Leseprobe L.C. Frey »Totgespielt«
PROLOG
Er hatte sich wohl auch in diesem Jahr Mühe gegeben, sich selbst zu übertreffen, was die Geschenke für Tommy betraf. Die prall gefüllte Sporttasche, die er stolz in die Kamera reckte, war so riesig, dass sie den Großteil seines Gesichts verbarg, und dahinter ragte eine lächerliche Weihnachtsmannmütze hervor, passend zu seinen knallroten Nikes. Während sie ihrem aufgeregten Sohn abwesend durch die Haare fuhr, drückte Sabine auf den kleinen Knopf, der mit
Öffnen
beschriftet war, und setzte ein unverbindliches Lächeln auf. Tommy gab sich weit weniger Mühe, seine Freude über den Besuch zu verbergen, und auch wenn er bestimmt über Herzogs Geschenke begeistert sein würde, so war es doch das Erscheinen seines Vaters, dem er hauptsächlich entgegenfieberte.
Wenn du das bloß mal kapieren würdest, Herzog, dachte Sabine und lauschte auf die beschwingten Schritte im Treppenhaus, die zu ihnen unterwegs waren.
Dass es nicht nur um dein Geld geht, auch wenn das natürlich hilft.
Doch dann beschloss sie, dass sie Herzog heute, am Weihnachtsabend, mit Predigten dieser Art verschonen würde. Und sich selbst.
Er wummerte dreimal kräftig gegen die Tür.
»Weihna’mann!«, flüsterte Tommy ehrfürchtig und presste dann seine Hände auf den Mund. Sah sie aus weit aufgerissenen, leicht schräg stehenden Augen an.
»Genau«, sagte Sabine, laut genug, dass man es auf der anderen Seite der Tür hören konnte. »Hoffen wir mal, dass wir beide artig waren, was?«
Tommy stimmte ihr eifrig nickend zu.
Lächelnd öffnete Sabine Neuhaus die Tür. Draußen stand Herzog, die Sporttasche hochgereckt, hinter der die blödsinnige Mütze hervorlugte. Machte sich wahrscheinlich einen Riesenspaß aus dieser Weihnachtsnummer.
»Hey«, sagte sie und öffnete die Arme. »Soll ich dir was abnehmen, lieber Weihnachtsmann?«
»Aber gern«, sagte Herzog und drückte ihr die Sporttasche in die Arme.
Als Sabine sein Gesicht sah, erstarrte sie.
24. DEZEMBER
Es war kaum mehr als eine akustische Randnotiz. Etwas, das sie noch hinten an die Nachrichten quetschten, und das vermutlich auch bloß, weil irgendwer im Sender irgendwem beim Verlag einen Gefallen schuldete.
Gestern Nacht um Punkt zwölf startete der Verkauf des neuen Herzog-Thrillers »Totgespielt«. Der Münchner Autor Andreas Herzog, der Mitte der 2000er Jahre beachtliche Verkaufserfolge mit seinen Romanen »Mädchenaugen« und »Das Schattengericht« erzielte, ist für seine detaillierten und bisweilen recht blutrünstigen Szenen bekannt. Er selbst gab mit einer Lesung den Startschuss für den Verkauf seines neuesten Romans, der identisch mit dem Start der fiktiven Handlung im Buch ist, gerade noch rechtzeitig fürs Weihnachtsgeschäft. Was für eine verrückte Idee!
Kurz nach zehn spielten »Sturmwärts«, unsere allseits beliebten Coverrocker aus München, die im Buch einen kleinen Auftritt haben sollen.
Pünktlich um Mitternacht las Herzog das erste Kapitel direkt im Anschluss an den Auftritt von »Sturmwärts«. Die Kranhalle war mit etwa einhundert eingefleischten Herzog-Fans eher schwach gefüllt, trotz der geschickt getimten Marketingaktion blieben etliche Plätze frei.
