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Meine Manolos
Immer wenn ich weinen muss, passiert eine Katastrophe.
Kennen Sie das auch?
Ich bin keine Heulsuse, wirklich nicht. Ich, Lucinda Schober, bin eine typische deutsche Singlefrau in den Dreißigern, Sternzeichen Zwilling.
Meine kleine Schwester Kat behauptet ja, dass dieses Sternzeichen der Grund für viele meiner Probleme sei. Vielleicht hat sie damit recht, vielleicht aber auch nicht; es spielt keine Rolle. Man sagt, ich sei innerlich permanent hin- und hergerissen und könne keine Entscheidungen treffen. ›Man‹ bezieht sich dabei auf meine Eltern und meine beiden anderen Geschwister. Sie sind natürlich keinesfalls der Ansicht, dass mein Sternzeichen da eine Rolle spielt, sondern behaupten, die wahre Ursache für meinen Lebenswandel – ja, das Wort benutzen sie oft und gerne – liege in einer tief verwurzelten, alles überschattenden Faulheit. Damit begründen sie, dass ich das Abitur erst im zweiten Anlauf schaffte, nachdem ich heftig auf die Nase gefallen war. Damit begründen sie die Wahl meines Studienfachs, Grundschulpädagogik, nachdem ich während des gesamten letzten Schuljahres zwischen vier weiteren Möglichkeiten geschwankt hatte. Und damit begründen sie meine Entscheidung, das Studium nach der Zwischenprüfung zu schmeißen und mich stattdessen in einem Callcenter zu verdingen, wo ich mir das ›schnelle Geld‹ erhoffte. Sie irren sich. In Wahrheit wollte ich, glaube ich, nie studieren, und schon gar nicht Grundschulpädagogik. Das tat ich nur, weil ich damals zu jung war, um mich gegen die elterliche und geschwisterliche Übermacht aufzulehnen. Schließlich sollte ich als Arzt- und Apothekerinnentochter etwas ›Sinnvolles‹ werden. Abitur war Grundvoraussetzung und ein Studium Pflicht. Wenigstens bei der Fächerwahl rebellierte ich damals ansatzweise, denn Lehrerin von kleinen Monstern zu werden, hatten meine Eltern sich nicht gerade für mich erträumt. Meine große Schwester Anna Maria und mein kleiner Bruder Rouwen, der durch meinen Fauxpas im selben Jahr wie ich sein Abitur hinlegte – er natürlich mit Einserschnitt –, zeigten mir doch im Grunde sehr deutlich, in welche Richtung ich gehen sollte, um eine neue, akzeptable Familientradition zu festigen, mit der der Arzt und die Apothekerin zufrieden sein konnten: Jura.
Mir rollen sich selbst jetzt die Fußnägel ein, wenn ich dieses Unwort schreibe. Ich meine: ausgerechnet J U R A.
Medizin wäre natürlich ebenfalls standesgemäß gewesen … oder Biochemie, um in die Forschung zu gehen. Oder wenigstens Theologie. Dinge, die einen Menschen erden. Nicht solch wenig einträgliche Fächer wie Kunstgeschichte, Übersetzungswissenschaft, Theaterwissenschaft. Ich hatte kurz mit dem Gedanken gespielt, Sozialpädagogik zu studieren, aber ich muss ehrlich gestehen, dass mich der Anblick der Studentinnen mit ihren schweren Pannesamtröcken und schwarzen, flachen Baumwollschuhen, den Viereckschals und geflochtenen Zöpfen abschreckte. Wollte ich mit ihnen einen entscheidenden Teil meiner Jugend verbringen? Nein.
Das etwas langweilige Volk der angehenden Grundschullehrer sagte mir da schon eher zu, auch wenn ich mich mit meinen modischen Vorlieben ein bisschen wie ein Paradiesvogel fühlte.
Hmm, wenn ich es recht bedenke, hat Kat, meine rebellische Schwester – sie betreibt gemeinsam mit meiner besten Freundin und Exkommilitonin Susa einen Biohühnerhof in der Nähe von Saarlouis –, am Ende doch recht mit ihrer Zwillingstheorie.
Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust.
Einerseits entschied ich mich also für die etwas biedere Grundschulpädagogik, andererseits hob ich mich von meinen Mitstreitern durch meine Kleidung ab. Damals unterstützten meine Eltern meine Bemühungen noch monetär, und ich konnte meine Garderobe ganz nach meinem Geschmack zusammenstellen. Geld spielte keine Rolle. Da meine Mutter selbst sehr auf ihr Äußeres achtet, gestand sie mir zu, die Marken zu tragen, die ich bevorzugte. Über neidvolle Bemerkungen meiner Kommilitoninnen ging ich meist mit einem überlegenen Lächeln hinweg. Ja, wenn ich zurückdenke, war es eine leichte und irgendwie auch schöne Zeit. Doch dann setzte sich die andere Zwillingshälfte in mir durch und stellte auf stur. Ich bemerkte, dass mir das Studium überhaupt nicht lag, und verkündete, dass ich damit aufhören wollte. Sofort wurde mir der Geldhahn zugedreht. Ich suchte und fand rasch eine Alternative: das Callcenter am Großen Markt mitten in der Stadt Saarlouis. Dort arbeite ich schon seit … gut zehn Jahren. Von wegen Faulheit und Sprunghaftigkeit, sage ich da nur.
Aber jetzt komme ich zurück auf das, was ich eigentlich erzählen wollte: Immer wenn ich weinen muss, passiert eine Katastrophe.
