Sie lagen hinter Mauerschutt und Steinen aus dem Bombeneinschlag der Kirche. Die Meute ging gegen sie vor, Susanne dachte ›worauf laß ich mich ein? ich bin verrückt daß ich mich darauf einlasse, aber die haben mich gestern verrückt gemacht bei Alexander, und jetzt laß ich mich drauf ein‹. Jimmys-Boogie-Woogie. »Geld«, sagte Odysseus. Er brauchte Kapital. Er war im Krieg. Er war wieder im alten Krieg Weiß gegen Schwarz. Auch hier wurde der Krieg gef ührt. Er brauchte Geld zum Kriegführen. »Geld! Schnell!« Odysseus packte Josef. Josef dachte ›es ist wie am Chemin-des-Dames, der Schwarze ist nicht der Teufel, er ist der Reisende den ich getötet habe, er ist der Turko der Senegalese den ich getötet habe auf meinem Ausflug in Frankreichs Josef wehrte sich nicht. Er erstarrte nur. Vor seinen alten Augen verwandelte sich das Bild seiner Kinderlandschaft noch einmal in ein europäisches Schlachtfeld mit außereuropäischen Kämpfern, fremden Reisenden, die töten wollten oder getötet wurden. Josef hielt krampfhaft den Koffer fest. Der Koffer war sein Dienst. Für das Tragen des Koffers war er bezahlt worden. Er mußte ihn festhalten, Jimmys-Boogie-Woogie -
Sie standen sich gegenüber, Freunde? Feinde? Gatten? sie standen sich in Carlas Zimmer gegenüber, in der Hurenwohnung der Frau Welz, in einer Welt der Unzucht und Verzweiflung, und da sie in einer Welt der Unzucht und Verzweiflung lebten, schrien sie einander an, und Frau Welz verließ die Hexenküche, den Herd mit den brodelnden Dämpfen, schlich durch den Korridor und zischte durch die spaltbreit geöffneten Türen der Mädchenzimmer, wo sie sich bereit machten, nackend, in Höschen, in schmierigen Schlafmänteln, bei der Toilette aufgeschreckt, beim Anlegen der Schönheit für den Abend, nicht fertig geformte, erst halb gepuderte Gesichter, sie vernahmen das Wirtinnengezisch, den geilen Jubel in der Stimme, daß Böses geschah: »jetzt prügelt er sie, der Nigger, jetzt schlägt er sie. Jetzt zeigt er's ihr. Ich hab mich schon lange gewundert, daß er's ihr nicht zeigt.« Washington schlug sie nicht. Gegen seine Brust schlugen Teller und Tassen, zu seinen Füßen lagen die Scherben: die Scherben seines Glücks? Er dachte ›ich kann gehen, wenn ich meine Mütze nehme und gehe wird das alles hinter mir liegen, vielleicht werde ich es vergessen, es wird garnicht gewesen sein‹. Carla schrie, ihr Gesicht war tränen verschwollen: »Du hast mir den Doktor vermiest. Du falscher Kerl! Du bist bei Frahm gewesen. Meinst, ich will deinen Bankert haben? Meinst, ich will ihn haben? Mit Fingern würden sie auf mich weisen. Ich pfeif auf dein Amerika. Auf dein dreckiges schwarzes Amerika. Ich bleib hier. Ich bleib hier ohne deinen Bankert, und wenn ich bei drauf gehe, ich bleib!« Was hielt ihn zurück? Warum nahm er nicht seine Mütze? Warum ging er nicht? Vielleicht war es Trotz. Vielleicht war es Verblendung. Vielleicht war es Überzeugung, vielleicht Glaube an den Menschen. Washington hörte, was Carla schrie, aber er glaubte ihr nicht. Er wollte das Band, das nun zu reißen drohte, das Band zwischen Weiß und Schwarz, nicht lösen, er wollte es fester knüpfen durch ein Kind, er wollte ein Beispiel geben, er glaubte an die Möglichkeit dieses Beispiels, und vielleicht forderte auch sein Glaube Märtyrer. Für einen Augenblick dachte er wirklich daran, Carla zu schlagen. Es ist immer die Verzweiflung, die prügeln will, aber sein Glaube überwand die Verzweiflung. Washington nahm Carla in seine Arme. Er hielt sie fest in seinen kräftigen Armen. Carla zappelte in seinen Armen wie ein Fisch in der Hand des Fischers. Washington sagte: »Wir lieben uns doch, warum sollen wir's nicht durchstehen? Warum sollen wir's nicht schaffen? Wir müssen uns nur immer lieben. Wenn alle andern uns beschimpfen: wir müssen uns liebhaben. Noch als ganz alte Leute müssen wir uns lieben.«
Odysseus schlug mit dem Stein, oder ein Stein, den die Meute geworfen hatte, schlug gegen Josefs Stirn. Odysseus riß das Geld, den Schein, den er Josef gegeben hatte, König Odysseus, aus dem Notizbuch des Dienstmannes, aus dem abgegriffenen Heft, in das Josef seine Botengänge und seine Einnahmen eingetragen hatte. Odysseus rannte. Er rannte um die Kirche herum. Die Meute rückte nach. Sie sahen Josef am Boden liegen und sahen das Blut auf seiner Stirn. »Der Nigger hat den alten Josef totgeschlagen!« Da wimmelte der Platz voll Gestalten, die aus Kellern, Verschlagen und Gemäuer kamen, jeder im Viertel hatte ihn gekannt, den alten Josef, den kleinen Josef, er hatte hier gespielt, er hatte hier gearbeitet, er war in den Krieg gezogen, er hatte wieder gearbeitet, und jetzt war er ermordet worden: er war um seinen Lohn ermordet worden. Sie umstanden ihn: eine graue Wand armer und alter Leute. Im Musikkasten neben Josef erklang ein Negro-Spiritual. Marion Anderson sang, eine schöne, volle und weiche Stimme, eine Vox humana, eine Vox angelica, Stimme eines dunklen Engels; es war, als ob die Stimme den Erschlagenen versöhnen wolle. ›Ich muß weg‹, dachte Susanne, ›ich muß schleunigst hier weg, ich muß weg bevor die Polente kommt, die MP wird kommen, und die Funkstreife wird kommen.‹ Sie drückte ihre rechte Hand gegen die Bluse, wo sie das Geld fühlte, das sie Odysseus aus der Tasche gezogen hatte. Warum hab ich's nur getan‹, dachte sie, ›ich hab doch nie so etwas getan, die haben mich schlecht gemacht, die Schweine bei Alexander haben mich schlecht gemacht, ich wollte mich rächen, ich wollte mich an den Schweinen rächen, aber man rächt sich immer nur an den Falschen.‹ Susanne schritt durch die graue Wand der Alten und Armen, die sich vor ihr öffnete. Die Alten und Armen ließen Susanne passieren. Sie gaben Susanne die Mitschuld an den Ereignissen, eine Frau war immer bei einem Unglück dabei, aber sie waren keine Psychologen und keine Kriminalisten, sie dachten nicht ›cherchez la femme‹, sie dachten ›auch sie ist arm, auch sie wird alt werden, sie gehört zu uns‹. Erst als die Wand sich hinter Susanne wieder geschlossen hatte, schrie ein Bengel »Ami-Hur!« Ein paar Frauen schlugen das Kreuz. Ein Priester kam und beugte sich über Josef. Der Priester legte sein Ohr auf Josefs Brust. Der Priester war grauhaarig, und sein Gesicht war müde. Er sagte: »Er atmet noch.« Aus dem Spital kamen vier dienende Brüder mit einer Bahre. Die dienenden Brüder sahen arm und wie gescheiterte Verschwörer in einem klassischen Drama aus. Sie legten Josef auf die Bahre. Sie trugen die Bahre in das Heiliggeistspital hinüber. Der Priester folgte der Bahre. Hinter dem Priester ging Emmi. Sie zog Hillegonda hinter sich her. Man ließ Emmi und Hillegonda in das Spital gehen. Man dachte wohl, daß sie zu Josef gehörten, und dann vernahm man die Sirenen, die Sirenen der Funkstreife und der Militärpolizei. Von allen Seiten näherten sich die Sirenen dem Platz.
