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Routine

 

Wie können Eltern ihrem Sohn einen solchen Namen mit ins Leben geben? Frank Kraus kratzte sich an der Nase und betrachtete das Foto des Verunglückten.

Nun gut, sein eigener Name zeugte nicht gerade von Originalität. Immer hatte es mindestens einen weiteren Frank in seiner Klasse gegeben, seine gesamte Schulzeit hindurch, und in der Fachoberschule war es auch nicht besser gewesen. Selbst ein zweiter Kriminalkommissar mit dem gleichen Vornamen existierte in Saarlouis. Der bestand aber wenigstens auf einer anderen Aussprache, sodass man immer wusste, wer gemeint war. Der andere Frank sprach seinen Namen mit einem nasalierten ong anstatt des einfachen a aus, wie die Franzosen. Oder vielmehr hatten seine Mitschüler in der Grundschule das getan, und der verballhornte Name war ihm dann geblieben – vermutlich bis zu seinem Lebensende, das hoffentlich noch in weiter Ferne lag. Frank freute sich immer mal wieder darüber, dass nicht er der mit dem weichen, französischen ong war, sondern der mit dem aufrechten a.

Da stand er und dachte über Vornamen nach, anstatt sich die Aussagen der Zeugin noch mal zu Gemüte zu führen. Aber es stimmte schon – Harko war ein bescheuerter Vorname.

Harko Schaaf war gestern ums Leben gekommen. Frank hielt das Ganze für einen dummen Unfall, und mit dieser Meinung stand er nicht allein da. Trotzdem. Harkos Frau glaubte an einen Mord; somit musste Frank der Sache nachgehen. Er ließ das Foto des neben der Straße liegenden Toten noch einmal auf sich wirken. Man musste sich echt dämlich anstellen, um in einer verkehrsberuhigten Zone, in der die Autos nicht schneller als zehn Stundenkilometer fahren durften, so unglücklich hinter einen rückwärts rollenden Wagen zu stürzen. Die Fahrerin tat Frank leid. Sie war völlig unschuldig, ganz sicher. Sie hatte nichts, aber auch gar nichts tun können, um das Unglück zu verhindern – höchstens ein kleineres Auto fahren. Dann hätte der arme Harko vielleicht eine Überlebenschance gehabt. Doch der mit Marmorfliesen voll beladene Lieferwagen ließ keinen Spielraum. Er rollte über Harkos Hals. Wenigstens hatte Harko Schaaf nicht leiden müssen, sondern war sofort tot.

Frank seufzte. Er war müde, aber eine Sache wollte er noch überprüfen. Was war es doch gleich gewesen? Er zog seinen Notizblock aus der hinteren Hosentasche und klappte ihn auf. Die Namen der Zeugen, die er bereits befragt hatte. Die Frau des Verstorbenen hatte hysterisch darauf bestanden, dass ganz bestimmt jemand ihren Mann vor den Wagen geschubst hätte. Sie hätte in seiner Nähe gestanden und die Ware in einem Schaufenster bewundert, da hätte es plötzlich geklatscht, schnelle Schritte hätten sich entfernt, im Herumwirbeln hätte sie noch ein lila Sweatshirt an einem schlanken Menschen um die Ecke verschwinden sehen und dann auch schon das Kreischen der Bremsen gehört, ein dumpfes Plopp-Plopp und sofort ein hysterisches Schreien der Frauensperson, die im Wagen saß. Jetzt erst hätte sie nach ihrem Mann gesucht, der doch ein paar Sekunden vorher noch neben ihr gestanden hätte, und ihn schließlich entdeckt – besser gesagt, seinen Körper, der Kopf war ja vom Lieferwagen verborgen gewesen. Sie hätte gleich gesehen, dass es ihrem Harko nicht gut gehen konnte, so verdreht und schlaff wie sein Körper dort auf der Seite lag.

Frank fand sein Verhalten nicht gerade professionell, aber er konnte sich eines albernen Kicherns nicht erwehren, als er ihre Aussage innerlich Revue passieren ließ. Luise Schaaf war verständlicherweise außer sich gewesen, als er und der Krankenwagen eintrafen und nur noch den Tod des armen Harko hatten feststellen können.

Von den anderen Passanten oder den Gästen des Eiscafés hatte niemand den geheimnisvollen Sweatshirtträger bemerkt, aber Frau Schaaf beharrte darauf, jemanden gehört und gesehen zu haben. »Vielleicht hat er sich auch im Schaufenster gespiegelt«, hatte sie am Ende gemurmelt.