Auf meinem Weg vom Parkplatz zum Bürogebäude bewunderte ich heute in den Schaufenstern meine neuen Schuhe. Mein Herz schlägt jedes Mal höher, wenn ich das Sonnenblumengelb strahlen sehe. Ach, ich habe im Lauf der Jahre beinahe vergessen, wie sehr Manolos einen Frauenfuß umschmeicheln. Seit Monaten habe ich auf diese Traumschuhe gespart. Habe mir alle Restaurantbesuche mit Susa und Kat verkniffen, keine Trüffelpralinés mehr gekauft, dem guten Kaffee entsagt und stattdessen stinknormalen Brühkaffee getrunken. Natürlich verzichtete ich auch auf jegliche Aufstockung meiner Garderobe. Nur so konnte ich das nötige Geld zusammenkratzen, um diese einzigartige Gelegenheit zu ergreifen. Die High Heels stammen aus der letztjährigen Kollektion, sie verstaubten weitgehend unbemerkt in einer Ecke des exklusiven Ladens, den ich wiederum nur deshalb aufsuchte, weil meine Juristenschwester Anna Maria sich ein Paar neue Schuhe gönnen musste und mir unter dem Vorwand, meinen Rat zu benötigen, damit eine lange Nase drehen wollte.
Die gelben Peeptoe-Manolos hatten auf mich gewartet; sie zogen mich an wie ein Magnet. Keiner im Laden bekam etwas davon mit. Ich griff unauffällig nach dem Paar, sah das Preisschildchen und überschlug rasch, wie viele Wochen ich dafür von Tütensuppe leben musste, wenn ich die Geldgeschenke von meinem Geburtstag dazurechnete. Dann schlich ich – während Anna Maria irgendwelche Overknees anprobierte – zu der zweiten Verkäuferin im Laden. Das Glück war mir hold: Sie kennt mich noch von früher und sie mag mich. Sie legte die Schuhe für mich zurück (»Die will eh keiner mehr, sie sind nicht mehr up to date.«) und versprach mir, sie sechs Wochen lang aufzuheben.
So kam das.
Ich stolziere auf meinen High Heels zum Bürogebäude, achte dabei peinlich darauf, an dem Lüftungsgitter neben dem Eingang vorbeizustöckeln, und treffe in der Halle auf den guten Maurice, unser Mädchen für alles. Er sieht nicht auf meine Schuhe, sondern in mein Gesicht, und lächelt mich strahlend an. Dann kommt der Fahrstuhl, ich gehe hinein und Maurice folgt mir. Der Gute kann ja nichts dafür, dass er etwas langsam ist. Dafür schlägt in seiner Brust ein Herz, das zu keiner Bosheit fähig ist. Vielleicht mag ich ihn deshalb so gerne, genau wie unser gesamtes Personal.
Alle lieben Maurice. Er räumt hinter uns auf, putzt und wischt Staub und auch Kaffee hält er jederzeit bereit. Im Grunde ist Maurice der einzige ruhende Pol in dem Gewusel und Lärm. 30 Mitarbeiter, hauptsächlich Frauen, teilen sich einen großen Raum und telefonieren ohne Unterbrechung. Allesamt sind wir am Ende unserer Schichten aufgedreht und kribbelig, und dann steht Maurice bereit, um uns mit seinem Kinderlächeln wieder herunterzuholen. Er wirkt wie ein Beruhigungsmittel ohne Nebenwirkungen. Ja, ich habe mich oft gefragt, was wir ohne ihn machen würden. Bestimmt ist sich unser Chef, der Dürrbier, über Maurice’ Bedeutung im Klaren, sonst würde er jemanden, der so unproduktiv ist und überhaupt nichts verkauft, nicht dulden.
Maurice bemerkt anscheinend, dass ich mich heute besonders wohlfühle, denn er öffnet tatsächlich den Mund, um das Wort an mich zu richten.
»Un? Geht’s gut?«
»Oh ja, Maurice, heute ist ein toller Tag. Ich trage zum ersten Mal meine neuen Schuhe. Siehst du?«
Stolz drehe ich meinen Fuß, damit er die Manolos bewundern kann. Er sieht sie sich ganz genau an und gibt mir dabei nicht das Gefühl, dass er am liebsten mit seinem Blick meine Beine entlang nach oben wandern und mich ausziehen würde, wie die meisten anderen Männer es in so einem Fall tun würden. Natürlich trage ich heute ausnahmsweise nicht Jeans und T-Shirt, sondern habe meinen alten Minirock und ein Blüschen ausgegraben. Maurice hat mich so noch nie gesehen, aber er macht keine anzüglichen Bemerkungen und zieht auch nicht missfällig die Brauen hoch, wie ich es von meinen Kolleginnen zu erwarten habe, sondern nickt einfach.
»Scheen sind die.«
Pling, sind wir im dritten Stock angekommen, und die Tür öffnet sich. Sofort umfangen uns das Brummen der Computer, das Klingeln der Telefone und die unterschiedlichen Tonlagen der schnatternden Frauen und vereinzelten Männer. Irgendwo zischt eine Kaffeemaschine. Erhebend ist der Anblick meiner täglichen Arbeitsstätte nicht gerade. Alle tragen Headsets und starren auf ihre Bildschirme, die meisten haben eine Kaffeetasse neben dem Papierstapel auf ihrem Tisch und klappern hektisch mit den Tastaturen, um die eingehenden Bestellungen zu erfassen oder Notizen über die Wünsche oder Abneigungen der Kunden zu machen.
