41

Alamanders Fluch

Liam betrachtete die Wände aus purer Dunkelheit, die seine Gefährten und ihn umgaben. Alles war so schnell gegangen, dass ihm erst jetzt klar wurde, wo er sich befand.

»Was ist das für ein komischer Tunnel?«, wandte er sich an Jackon. »Wohin führt er?«

»Hab keine Angst. Der Schattentunnel bringt uns zurück zu Lucien. Bleibt in Umbras Nähe, dann kann euch nichts passieren.«

»Hat sie etwa die Seiten gewechselt?«, fragte Vivana, die mit Ruac dicht hinter ihnen ging.

»Genau.« Rasch erzählte Jackon, was geschehen war, während sie sich in der Gewalt der Dämonen befunden hatten.

Liam wusste nicht, was er von dieser Geschichte halten sollte. Dass Lady Sarkas langjährige Leibwächterin und Vertraute sich plötzlich gegen ihre Herrin wandte und sich ihren einstigen Feinden anschloss, klang einerseits ziemlich unglaubwürdig. Andererseits hatte Umbra sie gerade unter Einsatz des eigenen Lebens gerettet. Wenn das eine Falle war, dann eine äußerst unlogische. »Vertraust du ihr?«

»Ja«, antwortete Jackon. »Und ihr solltet das auch. Unsere Chancen stehen viel besser, wenn sie uns hilft.«

Umbra, die ein Stück vor ihnen durch den Schattenkorridor schritt, warf ihnen einen ärgerlichen Blick zu. »Seid leise! Ihr lockt noch eine Düsterkralle an.«

Wenige Augenblicke später stieß sie die Hände in die Tunnelwand, als wollte sie einen Vorhang teilen, und schuf eine Öffnung, durch die Tageslicht hereinströmte. Umbra und Jackon traten hindurch, und Liam hörte die Stimme von Lucien. »Ausgesprochen nett von euch, dass ihr zurückgekommen seid«, sagte der Alb bissig. »Wenn es nicht zu viel verlangt ist, warnt mich bitte das nächste Mal, bevor ihr euch in Luft auflöst. Ich hätte auch nichts dagegen gehabt, mitzukommen, nebenbei bemerkt.«

»Beruhige dich«, sagte Jackon. »Es ist alles gut gegangen. Wir haben sie gerettet.«

Liam, Vivana und Ruac schoben sich durch den Lichtspalt und fanden sich auf dem Hof einer verlassenen Manufaktur wieder. Liam konnte nirgendwo Dämonen entdecken — sie schienen tatsächlich in Sicherheit zu sein. Er atmete auf.

Lucien war noch lange nicht besänftigt. Missmutig beäugte er Liam und Vivana. »Ist alles in Ordnung mit euch? Hat Umbra euch etwas angetan?«

»Na klar«, knurrte die ehemalige Leibwächterin. »Ich rette ihnen den Hintern, nur um ihnen anschließend eine reinzuhauen.« Schnaubend öffnete sie ihre Pulverflasche und lud ihre Pistole nach.

»Alles bestens«, sagte Liam. »Es geht uns gut. Wir verdanken ihr unser Leben.«

»Na schön«, meinte Lucien. »Dann lasst uns zurück zu den anderen gehen — aber ohne sie.«

»Was?«, fuhr Jackon auf. »Nach allem, was sie für uns getan hat? Das ist nicht fair. Außerdem brauchen wir sie.«

»Wir kommen sehr gut ohne sie zurecht. Wer weiß, was ihr in den Sinn kommt, wenn sie Lady Sarka begegnet. Vielleicht fällt ihr plötzlich ein, dass sie lieber doch keine Überläuferin sein will.«

»Jetzt hör mir mal zu, Alb«, sagte Umbra barsch. »Ich nehme an, ihr wollt zum Palast. Dort wimmelt es von Spiegelmännern. Lady Sarka hat sämtliche Wachen zusammengezogen, um sich vor den Dämonen zu schützen. Ohne mich habt ihr nicht den Hauch einer Chance hineinzukommen. Sie würden euch abschlachten, bevor ihr auch nur über die Mauer geklettert seid. Entweder vertraust du mir, oder du gehst in den sicheren Tod.«