Es war der Moment, die Stunde am Abend, da die Radfahrer durch die Straßen sausen und den Tod verachten. Es war die Zeit der niederfallenden Dämmerung, die Zeit des Schichtwechsels, des Ladenschlusses, die Stunde der Heimkehr der Werktätigen, die Stunde des Ausschwärmens der Nachtarbeiter. Die Polizeisirenen kreischten. Die Überfallwagen drängten sich durch den Verkehr. Die blauen Lampen verliehen ihrem Rasen einen geisterhaften Schein: Gefahr verkündende Sankt-Elmsfeuer der Stadt. Philipp liebte die Stunde. In Paris war es die heure bleue, die Stunde des Träumens, eine Spanne relativer Freiheit, der Augenblick des Freiseins von Tag und Nacht. Die Menschen waren freigelassen von ihren Werkstätten und Geschäften, und sie waren noch nicht eingefangen von den Ansprüchen der Gewohnheit und dem Zwang der Familie. Die Welt hing in der Schwebe. Alles schien möglich zu sein. Für eine Weile schien alles möglich zu sein. Aber vielleicht war dies eine Einbildung von Philipp, dem Außenstehenden, der von keiner Arbeit zu keiner Familie heimkehrte. Der Einbildung würde die Enttäuschung auf dem Fuße folgen. Philipp war an Enttäuschungen gewöhnt; er fürchtete sie nicht. Der Abendschein verklärte. Der Himmel brannte in südlichen Farben. Er war ein Ätna-Himmel, ein Himmel wie über dem alten Theater in Taormina, ein Feuer wie über den Tempeln in Agrigent. Die Antike hatte sich erhoben und lächelte einen Gruß über die Stadt. Die Konturen der Gebäude standen wie ein scharfer Stich vor diesem Himmel, und die Sandsteinfassade der Jesuitenkirche, an der Philipp vorüberging, war von tänzerischer Anmut, sie war ein Teil des alten Italiens, sie war human, klug und von karnevalistischer Ausgelassenheit. Wohin aber hatten Humanität und Klugheit und schließlich noch Ausgelassenheit geführt? Das Abendecho rief das Unheil des Tages aus RENTNER WÄHLTE DEN TOD, SOWJETS BEISSEN AUF GRANIT, WIEDER EIN DIPLOMAT VERSCHWUNDEN, DEUTSCHE WEHRVERFASSUNG KOMMT, EXPLOSION LIESS HÖLLE SEHEN. Wie ernst und wie dumm das war! Ein Diplomat war übergelaufen, er war zum Feind seiner Regierung übergelaufen, VERRAT AUS IDEALISMUS. Die offizielle Welt bemühte sich noch immer, in hohlen Phrasen zu denken, in längst jedes Begriffes baren Schlagworten. Sie sahen feste, unverrückbare Fronten, abgesteckte Erdstücke, Grenzen, Territorien, Souveränitäten, sie hielten den Menschen für ein Mitglied einer Fußballmannschaft, der sein Leben lang für den Verein spielen sollte, dem er durch Geburt beigetreten war. Sie irrten: die Front war nicht hier und nicht dort und nicht nur bei jenem Grenzpfahl. Die Front war allüberall, ob sichtbar oder unsichtbar, und ständig wechselte das Leben seinen Standort zu den Milliarden Punkten der Front. Die Front ging quer durch die Länder, sie trennte die Familien, sie lief durch den Einzelnen: zwei Seelen, ja, zwei Seelen wohnten in jeder Brust, und mal schlug das Herz mit der einen und mal mit der anderen Seele. Philipp war nicht wetterwendischer als andere; im Gegenteil, er war ein Sonderling. Aber selbst er hätte mit jedem Schritt und mehr als tausendmal am Tag seine Meinung zu den Verhältnissen in der Welt ändern können. ›Überschaue ich es denn‹, dachte er, ›kenne ich die Rechnung der Politik? die Geheimnisse der Diplomaten? ich freue mich, wenn einer zum andern flieht und die Karten etwas durcheinander bringt, die Macher werden dann das Gefühl haben, das wir haben, das Gefühl der Hilflosigkeit, kann ich die Wissenschaft noch verstehen? kenne ich die letzte Formel des Weltbildes, kann ich sie lesen?‹ Alle, die da auf der Straße gingen, radelten, fuhren, Pläne machten, Sorgen hatten oder den Abend genossen, alle wurden sie ständig belogen und betrogen, und die Auguren, die sie belügen und betrügen, waren nicht weniger blind als die einfachen Leute. Philipp lachte über die Dummheit der politischen Propaganda. Er lachte über sie, obwohl er wußte, daß sie ihn das Leben kosten konnte. Aber die andern auf der Straße? Lachten sie auch? War ihnen das Lachen vergangen? Hatten sie im Gegensatz zu Philipp keine Zeit zu lachen? Sie erkannten nicht, wie schlecht das Futter war, das man ihnen vorwarf, und wie billig man sie kaufen wollte. ›Ich bin leidlich immun gegen Verführungen‹, überlegte Philipp, ›und doch, ich höre einmal hier ein Wort, das mir gefällt, und manchmal von der anderen Seite einen Ruf, der noch besser klingt, ich spiele immer die lächerlichen Rollen, ich bin der alte Tolerante, ich bin für das Anhören jeder Meinung, wenn man schon auf Meinungen hören will, aber die ernsten Leute regen sich nun auf beiden Seiten auf und brüllen mich an, daß meine Toleranz gerade die Intoleranz fördere, es sind feindliche Brüder, beide intolerant bis auf die Knochen, beide einander gram und nur darin sich einig, daß sie meinen schwachen Versuch, unbefangen zu bleiben, begeifern, und jeder von ihnen haßt mich, weil ich nicht zu ihm gehen und gegen den andern bellen will, ich will in keiner Mannschaft spielen, auch nicht im Hemisphärenfußball, ich will für mich bleiben.‹ Es gab noch Hoffnung in der Welt: VORSICHTIGE FÜHLER, KEIN KRIEG VOR DEM HERBST -
Die Lehrerinnen aus Massachusetts gingen in Zweierreihen wie eine Schulklasse durch die Stadt. Die Klasse war auf dem Wege in das Amerikahaus. Sie genoß artig den Abend. Die Lehrerinnen wollten den Vortrag von Edwin hören und vorher noch etwas vom Leben der Stadt sehen. Sie sahen nicht viel. Sie sahen so wenig vom Leben dieser Stadt, als die Stadt vom Leben der Lehrerinnen sah. Nichts. Miss Wescott hatte die Führung übernommen. Sie schritt der Klasse voran. Sie führte die Kolleginnen nach dem Stadtplan des Reisehandbuchs. Sie führte sie sicher und ohne Umwege. Miss Wescott war verstimmt. Kay war verschwunden. Sie hatte sich am Nachmittag aus dem Hotel entfernt, um sich die Auslagen der Läden anzusehen. Sie war zur verabredeten Stunde nicht zurückgekehrt. Miss Wescott machte sich Vorwürfe. Sie hätte Kay hindern müssen, allein in die fremde Stadt zu gehen. Kannte man die Leute? Waren es nicht Feinde? Konnte man ihnen trauen? Miss Wescott hatte eine Nachricht im Hotel zurückgelassen, daß Kay sich sofort ein Taxi nehmen und ins Amerikahaus fahren solle. Miss Wescott verstand Miss Burnett nicht. Miss Burnett sagte, Kay würde jemand kennengelernt haben. War das Kay zuzutrauen? Sie war jung und unerfahren. Es konnte nicht sein. Miss Burnett sagte: »Sie wird jemand kennengelernt haben, der sie besser unterhält, als wir es können.« -»Und da bleiben Sie so ruhig?« - »Ich bin nicht eifersüchtig. « Miss Wescott kniff die Lippen zusammen. Diese Burnett war unmoralisch. Und Kay war einfach ungezogen. Sonst war es nichts. Kay hatte sich verlaufen oder die Zeit vertrödelt. Die Lehrerinnen gingen über den großen Platz, eine von Hitler entworfene Anlage, die als Ehrenhain des Nationalsozialismus geplant war. Miss Wescott machte auf die Bedeutung des Platzes aufmerksam. Im Gras hockten Vögel. Miss Burnett dachte ›wir verstehen nicht mehr als die Vögel von dem was die Wescott quatscht, die Vögel sind zufällig hier, wir sind zufällig hier, und vielleicht waren auch die Nazis nur zufällig hier, Hitler war ein Zufall, seine Politik war ein grausamer und dummer Zufall, vielleicht ist die Welt ein grausamer und dummer Zufall Gottes, keiner weiß warum wir hier sind, die Vögel werden wieder auffliegen und wir werden weitergehen, hoffentlich läßt unsere Kay sich auf keine Dummheit ein, es wäre dumm wenn sie sich auf eine Dummheit einließe, der Wescott kann ich das nicht sagen die würde verrückt werden, aber Kay lockt die Verführer an, sie kann nichts dafür, sie lockt sie an wie die Vögel den Jäger oder den Hund‹. »Was ist mit Ihnen?« fragte Miss Wescott Miss Burnett. Miss Wescott war befremdet; Miss Burnett hörte ihr nicht zu. Miss Wescott fand, daß die Burnett das Gesicht eines ausgehungerten Jagdhundes hatte. »Ich schau mir nur die Vögel an«, sagte Miss Burnett. »Seit wann interessieren Sie sich für Vögel?« fragte Miss Wescott. »Ich interessiere mich für uns«, sagte Miss Burnett. »Das sind Spatzen«, sagte Miss Wescott, »gewöhnliche Spatzen. Achten Sie lieber auf die Weltgeschichte.« - »Das ist dasselbe«, sagte Miss Burnett, »es spielt sich alles unter Spatzen ab. Auch Sie sind nur ein Spatz, liebe Wescott, und unser Spätzchen, die Kay, fällt grade aus dem Nest.« - »Ich verstehe Sie nicht«, sagte Miss Wescott spitz, »ich bin kein Vogel.«
