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Abschied im Nebel

Es dauerte eine halbe Stunde, bis Liam klar wurde, dass sie denselben Gängen folgten, durch die sie bei ihrer Flucht gekommen waren — für ihn sahen die Tunnel und Kanäle alle gleich aus. Der Weg änderte sich erst irgendwo unter der Krähenhöhe, als sie in einen Gang einbogen, der zum Stadtrand führte. Dort wollten sie die Manusch verabschieden. Liam hatte gehofft, sie würden wenigstens einen Teil der Strecke oberirdisch gehen, denn er sehnte sich danach, endlich wieder einmal das Tageslicht zu sehen. Aber natürlich war das zu gefährlich.

Diesmal war es Godfrey, der sie durch das unterirdische Labyrinth führte. Jackon war mit Ruac im Versteck geblieben, um auf ihre Sachen aufzupassen.

Nach einem zweistündigen Fußmarsch erblickten sie trübes Tageslicht in der Ferne. Kurz darauf erreichten sie den Ausgang des Tunnels. Liams Sorge, sie könnten dort auf Krähen oder Soldaten treffen, erwies sich als unbegründet. Der Gang sei nur sehr wenigen Menschen bekannt, versicherte ihm Godfrey. Die Geheimpolizei wisse nichts davon.

Vor ihnen lagen die Plantagen, matschige und unkrautbewachsene Äcker, die sich bis zu den Hügeln erstreckten. Der Nebel war so dicht, dass man keine zwanzig Schritt weit sehen konnte.

»Ich wünschte, wir hätten unsere Wagen«, sagte Jovan, der sich auf eine improvisierte Krücke stützte.

»Ich kann zu Bajo gehen und ihn bitten, sie zu der Wegkreuzung an der Grenze zu bringen«, erwiderte Godfrey.

»Bajo wird vielleicht überwacht«, gab Madalin zu bedenken.

»Lass das meine Sorge sein.«

»Das wäre uns eine große Hilfe. Aber sei vorsichtig. Du hast unseretwegen schon genug durchgemacht.«

Die Freunde schwiegen. Der Moment des Abschieds war gekommen.

»Wir müssen aufbrechen«, meinte Madalin schließlich. »Ich will in Karst sein, bevor es dunkel wird.«

»Passt auf euch auf«, sagte Vivana. »Nehmt euch in Acht vor den Krähen. Und lasst irgendwann einmal was von euch hören.«

Der hochgewachsene Manusch nickte. »Wir schicken euch eine Nachricht, sowie wir in Sicherheit sind. Viel Glück, Vivana. Euch anderen auch.«

Sie umarmten einander. Liam hatte einen Kloß im Hals, während er Madalin, Jovan, Sandar und die Kinder an sich drückte. In den vergangenen Tagen hatte er sie alle ins Herz geschlossen, und er vermisste sie schon jetzt.

Dann schulterten die Manusch ihre Beutel und machten sich auf den Weg. Madalin blickte ein letztes Mal zurück, bevor die kleine Gruppe im Nebel verschwand.

Vivanas Hand schloss sich um Liams; ihre Finger waren kalt. Er ahnte, was in ihr vorging. Ihr ganzes Leben lang hatte sie nicht gewusst, wohin sie gehörte, war zerrissen gewesen zwischen zwei Welten, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Erst als ihr Vater gelernt hatte, die Manusch und ihre fremde Lebensweise zu akzeptieren, war es ihr gelungen, ihren eigenen Weg zu finden. Und nun, da sie endlich glücklich war, wurde ihre Familie auseinandergerissen. Liam wünschte, er könnte etwas dagegen tun.

Irgendwann kam Wind auf und zerstreute den Nebel. Liam tauchte aus seinen Gedanken auf, als etwas Kaltes seine Wange berührte und schmolz.

»Verdammt«, brummte Quindal. »Jetzt fängt's auch noch an zu schneien.«

Vivana schätzte, dass es bereits Abend war, als sie zu ihrem Versteck zurückkehrten. Zu ihrer Erleichterung war Lucien bereits da. Allerdings sah er ziemlich mitgenommen aus.

»Was ist denn mit dir passiert?«

»Unwichtig. Setzt euch. Wir haben einiges zu besprechen.« Der Alb blickte in die Runde. »Wo ist Godfrey?«

»Er erledigt noch etwas für Madalin«, antwortete Vivana.

Nachdem sich die Gefährten an den Vorräten gestärkt hatten, erzählte Lucien von seinem Besuch bei Mama Ogda und was er dort herausgefunden hatte. Sein Bericht fiel äußerst knapp aus, und Vivana hatte den Verdacht, dass er ihnen auf typische Lucienart wieder einmal die Hälfte verschwieg.

»Die Bleichen Männer verstecken sich also in einem alten Garten in Scotia«, sagte Vivana.

Lucien nickte. »Morgen gehen wir dorthin.«

»Wieso nicht gleich?«

»Du willst ihnen nicht bei Nacht begegnen, glaub mir.«

Sie schauderte und musste wieder an den alten Kinderreim denken: Grüne Spiegel, tote Augen, lass dir nicht die Seel' aussaugen.