Lucien hielt ihrem Blick stand, und Liam konnte beinahe hören, wie die Luft zwischen ihnen knisterte. »Gut«, sagte er schließlich. »Du bringst uns zu Lady Sarka. Aber glaub ja nicht, du könntest uns aufs Kreuz legen. Ich habe ein Auge auf dich.«

»Die Dämonen sollen dein Auge holen.« Umbra wandte sich Jackon zu. »Wo versteckt sich der Rest von euch?«

»In einem leer stehenden Haus. Am Ende der Greifengasse, glaube ich.«

»Ich weiß, wo das ist.« In den Schatten zwischen der Hofmauer und dem Kistenstapel öffnete sie ein neues Tor. »Meine Damen und Herren, wenn ich bitten darf.«

Sie schritten durch den Tunnel. Liam blickte stur geradeaus und versuchte, nicht auf die huschenden Bewegungen in der Dunkelheit jenseits des schmalen Pfades zu achten. Umbras Art der Fortbewegung mochte unauffällig und Zeit sparend sein, doch er konnte nicht behaupten, dass sie ihm Spaß machte.

Vivana dagegen schien sich bereits daran gewöhnt zu haben. Sie stapfte den Korridor entlang, als wäre es der normalste Vorgang der Welt. »Ich muss dich etwas fragen«, wandte sie sich leise an Umbra. »Nachdem wir aus dem Ministerium der Wahrheit geflohen sind, haben mein Onkel Madalin, seine Brüder und seine Kinder die Stadt verlassen. Weißt du, was aus ihnen geworden ist?«

»Sie wurden jedenfalls nicht von der Geheimpolizei geschnappt, falls es das ist, was du wissen willst. Corvas' Leute haben sie zwar verfolgt, aber irgendwo in Karst ihre Spur verloren und die Suche schließlich abgebrochen, weil sie hier gebraucht wurden. Ich nehme an, sie sind längst in Torle oder im Norden.«

Vivana wandte sich zu Liam um. »Hast du gehört? Sie haben es geschafft!«

Sie verließen den Tunnel in einer dunklen Ecke am Ende der Greifengasse. Als sie sicher waren, dass niemand sie beobachtete, eilten sie zu dem Stadthaus, vor dem das Wrack der Jaipin lag. Von Jackon wusste Liam, dass außer Vivanas Vater und Khoroj niemand bei dem Absturz verletzt worden war, was ihm jetzt, da er das verbrannte Gerippe sah, wie ein Wunder erschien.

In einem spinnwebenverhangenen Kellergewölbe fanden sie den Rest ihrer Gefährten. Khorojs Leibwächter hatten die Kopfverletzung des Südländers mit Kleiderfetzen verbunden. Er war bei Bewusstsein, wirkte jedoch fiebrig und geschwächt.

Die Freunde umarmten einander. Quindal war so froh, Vivana wiederzuhaben, dass er beinahe weinte.

Dann bemerkte er Umbra.

»Was hat sie hier zu suchen?«

»Keine Sorge, Paps«, sagte Vivana. »Das geht in Ordnung.« Sie fasste die Ereignisse der letzten Stunde zusammen. Erwartungsgemäß war ihr Vater der ehemaligen Leibwächterin gegenüber noch misstrauischer als Lucien. Erst nach einer hitzigen Diskussion sah er widerwillig ein, dass es sie nicht weiterbrachte, Umbra zu fesseln oder fortzujagen.

»Also gut«, brummte er. »Aber ich warne dich — ich behalte dich im Auge.«

»Ach, du auch?« Umbra hob eine Braue. »Hoffentlich bekomme ich bei so viel Publikum kein Lampenfieber.«

»Hat man nach euch gesucht?«, sprach Lucien den Erfinder an.

»Wir hatten Glück, es war niemand da. Vorods Männer haben mehrere Soldaten beobachtet, aber sie sind nicht ins Haus gekommen. Offenbar haben sie das Wrack der Jaipin gesehen und uns für tot gehalten.«

»Was sind jetzt eure Pläne?«, fragte Umbra ungeduldig.

Mahoor Shembar trat aus den Schatten jenseits des Treppenaufgangs. Ihr bringt mich zu Lady Sarka, damit ich den Bindezauber aufheben und den Phönix befreien kann, wisperte er.