Nur die drei dem Fahrstuhl am nächsten sitzenden Mädels heben den Kopf. Wie erwartet ziehen sie nacheinander die Augenbrauen hoch, nicken mir mit verkniffenen Mündern zu, drehen dann die Köpfe wieder weg und reden weiter mit ihrem jeweiligen Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung.
»Maurice, bringst du mir einen Kaffee an meinen Platz?«
»Gern, Lucinda.«
Ich lege die Hand auf seinen Unterarm, er bleibt wie angewurzelt stehen und betrachtet sie wie einen Fremdkörper, worauf ich sie verlegen wegziehe. »Du sollst mich doch Lucy nennen.«
Seine blassblauen Augen strahlen. »Jo, richtig. Lucy. Ich bring dir gleich ’nen Kaffee.«
Den Catwalk durch den schmalen mittleren Gang zu meinem Schreibtisch genieße ich in vollen Zügen, auch wenn es sehr gemischte Empfindungen sind, die mir von meinen Kolleginnen entgegenschlagen. Ob sie überhaupt erkennen, was das für Schuhe sind, die sie angaffen? Na, es spielt keine Rolle. Mir geht es ja nicht darum, hier aufzutrumpfen, sondern einzig und allein um das luxuriöse Gefühl, das mir diese Schuhe bescheren. Es geht um mich, nicht um die anderen.
Ich kann es mir nicht verkneifen, mich seitlich auf den Bürostuhl plumpsen zu lassen, um die angewinkelten Beine dann in einer grazilen Bewegung unter den Tisch zu ziehen. Ein bisschen prätentiös muss frau ab und zu einfach sein.
Ich bewege die Computermaus, um zu sehen, welche Liste ich heute abtelefonieren muss, und stöhne. Unzählige Adressen. Ich bin gespannt, wie viele von ihnen ich schaffen werde. Davon hängt ab, wie bald ich wieder die echten Trüffelpralinés essen werde und wann ich mit meiner kleinen Schwester und meiner besten Freundin zum Italiener in der Fußgängerzone gehen kann. Nun gut, nicht umsonst habe ich mir ein dickes Fell antrainiert und meine Stimme geschult. Nachdem Maurice mir meine Lieblingstasse mit frischem Kaffee gebracht hat, ziehe ich mir das Headset über, lächle Lena, die mir gegenübersitzt, an unseren Bildschirmen vorbei zu und wähle die erste Nummer.
»Krämer.« Eine männliche Stimme, nicht schlecht gelaunt, nicht gut, sondern neutral.
»Einen wunderschönen guten Tag, hier ist Lucinda Schober von der Mediaboutique. Es geht um Ihre Fernsehzeitschrift, Herr Krämer.«
»Was ist damit?«
»Wir haben derzeit ein einmaliges Angebot. Wenn Sie die ›TVfix‹ abonnieren, bekommen Sie ›Kleine Katzen‹ kostenlos für drei Wochen im Probeabo dazu. Und für die ›TVfix‹ zahlen Sie 45 Cent weniger pro Monat, als wenn Sie sie am Kiosk kaufen. Wäre das was für Sie?«
Die Uhr läuft. Er denkt nach, endlos lange. »Ääh …«, kommt es dann zögerlich. »›Kleine Katzen‹, sagten Sie? Ist das so ein … ääh … Heft mit Frauen?«
Ach, so einer ist das. Ich öffne am Bildschirm rasch eine Seite mit Spaßartikeln, die wir für einen unserer Großkunden verkaufen. Sofort finde ich ein Heftchen der Sorte, die Herr Krämer meint.
»Nein, Herr Krämer, ›Kleine Katzen‹ ist eine Zeitschrift für Katzenfreunde, aber ich könnte Ihnen die ›Duftende Haut‹ zu den gleichen Konditionen anbieten. Sie können das Abonnement jederzeit widerrufen.«
»Die Fernsehzeitung brauche ich nicht, aber die andere interessiert mich. Die kriege ich dann kostenlos, sagen Sie?«
»Ja, drei Monate lang kostenlos, danach wird jährlich ein Betrag von 60 Euro abgebucht. Sie können aber rechtzeitig kündigen, dann zahlen Sie gar nichts. Bloß das Abo der ›TVfix‹ ist dann für ein Jahr bindend. Darf ich dieses Angebot für Sie buchen?«
Herr Krämer sagt ja! Prima, der erste Abschluss für heute. Ich schließe den Auftrag zügig ab und muss den netten Herrn Krämer am Ende ein wenig abwürgen, weil er sich in Lobeshymnen über meine Stimme ergeht und fragt, ob wir uns treffen könnten. Ich checke kurz seine Daten und sehe, dass er glücklicherweise in Hamburg wohnt. Weit, weit weg.
Der Vormittag läuft so weiter, ich gewinne einen Neukunden nach dem anderen. Besonders die Babyartikel in Kombination mit den Zeitschriften für junge Eltern gehen heute wie warme Semmeln.
In die Pause begleitet mich Lena. Sie hat so überhaupt kein Auge für meine Schuhe, dass ich auch kein schlechtes Gewissen zu haben brauche, ob sie neidvoll reagieren könnte. Nein, Lena interessiert sich nur für Rubbellose und ein deftiges Mittagessen. Zum Glück findet sie in der Fußgängerzone das, was sie liebt. Wir suchen uns ein Plätzchen auf einem Mauervorsprung bei den Kasematten neben einer mächtigen Linde. Lena beißt herzhaft in ihr Dönerkebab, und ich picke mit meiner Plastikgabel ein Salatblatt aus der Plastikbox. Der Frühling lässt Saarlouis in all seiner Pracht erstrahlen. Die Sonne scheint durch die Baumkrone und malt kleine Kringel auf das Sonnenblumengelb meiner Schuhe. Ich kann mich gar nicht daran sattsehen. So macht das Leben Spaß.