Endlich schlug er die letzte beschriebene Seite seines Notizblocks auf und runzelte die Stirn. Er konnte wieder mal seine eigene Sauklaue nicht lesen. Was hatte er da notiert?

›Caravane‹? Kaktustopf? Nein, es fing mit c an, das war klar zu erkennen. Hörte es mit einem r auf? War es ein Wort oder waren es zwei?

Welche Wörter kannte er, die mit C anfingen? Computer, Crack (nein, zu kurz), Cally … Nein, das alles passte nicht. Wer hatte das Wort denn zu ihm gesagt? Es stand kein Zeugenname darüber. Endlich fiel es ihm wieder ein: Tina hatte ihn von der Wache aus angerufen. Im Anrufspeicher des Festnetztelefons des Toten habe man die Nummer eines Callcenters aus Saarlouis gefunden. »Und zwar desselben Callcenters, mit dem der vor vier Wochen vom Baugerüst gestürzte Malermeister als Letztes telefoniert hat. Weißt du noch?«

Der Malermeister. Ja, richtig. Das war eindeutig ein Unfall gewesen, es fanden sich keinerlei Hinweise auf Fremdeinwirkung. Zwar konnte man sich nicht erklären, wieso der gute Mann, der doch ein Leben lang gewohnt war, auf Gerüsten zu stehen, hinabgestürzt war, aber es war nun einmal passiert. Der Rechtsmediziner hatte auch nichts Auffälliges entdeckt, und so hatte Frank den Fall abgeschlossen. Dass Tina die Übereinstimmung dieser Nummern erkannt hatte, grenzte für Frank an ein Wunder. Dank ihres fotografischen Gedächtnisses verblüffte die Assistentin ihn immer wieder mit solchen Dingen. Jetzt hatte sie aber längst Feierabend. Also setzte er sich an ihren Schreibtisch und rief am Rechner die letzten Dateien auf, mit denen sie gearbeitet hatte. Tatsächlich fand er die Telefonliste des verstorbenen Malermeisters und die von Harko Schaaf. Tina hatte eine Nummer gelb hervorgehoben und einen Kommentar dazugeschrieben: »Callcenter Mediaboutique, Großer Markt 54, Sls.«

Er schrieb die Adresse auf seinen Block und die Telefonnummer darunter. Morgen würde er herausfinden, zu welchem Schreibtisch diese Nummer gehörte. Vermutlich handelte es sich ohnehin um Zufall, da es nicht einmal das letzte Telefonat von Harko Schaaf gewesen war; trotzdem wollte er dieser Spur nachgehen, sei sie auch noch so vage. Aber jetzt war es Zeit, zu schlafen. Er verließ das Büro und grüßte die Putzkolonne, die bereits ihre Arbeit beendete.

Frank ging zu Fuß nach Hause. Er liebte die Nachtluft und den besonderen Duft der Alte-Brauerei-Straße. Die letzten Wochen waren extrem vollgestopft gewesen. Er hatte einen Serienmörder festgenommen, einen Mordfall aufgeklärt, der sich als Unfall entpuppte, und zahlreiche Diebstähle und Betrugsdelikte verfolgt. Er fühlte sich reif für die Insel. Es wurde Zeit, dass sein Partner Herbert Groß aus der Reha zurückkam. Die ständig wechselnden Kollegen, die ihn oftmals begleiteten – wenn es ihm nicht gelang, heimlich allein die Ermittlungen zu führen –, gingen ihm auf den Nerv. Auch dieser neuerliche Mord nervte ihn. Weil es vermutlich gar kein Mord war, selbst wenn es sowohl von ihm eine Verbindung zum Callcenter geben sollte wie auch von dem Unfall des Malermeisters. Das war wahrscheinlich reiner Zufall.

Gähnend schloss er die Tür auf und bemühte sich, so leise wie möglich die alte Holztreppe hinunterzugehen. Ellen hörte ihn trotzdem. Eigentlich sollte seine Frau doch froh sein, dass sie ihn nicht mehr abzupassen brauchte, um ihm Vorwürfe zu machen und jedes verdammte Mal die Grundsatzfrage zu stellen, wenn es wieder nach Mitternacht wurde, bis er aufkreuzte. Seit er in den Keller gezogen war, war er jeglicher Verantwortung ihr gegenüber enthoben, und sie konnte tun und lassen, was sie wollte.