»Bei allen Dämonen!«, keuchte Umbra und riss ihre Pistole aus dem Holster. Bevor sie auf den Untaten schießen konnte, hielt Liam ihren Arm fest.

»Nicht! Er gehört zu uns.«

»Was ist das — ein verdammter Ghul?«

»So ähnlich. Aber er stellt keine Gefahr für uns dar. Er heißt Mahoor Shembar.«

Es ist mir ein Vergnügen, meine Dame. Der Nigromant neigte knarzend den Kopf.

Umbra schluckte und steckte ihre Pistole weg. »Wer kommt noch alles mit?«

Es meldeten sich Liam, Jackon, Vivana und Lucien.

»Ich würde gern, aber ich fürchte, mit meinem Bein halte ich euch nur auf«, sagte Quindal. »Vorod bleibt ebenfalls hier. Er muss sich ausruhen. Was ist mit deinen Männern, Vorod?«

Der Südländer saß an der Wand, das Gesicht von einem Schweißfilm bedeckt. »Ich fürchte, sie werden nicht von meiner Seite weichen, selbst wenn ich es ihnen befehle.«

»Sechs Leute sind ohnehin das Maximum für ein Schattentor«, sagte Umbra. »Der Lindwurm muss auch hierbleiben. Aber er wäre uns in einem Kampf sowieso keine große Hilfe.«

Vivana war einverstanden. »Können Ihre Männer seine Wunde versorgen?«, fragte sie.

»Natürlich«, antwortete der Südländer leise.

Viel mehr gab es nicht zu sagen.

»Dann wollen wir mal«, meinte Lucien.

Während Umbra ein Tor öffnete, verabschiedeten sich die Gefährten voneinander. Vivana drückte Ruac und ihren Vater an sich. »Viel Glück«, murmelte Quindal, und sein Gesicht war grau vor Angst um sie. »Und seid bitte vorsichtig, versprich mir das.«

»Versprochen, Paps«, sagte Vivana heiser.

Ehe Liam den schwarzen Tunnel betrat, wandte er sich noch einmal um, hob die Hand und brachte ein schwaches Lächeln zu Stande. Er versuchte, nicht daran zu denken, dass er Ruac und den alten Erfinder und Khoroj vielleicht zum letzten Mal sah.

»Wohin bringst du uns?«, fragte Jackon, während sie dem Schattenkorridor folgten.

»Zu einem Nebenraum der Bibliothek, wo sich aller Wahrscheinlichkeit nach keine Spiegelmänner aufhalten«, antwortete Umbra. »Außerdem steht dort ein Waffenschrank, wo ihr euch mit Pistolen und Munition eindecken könnt. Wenn ihr meinen Rat hören wollt: Sollten wir Corvas und Amander begegnen, haltet euch nicht mit Reden auf — schießt. Sie werden es ihrerseits genauso machen.«

Du hast bemerkenswerte Fähigkeiten, sagte Mahoor Shembar, und seine Augen glühten im Zwielicht. Wo hast du gelernt, dir die Schatten untertan zu machen?

»In der Sonntagsschule.« Umbra öffnete in der Tunnelwand einen Spalt und spähte hindurch. »Die Luft ist rein. Aher seid trotzdem leise.«

Sie verließen das Zwischenreich der Schatten und gelangten in ein Zimmer, in dem sich ein Durchgang zum Hauptraum der Bibliothek befand. Unangenehme Erinnerungen stiegen in Liam beim Anblick der Bücherregale auf. Als er das letzte Mal hier gewesen war, hatte er das Gelbe Buch von Yaro D'ar gefunden und war kurz darauf von Seth ins Pandæmonium geschleudert worden.

Umbra zückte einen Schlüsselbund, schloss einen Waffenschrank auf und begann, Pistolen, Munitionstaschen und Pulverflaschen zu verteilen.

»Danke, ich bleibe bei meinen Messern«, lehnte Lucien ab.

Vivana und Jackon nahmen jeweils eine Waffe an sich und ließen sich von Umbra erklären, wie man sie lud. Liam griff nach einem Säbel.

»Keine Pistole?«, fragte die ehemalige Leibwächterin. »Ich habe meine Prinzipien.«

Er registrierte eine Bewegung im Augenwinkel und fuhr mit der Klinge in der Hand herum.

Eine Gestalt kauerte im Eingang.