»Außerdem müssen wir zuerst einen Weg finden, um uns vor ihnen zu schützen, bevor wir sie aufsuchen«, fuhr Lucien fort. »Am besten benutzt du dafür deine neuen Kräfte.«

Vivana zuckte innerlich zusammen. »Aber das kann ich nicht. Es ... es ist noch zu früh.«

»Unsinn. Als du Jackon prüfen wolltest, konntest du es doch auch.«

»Das war etwas anderes.« Bei Jackons Prüfung hatte sie nur etwas nachgemacht, das sie sich bei Tante Livia abgeschaut hatte. Das war einfach gewesen, einfach und berechenbar, und das meiste hatte die Perle von allein erledigt. Bei dem Gedanken, ihre Kräfte ohne jegliche Orientierung einzusetzen, bekam sie es mit der Angst zu tun.

»Ich fürchte, du hast keine Wahl«, sagte der Alb. »Die Bleichen Männer sind mächtig. Ohne Magie sind wir ihnen nicht gewachsen. Aber ich kann dir helfen, wenn du möchtest. Wir schauen uns gemeinsam Livias Bücher an und suchen nach einem geeigneten Schutzzauber.«

»Verstehst du überhaupt etwas von Manuschzauberei?«

»Ein wenig.«

Vivana drehte eine Haarsträhne zwischen den Fingern. Es hatte keinen Sinn, noch länger zu warten — irgendwann musste sie sich ihren neuen Kräften stellen. Ob es ihr gefiel oder nicht. Sie stand auf.

»Wo willst du hin?«, fragte Lucien.

»Livias Bücher holen. Es ist wohl am besten, wir fangen gleich an.«

Nachdem Vivana den Raum verlassen hatte, griff Lucien in seine Hosentasche und holte eine Rauchglasphiole hervor. »Die ist für dich«, wandte er sich an Jackon. »Ich musste Mama Ogda versprechen, sie dir zu geben, als Gegenleistung für ihre Hilfe.«

Mit gerunzelter Stirn nahm Jackon das Fläschchen entgegen. »Was ist das?«

»Eine destillierte Erinnerung.«

»Eine was?«

»Die Erinnerung einer fremden Person. Mama Ogda hat sie so verarbeitet, dass andere Leute sie erleben können, als wäre es ihre eigene.«

»Und was soll ich damit?«

»Mama Ogda möchte, dass du sie trinkst.«

»Wieso? Und warum schenkt sie mir so etwas? Ich kenne sie doch überhaupt nicht.«

»Die Erinnerung hat etwas mit Umbra zu tun.«

Jackons Interesse erwachte. Umbra mochte auf der falschen Seite stehen, doch er vermisste sie sehr. »Was passiert, wenn ich sie trinke?«

»Ich weiß es nicht. Mama Ogda hat mir zwar versichert, dass die Erinnerung nicht gefährlich für dich ist, aber ich würde nicht die Hand für sie ins Feuer legen. Ich sage dir offen, wie es ist, Jackon: Ich habe mit ihr einen Handel abgeschlossen — einen Handel zwischen Schattenwesen. Daran fühle ich mich gebunden. Da die Vereinbarung von mir verlangt, dich dazu zu bringen, die Erinnerung zu trinken, muss ich dich bitten, es zu tun. Aber zwingen werde ich dich nicht.«

In diesem Moment kam Vivana mit den Büchern zurück, und Lucien und sie verzogen sich in eine der Kammern, wo sie ungestört waren.

Jackon wusste nicht, was er von alldem halten sollte. Er legte die Phiole zu seinen Sachen und beschloss, morgen weiter darüber nachzudenken, was dieses seltsame Geschenk bedeuten mochte.

Im Lauf des Abends wurde seine Neugier jedoch immer quälender. Wieso wollte eine wildfremde Person, dass er eine Erinnerung trank, die etwas mit Umbra zu tun hatte? Später, als seine Gefährten bereits schliefen, holte er die Phiole hervor, setzte sich in den Eingangsraum und betrachtete sie im Licht der Gaslampen.

Was war schlimmer? Vor Neugier die ganze Nacht nicht schlafen zu können — oder ein Elixier mit unbekannter Wirkung zu trinken?

Er dachte eine geschlagene Stunde darüber nach.

Umbra war ein einziges Rätsel. Nur ein einziges Mal hatte sie ihm einen Einblick in ihre Vergangenheit gewährt. Er hatte sich stets gewünscht, mehr über sie zu erfahren.

Bot sich ihm nun die Gelegenheit dazu?

Aber was, wenn Lucien sich irrte und die Erinnerung doch gefährlich war?

Jackon verzog den Mund. Sie wird schon nicht vergiftet sein. Warum sollte diese Mama Ogda ihm schaden wollen?

Er entkorkte die Phiole und trank.

Er hatte nicht damit gerechnet, dass die Wirkung des Tranks so machtvoll sein würde. Sein Körper verkrampfte sich, und er fiel zu Boden, als Bilder sein Bewusstsein überfluteten.

Irgendwann war es vorüber. Jackon blinzelte. Ihm war, als erwache er aus einem besonders bizarren Traum. Es dauerte eine Weile, bis er wieder klar genug denken konnte, um die Bedeutung dessen zu begreifen, was er eben gesehen hatte.

Er setzte sich auf und rieb sich die schmerzende Stirn. Es war ungeheuerlich! Umbra musste unbedingt davon erfahren — nur wie? Er konnte unmöglich mit ihr Kontakt aufnehmen, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen. Wenn ich nur meine Kräfte noch hätte, dachte er und wünschte, er könnte sie einfach im Traum besuchen und ihr alles erzählen.

Er starrte ins Nichts.

Er musste sich etwas einfallen lassen. Und zwar schnell.