Was sie ja auch machte. Ein wenig verletzt hatte der Einzug von Dieter, ihrem Neuen, ihn schon – vor allem, weil er nur drei Monate nach ihrer Trennung stattgefunden hatte. Doch dann musste er neidlos zugestehen, dass der Dieter ein dufte Typ war und ihr vermutlich auch zu dem Kind verhelfen würde, das sie sich so wünschte.

So hatten sie alle das bekommen, was sie sich ersehnten. »Alles, was ein Mann wirklich braucht, ist seine Ruhe«, sang er eines seiner Lieblingslieder von Roger Cicero leise vor sich hin. Sein Beruf war aufregend genug, und öde Routine brachte ihm schon das Schreiben der unvermeidlichen Berichte; dazu benötigte er definitiv keine Ehefrau, die mit den Jahren immer unzufriedener gegen seinen Job ankeifte. Diese Ehefrau hatte ebenfalls ihre Sehnsucht erfüllt, indem sie ihn gegen den Dieter austauschte, der mit seinem Angestelltendasein ihrem Bedürfnis nach festen Zeiten und gemeinsamen Kuschelstunden deutlich mehr entgegenkam. Und der Dieter schätzte sich wahrhaft glücklich, weil eine Frau, die viel spritziger und intelligenter war als er selbst, so auf ihn abfuhr. Aber wie schon bemerkt, der Dieter war ein dufte Typ – ein wenig einfältig vielleicht, aber davon abgesehen sehr herzlich, außerdem ganz gut trainiert und vor allem so verschmust wie eine Katze.

Da Frank noch immer im selben Haus wohnte wie Ellen – immerhin hatten sie es gemeinsam umgebaut, nachdem sie es geerbt hatte, und ein nicht unbeträchtlicher Teil seines Geldes war hineingeflossen, was Ellen unumwunden zugab –, hatte seine Noch-Ehefrau Gelegenheit, sich mit ihm zu unterhalten. Wenn er denn zu Hause war. Diese Gespräche waren im Grunde das Einzige, was sie damals zu der wenig durchdachten Entscheidung verleitet hatte, einander zu heiraten. Sie führten stundenlange, weitschweifige Gespräche. Niemand verstand ihn besser als Ellen, und sie sagte immer, so wie mit ihm könne sie sich mit keiner Freundin unterhalten. Und mit einem anderen Mann sowieso nicht. Also spielte es keine Rolle, dass sie mit dem Dieter nur Belangloses besprechen konnte, denn sie hatte ja immer noch ihn.

Wenn man es recht betrachtete, wäre ihre Ehe niemals gescheitert, hätte Ellen nicht unerwartet plötzlich und unerwartet deutlich dieses Ticken gehört. Das Ticken ihrer biologischen Uhr nannte sie es klischeehaft. Er hörte seinerseits keine Uhr ticken, weder innerlich noch äußerlich und schon gar nicht biologisch. Ob es daran lag, dass Ellen fünf Jahre älter war? Er nahm ihre zarten Andeutungen am Anfang gar nicht ernst. Irgendwann verfiel sie dann in diesen keifenden Tonfall der unzufriedenen Ehefrau. Er registrierte und begriff es natürlich viel zu spät.

Er unterhielt sich nach wie vor gerne mit ihr, und sie war die einzige Privatperson, mit der er im vollen Vertrauen, dass sie Schweigen bewahren würde, über die Fälle sprach, die er aufzuklären hatte. Abgesehen davon konnte sie als Einzige seine Schrift auch dann entziffern, wenn er selbst dazu nicht in der Lage war. Sie hätte heute Abend sofort ›Callcenter‹ identifiziert, wo er noch an Caravane oder Kaktustopf dachte.

So hatte sich im vergangenen Jahr eine neue Routine eingespielt. Sie lebten in Trennung, Scheidung war ihnen irgendwie bisher nicht wichtig gewesen – auch der Dieter blieb diesbezüglich ziemlich gelassen – und alle wussten und waren damit einverstanden, dass er selbst das Loft im Dachgeschoss beziehen würde, sobald das Pärchen, das derzeit dort zur Miete wohnte, auszog. Erst in den letzten paar Wochen schlich Ellen sich regelmäßig zu ihm herunter, wenn sie mitkriegte, dass er heimkam. Auch jetzt hörte er das leise Klatschen ihrer Latschen auf den durchgetretenen, von ihm selbst abgebeizten und geölten Holzstufen. Eigentlich war er ja müde. Eigentlich wollte er schlafen. Morgen musste er genauso früh aus den Federn wie sonst auch, um sein tägliches Jogging gegen den heimtückischen Babyspeck durchziehen zu können. Jetzt knarzte die zweitletzte Stufe. Gleich würde Ellen leise anklopfen. Er öffnete die Tür und gähnte ihr mit weit offenem Rachen entgegen.