»Keine Angst, das ist nur Primus«, sagte Jackon nach dem ersten Schreck.

Das Grauen drohte Liam die Kehle zuzuschnüren. »Nein«, krächzte er. »Das ist nicht Primus ... das ist Godfrey.«

Der Aethermann — besser gesagt: das, was von ihm übrig war — kam langsam herein. Sein Körper war deformiert und bucklig und passte nicht mehr richtig in den Anzug, weswegen das Tweed an mehreren Stellen gerissen war. Tuchfetzen spannten sich über verwachsenes Fleisch und graue Haut. Sein linkes Bein wirkte dünn, schwach und nutzlos; er schleifte es nach und benutzte es nur, um sich abzustoßen, während er mit dem rechten einen Schritt nach vorne machte und sich dabei wie ein Affe mit beiden Händen an Wänden und Regalen entlangzog. Liam hätte ihn nicht erkannt, wäre da nicht Godfreys blasses Gesicht unter der abgewetzten Melone gewesen. Es war ebenfalls entstellt, aber nicht so stark wie der Rest seines Körpers.

Keiner der Gefährten brachte einen Ton heraus. Umbra dagegen wirkte eher angewidert als entsetzt.

»Was willst du?«, fragte sie unwirsch.

Die schmatzende, gluckernde, knarzende Stimme, mit der Godfrey sprach, erschütterte Liam noch mehr als der Anblick seines missgestalteten Körpers.

»Euch-chch um Vergebung bitten.«

»Was ... Was ist mit ihm passiert?«, wandte sich Liam an Umbra. Er brachte es nicht über sich, Godfrey anzusprechen.

»Lady Sarka — das ist ihm passiert.«

»Sie hat ihm das angetan?«, fragte Vivana mit einem Zittern in der Stimme.

»Mehr als alles andere habe ich-chch mir einen richtigen Körper gewünscht«, krächzte Godfrey. »Einen menschlichen Körper aus Fleisch und Blut. So wie früher mtz-vor meinem Unfall. Lady Sarka hat mir versprochen, mich-chch zum Dank für meine Dienste mit ihrer alchymistischen Kunst zu heilen. Aber es hat nicht mtz-funktioniert. Sie hat ein Monster mtz-aus mir gemacht.«

»Oder sie hat es absichtlich getan«, murmelte Umbra. »Inzwischen traue ich ihr alles zu.«

»›Zum Dank für meine Dienste‹«, wiederholte Lucien verächtlich. »Du hast uns verraten, Godfrey. Deinetwegen wären wir fast getötet worden. Erwartest du, dass wir Mitleid mit dir haben?«

»Nein. Ich-chch habe den Lohn bekommen, den ich verdiene.«

»Beantworte mir eine Frage: Du hast beschlossen, uns Corvas auszuliefern, als du deine Geheimpolizei-Akte gelesen hast, richtig? Was stand in der Akte?«

Umbra antwortete an Godfreys Stelle: »Die Geheimpolizei hatte die Anweisung, Godfrey bei seinen Aktivitäten gewähren zu lassen, solange er Bradost nicht schadete. Corvas wollte ihn nur dann vernichten, wenn er sich zu einer Gefahr für Lady Sarka entwickelte. Aber er wusste, dass das sehr schwer werden würde. Also hat er beschlossen, ihn zu kaufen, sollte es nötig werden, und ihm das anzubieten, wonach er sich am meisten sehnte: die Wiederherstellung seines Körpers.«

Lucien starrte den Missgestalteten bohrend an. »Stimmt das? Wir waren also der Preis für deine Heilung?«

»Ja. Ich-chch war ein Narr.«

Liam schluckte. Jetzt war ihm alles klar. Nachdem Godfrey in seiner Akte von Corvas Plänen gelesen hatte, musste in ihm die Hoffnung aufgestiegen sein, eine mächtige Alchymistin wie Lady Sarka könne ihm vielleicht seinen Wunsch erfüllen. Eine Hoffnung, die stärker war als seine Loyalität zu Quindal und dessen Gefährten — zumal ihre Freundschaft durch die Zerstörung seines Verstecks Risse bekommen hatte. Also hatte er sich entschieden, sie zu verraten.