Marion vom Wetter hat sich das Buch heute Morgen schon im Buchladen besorgt. Allerdings musste sie sich diesmal nicht durch Reihen kaufwütiger Fans kämpfen, wie das bei Herzogs ersten drei Büchern noch der Fall gewesen war. Sie meint, das Buch sei wie immer gut und knüpfe durchaus an die früheren Erfolge des Autors an. Es wartet allerdings neben den üblichen Psychospielchen und den üblichen Mengen an Blut mit wenig neuen Ideen auf.
Ich frage mich: Wird Herzog seinen Erfolg wiederholen und das Buch wochenlang in den Bestsellerlisten platzieren können wie seine früheren Knaller, oder hat er seine Leser bereits »Totgespielt«? Nun, wir werden sehen.
Okay, das warʼs mit den Lokalnachrichten. Hier ist für euch der Holger mit dem Neuesten vom Sport, und danach geht’s weiter mit den besten Hits und Infos aus München und Umgebung. Gefolgt vom Wetter mit unserer bezaubernden Marion …
Wütend drückte Herzog auf die Media-Taste am Autoradio und würgte den Sprecher ab. Eingefleischte Fans, dachte er, am Arsch!
Arschlöcher, dachte Herzog, Arschlöcher allesamt.
Wie die subtil ihren Spott zum Ausdruck bringen, nachdem sie einem jahrelang für ein Interview in den Hintern gekrochen sind, das ist phänomenal. Ihr hättet Schriftsteller werden sollen, ihr Flachzangen! Seid richtig talentiert, bringt die Message zwischen den Zeilen rüber, ohne dabei allzu verkopft zu wirken, was immer das eigentlich bedeuten soll. Die Kritiker hätten ihre Freude dran. Aber im Gegensatz zu uns freischaffenden Risikoberuflern bezieht ihr ein sattes monatliches Gehalt mit eurer Schmutzschleuderei im Gute-Laune-Dudelradio. Eure zusammengestümperten Sendungen mit der immergleichen Unmusik zwischen den Werbeblöcken hören mehr Menschen, als sich ein Autor je als Leser wünschen kann. Das gibt euch die Macht zu entscheiden, wer gerade hot ist und wer nicht. Wer kommen darf und für wen es langsam Zeit wird, abzutreten.
Ach, fickt euch, dachte er und musste ein wenig kichern ob der Gossensprache, die sich mal wieder seiner Gedanken bemächtigte. Fickt euch, so schlecht lief es gestern nun auch wieder nicht.
Das stimmte. Die Kranhalle war nicht ausverkauft gewesen, wohl wahr, aber diese Schmach hatten schon ganz andere Größen einstecken müssen, bevor sie ein gigantisches Comeback hingelegt hatten. Schließlich pilgerte nicht jeder seiner Leser zu einer bescheuerten Lesung. Er selbst hätte es auch nicht getan, schon gar nicht zu einer Lesung von ihm, denn er hielt sich für einen furchtbaren Interpreten und einen noch schlechteren Vermarkter seiner eigenen Werke. Allerdings war das eine Meinung, die weder Urby noch der Verlag und vor allem nicht der Großteil seiner Leserschaft zu teilen schienen, und daher musste dieser Quatsch wohl hin und wieder sein. Promoaktionen eben. Nun, wenn es denn half, das Buch zu verkaufen. Das Buch, wie es Urby zu nennen begonnen hatte, und es dann — vermutlich mit Hilfe irgendeines streng geheimen Voodoozaubers — geschafft hatte, der Presse einzureden. Das Buch. Der neue Herzog. Die Rückkehr zu den Wurzeln. Endlich wieder lehrte der Meister des knallharten Thrillers die Konkurrenz das Fürchten. Bla bla bla. Was für ein Witz.