Philipp ging in den Saal des alten Schlosses, in dem der Staat einen Weinausschank eingerichtet hatte, um den Absatz des heimatlichen Weinbaus zu fördern. Der Saal war um diese Zeit sehr besucht. Die Beamten der zahllosen Ministerien und Staatskanzleien tankten hier ein wenig Fröhlichkeit, bevor sie nach Hause gingen, nach Hause zu ihren Frauen, zu ihren herzlosen Kindern, zu dem lieblos aufgewärmten Essen. Es war eine Männerwelt. Es waren wenig Frauen da. Nur zwei Redakteurinnen waren da. Aber das waren keine richtigen Frauen. Sie gehörten zum Abendecho. Sie löschten im Wein den Brand ihrer Schlagzeilen. Philipp dachte, daß er heimgehen, daß er zu Emilia gehen müsse. Aber er wollte doch auch zu Edwin gehen, obwohl die Begegnung mit Edwin so peinlich verlaufen war. ›Wenn ich jetzt nicht zu Emilia gehe, kann ich heute überhaupt nicht mehr nach Hause gehen‹ dachte Philipp. Er wußte, daß Emilia sich betrinken würde, wenn sie ihn am Abend nicht zu Hause fände. Er dachte ›ich würde mich in unserer Wohnung allein mit all den Tieren auch betrinken, ich würde mich betrinken wenn ich mich überhaupt betrinken würde, ich betrinke mich schon lange nicht mehr‹. Der Wein, den es im alten Schloß gab, war gut. Aber Philipp mochte auch keinen Wein mehr. Er war sehr begabt, sich zu freuen, aber er hatte die Lust an fast allen Freuden verloren. Er war fest entschlossen, zu Emilia zu gehen. Emilia war wie Doktor Jekyll und Mister Hyde in der Geschichte von Stevenson. Philipp liebte Doktor Jekyll, eine reizende und gutherzige Emilia, aber er haßte und fürchtete den widerlichen Mister Hyde, eine Emilia des späten Abends und der Nacht, die ein wüster Trunkenbold und eine geifernde Xanthippe war. Wenn Philipp jetzt nach Hause ginge, würde er noch den lieben Doktor Jekyll treffen, besuchte er aber Edwins Vortrag, würde der entsetzliche Mister Hyde auf ihn warten. Philipp überlegte, ob er sein Leben mit Emilia nicht anders führen, ob er es nicht ganz anders gestalten könnte. ›Es ist meine Schuld, wenn sie unglücklich ist, warum verschaffe ich ihr kein Glück?‹ Er dachte daran, aus dem Haus in der Fuchsstraße auszuziehen, aus der verfallenen Villa, die Emilia so bedrückte. Er dachte ›wir könnten in eins ihrer unverkäuflichen Landhäuser ziehen, die Häuser sind mit Mietern besetzt, die Mieter gehen nicht raus, schön, dann bauen wir uns eben eine Hütte im Garten, andere haben es auch getan. Er wußte, daß er nichts bauen würde, keine Hütte, kein Haus im Freien. Emilia würde aus der Fuchsstraße nicht ausziehen. Sie brauchte die Luft des Familienzwistes, den Anblick des immer nahen Geldverhängnisses. Und auch Philipp würde nie aufs Land ziehen. Er brauchte die Stadt, auch wenn er in der Stadt arm war. Er las manchmal Gartenbücher und bildete sich ein, im Züchten von Pflanzen Frieden zu finden. Er wußte, daß es eine Einbildung war. Er dachte ›auf dem Lande, in der selbstgebauten Hütte, wenn wir sie bauten, würden wir uns zerfleischen, in der Stadt lieben wir uns noch, wir tun nur so als ob wir uns nicht liebten‹. Er zahlte den Wein. Leider hatte er am Tisch der Abendecho-Damen den Redakteur des Neuen Blattes übersehen. Der Redakteur machte Philipp Vorwürfe wegen des unterlassenen Interviews. Er erwartete, daß Philipp nun wenigstens zu Edwins Vortrag gehen und über ihn für das Neue Blatt berichten würde. »Gehen Sie doch«, sagte Philipp. »Nee, wissen Se«, antwortete der Redakteur, »für den Schmonzes hab ich Sie. Da müssen Sie mir schon den Gefallen tun.« - »Zahlen Sie mir ein Taxi?« fragte Philipp. »Schreiben Sie's auf die Spesen«, sagte der Redakteur. -»Gleich«, sagte Philipp. Der Redakteur holte einen Zehnmarkschein aus seiner Tasche und reichte ihn Philipp. »Wir verrechnen es nachher«, sagte er. ›So weit ist es mit mir gekommen‹ dachte Philipp, ›ich verkaufe mich und Edwin.‹
Von der Schlägerei am Heiliggeistplatz erschreckt, von den Polizeisirenen verwirrt und begleitet, eilte Messalina in die stille Bar des Hotels. Messalina war so mit Spannung geladen, daß sie meinte, in der Stille zerplatzen zu müssen. ›Ist denn niemand hier?‹ dachte sie. Alleinsein war schrecklich. Messalina war aus dem Dirnenlokal zurück in die Bezirke der ihrer Meinung nach guten Gesellschaft geflohen, der guten Gesellschaft, an deren Rande sie gern räuberte. Messalina trennte sich nie ganz von der Gemeinschaft der gesitteten Klasse. Sie gab nichts auf. Sie wollte etwas dazu haben. Die Gemeinschaft der gesitteten Klasse war ein Halt; von dort aus konnte sie sich mit der ungesitteten verbrüdern, eine vorübergehende Sinnenverbrüderung mit der Schicht treffen, die sie für das Proletariat hielt. Die Ahnungslose! Sie hätte nur Philipp zu fragen brauchen. Philipp hätte beredte Klage darüber geführt, wie puritanisch gesonnen das Proletariat war. Philipp war kein besonders ausschweifender Mensch. Messalina hielt ihn für einen Mönch. Aber das war was anderes. Philipp klagte oft: »Ein puritanisches Jahrhundert zieht herauf!« Er berief sich dabei in etwas unklarer Weise auf Flaubert, der das Aussterben des Freudenmädchens bedauerte. Das Freudenmädchen war gestorben. Philipp hielt den Puritanismus der Arbeiterschaft für ein Unglück. Philipp wäre sehr für die Aufhebung des Eigentums, aber er wäre entschieden gegen eine Einengung der Freude gewesen. Übrigens machte er einen Unterschied zwischen Freuden- und Trauermädchen; zu den Trauermädchen zählte Philipp die gesamte landläufige Prostitution. ›Was für hemmungslose Menschen‹, dachte Messalina, ›sie prügelten sich.‹ In Messalinas Haus wurde nur in ästhetisch schicklicher Weise nach gemessenem Ritus geschlagen. Messalina sah sich um. Die Bar schien wirklich leer zu sein. Doch nein, in der hintersten Ecke saßen zwei Mädchen: Emilia und die kleine Amerikanerin mit den grünen Augen. Messalina stellte sich auf Zehenspitzen. Das große Denkmal, das sie war, schwankte gefährlich. Sie wollte die Kleinen beschleichen. Die Mädchen tranken, lachten, sie umarmten und küßten sich. Was ging da vor? Was für einen komischen Hut hatte Emilia auf? Sie hatte nie einen Hut getragen. Wie die meisten unsicheren Menschen glaubte Messalina gern, daß andre sich gegen sie verschworen, daß sie Geheimnisse hatten, von denen Messalina ausgeschlossen blieb. Die kleine grünäugige Amerikanerin war beunruhigend. Mit Philipp hatte die Grünaugige gesprochen, und nun wurde sie in Umarmungen und Küssen, es waren kleine Mädchenpensionatsküsse, mit Emilia überrascht. Wer war die kleine Reizende? Wo hatten Philipp und Emilia sie aufgetrieben? Vielleicht kommen sie doch auf meine Party, dann werden wir weiter sehen‹ dachte Messalina. Aber da sah sie Edwin, und sie stellte sich wieder auf die Füße. Vielleicht konnte sie Edwin gewinnen. Edwin war der größere, wenn auch weniger wohl schmeckende Fisch. Edwin kam mit schnellen Schritten in die Bar und eilte zur Theke. Er flüsterte mit dem Mixer, Der Mixer goß Edwin den Cognac in ein großes Rotweinglas. Edwin trank das Glas aus. Er hatte Lampenfieber, Vortragsfieber. Er bekämpfte die Erregung mit Cognac. Vor dem Hotel wartete schon der Wagen des Konsulats. Edwin war ein Gefangener seiner Zusage. Ein entsetzlicher Abend! Warum hatte er sich nur drauf eingelassen? Eitelkeit! Eitelkeit! Eitelkeit der Weisen. Warum war er nicht in seiner Klause geblieben, der behaglichen mit Büchern und Antiquitäten vollgestopften Wohnung? Neid auf den Ruhm der Schauspieler, Neid auf den Beifall, mit dem man den Protagonisten überschüttete, hatte ihn hinausgetrieben. Edwin verachtete die Schauspieler, die Protagonisten und die Menge, von der sie lebten und mit der sie lebten. Aber ach, es war eine Verführung, der Beifall, die Menge, die Jugend, die Jünger, sie waren Lockung und Verführung, wenn man so lange wie Edwin am Schreibtisch gesessen und sich einsam um Erkenntnis und Schönheit, aber auch um Anerkenntnis gemüht hatte. Da war die gräßliche Gesellschaftsjournalistin, das Treppenweib wieder, dieser Geschlechtskoloß, sie starrte ihn an, er mußte fliehen. Und Kay rief zu Emilia: »Da ist Edwin! Siehst du ihn nicht? Komm mit! Ich muß zu seinem Vortrag. Wo ist der Zettel von der Wescott? Komm doch mit! Bald hart ich's vergessen!« Emilia blickte Kay auf einmal böse an: »Geh mir mit deinem Edwin! Ich verabscheue die Literaten, diese Schießbudenfiguren! Ich rühr mich nicht!« - »Aber er ist ein Dichter«, rief Kay, »wie kannst du so was sagen!« -»Philipp ist auch ein Dichter«, sagte Emilia. »Wer ist das, Philipp?« fragte Kay. »Mein Mann«, sagte Emilia. ›Sie ist verrückt‹, dachte Kay, ›was will sie? sie ist verrückt, sie ist doch gar nicht verheiratet, sie kann doch nicht erwarten, daß ich hier sitzen bleibe, ich bin schon ganz betrunken, ich habe genug verrückte Weiber in meiner Reisegesellschaft, aber sie ist entzückend, diese kleine verrückte Deutschem Sie rief: »Wir sehen uns noch!« Sie warf Emilia eine Kußhand zu, eine letzte flüchtige Geste. Sie wirbelte zu Edwin. Sie hatte Whisky getrunken; jetzt würde sie Edwin ansprechen; sie würde ihn um das Autogramm bitten; sie hatte Edwins Buch nicht mehr in der Hand, wo war es nur? wo lag es wohl? aber Edwin konnte das Autogramm auf den Block des Mixers schreiben. Doch Edwin eilte schon fort. Kay rannte ihm nach. Emilia dachte ›es geschieht mir recht, jetzt kommt auch noch Messalina‹. Messalina schaute empört hinter Edwin und Kay drein. Was war das schon wieder? Warum stürmten die fort? Hatten sie sich gegen Messalina verschworen? Emilia würde es ihr erklären müssen. Aber Emilia war auch verschwunden, sie war durch eine Tapetentür verschwunden. Auf dem Tisch lag neben den leeren Gläsern nur der komische Hut, den Emilia aufgehabt hatte. Er lag da wie eine erlittene Enttäuschung. ›Es ist Hexerei‹, dachte Messalina, ›es ist die reine Hexerei, ich bin ganz allein auf der Welt.‹ Sie wankte, eine für den Augenblick Gebrochene, zur Theke. »Einen Dreifachen«, rief sie. »Was soll's denn sein, gnädige Frau«, fragte der Mixer. »Ach irgendwas. Ich bin müde.« Sie war wirklich müde. So müde war sie lange nicht gewesen. Sie war auf einmal furchtbar müde. Aber sie durfte nicht müde sein. Sie mußte ja noch zum Vortrag, sie mußte ja noch so viel für die Party organisieren. Sie griff nach dem hohen Glas, über das wasserhell der Schnaps schwippte. Sie gähnte.