Liam schloss für einen Moment die Augen. Godfreys Schicksal war so traurig und entsetzlich, dass er einfach nicht fähig war, ihn zu hassen. Er wünschte, der Aethermann hätte sich ihnen anvertraut, damit sie gemeinsam hätten versuchen können, ihm zu helfen. Gewiss wäre es ihnen irgendwie gelungen, das Leid und die Einsamkeit, die ihn quälten, zu lindern.

»Könnt ihr mir mtz-vergeben?«, krächzte Godfrey.

Lange Zeit herrschte Schweigen, und man hörte nur Godfreys pfeifenden Atem. Vivana war die Erste, die sprach: »Du wurdest betrogen und getäuscht. Dafür kannst du nichts. Ja, ich vergebe dir.«

»Ich auch«, murmelte Liam, und die anderen schlossen sich ihm an, wenngleich Lucien einen Moment zögerte.

»Wir müssen jetzt weiter«, drängte Umbra.

»Warte hier auf uns«, sagte Liam zu Godfrey. »Wenn wir Lady Sarka besiegt haben, kommen wir zurück und holen dich. Bestimmt fällt uns etwas ein, wie wir dir helfen können.«

»Niemand kann mir jetzt noch helfen. Ich-chch habe nur noch einen Wunsch.«

Bitte nicht, dachte Liam und biss sich auf die Lippe.

»Tötet mich«, krächzte Godfrey.

»Nein«, flüsterte Vivana. »Das kannst du nicht von uns verlangen.«

»Bitte. Ihr müsst mir diesen Wunsch erfüllen. Ich-chch kann so nicht leben. Ich bin ein Ungeheuer. Die Menschen fürchten mich. Sogar ihr, mtz-meine Freunde. Und die Schmerzen werden immer schlimmer.«

»Er hat Recht«, sagte Lucien. »Wir können ihm diese Gnade nicht verwehren. Es sei denn, du kannst ihn irgendwie zurückverwandeln«, wandte er sich an Mahoor Shembar.

Nein, wisperte der Untote. Das übersteigt meine Macht.

Lucien schaute in die Runde. Die Gefährten wichen seinem Blick aus.

»Tu du es«, sagte Liam mit belegter Stimme. »Ich schaffe das nicht.«

Mit einem harten Zug um den Mund zog der Alb sein Messer. Einen Augenblick später war es getan.

»Ich danke dir, mein Freund«, flüsterte Godfrey und starb. Jemand klatschte Applaus.

»Wie rührend«, höhnte Lady Sarka. »Der Verräter winselt um Vergebung, und mit Tränen in den Augen erlöst man ihn von seinem Elend. Das ist wahre Freundschaft.«

Sie stand im Hauptraum der Bibliothek, flankiert von Corvas und Amander, die in jeder Hand eine doppelläufige Pistole hielten.

»Was seid ihr nur für ein erbärmlicher Haufen. Ihr glaubt allen Ernstes, ihr könntet mich besiegen? Niemand kann das. Meine Macht ist viel zu groß, größer noch als Aziels ...«

Umbra schoss. Die Kugel verfehlte jedoch ihr Ziel, denn Lady Sarka verschwand, als hätte sie sich in Luft aufgelöst.

»Tötet sie!«, erklang ihre Stimme aus dem Nichts.

Keine Sekunde später pfiffen die Kugeln durch die Bibliothek.

Corvas und Amander gaben jeweils einen Schuss ab und hechteten hinter eine Säule und eine Vitrine. Liam und seine Gefährten gingen links und rechts des Durchgangs in Deckung.

»Warum hast du nicht den Phönix befreit?«, fuhr Lucien Mahoor Shembar an.

So schnell geht das nicht. Der Untote schien nicht die Absicht zu haben, sich an dem Gefecht zu beteiligen. Lautlos verschmolz er mit den Schatten.

Noch ein Schuss peitschte durch den Raum und traf die Regalwand. »Was machen wir jetzt?«, stieß Liam hervor. »Hier sitzen wir fest!«

»Zuerst müssen wir die Tür zum Kuppelsaal verriegeln«, sagte Lucien. »Wenn die Spiegelmänner reinkommen, sind wir geliefert. Umbra, ich brauche deinen Schlüssel. Wenn ich ›jetzt‹ rufe, gebt ihr mir Feuerschutz.«

Amander kam hinter der Vitrine hervor und gab einen Schuss ab, der über Umbras Kopf in den Rahmen des Durchgangs einschlug. Umbra erwiderte das Feuer und zwang ihn, hinter einem Pfeiler in Deckung zu gehen. Daraufhin wurde sie von Corvas beschossen, der sie jedoch verfehlte.