»Wie läuft’s ’n heut bei dir?«, fragt Lena zwischen zwei Bissen. Sie hat die Beine ebenfalls von sich gestreckt, und der Anblick ihrer abgewetzten Turnschuhe neben meinen Manolos hat durchaus einen besonderen Reiz.
»Eigentlich super. Ich hatte fast nur Zusagen heute. Und bei dir?«
»Nit so. Alle meckern nur rum.« Sie wischt sich mit dem Handrücken einen Klecks weißer Soße von der Wange.
Ich nicke mitfühlend. »Ja, manchmal hat man eine schlimme Liste erwischt. Ich frage mich echt, woher das kommt. Hast du einen Unfreundlichen am Apparat, dann gibt’s gleich noch mehr davon.«
Wir brechen langsam auf, und ich genieße die Blicke der glücklichen Menschen, die in der Fußgängerzone vor den Lokalen zu Mittag essen, während wir zum Großen Markt zurückschlendern. Wir plaudern weiter darüber, warum es an manchen Tagen ganz leicht ist, Zeitungen, Wein, Babyspielsachen oder Sextoys zu verkaufen und an anderen so wahnsinnig schwer. Als ob eine höhere Macht die Listen für uns zusammenstellte – eine Macht, die alle Kunden kennt.
Als wir das Büro betreten, werden wir vom Chef erwartet. Der Dürrbier steht in der Nähe des Fahrstuhls und hat nichts Besseres zu tun, als bei jedem, der hereinkommt, auf die Uhr zu sehen. Sein verkniffener Mund legt es nahe, schweigend den Kopf zu senken und in schnellster Gangart zu seinem Stuhl zu hasten. Ich spüre seine Blicke im Rücken wie Nadelstiche und frage mich, ob es Lena vor mir genauso geht, vermute aber, dass die Speckumrandung ihres etwas ausladenderen Rückens sie vor Pieksern dieser Art schützt. Sie bewegt sich zu langsam! Dürrbiers Blicke pieken jetzt nicht mehr nur in meine Schultern, sondern streichen wie eisige Finger hinunter und über meine Beine bis zu den Manolos. Beinahe glaube ich, seine kratzige Stimme in meinem Kopf zu hören: »Wieso kann die Schober sich solche Schuhe leisten und meine Frau nicht?«
Schnell, Lena, beeil dich doch ein bisschen! Unser geteilter Schreibtisch ist schon ganz nahe, da passiert es: Hat eine der netten Kolleginnen einen Fuß vorgestreckt oder lag ein Kabel im Weg? Jedenfalls gerate ich ins Straucheln. Kennen Sie ›Tom und Jerry‹? Wenn der dumme Kater losrennt und plötzlich merkt, dass er mit allen vieren über einem Abgrund in der Luft hängt, dann kriegt er so einen ganz bestimmten Gesichtsausdruck. Tja, ich bin mir sicher, dass ich genauso dumm aus der Wäsche gucke, als ich das Gleichgewicht verliere, mich Lenas breitem Rücken gefährlich nähere und registriere, dass ich mich definitiv nicht mehr abfangen kann, ganz gleich, wie sehr ich mit den Armen rudere. Ich muss dabei ein Warngeräusch ausgestoßen haben, denn Lena springt unerwartet behände zur Seite, bevor ich mich Halt suchend an ihr festklammern kann. Und dann liege ich da, auf Mund und Nase. Einziger Trost ist mir die Vorstellung, dass meine Hacken elegant die Manolos in die Höhe recken – für alle Neider weithin sichtbar.
Bei so einem Sturz schießt das ganze Blut ruckartig nach vorn. Deshalb spüre ich es nicht nur, sondern ich weiß, dass mein Gesicht geradezu leuchtet wie ein rotes Alarmsignal, als ich mich aufrapple. Im Büro herrscht für unendliche Sekunden lähmende Stille, bis ein Telefon klingelt und damit das Zeichen setzt, dass alle wieder losreden, schreiben, wählen, tippen müssen. Außer Lena, die mich fragt, ob ich mir wehgetan habe, zeigen alle den Anflug eines zufriedenen Lächelns. Der Dürrbier ist schon mit zackigen Bewegungen im Anmarsch, den Rücken durchgestreckt, als habe er einen Stock verschluckt. Kennen Sie Christoph Maria Herbst als Alfons Hatler in den Slapstickkrimis vom ›Wixxer‹? Dann wissen Sie, wie Dürrbier aussieht, bevor er mich erreicht hat und seine Gesichtszüge unter Kontrolle bringt.
Er schaut auf meine Schuhe, meine Beine, meinen Rock, meinen Busen und dann in mein Gesicht. Ja, ja, ich weiß, so viel Zeit muss sein. Mich überkommt spontaner Brechreiz, als er sich mit der Zunge über die schmalen Lippen leckt und dann mit einem Lächeln die von seinen stinkenden Zigarillos gelblich verfärbten Mausezähnchen zeigt. »Haben heute noch was vor, wie? Gefährliches Schuhwerk, Mädchen!«
Pfffff, lasse ich langsam den Atem entweichen und bemühe mich, meinen empört beschleunigten Herzschlag zu ignorieren. Ich lächle und nicke vage, dann versuche ich, mich so unelegant wie möglich auf meinem Sitz niederzulassen und verstecke rasch meine Beine vor seinen gierigen Augen. Er beugt sich zu mir – erschrocken halte ich die Luft an. Kennen Sie diese Mischung aus schlecht getrockneter Kleidung, Kaffee und Zigarillorauch? Dann wissen Sie, was ich meine.