Der Tag war müde. Das Abendlicht des Himmels, die untergehende Sonne schien direkt in die horizontblaue Limousine hinein, und für einen Augenblick blendete das Licht Carla und Washington. Das Licht blendete, aber es reinigte und verklärte auch. Carla und Washington hatten erleuchtete Gesichter. Erst nach einer Weile stellte Washington den Blendschutz ein. Sie fuhren langsam am Ufer des Flusses entlang. Gestern hätte Carla noch geträumt, sie würden auf dem Riverside Drive in New York oder am Golden Gate in Kalifornien so spazieren fahren, jetzt hatte ihr Herz sich beruhigt. Sie fuhr keiner Magazin-Traum-Wohnung entgegen mit Liegestühlen, Fernsehapparatur und mechanischer Küche. Es war ein Traum gewesen. Ein Traum, der Carla gequält, weil sie in ihrem innersten Herzen immer gefürchtet hatte, das Traumland nicht zu erreichen. Die Last dieser Sehnsucht war nun von ihr genommen. In ihrem Zimmer hatte sie sich wie erschlagen gefühlt. Als Washington sie zum Auto führte, war sie nicht mehr als ein Sack an seinem Arm gewesen, ein schwerer Sack mit irgendeiner toten Füllung. Jetzt war sie befreit. Sie war nicht von dem Kind befreit, aber von dem Traum an die faule Glückseligkeit des Daseins, an den Schicksalsbetrug durch einen Knopf, an dem man drehen konnte. Sie glaubte wieder. Sie glaubte Washington. Sie fuhren am Fluß entlang, und Carla glaubte an die Seine. Die Seine war nicht so weit wie der Mississippi, sie war nicht so fern wie der Colorado. An der Seine würden sie beide zu Hause sein. Sie würden beide Franzosen werden, wenn es sein mußte, sie, eine Deutsche, würde Französin werden, und Washington, ein schwarzer Amerikaner, würde Franzose werden. Die Franzosen freuten sich, wenn einer bei ihnen leben wollte. Carla und Washington würden das Lokal errichten, Washington's Inn, die Wirtschaft, in der niemand unerwünscht ist. Ein Wagen überholte sie. Christopher und Ezra saßen in dem Wagen. Christopher freute sich. Er hatte in einem Antiquitätengeschäft eine Tasse der Berliner Porzellanmanufaktur gekauft, eine Tasse mit dem Bild eines großen preußischen Königs. Er würde die Tasse mit an die Seine nehmen. Er würde sie im Hotel an der Seine Henriette schenken. Henriette würde sich über die Tasse mit dem Bild des preußischen Königs freuen. Henriette war eine Preußin, wenn sie jetzt auch eine Amerikanerin war. ›All diese Nationalitäten sind Unsinns dachte Christopher, ›wir sollten Schluß damit machen, natürlich ist jeder auf seinen Heimatort stolz, ich bin stolz auf Needles am Colorado, aber deshalb schlag ich doch noch keinen tot.‹ - ›Wenn's nicht anders geht, schlag ich ihn tot‹, dachte Ezra, ›ich nehm einen Stein und schlag ihn tot und dann schnell in das Auto hinein, der Hund muß vorher schon in das Auto hinein, die Dollar kriegt er nicht der Kraut, wenn Christopher bloß schnell und genügend Gas gibt.‹ Ezras kleine Stirn war schon seit Stunden in besorgte Falten gelegt. Christopher hatte Ezra die zehn Dollar gegeben. »Nun wirst du also nicht verlorengehen«, hatte er gescherzt, »oder wenn du verlorengehst, wirst du mit Hilfe der zehn Dollar wieder zu mir finden.« - »ja, ja«, hatte Ezra gesagt. Die Sache schien ihn nicht mehr zu interessieren. Er hatte die zehn Dollar gleichgültig eingesteckt. »Kommen wir rechtzeitig ins Bräuhaus?« fragte Ezra. »Was willst du nur im Bräuhaus?« erkundigte sich Christopher. »Andauernd fragst du, ob wir rechtzeitig hinkommen.« - »Nur so«, sagte Ezra. Er durfte nichts verraten. Christopher würde dagegen sein. »Aber wenn wir die Brücke erreicht haben, kehren wir um«, bohrte Ezra. »Natürlich kehren wir dann um. Warum sollten wir nicht umkehren?« Christopher wollte noch schnell die Brücke sehen, von der es im Reisehandbuch hieß, daß sie einen romantischen Blick über das Flußtal biete. Christopher fand Deutschland schön.
Behude konnte in drei Stehausschänke gehen. Von draußen sahen sie alle gleich aus. Es waren die gleichen Behelfsbauten, sie hatten die gleichen Flaschen im Fenster, die gleichen Preise auf der Tafel stehen. Der eine Ausschank gehörte einem Italiener, der andere einem alten Nazi und der dritte einer alten Dirne. Behude wählte den Ausschank des alten Nazis. Emilia trank manchmal beim alten Nazi ein Glas. Es war Masochismus von ihr. Behude lehnte sein Fahrrad an die bröckelnde aus Preßmüll gefertigte Mauer des Ausschanks. Der alte Nazi hatte schlaffe Wangen, und eine dunkle Brille verdeckte seine Augen. Emilia war nicht da. ›Ich hätte doch zur alten Dirne gehen sollen‹ dachte Behude, aber nun war er schon beim alten Nazi. Behude verlangte einen Wodka. Er dachte ›wenn er keinen Wodka hat, kann ich wieder gehen ‹. Der alte Nazi hatte Wodka, eigentlich bin ich der Typ für Mineralwasser‹ dachte Behude, ›Sportsmann, hätte nicht Psychiater werden sollen, ruiniert einen.‹ Er trank den Wodka und schüttelte sich. Behude mochte keinen Alkohol. Aber zuweilen trank er ihn aus Trotz. Er trank nach der Sprechstunde. Er dachte ›und-der-Beutel-schlapp-und-leer‹. Es war ein Studentenlied. Behude hatte es nicht gesungen. Er hatte überhaupt keine Studenten] Jeder gesungen. Aber der Beutel war schlapp und leer. Er selber war schlapp, leer, er, Doktor Behude, nach jeder Sprechstunde war er schlapp und leer. Und der Beutel war es auch. Zwei Patienten hatten Behude wieder angepumpt. Behude konnte sie nicht abweisen. Er behandelte ja die Leute wegen Lebensuntüchtigkeit. ›Dieser Nazi ist auch schlapp und leer‹ dachte er. Er bestellte noch einen Wodka. »Nun wird's bald wieder losgehen«, sagte der Nazi. »Was denn?« fragte Behude. »Nun, Tschindradada«, sagte der Nazi. Er tat, als ob er eine Pauke schlüge. ›Sie haben wieder Oberwassers dachte Behude, ›was auch geschehen mag, es treibt sie nach oben.‹ Er trank den zweiten Wodka und schüttelte sich wieder. Er zahlte. Er dachte ›wäre ich nur zur alten Dirne gegangen‹ aber sein Geld reichte nicht mehr zur alten Dirne.