Acht Schüsse, dachte Liam. Wenn er sich nicht verzählt hatte, mussten Corvas und Amander nun nachladen.

»Jetzt!«, rief Lucien und rannte los.

Umbra ließ ihren Schatten wachsen und brachte ein Regal zum Umkippen. Amander ächzte, als er von einer Lawine aus schweren Büchern getroffen wurde. Gleichzeitig schossen Vivana und Jackon auf die Säule, hinter der sich Corvas verbarg. Aus einem der angrenzenden Räume drang das Klirren von Ketten — der Homunculus Primus, der in seinem Käfig tobte. Der Pistolendonner machte ihn vollkommen verrückt.

Liam riskierte einen Blick in den Hauptraum. Lucien verschloss die Tür zum Kuppelsaal — buchstäblich im letzten Moment: Kaum zog er den Schlüssel ab, erzitterte die Tür unter den Stößen der Spiegelmänner.

Flink verschwand Lucien zwischen den Regalen. Gleichzeitig begann Corvas wieder zu feuern, und Liam musste den Kopf einziehen.

Routiniert füllte Umbra Schwarzpulver in ihre Pistole und stopfte mit dem Ladestock die Kugeln fest. »Jackon und Vivana, ihr feuert weiter auf Corvas und Amander«, befahl sie. »Wechselt euch ab, damit immer einer schießen kann, während der andere nachlädt. Ich versuche derweil, mit einem Schattentor hinter sie zu gelangen. Und du«, wandte sie sich an Liam, »besorgst dir endlich eine Pistole. Dein Säbel ist hier so nützlich wie ein Tortenheber.«

Vivana legte ihre Waffe auf den Boden. »Das bringt nichts.« Sie griff in ihren Hemdkragen und zog ein zerknittertes Pergament heraus.

Es war der Zauber, den sie auf der Zhila vorbereitet hatte.

»Was soll das werden?«, fragte Umbra stirnrunzelnd.

»Etwas, auf das ich mich schon seit Tagen freue.« Mit grimmiger Miene las sie die Runen, und ihre Lippen bewegten sich stumm.

Zwei weitere Kugeln schlugen Steinsplitter aus der Wand. Liam hörte das Bersten von Holz, als die Spiegelmänner mit ihren Rabenschnäbeln auf die Tür einschlugen. Sie bestand aus massiven Balken, dennoch würde sie den Homunculi nicht ewig standhalten.

»Gebt auf«, rief Amander hinter dem Pfeiler. »Ihr könnt nicht gewinnen!«

»Du hast dir die Manusch zum Feind gemacht«, sagte Vivana. »In Torle bist du mit dem Leben davongekommen, aber ich werde dafür sorgen, dass dieser Fehler behoben wird.«

Amander lachte, aber es lag ein Hauch Unsicherheit darin. »Du hältst dich für eine Hexe wie deine Tante, was? Aber sag mir, was hat ihr dieser ganze Manuschhokuspokus am Ende genutzt? Krepiert ist sie, genau wie du gleich krepieren wirst.«

Vivana schloss die Augen und flüsterte ein uraltes Wort. Gänsehaut bildete sich auf Liams Armen, als er den Strom der unsichtbaren Energien spürte, der sie umfloss. Die Runen begannen zu glühen — und dann ging das Pergament in Flammen auf.

Sie warf es in den Hauptraum. Amander hörte auf zu lachen und schnappte nach Luft.

»Wie fühlt es sich an, wenn sich das Gift in deinem Blut, mit dem du so viele Menschen ermordet hast, plötzlich gegen dich wendet?«

»Was tust du?«, krächzte Amander. »Hör auf damit.«

»Tut mir leid. Das geht nicht, selbst wenn ich es wollte. Aber was hast du? Es ist doch nur Manuschhokuspokus.«

Liam hielt den Atem an und spähte nach draußen. Amander stand auf und kam hinter dem Pfeiler hervor. Sein Gesicht war eine Grimasse der Qual, seine Hand krampfte sich vor seiner Brust zusammen.