Dürrbier greift quer über meinen Schreibtisch nach der Maus und sucht im PC eine Adressliste für mich heraus, die er mit einem seiner persönlichen Kennwörter versehen hat. Dann bedenkt er mich erneut mit seinem widerlichen Grinsen.
»Machen Sie jetzt hiermit weiter. Sie sind eine unserer besten Verkäuferinnen, und die Statistik hat mir gezeigt, dass Sie heute Morgen schon über Ihrem Schnitt lagen. Also sollten Sie die richtige Energie haben, um ein paar unserer Spezialkunden zu überzeugen.«
Lena atmet zischend ein und versichert mir mit diesem Geräusch ihr Mitgefühl. Ich merke, wie meine Sicht sich vernebelt, und kämpfe gegen die aufsteigenden Tränen an. Wie gesagt, ich bin keine Heulsuse. Jedenfalls der eine Zwilling in mir ist keine. – Der andere leider schon. Tapfer, wie ich bin, schaffe ich es trotz alledem, nicht loszuheulen.
Mit einem letzten Blick in meinen Ausschnitt verzieht der Dürrbier sich pfeifend, und ich bewege den Cursor zur ersten Adresse auf der Liste. Ich glaube, jeder im Callcenter hat mit den Personen, deren Namen auf dieser Liste stehen, schon zu tun gehabt. Wir nennen sie auch ›Horrorliste‹, und es ist nicht die einzige ihrer Art. Der Dürrbier hat sich einen Spaß daraus gemacht, für jedes Bundesland eine Horrorliste zu erstellen. Er hat, wie er sagt, den Ehrgeiz, auch die widerwilligsten Kunden durch Beharrlichkeit weichzukochen. Dabei unterschlägt er natürlich großzügig die Tatsache, dass wir es sind, die die Beharrlichkeit an den Tag legen müssen, und nicht er.
Ich spüre, dass jemand neben mir steht, und sehe auf. Maurice’ mitleidiges Kindergesicht lächelt mir zu, als er mir einen Pappbecher von Starbucks hinstellt. »Den han ich für dich besorgt. Der Chef hat heit schlechte Laune.«
Der verführerische Duft einer Karamell-Latte steigt mir in die Nase und breitet sich von dort aus wohltuend und stresslindernd in meinem Körper aus. »Maurice, du bist ein Schatz. Danke!«
Er entfernt sich auf leisen Sohlen und überlässt mich meiner Arbeit. Ich atme tief durch, dann wähle ich die erste Nummer. Norbert Trauensieck aus Sankt Wendel.
Eine dünne weibliche Stimme. »Trauensieck, hallo, wer is ’n do?« Das muss seine Frau sein. Steht irgendwo geschrieben, dass ich unbedingt mit Herrn Trauensieck sprechen muss, um ihm den überteuerten Wein anzudrehen, den er dreimal geordert, die letzten siebenmal aber abgelehnt hat?
»Schönen guten Tag, hier ist Lucinda Schober von der Mediaboutique …«
»Ach!«, unterbricht sie mich und hört sich nicht sehr begeistert an, »Sie wolle bestimmt mei Mann spreche?«
»Nein, ich kann mich auch mit Ihnen unterhalten, Frau Trauensieck. Sicher kennen Sie den guten Rotwein, den Ihr Mann über unseren Dienst bezogen hat?«
»Ja-a, den kenne ich.«
»Wir können Ihnen ein hervorragendes Ange…«
»Trauensieck hier«, fährt die barsche Stimme ihres Mannes dazwischen. Ich sehe regelrecht vor mir, wie er seiner Frau den Hörer entrissen hat und jetzt ins Telefon blafft. »Lassen Sie uns in Ruhe, Sie blöde Kuh. Herrgott noch mal. Ich will Ihren Wein nicht mehr, geht das nicht in Ihren minderbemittelten Schädel?«
»Entschuldigung, aber …«
»Nichts Entschuldigung. Streichen Sie uns endlich von der Liste, hohle Nuss!«
Tut, tut, tut. Er hat aufgelegt. Lena lehnt sich neben ihren Bildschirm, um mir einen fragenden Blick zuzuwerfen. Ich blase meine Wangen auf, schüttle den Kopf. Sie beißt sich auf die Unterlippe und lächelt dann komisch-verzweifelt. Wir sitzen halt alle in einem Boot, soll das heißen.
Okay, das war ja erst Kunde Nummer eins. Weiter mit der Liste.
Henrietta Stunk.
Henrietta hat keine Lust auf irgendwelche Zeitungsabos, auch nicht auf Kinderkram für ihre Nichten und Neffen, Wein trinkt sie nicht mehr, seit sie trocken ist, und überhaupt kauft sie nichts am Telefon. »Lasse Sie mir um Himmels wille mei Ruh!«, kreischt sie nach gefühlten zehn Sekunden, und ihr Tonfall ist bestenfalls unwirsch zu nennen.
So geht es weiter, Anruf für Anruf, Kunde für Kundin. Von der brausepulvrigen Energie, die mich und meine Manolos heute Morgen beflügelt hat, ist nicht der kleinste Rest übrig geblieben. Doch am schlimmsten ist die Tatsache, dass ich nicht einmal Geld für eine Packung Trost-Trüffelpralinés im Portemonnaie habe. Womit soll ich mir bloß den Abend dieses unglückseligen Tages versüßen?