Emilia stand im Stehausschank der alten Dirne. Sie hatte nach Hause gehen wollen. Sie hatte nicht betrunken nach Hause kommen wollen, weil Philipp dann schimpfte oder manchmal auch weinte. Philipp war in letzter Zeit hysterisch. Es war verrückt von ihm, Emilias wegen besorgt zu sein. »Ich vertrage schon einen Stiefel«, sagte Emilia. Sie kannte die Zweiteilung Doktor Jekyll und Mister Hyde, die Philipp mit ihr vornahm. Sie wäre gern als Doktor Jekyll zu ihm gekommen, als der liebe gute Doktor. Sie hätte Philipp dann gesagt, daß noch etwas von dem Geld des Leihamtes, etwas von dem Geld der Königstasse, etwas von dem Geld des Gebetsteppichs übriggeblieben sei. Man würde die Lichtrechnung wieder mal zahlen können. Sie hätte Philipp dann von dem Schmuck erzählt, den sie verschenkt hatte. Philipp hätte das verstanden. Er hätte auch verstanden, warum sie sich, als sie der grünäugigen Amerikanerin den Schmuck umhängte, so frei gefühlt hatte. Aber im ganzen war es doch ärgerlich gewesen. Philipp würde es ihr gleich sagen »du hättest weglaufen müssen. Du hättest ihr den Schmuck umhängen und dann weglaufen müssen.« Philipp war ein Psychologe. Das war wunderbar, und das war ärgerlich. Man konnte Philipp nichts verbergen. Es war besser, man erzählte ihm alles. ›War um bin ich nicht weggelaufen? weil ihr Mund so gut schmeckte, weil er so frisch und frei nach Prärie schmeckte, mach ich mir was aus Mädchen? nein ich mach mir gar nichts aus Mädchen, aber vielleicht hätt ich so ein bißchen mit ihr geflirtet wie mit einem hübschen Schwesterlein, Streicheln, Küsse und komm-doch-noch-gut-Nacht-sagen, sie hatte auch Lust dazu, der blöde Edwin, jede menschliche Beziehung ist blöd, war ich gleich davongelaufen hätte ich mich heute wohlgefühlt, ich hätte nie mit dieser Amerikanerin sprechen dürfen, ich hasse sie jetzt!‹ Aber der Kummer hatte Emilia diesmal nicht zur alten Dirne getrieben. Emilia hätte der Lust, bei der alten Dirne einzukehren, widerstanden. Aber sie war verführt worden. Sie hatte kurz hinter dem Hotel den herrenlosen Hund mit dem n achschleppenden Bindfaden getroffen. »Du Armer«, hatte sie gerufen, »du kannst überfahren werden.« Sie hatte den Hund an sich gelockt. Der Hund witterte Emilias andere Tiere, und sofort zeigte er, daß er hier auf Stellungssuche ging; Emilia war für ihn ein guter Mensch, und seine Nase trog ihn nicht. Emilia sah, daß der Hund Hunger hatte. Sie hatte ihn in den Ausschank der alten Dirne geführt und ihm eine Wurst gekauft. Da sie schon im Ausschank war, trank Emilia einen Kirsch. Sie trank das scharfe kernbittere Kirschwasser. Sie trank es aus Lebensbitternis und wegen der Bitterkeit des Tages, der Bitterkeit der Schmuckaffäre, der Bitterkeit mit Philipp und der Bitterkeit des Fuchsstraßenheims. Die alte Dirne war freundlich, aber auch bitter. Emilia trank mit der alten Dirne. Emilia lud die alte Dirne zum Trinken ein. Die alte Dirne war wie ein gefrorener Wasserstrahl. Sie hatte einen großen Hut auf, der wie der erstarrte Wasserkranz eines Springbrunnens war, und dann hatte sie jettbesetzte Handschuhe an. Das Jett auf den Handschuhen klirrte bei jeder Bewegung der Hände wie Eis; es klirrte wie kleine Eisstückchen in einem Becher, den man schüttelt. Emilia bewunderte die alte Dirne. ›Wenn ich so alt bin wie sie, werde ich lange nicht so gut aussehen, ich werde nicht halb so gut aussehen, ich werde auch keinen Stehausschank haben, ich werde mein Geld in ihrem Stehausschank gelassen haben, sie hat ihr Geld zusammengehalten, sie hat nie auf eigene Kosten getrunken, sie hat immer nur auf Kosten der Männer getrunken, ich werde nicht aufhören, auf eigene Kosten zu trinken.‹ Der Hund wedelte. Er war sehr klug. Man sah es ihm nicht an, aber er war klug. Er ahnte, daß er das menschliche Wesen, das sich nun seiner angenommen hatte, rühren konnte. Er würde die Frau beherrschen. Die Aussicht zu herrschen war hier viel günstiger als bei den Kindern, die unberechenbare launische Götter waren. Die neue Göttin war eine gute Göttin. Der Hund war, wie der Psychiater Behude, der Meinung, daß Emilia ein guter Mensch sei. Emilia wird den Hund nicht enttäuschen. Schon ist sie entschlossen, ihn mit nach Hause zu nehmen. »Du bleibst bei der Tante«, sagte sie. »ja, mein Guter, ich weiß, wir trennen uns nicht mehr.«
Im Stehausschank des Italieners beugte sich Richard über die Theke. Wo war er hingeraten? Er war da so reingegangen. Die Tür hatte offengestanden. Er hatte den Laden für einen Drugstore gehalten. Er hatte gedacht vielleicht ist ein Mädchen dort, es wäre nett, wenn ich am ersten Abend in Deutschland ein deutsches Mädchen hätte‹. jetzt war er auf ein Schlachtfeld geraten. Flaschen, Gläser und Korkenzieher wurden zu Bastionen und rollenden Panzern, Zigarettenpackungen und Zündholzschachteln zu Luftgeschwadern. Der italienische Besitzer des Stehausschankes war ein wütender Stratege. Er zeigte dem jungen amerikanischen Flieger, wie man Europa verteidigen müsse. Von der geglückten Verteidigung ging er zum Angriff über und löschte den Osten aus. »Nehmt doch ein paar Bomben«, rief er. »Nehmt ein paar Bomben, und ihr habt gesiegt!« Richard trank einen Wermut. Er merkte verwundert, daß der Wermut bitter schmeckte. Er schmeckte wie bitteres Zuckerwasser. Vielleicht hat der Kerl recht‹, dachte Richard, ›es ist so einfach, ein paar Bomben, vielleicht hat er recht, warum kommt Truman nicht auf die Idee? ein paar Bomben, warum macht man es im Pentagon anders?‹ Aber dann fiel Richard etwas ein; es fiel ihm etwas aus der Geschichtsstunde ein, oder aus den Zeitungen, die er gelesen, oder aus den Reden, die er gehört hatte. Er sagte: »Das hat doch Hitler schon getan, das haben doch die Japaner schon gemacht: einfach angreifen, so einfach über Nacht angreifen -« - »Hitler hat recht gehabt«, sagte der Italiener. »Hitler war ein großer Mann!« - »Nein«, sagte Richard, »er war ein abscheulicher Mann.« Richard wurde blaß, weil es ihm peinlich war, sich zu streiten, und weil er sich ärgerte. Er war nicht hergekommen, um sich zu streiten. Er konnte sich nicht streiten; er wußte nicht, was hier vorging. Vielleicht sahen hier die Leute alles ganz anders an. Er war aber auch nicht hergekommen, um seine amerikanischen Grundsätze zu verleugnen; die Grundsätze, auf die er so stolz war. »Ich bin nicht hier, um wie Hitler zu handeln«, sagte er. »Wir werden niemals wie Hitler handeln.« - »Sie werden müssen«, sagte der Italiener. Er warf wütend die Bastionen, die Panzer und die Luftgeschwader durcheinander. Richard brach das Gespräch ab. »Ich muß ins Bräuhaus«, sagte er. Er dachte ›man verliert hier jeden Halt‹.