»Amander!«, sagte Corvas scharf »Geh wieder in Deckung.«

Der Schwarzhaarige taumelte einen Schritt nach vorne und rutschte beinahe auf den Büchern auf dem Boden aus. Er hielt sich an der Säule fest, als seine Knie einknickten. »Das ist für Tante Livia«, flüsterte Vivana.

Blutiger Schaum quoll aus Amanders Mund. Er kippte nach vorne, fiel mit dem Gesicht voran auf den Boden und hörte auf zu zucken.

Liam presste die Lippen aufeinander. Amander war ein Mörder, ein Sadist, der den Tod verdiente; trotzdem nahm es ihn mit, den Leibwächter so qualvoll sterben zu sehen.

»Schnappen wir uns Corvas, bevor die Spiegelmänner kommen«, sagte Umbra.

Der Bleiche lud gerade seine Pistole nach, als Liam und seine Gefährten in den Hauptraum der Bibliothek stürmten. Er warf Waffe und Pulverflasche weg, verwandelte sich in eine Krähe und flog aus einem offenen Fenster. Umbra feuerte, verfehlte ihn jedoch.

Mit einem Fluch auf den Lippen wandte sie sich zu Liam, Jackon und Vivana um. »Die Tür, schnell! Verbarrikadiert sie.«

Liam sah, dass es nur noch eine Frage von Sekunden war, bis die Spiegelmänner die Tür eingeschlagen hatten. Jackon und Vivana halfen ihm dabei, eine Vitrine voll mit Büchern umzukippen und den Eingang von innen zu blockieren.

Der Eisendorn eines Rabenschnabels bohrte sich durch das Holz. Der Türknauf brach ab und kullerte über den Boden.

»Das reicht noch nicht!«, keuchte Liam.

Jackon und er warfen ein zweites Regal um. Vivana schob einen Tisch heran und verkeilte ihn zwischen den Möbelstücken. Ein Spiegelmann schob seine Hand durch eines der Löcher in der Tür und packte ihren Arm.

»Liam!«

Er hob seinen Säbel auf und versetzte der Hand einen kräftigen Schlag, woraufhin sie Vivana losließ.

Das zerschmetterte Schloss brach aus dem Holz, und die Tür öffnete sich einen Spalt. Liam und Jackon stemmten sich gegen die Barriere aus Möbelstücken, während die Spiegelmänner von der anderen Seite dagegen drückten.

»Umbra!«, rief Vivana. »Du musst uns von hier wegbringen. Wo ist Lucien?«

»Hier«, erklang eine schwache Stimme.

Liam sah den Alb zwischen. den Bücherregalen auftauchen. Er schien sich kaum noch auf den Beinen halten zu können und stützte sich auf einem Lesetischchen ab.

»Bist du verletzt?«, fragte Vivana.

»Ich habe ganz vergessen, dass dieser Teil des Palasts gegen Schattenwesen abgeschirmt ist. Die Bannsymbole an der Tür und den Fenstern setzen mir zu.« Er verzog das Gesicht.

Umbra schuf ein Schattentor. »Wo ist der verdammte Ghul?«

Kein Ghul, meine Dame. Ein Wiedergänger, durch einen machtvollen Fluch an diesen Körper gebunden und zur Unsterblichkeit verdammt. Mahoor Shembar kam aus dem Nebenraum und schritt durch die Bibliothek.

»Geht es ein bisschen schneller?«, fauchte Umbra. Sie packte den Untoten am Arm und zog ihn in den Tunnel.

Der Lärm der Spiegelmänner verstummte, als sie den Eingang schloss. Liam und Jackon stützten Lucien, während sie dem schattenhaften Korridor folgten.

»Wie schlimm ist es?«, fragte Liam.

»Ein paar Minuten länger, und ich wäre jetzt tot.«

Sie verließen den Tunnel in einem der vielen leer stehenden Zimmer des Palasts. Liam spähte aus der Tür auf den staubigen Flur. Stille. Nirgendwo waren Spiegelmänner zu sehen.

Lucien setzte sich in einen abgewetzten Ohrensessel.

»Können wir etwas für dich tun?«, erkundigte sich Vivana besorgt.