Zehn Minuten vor Schluss. Ich muss mindestens noch einen Namen der nicht enden wollenden Liste abarbeiten. Zu gerne würde ich dem vertrockneten Dürrbier wenigstens einen Erfolg präsentieren.
»Rupert Kunze. Hallo?«
»Schönen guten Abend, Herr Kunze, Mediaboutique hier, Lucinda Schober am Apparat.«
»Hey, Kätzchen, geile Stimme. Warum rufst du nicht immer an?« Ach Gott, so einer auch noch! Wenn der Dürrbier schon solche Horrorlisten führt, nach Bundesländern und Artikeln sortiert, dann könnte er wenigstens ein paar warnende Bemerkungen neben die Namen schreiben. Bei Rupert zum Beispiel so was wie ›notgeil‹. Puh, ich merke schon an meiner Wortwahl, dass ich meine Grenzen erreicht habe.
Ich bemühe mich um ein nichtssagendes Kichern, dann sage ich: »Herr Kunze, wir hätten da ein super Angebot für Sie.«
»Her damit«, unterbricht er mich, »wenn du’s bist. Wo finde ich dich, geiles Stück? Was trägst du? Bist du nackt?«
Entsetzt schaue ich auf dem Bildschirm nach: Rupert Kunze lebt in einem Ort in der Nähe von Saarlouis. Mist! Ganz richtig hat er schon an meinem minimalen Akzent erkannt, dass ich Saarländerin bin. »Hey, du kommst aus Saarlouis, hab ich recht? Oder aus Wellingen. Püppi, du machst mich ganz heiß. Ich liebe die Saarlouiser Mädchen.«
»Herr Kunze, möchten Sie ›Reife Wonnen‹ abonnieren oder nicht?«
»Dich will ich abonnieren, Kleines. Lucinda war dein Name, oder?« Er lacht. Mir wird schlecht.
»Nein. Herr Kunze, ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend.«
Bevor ich auflege, höre ich noch: »Verfluchtes Stück Scheiße …«
Endlich ist seine Stimme weg. Ich sacke auf meinem Stuhl zusammen. Ich bin keine Heulsuse, wirklich nicht. Aber jetzt ist der toughe Zwilling einfach verduftet, und nur der andere ist hiergeblieben, der noch klein und verletzlich ist. Und der lässt die Tränen aus seinen Kanälen fließen, während ich den Stuhl zurückschiebe, mir meine Tasche schnappe und mit hängenden Schultern das Büro verlasse. Die nächste Schicht kommt gleich und wird alle Stühle wieder besetzen, um ihr Glück bei den Rupert Kunzes dieser Welt zu versuchen. Am Fahrstuhl treffe ich erneut Maurice. Der gute Junge wird erst nach Hause gehen, wenn er die benutzten Kaffeetassen und -becher weggeräumt und frischen Kaffee für die nach uns Kommenden aufgebrüht hat.
»Oh«, sagt er, »Lucy, was is ’n passiert?«
»Ach, ich hatte einen grässlichen Nachmittag. Am schlimmsten war mein letzter Kunde, Rupert Kunze. Ich hoffe, dass ich ihm nie im wahren Leben begegnen werde.«
Maurice macht etwas für ihn völlig Untypisches: Er legt mir die Hand auf den Oberarm. »Morje is wieder e’ neuer Tag.«
Seine Freundlichkeit muntert mich tatsächlich ein wenig auf. Als der Fahrstuhl unten ankommt, habe ich mich einigermaßen beruhigt. Aber sagte ich es nicht schon ganz zu Anfang: Immer wenn ich weinen muss, passiert eine Katastrophe.
Beim Verlassen des Gebäudes wische ich mir mit einem Papiertaschentuch über das Gesicht und denke einfach nicht an das Lüftungsgitter neben der Eingangstür. Ich denke auch nicht an meine Manolos mit den Zwölf-Zentimeter-Absätzen und daran, dass diese Absätze so dünn sind wie Bleistifte.
Ach, es zerreißt mir das Herz. Sicher wissen Sie schon, was gleich geschehen wird. Die größte anzunehmende Katastrophe nimmt ihren Lauf. Tränenblind (nun gut, beinahe) stöckle ich nach draußen Richtung Parkplatz, wo ich meinen alten Twingo abgestellt habe. Ja, und dann war’s das mit meinen neuen sonnenblumengelben Manolos. Ich bleibe stecken, und beim Versuch, den Fuß aus dem vermaledeiten Gitterschacht zu ziehen, schrappe ich das Leder komplett auf. Doch damit nicht genug: Kurz, bevor ich den blankgewetzten Absatz zur Gänze herausziehen kann, macht es laut vernehmlich Krack.
(Wie gut, dass ich mit einer Tastatur schreibe, da kann wenigstens das Papier nicht aufweichen.)
Ich ziehe mir die Manolos von den Füßen und humple zu meinem Twingo. Das Knöllchen wegen überschrittener Parkdauer kann ich nicht entziffern, und es kostet mich eine geschlagene Stunde, mich so weit zu beruhigen, dass ich das Auto starten kann. Ohne Rücksicht auf meinen Kontostand halte ich an der edelsten Pralinenboutique an, kaufe mir die größte und teuerste Packung meiner Lieblingstrüffelpralinés und bezahle mit der Karte. Wenn schon scheitern, dann grandios!
Zumindest eines hat mich dieser Tag gelehrt:
Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust.
Kat hat recht, ich bin ein Zwilling.
Und das ist scheiße!