Aber dennoch war es alles andere als schlecht gelaufen. Herzog hatte sich, wie in alten Zeiten, zwei Drinks gegönnt und eine große Line, und dann hatte er die Sache meisterlich geschmissen. Vermutlich. Denn, wie immer, hatte er hinterher so gut wie keine Erinnerung an seine Lesung. Wie er sich auch kaum jemals an das eigentliche Schreiben seiner Bücher erinnern konnte. Totales Abtauchen in die Twilight Zone. Verschluckt von einem schwarzen Loch in der Realität oder so ähnlich. Aber die Signierstunde war gut gewesen. Schon mal grundsätzlich, weil sie das Ende dieser unsäglichen Lesung markiert hatte, inklusive Standing Ovations einiger der Anwesenden. Immerhin. Man war zufrieden. So zufrieden, wie die Leser es zuletzt bei »Vom Tod der Engel« gewesen waren und diese Veröffentlichung war immerhin schon über sechs Jahre her. Die beiden Versuche dazwischen hatte die Presse gehässig als ‚krampfhaften Versuch eines Bestsellerautors, sich zu einem richtigen Schriftsteller zu mausern‘ bezeichnet, und er gab ihnen recht, zumindest, was das Adjektiv ‚krampfhaft‘ betraf.
Was den Rest anging, so hatte Herzog eine wesentlich kürzere Beschreibung parat: Schrott — und diese Einschätzung schienen selbst die eingefleischtesten unter den Herzog-Fans zu teilen. Die Rezensionen auf ihren Blogs und bei den Onlinebuchhändlern klangen bemüht und eher so, als wolle man einen ehemaligen guten Freund nicht kränken, nachdem der seinen Zenit überschritten hatte.
Herzog war tatsächlich eine Weile gekränkt gewesen über die allzu harschen Urteile der Kritiker und Fans. Über Urbys verdrehte Augen und über die Weigerung des Verlags, »Das Windspiel schweigt« und »Sommerstille« ins Hauptprogramm aufzunehmen. Bloß, weil man ‚Roman’ draufschreiben musste, um der Wahrheit Genüge zu tun, anstatt wie sonst bei seinen Büchern üblich: »Thriller-Alarm! Nichts für Weicheier! Hardcore-Krimi!« und ähnlichen Mist. Wie auch, es starb ja gerade mal einer in »Sommerstille«. Ein Großvater, und der auch noch aufgrund von Altersschwäche. Wahrlich nicht unbedingt der Stoff, der einen die Nägel in die Sessellehne krallen ließ.
Und es gab noch ein, zwei klitzekleine Probleme, die betrafen den Porsche und das Haus, möglicherweise. Das Leben als Topautor war kostspielig, und man konnte es sich nur leisten, wenn man ein Topautor blieb.
Aber scheiß was drauf, auf das alles. Jetzt war er wieder da, nicht wahr? Mit »Totgespielt« war ihm ein weiterer Herzogscher Thriller-Killer gelungen. Zurück zu den Wurzeln, genau. Heißer und besser denn je. Roh und unverblümt. Herzog is back! Sogar Urby glaubte das. Der Einzige, der das ganze Ausmaß des Betrugs kannte, war Herzog selbst. Er und Sabine, natürlich.
Herrgott, er war in einem Alter, in dem andere Autoren gerade erst anfingen, einigermaßen wichtige (geschweige denn erfolgreiche) Bücher zu schreiben. Achtunddreißig, ein Altjugendlicher. Ein Mann in der Blüte seiner Jahre, der sich vehement weigerte, sich auch nur einen Tag älter als fünfundzwanzig zu fühlen. Er ging ins Fitnessstudio, hatte volles Haar, und dass es an den Schläfen grau wurde, tat der Attraktivität seiner Erscheinung durchaus keinen Abbruch — eine Tatsache, die sich auch gestern wieder bestätigt hatte. Während diese beschissene, drittklassige Coverband »Sturmwärts« ihren Mist runtergedudelt hatte, hatte er Bücher signiert. Genau wie früher, auch wenn die Schlange vielleicht ein klein wenig kürzer war. Wenn schon. Immerhin war da eine Schlange gewesen. Und diese blutjunge Blondine.
