewesen wäre, Kommentare über Kellnerinnen abzugeben. Ich wiederum war der Typ dazu, und sobald wir die schummrige Kaschemme betraten, bemerkte ich, dass die fesche Maid vier Fuß groß war, lüstern schielte und wie alte Stiefelsohlen stank. Sie war zu stämmig, zu hässlich und zu schwer von Begriff für mich. Aber ich stamme aus Rom. Ich lege hohe Maßstäbe an. Das hier war Britannien, erinnerte ich mich.
Jetzt, wo Hilaris und ich vor Ort waren, bestand für niemanden mehr die Chance, umsonst etwas zu trinken zu bekommen. Wir waren Offizielle. Ich meine echte Offizielle. Einer von uns war von verdammt hohem Rang. Ich nicht. Ich war nur ein neuer Emporkömmling im mittleren Rang. Jeder mit Geschmack und Stil hätte sofort mein plebejisches Herkommen gerochen.
»Ich würde die Schenke meiden«, witzelte ich leise. »Wenn in deren Wasser Tote schwimmen, dann ist der Wein garantiert verdorben.«
»Ich werde ihn jedenfalls nicht probieren«, stimmte Hilaris mit taktvollem Unterton zu. »Wir wissen ja nicht, was die so in ihre Amphoren stopfen …«
Der Zenturio starrte uns an, zeigte seine Verachtung für unsere Art von Humor.
Die Sache kam für mich noch ungelegener als für den Soldaten. Er musste sich nur Sorgen darüber machen, ob er die unangenehmen »Entwicklungen« in seinem Bericht erwähnen sollte. Ich musste entscheiden, ob ich Gaius Flavius Hilaris – dem Onkel meiner Frau – erzählen sollte, dass ich wusste, wer der Tote war. Und davor musste ich noch einschätzen, ob Hilaris selbst die Leiche im Fass gekannt hatte.
Hilaris war hier der Wichtige. Er war Prokurator der Finanzen in Britannien. Um die Sache ins rechte Licht zu rücken: Ich war ebenfalls Prokurator, aber meine Rolle – die theoretisch mit der Aufsicht über die Heiligen Gänse der Juno zu tun hatte – war eine der hunderttausend bedeutungslosen Ehren, die der Kaiser vergab, wenn er jemandem einen Gefallen schuldig und zu geizig war, ihn bar zu bezahlen. Vespasian war der Meinung, meine Dienste hätten genug gekostet, also beglich er verbliebene Schulden mit einem Witz. Das war ich: Marcus Didius Falco, der kaiserliche Possenreißer. Wohingegen der ehrenwerte Gaius Flavius Hilaris, dessen Bekanntschaft mit Vespasian aus ihrer lange zurückliegenden gemeinsamen Armeezeit stammte, nun nur noch direkt unter dem Provinzstatthalter stand. Da der Prokurator Vespasian persönlich kannte, fungierte der liebe Gaius (wie dem Statthalter durchaus bewusst sein würde) als Augen und Ohren des Kaisers, um zu bewerten, wie der neue Statthalter die Provinz führte.
Mich musste er nicht bewerten. Das hatte er vor fünf Jahren getan, als er mich kennen lernte. Ich glaube, ich hatte ganz gut abgeschnitten. Ich wollte gut abschneiden. Das war sogar noch bevor ich mich in die elegante, gewitzte, überlegene Nichte seiner Frau verknallte. Als Einziger im Imperium hatte Hilaris schon immer gemeint, dass sich Helena mit mir zusammentun würde. Wie dem auch sei, er und seine Frau hatten mich jetzt als einen angeheirateten Neffen empfangen, so, als sei das vollkommen natürlich und sogar eine Freude.
Hilaris sah wie ein ruhiger, leicht verstaubter, unschuldiger Bürohengst aus, aber ich hätte nicht mit ihm gewürfelt – zumindest, wenn ich nicht mit den gezinkten Würfeln meines Bruders Festus spielen konnte. Hilaris ging mit der Situation auf seine übliche Art um: neugierig, gründlich und unerwartet energisch. »Hier haben wir einen Briten, der von der römischen Zivilisation nicht sonderlich profitiert hat«, hatte er gesagt, als ihm die Leiche gezeigt wurde. Das war der Moment, als er trocken hinzufügte: »Hängt allerdings wohl davon ab, was wir unter Zivilisation verstehen.«
»Er hat Wasser mit seinem Wein geschluckt, meinst du?« Ich grinste.
»Lieber nicht scherzen.« Hilaris war nicht prüde, und es war kein Tadel.
Er war ein schlanker, gepflegter Mann, nach wie vor aktiv und wach – allerdings grauer und hagerer, als ich ihn in Erinnerung hatte. Er hatte immer schon den Eindruck gemacht, von schwacher Gesundheit zu sein. Seine Frau Aelia Camilla wirkte seit meinem letzten Besuch wenig verändert, und ich war froh, meine Frau und das Jungvolk zu ihnen mitgebracht zu haben.
Bemüht, nicht zu zeigen, dass ich ihn beobachtete, entschied ich, dass er den Toten zu seinen Füßen kannte. Als Berufsdiplomat würde ihm klar sein, warum dieser Tod uns Probleme machen würde. Aber bisher erwähnte er mir gegenüber seine Kenntnis nicht.
Das war interessant.