»Wie hat der Kerl dich genannt?«
»Verfluchtes Stück Scheiße …«
Ich höre trotz des Deutschlandfunks, der durch das Telefon zu mir dröhnt, wie Kat empört schnaubt. Zu dem klassischen Musikstück, das gerade gespielt wird, kann ich ihre sich steigernde Wut regelrecht spüren.
»Dieser Wichser! Der gehört doch geköpft!«
Ach, wie gut tut es, eine Emanze zur Schwester zu haben. Sie lässt all das einfach heraus, was ich in meiner einen Seele spüre, jedoch nicht auslebe, weil mich meine zweite Seele davor zurückhält.
»Diese verdammten Dreibeiner! Nur weil er notgeil ist, meint er, er kann so mit dir umspringen. Ach, wie ich sie alle hasse, diese Kerle!«
Im Hintergrund macht sich Susa bemerkbar. Ich verstehe nicht, was sie sagt, aber Kat antwortet ihr: »So ein Sackgesicht hat meine Schwester angemacht. Die fühlen sich doch nur so stark, weil man sie am Telefon nicht sehen kann. Ich sag dir eins«, damit meint sie jetzt mich, »wenn ich diesem Typen begegne, dann kann er sich warm anziehen.«
»Na ja, Kat, vielleicht ist das alles gar nicht so schlimm. Man kann sie ja nicht gleich kastrieren. Bestimmt ist Rupert Kunze im wahren Leben ein ganz braver, angepasster Mensch.«
»Ja, ja, wahrscheinlich steht er unter dem Pantoffel seiner Frau und kriegt den Schwanz nicht hoch.« Sie schnalzt empört mit der Zunge. »Genau wie dieser … Wie hieß er doch gleich?«
»Wen meinst du?«
»Na, der andere Kunde aus dem Saarland, der dich als Schwein beschimpft hat; ist schon eine Weile her.«
Ich wollte mich eigentlich nicht mehr an Harko Schaaf erinnern … Vor knapp zwei Wochen hat der Dürrbier mir schon einmal die Horrorliste der Saarländer aufs Auge gedrückt, und besagter Schaaf wurde so ausfallend, dass ich beinahe einen Heulkrampf erlitt.
Damals passierte auch eine Katastrophe. Meine Hände zitterten so, dass der Vanilla-Latte, den eine Kollegin anlässlich ihres Geburtstages spendiert hatte, mir entglitt und auf meinen einzigen verbliebenen Markenjeans landete, die ich für einen der selten gewordenen Discobesuche an diesem Abend trug. Der Schaaf hatte mich als ›dumm wie ein schwarzes Schwein‹ bezeichnet. Heute kann ich darüber lachen, aber der Tag hatte schon damit begonnen, dass mir mein Vater wegen meiner verdorbenen Lebensplanung die Ohren vollgejammert hatte. Die Bezeichnung als Schwein durch Schaaf fiel deshalb auf fruchtbaren Boden. Wie auch immer – mit Kat über diese Kunden zu sprechen, tut mir gut, und das ist wohl auch der Grund, weshalb ich sie nach dem Leeren der Magnumpackung Trüffelpralinés und nach dem Genuss einer Viertel Flasche Wodka mit Pflaumensaft angerufen habe.
»Hihi, du meinst Harko Schaaf. Den Namen werde ich nie vergessen. Ich hoffe nur, dass ich nicht so bald wieder mit ihm zu tun habe. Der belästigt mich wenigstens nicht sexuell, aber die Bezeichnung als schwarzes Schwein war noch harmlos. Er hat mich schon mit fast allen Tierarten unseres Planeten verglichen.«
»Genau, das meine ich ja. Dürfen die das ungestraft? Das sind doch Beleidigungen. Habt ihr da keine Handhabe?«
Wie oft haben wir darüber schon gesprochen? Vermutlich hätten wir eine Handhabe, schließlich haben auch Telefonistinnen so etwas wie Menschenwürde, die ja bekanntlich unantastbar ist. Aber der Dürrbier – und mit ihm viele andere Arbeitgeber, fürchte ich – sieht das ein bisschen anders. Auf unsere Bitte, bestimmte Kunden doch von der Liste zu streichen oder gerichtlich gegen sie vorzugehen, lacht er regelmäßig sein trockenes, abgehacktes Zigarillo-Lachen. Wir sollten uns mal nicht so anstellen, man könnte schließlich nicht für jeden Pups vor Gericht ziehen. Na ja, dass Menschen, die im Callcenter arbeiten, ein dickes Fell brauchen, ist ja bekannt. Und letzten Endes liegt es ganz bei uns, wie sehr wir uns davon runterziehen lassen. Ach, ich bringe einfach nicht die Energie auf, für mein Recht zu kämpfen.