Das war nett gewesen, sehr nett sogar. Natürlich hatte die Blondine einen Namen gehabt, bloß welchen? Sie war Studentin, natürlich. Germanistik vielleicht, oder Philosophie? Irgendwas in der Art, von der Einrichtung ihrer Wohnung zu schließen – vom Sperrmüll aufgesammelte Antikmöbel, die Spiegel voller Antifa-Aufkleber und ein Monster von Bücherschrank, in dem sich buchstäblich querbeet alles finden ließ, von Nietzsche bis Dan Brown. Ein bisschen wie sein eigener Bücherschrank, damals. Als er eine ähnliche Wohnung bewohnt hatte, nur eine Winzigkeit kleiner und schmutziger. Na gut, eine ziemlich große Winzigkeit. Die Blondine war hübsch, verteufelt hübsch, auf eine Weise, auf die es nur Studentinnen Anfang zwanzig sein können. Eine Art durchtriebener Naivität: Ein Mädchen, das wusste, was es wollte, aber kaum dem Alter entwachsen schien, da sie es bekam, indem sie eine Schnute zog und ein wenig mit den Wimpern klimperte. Als sie ihm das Buch zum Unterschreiben rüberreichte, hatten sich ihre Finger berührt, und das war kein Zufall gewesen. Grün lackierte Fingernägel. Süß, irgendwie. Also hatte Herzog seinen Stift gezückt und ihr eine Widmung hineingeschrieben, und zwar eine ganz persönliche:
Wir sind dann später im Club Zacharias. Komm doch vorbei, ich will dich tanzen sehen, schönes Mädchen.
Nicht unbedingt die hohe Poesie, fürwahr. Aber es hatte seinen Zweck erfüllt. Er hatte sie tanzen sehen, und anschließend hatten sie noch ein bisschen weiter getanzt, in ihrer zugemüllten Studentenbude im Westend. Ihr junger, geschmeidiger Körper hatte mit jedem Quadratzentimeter das gehalten, was ihr engelhaftes Gesicht versprochen hatte. Der Sex war gut gewesen, heftig und leidenschaftlich, auch wenn sie beide da schon ziemlich im Eimer gewesen waren von der Nacht im Zacharias. Das Vögeln hatte für einen Moment Herzogs Gedanken an weniger erfreuliche Dinge vertrieben. Wie zum Beispiel diesen erbärmlichen, fetten Kerl, der hinter dem Mädchen — blond, studentisch, namenlos — in der Schlange gestanden hatte. Hatte ihm sein Exemplar hingestreckt wie eine Waffe und dabei ein Gesicht aufgesetzt, als überreiche er einen Beschwerdebrief. Auf Herzogs aufgesetztes Lächeln und die Frage: »Für wen darf ich es signieren?«, hatte der Kerl irgendetwas Unverständliches in seinen Bart gemurmelt und dabei hektisch auf das Buch gedeutet. Mit Fingern, die nur so von Schmutz starrten. Ekelhaft. Und fett war der Kerl gewesen! Herzog hatte die übliche Belanglosigkeit in das Buch gekritzelt.
Vielen Dank und viel Spaß beim Lesen!
Als der Kerl davongewatschelt war, in seinen braunen, abgewetzten Cordhosen, hatte Herzog bemerkt, dass er die gleichen roten Nike-Sneakers trug, die Herzogs Markenzeichen waren. Erbärmlich. So sahen also die Die-Hard-Herzog-Fans heutzutage aus. Schmutzig, ungepflegt und fett und in etwa so sozial kompetent wie ein Hackklotz.
Vermutlich Hartz-IV-Empfänger und ausgezeichneter Kenner einer erlesenen Sammlung von Billigspirituosen.
Seht her, Leute, das ist der typische Herzog-Leser! Laden wir ihn doch in eine Talkshow ein, damit er uns erzählen kann, was ihn mit der hochgeistigen Literatur des Meisters verbindet.