Der Krieger, der kein Krieger hatte sein wollen, der Töter, der nicht hatte töten wollen, der Erschlagene, der von einem gemächlicheren Tod geträumt hatte, er lag auf dem harten Bett im Heiliggeistspital, er lag in einer weißgekalkten Kammer, in einer Mönchszelle, er lag unter einem Kreuz mit dem Gekreuzigten daran, eine Kerze brannte zu seinem Haupt, ein Priester kniete neben ihm, eine Frau kniete mit einem viel strengeren Gesicht als der Geweihte Gottes hinter dem Priester, die Vertreterin einer unerbittlichen Religion, die selbst das Sterben noch als Sünde betrachtete, so verhärtet war ihr Herz, ein kleines Mädchen stand vor ihm und starrte ihn an, und immer mehr Polizeibeamte drängten sich wie Statisten in die enge Kammer. Auf der Straße heulten die Polizeisirenen. Das Viertel wurde durchsucht. Die deutsche Polizei und die amerikanische Militärpolizei suchten den großen Odysseus. Der Todesengel hatte längst die Hand auf Josef gelegt. Was gingen ihn die Sirenen an? Was kümmerten ihn die Polizisten zweier Nationen und zweier Erdteile? Als Josef arbeitete, war er der Polizei aus dem Wege gegangen. Die Polizei brachte nie etwas Gutes. Sie brachte Stellungsbefehle oder Vermahnungen. Am besten war es gewesen, wenn niemand nach Josef fragte. Wenn man nach ihm rief, wollte man etwas von ihm; man wollte dann immer etwas Unangenehmes von ihm. Jetzt brachte sein Sterben die ganze Stadt in Aufruhr. Der alte Dienstmann hatte das nicht gewollt. Er kam noch einmal zu sich. Er sagte: »Es war der Reisende.« Er sagte es nicht, um anzuklagen. Er war froh, daß es der Reisende gewesen war. Die Schuld war beglichen. Der Priester sprach die Absolution. Emmi bekreuzte sich und murmelte ihr Vergib-uns-unsere-Sünden. Sie war eine grimmige kleine Gebetsmühle. Hillegonda überlegte: da war ein alter Mann; er sah lieb aus; er war tot; der Tod sah lieb aus; der Tod war gar nicht zu fürchten; er war lieb und still; aber Emmi meinte, der alte Mann sei in Sünden gestorben und Sünden müßten ihm vergeben werden; es schien Emmi noch garnicht sicher zu sein, daß dem alten Mann seine Sünden vergeben würden; Gott war noch nicht entschlossen, sie zu vergeben; er würde die Schuld bestenfalls gnadenweise verzeihen; Gott war sehr streng; es gab kein Recht vor Gott; man konnte sich auf nichts vor Gott berufen, alles war Sünde; aber wenn alles Sünde war, dann war es doch ganz gleich, was man tat; wenn Hillegonda schlimm war, dann war es Sünde, aber wenn sie brav war, dann blieb es immer noch Sünde; und warum war der Mann so alt geworden, wenn er ein Sünder war; warum hatte Gott ihn nicht früher schon gestraft, wenn er ein Sünder war; und warum sah der alte Mann so lieb aus? man konnte also verbergen, daß man ein Sünder war; man sah es keinem an, wer er war; man konnte keinem trauen. Und wieder regte sich bei Hillegonda ein Mißtrauen gegen Emmi: konnte man Emmi trauen, der frommen betenden Emmi, war nicht die Frömmigkeit vielleicht eine Maske, die den Teufel verbarg? Wenn Hillegonda nur mit ihrem Vater hätte darüber reden können, aber der Vater war so dumm, er sagte, daß es keine Teufel gebe, vielleicht meinte er auch, daß es keinen Gott gebe: oh, er kannte Emmi schlecht, es gab den Teufel. Man war ihm immer ausgeliefert. Die vielen Polizisten: waren das nun die Polizisten Gottes oder die Polizisten des Teufels? Sie holten den toten alten Mann, um ihn zu bestrafen; Gott wollte ihn bestrafen, und der Teufel wollte ihn bestrafen. Es kam am Ende auf dasselbe raus. Es gab keinen Ausweg für den toten alten Mann. Er konnte sich nicht verbergen. Er konnte sich nicht wehren. Er konnte nicht mehr davonlaufen. Hillegonda tat der alte Mann leid. Er konnte doch garnichts dafür. Hillegonda trat zu dem toten Josef und küßte ihm die Hand. Sie küßte die FI and, die so viele Koffer getragen hatte, eine runzelige Hand mit Rillen voll Erde, voll Schmutz, voll Krieg und Leben. Der Priester fragte: »Du bist seine Enkelin?« Hillegonda brach in Tränen aus. Sie barg ihren Kopf in der Soutane des Priesters und schluchzte bitterlich. Emmi unterbrach ihr Gebet und sagte ärgerlich: »Sie ist ein Schauspielerkind, Hochwürden. Lüge, Verstellung und Komödie liegen ihr im Blut. Strafen Sie das Kind, retten Sie seine Seele!« Aber noch ehe der Priester, der erschrocken aufhörte, Hillegonda zu streicheln, der Kinderfrau antworten konnte, erhob sich unter Josefs Spitalbett und Totenbahre eine Stimme. Odysseus' Musikkoffer, der unter dem Bett abgestellt war und eine Weile geschwiegen hatte, sprach wieder. Er sprach diesmal mit einer englischen Stimme, weich, leise, schwingend, eine schöne, eine gebildete, eine etwas gezierte Oxfordstimme, die Stimme eines Philologen, und sie wies auf Edwins Bedeutung und seinen Vortrag im Amerika haus hin. Die Stimme schilderte es als ein Glück für Deutschland, daß Mister Edwin, ein Kreuzfahrer des Geistes, in die Stadt gekommen sei, um hier für den Geist, die Tradition, für die Unvergänglichkeit des Geistes, für das alte Europa zu zeugen, das seit den Tagen der französischen Revolution, die Stimme zitierte Jacob Burckhardt, in seiner gesellschaftlichen und geistigen Ordnung erschüttert und in einem Zustand des andauernden Zuckens und Bebens sei. War Edwin gekommen, die Erschütterung zu bannen, die Unordnung zu ordnen und, freilich im Sinne der Tradition, neue Tafeln eines neuen Gesetzes zu errichten? Der Priester, der Josefs Leben überdachte, den die Unruhe bewegte, die der Tod des alten Dienstmannes im Sprengel hervorrief, und der seltsam berührt war von der finsteren Frömmigkeit der Kinderfrau, von ihrem jeder Wärme, jeder Freude baren steinernen Gesicht und gerührt vom Schluchzen des kleinen Mädchens, dessen Tränen in den Schoß seines Priesterkleides fielen, der geistliche Herr hörte beiläufig der englischen Stimme zu, der Stimme aus dem Musikkoffer unter dem Totenbett, und er hatte die Empfindung, die Stimme spreche von einem falschen Propheten.
Schnakenbach, der Schläfer, der entlassene Gewerbelehrer, der nicht genug gebildete Einstein, hatte den Nachmittag im Lesesaal der Amerikanischen Bibliothek verbracht. Er hatte sich im Halbschlaf zum Amerika haus geschleppt und war, wie von einem Engel behütet, noch einmal den Straßenbahnen, den Automobilen und den Radfahrern entgangen. Im Lesesaal der Bibliothek hatte er alle erreichbaren chemischen und pharmakologischen Publikationen um sich aufgestapelt. Er wollte sich über den neuesten Stand der Forschung in Amerika unterrichten; er wollte sehen, wie weit sie in dem großen Amerika mit der Herstellung schlafhindernder Mittel vorangekommen seien. In Amerika schien es viele Schlaf süchtige zu geben. Die Amerikaner beschäftigten sich eingehend mit dem Problem, wach zu bleiben. Schnakenbach lernte von ihnen. Er machte sich Notizen. Er schrieb und zeichnete mit winziger Schrift Formeln und Strukturen auf; er rechnete; er beachtete den Spiegel der Moleküle; er bedachte, daß es linksdrehende und rechtsdrehende Verbindungen gab und daß er herausfinden mußte, ob sein Leben, dieser Teil des allgemeinen Lebens, diese Ich denkende Zusammensetzung chemischer Kräfte, die er, Schnakenbach, für eine Weile war, bevor er wieder in die große Retorte getan wurde, sich nach links oder nach rechts drehe. Bei dieser Überlegung übermannte ihn sein Feind, sein Leiden, der Schlaf. Man kannte Schnakenbach im Lesesaal. Man störte seinen Schlaf nicht; man entriß ihn nicht seinem Feind. Die Bibliothekarin hatte seltsame Kunden. Der Lesesaal übte eine ungeheure Anziehungskraft auf Obdachlose, Wärmeschinder, Sonderlinge und Naturmenschen aus. Die Naturmenschen kamen barfuß, in handgewebtes Linnen gehüllt, mit langem Haupthaar und wildem Bart. Sie verlangten Werke über Hexen und böse Blicke, Kochbücher für Rohkostspeisen, Broschüren über das Leben nach dem Tode und über die Übungen indischer Fakire, oder sie vertieften sich in die letzten Veröffentlichungen der Astrophysik. Sie waren kosmologische Geister und knabberten Wurzeln und Nüsse. Die Bibliothekarin sagte: »Ich erwarte immer, daß sich einer bei mir die Füße wäscht; aber sie waschen sich nie.« Die Amerikanische Bibliothek war eine herrliche Einrichtung. Ihre Benutzung war völlig kostenlos. Die Bibliothek stand jedermann offen, fast war sie Washingtons Inn, fast das Lokal, das der Neger und amerikanische Bürger Washington Price in Paris eröffnen wollte, das Lokal, in dem niemand unerwünscht ist.