Mein Schweigen verrät meiner Schwester anscheinend, was in mir vorgeht. Sie seufzt. »Lu, ich weiß schon, du kriegst den Arsch nicht hoch, um für deine Rechte einzustehen. Ich verstehe dich nicht. Du hast doch echt Grips. Warum fängst du nicht endlich was anderes an?«
Damit geht dieses Gespräch in eine Richtung, die ich ganz und gar nicht wünsche. Ich finde sofort den richtigen Knopf, um Kats Predigt schon im Ansatz abzuwürgen. »Kat, einen Sermon dieser Art kann ich jetzt nicht gebrauchen. Außerdem ist dafür Papa zuständig. Oder Mama. Oder Rouwen. Oder A-Mi. Jedenfalls gibt es schon vier Menschen – mindestens –, die sich in meinem Leben als Moralapostel aufspielen. Da will ich so etwas nicht auch noch von meiner geliebten Rebellenschwester hören. Klar?«
»Geht klar, Süße. Hör mal, Susa meint, wir könnten zusammen essen gehen. Wir beide müssen mal aus dem Stall raus.«
»Hmm …« Ich denke an mein überzogenes Konto und werfe der geplünderten Pralinenpackung einen wehmütigen Blick zu. Dann räuspere ich mich. »Also …«
»Du bist abgebrannt, hab ich recht? Was hast du dir denn gegönnt?«
Erst in dieser Sekunde kommt es wieder hoch. All meine Bemühungen, das wahre Desaster zu verdrängen, sind auf einen Schlag hinfällig. Ich drehe mich im Sessel um, in den ich mich gefläzt habe, und wische dabei mit dem Fuß die Wodkaflasche vom Couchtisch. Auf dem Bildschirm läuft gerade der Vorspann von ›Grey’s Anatomy‹. Der blaue Vorhang schwingt über einem Paar knallroter High Heels zu. Als ob ich dieses Hinweises noch bedürfte … Ich sauge den Anblick des Unglücks bereits mit meinen Augen auf. Da stehen sie, nein, der eine Schuh liegt. Man kann noch ganz klar die edle Form und die schmeichelnde Farbe erkennen, doch es lässt sich nichts beschönigen. Dieses Meisterwerk der Schuhkunst, von einem Gott entworfen, von begnadeten Engeln hergestellt – es ist ruiniert.
»O-o-oh-oh«, schluchze ich los und kann kein klares Wort formulieren. »Meine … meine … meine …«
»Schuhe! Stimmt’s? Was ist mit ihnen passiert?«
»Manolos!« Meine Stimme kippt.
Kat schnaubt. Im Radio labert jemand über das Leben und Werk von Mozart. Ich liebe Mozart, aber in dieser Sekunde könnte ich das vermaledeite Telefon, in dem ständig der Radiofunk zu hören ist, an die Wand schmeißen. Muss jetzt wirklich auch noch das Lacrimosa aus dem Requiem erklingen, um mein Leid zu steigern?
»Kat, echte Manolos!«
»Hast du Manolos gesagt?«, erklingt Susas Stimme. Susa hat mit mir studiert und mit mir geschmissen. Bei ihr war der Grund eine unsterbliche Liebe, für die sie einfach alles aufgegeben hätte. Alles, außer ihrem Schuhtick, der uns seit den ersten Studientagen zusammenschweißte. Susas Liebesgeschichte endete in Glückseligkeit. Sie liebt nämlich meine allerbeste Schwester Katharina Schober, genannt Rebellenkat. Kat liebt sie genauso sehr wieder. Nur in Sachen Schuhe erzielen sie lediglich einen Minimalkonsens. Aber viele Beziehungen, vor allem globaler Natur, beruhen auf einem Minimalkonsens. Frieden ist also möglich. Kat hat zähneknirschend akzeptiert, dass ihre Lebensgefährtin und ihre Schwester diese allzu weibliche Schwäche teilen. Wir beide lieben Manolo Blahniks – die Schuhe jenes spanischen Designers, den nicht zuletzt die amerikanische Serie ›Sex and the City‹ berühmt gemacht hat.
»Sagtest du wirklich Manolos?« Susas Stimme kippt genauso wie meine vor wenigen Augenblicken. »Welche Farbe? Wie hoch? Wie teuer?«
»Sonnenblumengelb.«
Susa seufzt wohlig.
»Zwölf Zentimeter.«
Sie stößt ein begeistertes Quieken aus.
»Reduziert auf 590 Euro.«
»Geil! Wann kann ich sie sehen?«
Ich heule auf. »Gar nicht mehr! Sie sind hinüber. Ich bin im Gitterschacht vorm Büro stecken geblieben, habe den ganzen Absatz zuerst aufgeschrappt und dann abgebrochen. Da ist nichts mehr zu retten!«
»Ach – du – Schande!« Susas Stimme zittert. Meine Hände zittern. Ich hebe die Wodkaflasche vom Teppichboden auf. Welch ein Glück, dass der eine meiner Zwillinge so pedantisch sein kann – er hat den Deckel fest zugedreht. Ich öffne sie und gieße mir ein. Dieses Mal muss es auch ohne Pflaumensaft gehen. Ich kippe den Schluck hinunter und atme zischend ein. Das Zittern lässt nicht nach, sondern breitet sich in meinem ganzen Körper aus. Wenigstens bin ich kein Alkoholix.
»Wir treffen uns. Morgen Abend. Bring die Schuhe mit. Ich kenne einen Schuhdoktor in Riegelsberg, der sie vielleicht retten kann. Und die Rechnung bezahlt die Versicherung des Bürohausbesitzers. Wie kann man so bescheuert sein, neben dem Eingang ein Lüftungsgitter einzubauen? Das wird wieder, Lu!«
»Gib mir noch mal den Hörer.« Das ist Kat. »Lu, hör mir mal zu. Du räumst jetzt die Flasche weg und gehst schlafen, verstanden?«
Ich nicke. Wie eine Marionette stehe ich mit dem Hörer am Ohr auf und trage die Flasche und das Glas zur Küchenzeile. »Gut. Dann sehen wir uns morgen. Ich bin müde, ich muss jetzt schlafen.« Ich lege auf.
Ich falle ins Bett, ohne mich ausgezogen oder meine Zähne geputzt zu haben.
Wie sagte ein weiser Mann?
Morgen ist wieder ein neuer Tag.