Immerhin schien er das Buch gekauft und nicht aus irgendeiner Mülltonne gezogen zu haben. Den Verlag würde es freuen, und Urby vermutlich auch. Klar, bei denen tauchten solche Typen ja nicht auf und wollten die dreckige Klaue geschüttelt haben. Herzog signierte weiter, wie eine Maschine, was auch ganz gut der Art und Weise seines Profi-Lächelns entsprach. Als er aufschaute, verschwand die Blonde gerade mit einer Freundin am Ausgang, drehte sich noch einmal zu ihm um und schenkte ihm ein Lächeln. Dieses Lächeln sagte ‚Zacharias‘, und dass sie tanzen würde. Und was immer sonst er wollte, das sie tat. Bei Gott, hatte die Kleine einen süßen Po gehabt.
* * *
Herzogs Gedanken wurden jäh durch das Klingeln des Telefons unterbrochen, das mit dem Radio gekoppelt war. Es war ein Rrrinng!, wie es typisch für analoge Telefone war, bevor diese begonnen hatten, einen mit unsäglichen Pieptonvarianten von Beethovens Neunter und ähnlichem Unfug zu nerven. Auf dem Flachbildschirm des Gerätes erschien der Name des Anrufers.
Sabine :-(
Den traurigen Smiley hatte Herzog hinzugefügt, als es richtig schlimm gewesen war zwischen ihnen, und dann irgendwie vergessen, ihn wieder zu löschen. Seufzend warf er einen Blick auf seine Rolex. Fünf Minuten nach fünf, und er war noch nicht mal an der Reichenbachbrücke. Er rief: »Annehmen«, das Klingeln verstummte, es knackte und dann war er mit seiner Exfrau verbunden. Eine Tatsache, die für sich genommen nicht einer gewissen Ironie entbehrte, wie Herzog fand.
»Tut mir leid, Bine«, begann er das Gespräch denkbar ungünstig mit einem Schuldeingeständnis. »Ich bin gleich da. Du machst dir keine Vorstellung, was hier los ist. Weiße Weihnacht und das alles, kann kaum die Hand vor Augen sehen.« Was sogar stimmte. Aber natürlich war er auch zu spät losgefahren, wie immer. Was sie natürlich wusste.
»Hallo Andy.« Ihre Stimme klang matt aus den Boxen. Herzog hasste es, beim Vornamen genant zu werden, und Andy ging schon mal gar nicht. Was Sabine fünf Jahre lang mit erstaunlicher Vehemenz ignoriert hatte, erst recht, seit ihre Scheidung durch war. »Ich wollte nur …« O Mann, dachte Herzog und bremste. Sein Vordermann, der Fahrer eines uralten Audi 80, hatte urplötzlich beschlossen, in die Eisen zu steigen, weil die Ampel vor ihm auf Gelb schaltete. »Scheiße!«, rief Herzog, aber der Porsche hatte die Straße gut im Griff, sogar bei zentimeterhohem Schnee. Was man vom Großteil der Münchener Autofahrer nicht behaupten konnte. »Die fahren wie die Idioten hier! Als ob es jedes Jahr zum ersten Mal schneit! Mann!«
»Oh, sorry, ich wollte dich nicht ablenken, Andy.«
»Kein Problem, Bine. Ich hab’ ein Headset. Ich kann fahren. Auch wenn ich da scheinbar der Einzige hier bin. Was wolltest du denn?«
»Ich wollte nur wissen, ob du noch kommst. Tommy … er fragt die ganze Zeit nach dir.«
Tommy.