Schnakenbach schlief. Während er schlief, füllte sich der große Vorlesungssaal des Hauses. Viele kamen, um Edwin zu hören. Studenten kamen, junge Arbeiter kamen, ein paar Künstler kamen, die aus existentiellen Gründen Vollbarte trugen und ihre Baskenmützen nicht vom Kopf nahmen, es kam die Philosophieklasse des Priesterseminars, Bauerngesichter, die sich zum Geist, zur Strenge oder zur Einfalt wandelten, es kamen zwei Straßenbahnschaffner, ein Bürgermeister und ein Gerichtsvollzieher, der Literaten zu seiner Klientel zählte und so auf die schiefe Bahn geraten war, und außerdem kamen sehr viele gutangezogene und wohlgenährte Leute. Edwins Vortrag war ein gesellschaftliches Ereignis. Die gutangezogenen Leute waren beim Rundfunk oder beim Film angestellt, oder sie arbeiteten in der Reklamebranche, soweit sie nicht das Glück hatten, Volksvertreter, höherer Ministerialbeamter, gar Minister selbst oder Besatzungsoffizier und Konsularagent zu sein. Sie alle waren an Europas Geist interessiert. Die Kaufleute der Stadt schienen am Geiste Europas weniger interessiert zu sein; sie hatten keinen Vertreter geschickt. Erschienen jedoch waren die Modeschöpfer, feminine wohlriechende Herren, die ihre Vorführpuppen mitgebracht hatten, schöngewachsene Mädchen, die man ihnen unbesorgt anvertrauen durfte. Behude hatte sich zu den Priestern gesetzt. Es war eine kollegiale Geste. Er dachte ›wir können jederzeit psychiatrischen und geistlichen Beistand leihen, nichts kann passieren‹. Messalina und Alexander hielten Hof. Sie standen in der Nähe des Podiums und wurden von den Pressephotographen mit Blitzlicht beleuchtet. Jack war bei ihnen. Er hatte eine verdrückte amerikanische Offizierssommerhose und einen buntgestreiften Sweater an. Er war ungekämmt und sah aus, als wäre er eben, durch ein Klingeln erschreckt, aus dem Bett gesprungen. Neben ihm hielt sich Hänschen, sein Freund, ein semmelblonder, leicht geschminkter Sechzehnjähriger in einem blauen Konfirmandenanzug, sehr artig. Er blickte mit kalten wasserhellen Augen auf die Modeschöpfer und ihre Puppen, Hänschen, Hänschen klein, war Hans im Glück: er wußte, wo was zu holen war. Jetzt erschien auch Alfredo, die Bildhauerin. Ihr angestrengtes, müdes, enttäuschtes Gesicht, das Spitzgesicht einer Katze von den Inschriften der Pyramiden, war gerötet, als hätte sie sich selber geohrfeigt, um Mut und Frische für den Abend zu gewinnen. Gegen Messalina wirkte Alfredo so zierlich und klein, daß man wünschte, Messalina möge Alfredo auf den Arm nehmen, damit sie alles gut sehen könne. Alexander wurde beglückwünscht. Ein paar Wichtigtuer und ein paar Speichellecker beglückwünschten ihn. Sie hofften, mit auf die Blitzlichtaufnahmen und in die Zeitungen zu kommen: ALEXANDER IM GESPRÄCH MIT PIPPIN DEM KLEINEN, BUND ERWÄGT KULTURPFENNIG STIFTET AKADEMIE. SIE SPRACHEN VON DER ERZHERZOGLIEBE, BESSERE FILME IM NEUEN DEUTSCHLAND, LIEGT ES AM DREHBUCH, DICHTER AN DIE FILMFRONT. »Es soll ein so wundervoller Film sein«, schwärmte eine Dame, deren Mann den Gerichtskurier herausgab, VAMPYR IN FRAUENKLEIDERN, und damit genug Geld verdiente, um seine Frau bei den femininen Modeschöpfern anziehen zu lassen. »Ein Schmarren«, sagte Alexander. »Wie witzig Sie wieder sind«, flötete die Dame. ›Natürlich‹, dachte sie‹, natürlich ist es ein Schmarren, aber warum sagt er's so laut? ist es vielleicht doch kein Schmarren? dann ist es sicher ein ernster und langweiliger Schmarrens NEOREALISMUS NICHT MEHR GEFRAGT. Die Lehrerinnen aus Massachusetts saßen in der vordersten Reihe. Sie hatten ihre Merkbücher in der Hand. Sie hielten die im Blitzlicht Stehenden für Koryphäen des europäischen geistigen Lebens. Sie hatten das Glück gehabt, keine Filme mit Alexander zu sehen. »Es ist ein sehr interessanter Abend«, sagte Miss Wescott. »Ein Zirkus«, sagte Miss Burnett. Sie schielten beide zur breiten Eingangstür, ob nicht Kay endlich noch käme. Sie waren beide sehr besorgt um Kay. Edwin wurde durch eine kleine besondere Pforte auf das Podium geführt. Die Photographen knieten wie Schützen nieder und feuerten ihr Blitzlicht ab. Edwin verneigte sich. Er hatte die Augen geschlossen. Er zögerte den Moment hinaus, da er in sein Auditorium blicken mußte. Ihm war ein wenig schwindlig. Er glaubte, er würde kein Wort sprechen können, keinen Ton aus der Kehle bekommen. Er schwitzte. Er schwitzte vor Angst, aber er schwitzte auch vor Glück. So viele waren gekommen, ihn zu hören! Sein Name hatte sich durchgesetzt in der Welt. Er wollte es nicht überschätzen. Aber die Menschen kamen, um seinen Worten zu lauschen. Edwin hatte sein Leben den geistigen Bemühungen geweiht, er war zum Geist gekommen, er war Geist geworden, und nun konnte er den Geist weitergeben: Jünger empfingen ihn in jeder Stadt, der Geist würde nicht sterben. Edwin legte sein Manuskript auf den Lesetisch. Er rückte die Lampe zurecht. Er räusperte sich. Aber noch einmal wurde die breite Tür geöffnet, und Philipp und Kay liefen die Stufen hinunter, die in den Saal führten. Philipp hatte Kay vor der Tür getroffen. Der Ordner wollte sie nicht mehr hineinlassen, aber Philipp hatte die Pressekarte des Neuen Blattes wie einen Zauber gezückt, und der Ordnungsmann hatte die Tür freigegeben. Philipp und Kay setzten sich abseits des Auditoriums auf zwei Klappstühle, die bei Theateraufführungen für den Feuerwehrmann und den Polizisten reserviert waren. Zu Edwins Vortrag war kein Feuerwehrmann und kein Polizist gekommen. Miss Wescott stieß Miss Burnett an: »Sehen Sie das?« flüsterte sie. »Es ist dieser deutsche Dichter, ich weiß seinen Namen nicht«, sagte Miss Burnett. »Sie hat sich mit ihm herumgetrieben.« Miss Wescott war entrüstet. »Wenn sie weiter nichts getan hat«, sagte Miss Burnett spitz. »Es ist furchtbar«, stöhnte Miss Wescott. Sie wollte aufspringen und zu Kay gehen; sie hatte das Gefühl, daß man die Polizei rufen müsse. Aber wieder räusperte sich Edwin, und Stille senkte sich über den Saal. Edwin wollte mit der griechischen und lateinischen Antike beginnen, er wollte die Christenheit erw ähnen, die Verbindung biblischer Tradition mit der Klassik, er wollte von der Renaissance sprechen und Lob und Tadel an den französischen Rationalismus des achtzehnten Jahrhunderts wenden, aber leider drang statt der Worte nur Geräusch zu seinen Zuhörern, ein Gurgeln und Knacken und Raspeln wie von Jahrmarktspritschen. Edwin, am Lesepult, merkte zunächst nicht, daß die Lautsprecheranlage des Saales in Unfunktion geraten war. Er spürte Unruhe im Raum und ein der geistigen Konzentration ungünstiges Klima. Er sprach noch ein paar Worte von der Bedeutung der Halbinsel, die dem eurasiatischen Kontinent vorgestreckt liegt, als ihn Scharren und Rufe, lauter und deutlicher zu sprechen, unterbrachen. Edwin war wie einem Hochseilgänger zumute, der mitten auf dem Seil merkt, daß er nunmehr weder vorwärts noch rückwärts gehen kann. Was wollten die Leute? Waren sie gekommen, ihn zu verhöhnen? Er schwieg und hielt sich am Pult fest. Man rebellierte. Die Technik rebellierte gegen den Geist, die Technik, das vorlaute, entartete, schabernacksüchtige, unbekümmerte Kind des Geistes. Ein paar Eifrige stürzten vor, um die Mikrophone zu verrücken. Der Fehler lag aber an der Lautsprecheranlage des Hauses. ›Ich bin hilflos‹, dachte Edwin, ›wir sind hilflos, ich habe mich auf diesen dummen und bösen Sprechtrichter verlassen, hätte ich ohne diese Erfindung die mich nun lächerlich macht vor sie hin treten können? nein, ich hätte es nicht gewagt, wir sind keine Menschen mehr, keine ganzen Menschen, ich hätte nie wie Demosthenes direkt zu ihnen sprechen können, ich brauche Blech und Draht die meine Stimme und meine Gedanken wie durch ein Sieb pressen.‹ Messalina fragte: »Siehst du Philipp?« - »Ja«, sagte Alexander, »ich muß mit ihm über das Manuskript reden. Ihm wird nichts eingefallen sein.« -»Quatsch«, sagte Messalina, »er schreibt doch nie was. Aber das Mädchen. Die Niedliche. Eine Amerikanerin. Die verführt er. Was sagst du nun?« - »Nichts«, sagte Alexander. Er gähnte. Er würde einschlafen. Mochte doch Philipp verführen, wen er Lust hatte. ›Er muß schön potent sein‹, dachte Alexander. »Idiot«, flüsterte Messalina. Das Krachen in der Lautsprecheranlage des Hauses war auch im Lesesaal zu hören und hatte Schnakenbach geweckt. Auch er hatte zu Edwins Vortrag gehen wollen, auch er interessierte sich für den europäischen Geist. Er sah, daß es schon spät war und daß der Vortrag schon begonnen hatte. Er taumelte hoch und torkelte in den Saal. Irgend jemand hielt Schnakenbach für den erwarteten Haustechniker, der wohl im Keller geschlafen hatte, und reichte ihm versehentlich das Mikrophon. Schnakenbach sah sich plötzlich vor eine Zuhörerschaft gestellt; er glaubte, schlafbenommen wie er war, vor der Klasse zu stehen, die er geleitet hatte, bevor er sein Amt als Gewerbeschullehrer aufgeben mußte, und so schrie er in das Mikrophon die große Sorge, die ihn erfüllte: »Schlaft nicht! Wacht auf! Es ist Zeit!«