»Gebt mir eine halbe Stunde, dann sollte ich wieder auf den Beinen sein.«

»Wohin ist Lady Sarka verschwunden?«, fragte Liam.

»In die Traumlanden«, antwortete Jackon. »Ihre Macht ist inzwischen so groß, dass sie sie betreten und verlassen kann wie ein Alb.«

»Kannst du den Bindezauber brechen, wenn sie nicht da ist?«, wandte sich Vivana an Mahoor Shembar, der am Fenster stand und die Stadt betrachtete.

Nein. Der Gegenzauber erfordert, dass ich sie berühre.

»Mit anderen Worten«, sagte Liam, »solange Lady Sarka in den Traumlanden ist, können wir nichts ausrichten. Sie kann sich beliebig lange vor uns verstecken.«

»Es gibt einen Weg«, sagte Lucien. »Wir müssen sie zwingen, die Traumlanden zu verlassen.«

»Und wie?«

»Jackon muss sie in den Träumen besiegen, so wie er einst Aziel besiegt hat.«

Jackons Augen weiteten sich. »Aber das kann ich nicht! Sie ist viel zu stark.«

»Du musst ja nicht allein gegen sie kämpfen«, erwiderte der Alb. »Ich komme mit. Meine Kräfte in den Traumlanden sind zwar nicht mehr so stark wie früher, aber zu zweit haben wir vielleicht eine Chance gegen sie.«

Jackon blickte nacheinander Liam, Lucien, Vivana und Umbra an. »Also gut. Ich mache es. Es gibt da nur ein Problem: Wie soll ich einschlafen? Ich bin viel zu nervös.«

»Würde dir das Bittergras helfen, dass du immer von Lady Sarka bekommen hast?«, fragte Umbra.

»Ich glaube nicht. Es ist nicht stark genug.«

»Also brauchen wir ein richtiges Schlafmittel. Ich bringe uns zu Lady Sarkas Labor. Dort bewahrt sie alle möglichen Substanzen und Tränke auf. Da finden wir sicher was für dich.«

»Warte noch ein paar Minuten«, sagte Lucien. »Ich muss bei Kräften sein, wenn ich Jackon helfen will.«

Liam spähte durch den Türspalt. »Ich fürchte, so viel Zeit haben wir nicht. Ich habe Geräusche gehört. Wahrscheinlich die Spiegelmänner, die den Palast nach uns absuchen.«

Der Alb seufzte und stemmte sich hoch. »Also los.«

Diesmal führte Umbras Tunnel steil abwärts. Liam und seine Gefährten traten durch die Öffnung in der Schattenwand und gelangten in eine Höhle, die von einem fahlen, blauen Glühen erfüllt war. Die Wände waren glatt und transparent wie Eis.

»Wo sind wir?«, fragte Liam, während er sich umschaute.

»In den Glashöhlen unter dem Palastkeller.« Umbra schritt zu einer geräumigen Nische, worin sich ein Athanor und ein Tisch mit einer alchymistischen Apparatur, bestehend aus allerlei Röhren und Glaskolben, befanden. Sie öffnete einen Blechschrank und durchsuchte die Tiegel und Trankfläschchen. »Hier. Ein starkes Beruhigungsmittel. Das sollte gehen. Nimm einen Schluck, aber nicht zu viel, hörst du? Wir wollen nicht, dass du ins Koma fällst.«

Skeptisch betrachtete Jackon die rotbraune Glasphiole, entfernte den Korkpfropfen und setzte sie an die Lippen. Er verzog das Gesicht. »Schmeckt scheußlich.«

»Wie jede wirksame Medizin.« Umbra schob die Gerätschaften vom Tisch. Glas zersplitterte auf dem Höhlenboden. »Leg dich da drauf Etwas Bequemeres haben wir leider nicht.«

Der Rothaarige streckte sich auf dem Steintisch aus. Die ehemalige Leibwächterin faltete einen ledernen Schutzumhang zusammen und schob ihn unter seinen Kopf. Das Mittel begann bereits zu wirken: Liam sah, wie Jackon die Lider schwer wurden.

Lucien trat zu ihm. »Wir treffen uns an deinem Seelenhaus, in Ordnung?«

»Bis gleich.« Jackon schlief ein.

»Wünscht mir Glück«, sagte der Alb und verschwand.