»Na klar komme ich, keine Frage! Und dann machen wir einen drauf, Tommy und ich, sag ihm das, ja?«
Sie kicherte ein bisschen. Es klang schwach und auch nicht ganz echt. Aber es rief die Erinnerung an das hervor, was er an Sabine einst geliebt hatte. Als sie in etwa in dem Alter gewesen war wie das blonde Mädchen gestern. Herzog schob den Gedanken mit einer unwirschen Kopfbewegung beiseite. »Ich werde allerdings nicht lange bleiben können, Bine.«
»Oh.«
»Ja, tut mir leid. Ich muss dann noch dringend in den Verlag.«
»An Heiligabend?«
»Ja, es geht um das neue Buch, sie haben ein paar Fragen wegen der zweiten Auflage.«
»Zweite Auflage? So gut läuft es? Wow!«
»Klar, Scha … Bine. Du kennst mich doch«, plapperte er fröhlich. Shit. Das war knapp gewesen. »Immer auf der Sonnenseite.« Halt die Klappe, Herzog, halt doch endlich deine verdammte Klappe!
»Na das freut mich für dich. Also wenn es Umstände macht, können wir auch …«
»Bist du verrückt? Ich komme vorbei. Ich hab’s Tommy schließlich versprochen.«
»Okay, schön. Bis dann. Fahr vorsichtig!« Klick, und damit war sie aus der Leitung.
Großartig, dachte Herzog. Du riesengroßer Vollidiot.
Er warf einen Blick auf die schwarze Sporttasche auf dem Beifahrersitz. Natürlich war es eine Lüge gewesen, dass er noch einmal zum Verlag musste. So, wie die Dinge lagen, war das vermutlich auch Sabine klar. Vom Verlagsgeschäft hatte sie nie auch nur das Mindeste verstanden, sah man von Herzogs augenrollenden Beschwerden über die Lahmarschigkeit der dort beschäftigten Dinosaurier ab, auch wenn diese Beschwerden mit zunehmendem finanziellen Erfolg Herzogs immer leiser geworden waren. Die Dinosaurier hatten ihn letztlich gut genährt, sehr gut sogar. Wenn er vielleicht auch nur die Krümel fraß, die aus ihren reißzahngespickten, träge mahlenden Mäulern fielen, so hatten diese Krümel ihm doch eine hübsche Villa und einen fast neuen Porsche 911 beschert. Carrera S, versteht sich. 560 PS, mit denen man auch ganz hervorragend im Stau stecken konnte.
Für Sabine hatte es eine schöne Scheidung gegeben, dachte Herzog bitter. Auch sie lebte schließlich vom Verkauf seiner Bücher, und das nicht schlecht. Herzog war niemals kleinlich gewesen, was die Unterhaltszahlungen betraf, und zum Geburtstag und Weihnachten hatte er für Tommy einen Dauerauftrag eingerichtet, von immerhin eintausend Euro. Jeweils. Kein Grund, sich wegen irgendetwas Vorwürfe zu machen.
Wieso war dann seine gute Laune, die Vorfreuden der Sporttasche betreffend, plötzlich wie weggeblasen? Wieso wäre er dann am liebsten gleich wieder umgedreht und hätte sich in seinem Haus verkrochen, das Telefon abgestellt, in einer kochend heißen Wanne voll Schaumbad und mit einer vollen Flasche Dalwhinnie auf dem Wannenrand?
I’m dreaming of a white christmas, plärrte Bing Crosby aus dem Radio.
Keine Ahnung, dachte Herzog, muss wohl an Weihachten liegen. An der beschissenen weißen Weihnacht.
Auch wenn die Scheibenwischer des Porsche auf Hochtouren arbeiteten, war durch die Scheibe wenig mehr zu erkennen als verschwommenes weißgraues Schneetreiben, erhellt von den kräftigen Xenonscheinwerfern, die scharfe Lichtkegel in das Flockengestöber schnitten und versuchten, für so etwas Ähnliches wie klare Sicht zu sorgen.
Die Straße war nun frei von anderen Fahrzeugen. Feiglinge, die bereits zu Hause vor dem Weihnachtsbaum hockten und ihre langweiligen Kleinbürgergeschenke auspackten. Sollten sie doch. Herzogs Hand tastete nach der schwarzen Sporttasche und streichelte sanft die raue Oberfläche. Sein Geschenk, an ihn selbst. Ein kleines bisschen Ruhe.