»Hi.« Ihre kinnlangen blonden Haare standen in alle Richtungen. Anscheinend bemerkte sie seinen Blick, sie fuhr sich mit den Fingern hindurch in dem aussichtslosen Versuch, das Gekringel zu zähmen. Den alten, gestreiften Herrenbademantel vom Dieter hatte sie zugebunden, sodass sie ein wenig unförmig wirkte.

»Darf ich kurz reinkommen?«

Er gähnte ein zweites Mal, sie nickte und grinste kurz, dann ging er voraus zu dem durchgesessenen Sofa, das er aus seinem ehemaligen Kinderzimmer hergeholt hatte, als er herunterzog.

Bevor er sich setzte, fragte er: »Willste was trinken?«

»Nein, ich verschwinde gleich wieder.«

Warum war sie überhaupt gekommen?

Er zog sein T-Shirt aus, schnupperte daran und warf es in die Ecke auf den Haufen getragener Kleider. Dann streifte er die Halbschuhe von den Füßen und ließ sich neben ihr auf der Couch nieder. Immerhin verkniff sie sich jede Bemerkung zu dem müffelnden Wäscheberg in der Ecke und deutete lediglich ein Schulterzucken an. Nicht mehr ihre Baustelle. Sie zog die Beine hoch, sodass sie sich gemütlich in die alten Polster kuscheln konnte.

»Du hast viel zu tun, oder?«

Was für eine belanglose Frage. »Ja.« Er gähnte wieder und rieb sich über die Brust. Sie quittierte es mit einem uninteressierten Lächeln. Er ließ die Hand auf seinem Bauchnabel liegen. Es mochte kindisch sein, aber er liebte es, seine Muskeln unter der Haut zu erspüren. Dabei war er ganz gewiss kein Narziss. Nein, es beruhigte ihn einfach auf wohlige Weise, wenn er seinen in täglichen Situps hart erarbeiteten Waschbrettbauch fühlte. Ganz besonders in den Nächten, in denen er aus dem Schlaf aufschrak und die Stimmen seiner Schulfreunde im Ohr hatte, wie sie ihm »Schlaffi, Tonne, Fettsack« und andere Schmähungen hinterherriefen.

»Siehst toll aus. Nur ’n bisschen müde.« Ellen hob den Daumen. Dann rieb sie sich selbst über den Bauch und ließ ihre Hand dort liegen. »Ich werde jetzt dick.«

»Ach was«, wollte er schon abwehren. Ellen war von Natur aus der schlanke Typ Frau. Sie aß gut und gerne, aber nie im Übermaß, außerdem achtete sie darauf, immer genug Bewegung zu haben, ohne besessen Sport zu treiben wie er. Doch dann sah er, dass sich unter dem verknoteten Frotteegürtel tatsächlich eine Rundung wölbte, die er an ihr noch nie gesehen hatte. Plötzlich wieder hellwach, setzte er sich auf.

»Heißt das, du …? Du und der Dieter …? Er hat …? Ihr habt …?«

»Ja, wir haben. Wir kriegen ein Kind.«

Ihre Antwort schwebte wie eine Feder in seinen Kopf und trudelte hinunter. Er konnte sie nicht greifen. Bedeutete sie etwas? Für ihn? Für das gemeinsame Haus? Für die auf dem Blatt noch existierende Ehe?

Sie stand auf. »Ich gehe schlafen. Mach dir keine Sorgen, Frank, zwischen uns ändert sich nichts. Der Dieter mag dich, ich mag dich sowieso. Das Einzige, was wir überlegen sollten, ist, ob wir uns scheiden lassen.«

In dieser Nacht verfolgten sie ihn wieder und nannten ihn Tonne, Fettsack, Dickarsch. Ihre Stimmen wurden immer heller und kindlicher. Erleichtert schlug er um halb sechs auf den Radiowecker, lief seine zehn Kilometer an der Saar entlang in einer neuen persönlichen Bestzeit, sprang danach unter die Dusche, wo er beruhigt seinen muskulösen Körper einseifte und wusch. Pünktlich um acht betrat er das Büro.