Herzog trat aufs Gaspedal und der Porsche beschleunigte mit einem kräftigen Röhren.
Aus: Andreas Herzog, »Vom Tod der Engel: Thriller«
2. Auflage: 450.000 Exemplare
Der Junge ging näher, folgte dem Duft. Öffnete die Tür, obwohl Mama gesagt hatte, er dürfe sie nicht beim Backen stören. Sie hatte sich verändert, seit Papa nicht mehr da war. Aber das war eine Lüge. Papa war nicht einfach nur weg oder für eine Weile verreist oder so. Das hatte er früher auch schon gemacht, sogar häufiger in letzter Zeit, aber da war er jedes Mal zurückgekommen. Diesmal nicht. Wenn Mama auch anfangs traurig über seine tagelangen Ausflüge gewesen war, seit einem Jahr oder so schien es, als hätte sie sich damit irgendwie abgefunden. Achselzuckend. Aber sie hatte ihn belogen. Papa war tot. Das war dem Jungen klar, als er gesehen hatte, dass Mama wieder weinte. Tagelang. Als die Tränen schließlich verebbt waren, war etwas anderes gekommen. Etwas Dunkleres, das Mama gepackt und seitdem nie wieder losgelassen hatte, das in sie eingedrungen war und von ihr Besitz ergriffen hatte wie der Dämon in einem der Gruselfilme, die er heimlich schaute. Auch das hatte ihm Mama natürlich verboten. Vermutlich glaubte sie, er würde sich fürchten und ins Bett machen oder so was. Aber das war selbstverständlich Unfug. Der Junge fürchtete sich kein bisschen vor den Gruselfilmen. Auch nicht vor denen mit Freddy Krueger, dem Mann mit der Krallenhand und dem verbrannten Gesicht. Den mochte er besonders gern, denn er war witzig. Hatte immer diese flapsigen Sprüche drauf, während er die Teenager aufschlitzte.
Aber jetzt, als er die Treppe hinunter in die Küche ging — dorthin, woher der Duft kam, dorthin, wohin zu gehen ihm verboten war — da stellten sich ihm die kleinen Haare im Nacken und an den Unterarmen auf, und etwas in seinem Unterleib zog sich zu einem kleinen, festen Ball zusammen. Vorsichtig schlüpfte er aus seinen Plüschpantoffeln, damit die dicke Gummisohle keinen Lärm auf den Fliesen unten machte.
Dann ging er weiter.
Es war Plätzchenduft, seine Mutter backte. Wie in jedem Jahr um die Weihnachtszeit. So, als sei überhaupt nichts passiert mit Papa. Sogar in dem Jahr, als Papa während der gesamten Feiertage fortgegangen (aber nicht gestorben) war, hatte Mama für sie beide Plätzchen gebacken. Nie durfte er dabei zuschauen oder vom Teig naschen. Aber das machte nichts, die fertigen Plätzchen entschädigten ihn dafür mehr als ausreichend.
Inzwischen hatte er den Fuß der Treppe erreicht und spähte um den Pfeiler des Treppengeländers hinüber zur Küche. Die Tür, stellte er fest, war nur angelehnt. Jetzt bemerkte er auch, was mit dem Duft nicht stimmte. Er war zu herb, zu intensiv. Etwas anderes war darin, etwas Scharfes, Bitteres. Der Junge presste den Ärmel seines Pyjamas vor Mund und Nase und ging weiter.
Auf den Duft, auf die angelehnte Küchentür zu.
Auf Mama zu.
Als er die Tür erreicht hatte, war aus dem Duft ein schwerer, intensiver Gestank geworden. Er öffnete die Tür und ihm quoll schwerer, beißender Rauch entgegen. Schwarzer Rauch, der aus den Spalten des Gasherds drang.
Die Plätzchen!
Noch während der Junge diesen Gedanken hatte, wieder und wieder in einer absurden Schleife, wie eine Schallplatte mit einem Sprung,
Die Plätzchen …
starrte er auf den Körper, der in der Mitte der Küche von der Decke hing.
… Sie sind alle …
Dort, wo sonst die Küchenlampe war. Den kleinen Bastkorb, der als Lampenschirm diente, hatte Mama abgenommen und säuberlich auf das karierte Tischtuch des Küchentischs gelegt. Des Tisches, an dem sie damals, in guten Zeiten, gemeinsam gegessen, miteinander gesprochen und gelacht hatten. Vor langer Zeit. All diese Gedanken schossen durch den Kopf des Jungen wie flinke, kleine Fische in einem trüben Teich. Silbrige Körper, die auftauchten und blitzschnell wieder verschwanden, ohne erkennbaren Zusammenhang.
… Die Plätzchen sind alle verbrannt.
Das Bein seiner Mutter zuckte noch einmal, und ihr Pantoffel flog von ihrem Fuß, als schüttele sie ihn unwillig ab.
Fort mit dir, denn ich brauche dich nicht mehr!
Nie wieder!
Dann war sie still. Schwankte nur noch leicht hin und her, baumelte an dem Seil, das sie sich aus dem Kabel der Lampe gemacht und um den Hals gelegt hatte, bevor sie vom Esstisch gesprungen war.
Er starrte auf den Körper seiner Mutter, bemerkte, dass etwas an der Innenseite ihrer Schenkel entlanglief und zu Boden tropfte. Er unterdrückte ein schrilles Lachen, indem er sich den Pyjamaärmel fester auf den Mund drückte, und so kam nur ein gedämpftes Glucksen hervor.
Mama fürchtete sich ebenfalls, hatte sich offenbar ganz gewaltig gefürchtet, der Sauerei auf dem Küchenboden nach zu urteilen. Seine Augen tränten von dem beißenden Qualm, der die Küche erfüllte und ihm den Atem nahm, aber das störte ihn nicht. Er starrte bloß auf die Leiche, die echte Leiche seiner Mutter, die da vor ihm hing. Er empfand keine Trauer, keine Furcht und kein Entsetzen.
Was er spürte, war Faszination.
Das hier war besser als die Freddy-Filme.
Weil es echt war.
Etwas tief in ihm war gerufen worden, und nun hob es seinen Kopf an die Oberfläche seines Bewusstseins wie ein Urtier, das vom Grund eines stillen Sees auftauchte. Der Junge sah an sich hinab und bemerkte, dass eine seiner Hände in seinen Pyjamahosen steckte und dort reibende Bewegungen vollführte. Er schaute nur einen Augenblick hin, dann zuckte sein Blick zurück zu dem baumelnden Körper. Während seine Bewegungen heftiger wurden, und seine Lunge gegen die erstickenden Gase ankämpfte, hatte er nur Augen für das eine Objekt seiner Begierde.
Für seine erste Konfrontation mit dem ultimativen Gefühl.
Später würde er noch sehr oft an diese erste Begegnung mit dem Tod zurückdenken. Ihm würde klarwerden, dass er damals, in diesem Moment, den Tod bei der Arbeit beobachtet hatte. Live und in Farbe. Und der Tod hatte ihn, im Gegensatz zu seiner Mutter beim Plätzchenbacken, zuschauen lassen.
Ihm würde klar werden, dass dies ein gewaltiges Privileg war, nur wenigen vorbehalten.
Er würde beginnen, die Arbeit des Todes zu tun — auf der Suche nach jenem ultimativen Gefühl, das sein Denken im Laufe der Jahre auszufüllen begann wie ein Luftballon, den jemand in seinem Kopf aufblies. Größer und immer größer, bis es nur noch den Ballon in seinem Kopf gab. Das ultimative Gefühl. Das ihn schweben ließ. Aber so oft er sich auch bemühte, nie wieder würde das Gefühl so intensiv sein wie an jenem ersten Tag in der Küche.
*
Ende der Leseprobe