Es war Zeit. Heinz beobachtete den Platz zwischen dem Bräuhaus und dem Club der Negersoldaten. Es war viel Polizei auf dem Platz; es war viel zuviel Polizei auf dem Platz. Die Wache der Militärpolizei vor dem Club war verstärkt worden. Die Militärpolizisten waren besonders große, besonders schöngewachsene Neger. Sie trugen weiße Gamaschen, weiße Koppel und weiße Handschuhe. Sie sahen wie nubische Legionäre des Cäsar aus. Heinz wußte noch immer nicht, wie er es anstellen sollte. Das beste würde es sein, die Dollar zu nehmen und in die Ruinen zu laufen. In den Ruinen würde der amerikanische Junge ihn nicht finden. ›Aber wenn er den Hund sehen will? natürlich wird er den Hund sehen wollen, bevor er mit seinem Schein rausrückt.‹ Es war dumm, daß der Hund weggelaufen war. Es konnte das Geschäft gefährden. Aber es wäre gelacht, wenn Heinz sich deshalb schon vom Geschäft zurückzöge, weil der Hund ausgekniffen war. Heinz hatte sich gut versteckt. Er stand im Eingang der Broadway-Bar. Die Bar war geschlossen. Der Eingang war dunkel. Der Besitzer der Bar hatte es vorgezogen, zum wirklichen Broadway zu fliehen. In der neuen Welt war Sicherheit. In der alten Welt konnte man sterben. In der neuen Welt konnte man auch sterben, aber man starb in größerer Sicherheit. Der Besitzer der Broadway-Bar hatte in Europa Ängste, Schulden, Finsternis und nackte Mädchen zurückgelassen. Er hatte auch Gräber zurückgelassen, ein großes Grab, in dem seine erschlagenen Verwandten lagen. Die Bilder der nackten Mädchen klebten in der Dunkelheit des Ganges vergessen und verworfen an der schmutzigen Mauer. Die Mädchen lächelten und hielten mit neckischer Gebärde kleine Schleier vor ihre Scham. Ami huren - ein Entrüsteter hatte es hingeschrieben. Die Mädchen lächelten, sie blieben neckisch, sie hielten sich neckisch die kleinen Schleier vor. Ein Nationalist hatte Deutschland-erwache an die Wand gemalt. Die Mädchen lächelten. Heinz pißte gegen die Mauer. Susanne ging am dunklen Eingang der Bar vorüber. Sie dachte ›die Schweine pissen überall hin‹. Susanne ging zum Club der Negersoldaten. Die schwarzen Militärpolizisten prüften Susannens Ausweis. Sie hielten den Ausweis in ihren blendend weiß behandschuhten Händen. Der Ausweis war in Ordnung. Ein Sirenenwagen der weißen Militärpolizei fuhr beim Club vor. Die weißen Militärpolizisten riefen ihren schwarzen Kameraden eine Botschaft zu. Die weißen Polizisten sahen nicht so elegant aus wie die schwarzen. Sie sahen gegen die schwarzen Polizisten schäbig aus. Susanne verschwand in der Tür des Clubs. Einer der weißen Polizisten dachte ›diese Nigger haben die hübschesten Mädchen‹.
Im Club spielte eine deutsche Kapelle. Der Club war arm. Eine amerikanische Kapelle war zu teuer gewesen. Nun spielte eine deutsche Kapelle, und die deutsche Kapelle war auch ganz gut. Es war die Kapelle des Obermusikmeisters Behrend. Die Kapelle spielte alle Jazz-Stücke, und zuweilen spielte sie den Hohenfriedberger Marsch oder den spanischen Walzer von Waldteufel. Der Marsch gefiel den schwarzen Soldaten sehr. Waldteufel gefiel ihnen weniger. Kapellmeister Behrend war zufrieden. Er spielte gern in den Clubhäusern der amerikanischen Armee. Er fand, daß er gut bezahlt wurde. Er war glücklich. Vlasta machte ihn glücklich. Er blickte zu Vlasta hinüber, die an einem kleinen Tisch neben der Kapelle saß. Vlasta war über eine Näharbeit gebeugt. Zuweilen schaute sie auf, und Vlasta und Herr Behrend lächelten einander zu. Sie hatten ein Geheimnis: sie hatten sich gegen die Welt gestellt und sich behauptet; sie hatten sich jeder gegen die eigene Umwelt und ihre Anschauungen gestellt, und sie hatten den Kreis des Vorurteils, der sie einengen wollte, gesprengt. Der Obermusikmeister der deutschen Wehrmacht hatte das kleine Tschechenmädchen im Protektorat Böhmen und Mähren kennengelernt und geliebt. Mit Mädchen schliefen viele. Aber sie verachteten die Mädchen, mit denen sie schliefen. Nur wenige liebten das Mädchen, mit dem sie schliefen. Der Obermusikmeister liebte Vlasta. Er hatte sich erst gegen die Liebe gewehrt. Er hatte gedacht ›was will ich mit dem Tschechenmädel?‹ Aber dann hatte er sie geliebt, und die Liebe hatte ihn verwandelt. Sie hatte nicht nur ihn verwandelt, sie hatte auch das Mädchen verwandelt, auch das Mädchen war eine andere geworden. Als man in Prag die deutsche Wehrmacht wie freigegebenes Wild jagte, versteckte Vlasta Herrn Behrend in der Truhe, und später floh sie mit ihm aus der Tschechoslowakei. Vlasta hatte sich von allem losgesagt; sie hatte sich von ihrem Vaterland losgesagt; und Herr Behrend hatte sich von vielem losgesagt; er hatte sich von seinem ganzen bisherigen Leben losgesagt: sie fühlten sich beide losgelöst, sie waren frei, sie waren glücklich. Sie hätten es vorher nicht für möglich gehalten, daß man so frei und so glücklich sein könne. Die Kapelle spielte Dixieland. Unter der Stabführung des Musikmeisters spielte sie eine der ersten Jazz-Kompositionen, deutsch und romantisch in der Weise des Freischütz.
Susanne fand die Kapelle langweilig. Die blassen Idioten schlugen ein zu gemächliches Tempo an. Die Kapelle entsprach nicht dem, was Susanne schräge Musik nannte. Sie wollte Wirbel, sie wollte Rausch; sie wollte sich dem Wirbel und dem Rausch hingeben. Es war dumm, daß alle Neger sich ähnlich sahen. Wer kannte sich da aus? Nachher ging man mit dem Falschen mit. Susanne hatte ein Kleid aus gestreifter Seide an. Sie trug das Kleid wie ein Hemd auf der bloßen Haut. Sie hätte jeden haben können, jeder im Saal wäre mit ihr fortgegangen. Susanne suchte Odysseus. Sie hatte ihm Geld gestohlen, aber da sie Kirke und die Sirenen und vielleicht auch Nausikaa war, mußte sie wieder zu ihm gehen und konnte ihn nicht in Ruhe lassen. Sie hatte ihm sein Geld gestohlen, aber sie würde ihn nicht verraten. Nie würde sie ihn verraten; sie würde nie verraten, daß er Josef erschlagen hatte. Sie wußte nicht, ob Odysseus Josef mit dem Stein erschlagen hatte, aber sie glaubte es. Susanne tat es nicht leid, daß Josef gestorben war, ›wir müssen alle sterben ‹. Aber sie bedauerte, daß Odysseus nicht einen anderen erschlagen hatte. Er hätte Alexander oder Messalina erschlagen sollen. Aber wen er auch erschlagen hatte: Susanne mußte zu ihm halten, ›wir müssen gegen die Schweine zusammenhalten‹ Susanne haßte die Welt, von der sie sich ausgestoßen und mißbraucht fühlte. Susanne liebte jeden, der sich gegen diese hassenswerte Welt wandte, der ein Loch in ihre kalte grausame Ordnung schlug. Susanne war treu. Sie war ein zuverlässiger Kamerad. Auf Susanne konnte man sich verlassen. Man brauchte keinen Polizisten zu fürchten.
Heinz drückte sich gegen die Mauer mit den nackten Mädchen. Ein deutscher Polizist schlenderte am Eingang der Bar vorüber. Die deutschen und die amerikanischen Polizisten waren an diesem Abend wie aus ihrem Nest aufgeschreckte Wespen. Ein Neger hatte einen Taxichauffeur umgebracht oder einen Dienstmann. Heinz wußte es nicht genau. In der Altstadt sprach man davon. Die einen meinten, es sei ein Taxifahrer gewesen, die andern sagten ein Dienstmann. ›Ein Dienstmann hat doch kein Geld‹, dachte Heinz. Er lugte aus dem Gang und sah Washingtons horizontblaue Limousine vor dem Negerclub vorfahren. Washington und Carla stiegen aus. Sie gingen in den Club. Heinz wunderte sich. Washington und Carla waren lange nicht im Club gewesen. Carla hatte nicht mehr hingehen wollen. Sie hatte sich geweigert, mit den Nutten zusammenzukommen, die im Club verkehrten. Wenn Washington und Carla wieder in den Club gingen, mußte sich etwas ereignet haben. Heinz wußte nicht, was sich ereignet haben konnte, aber es mußte bedeutungsvoll sein. Es beunruhigte ihn. Wollte das Paar nach Amerika fahren? Sollte er mitfahren? Sollte er nicht mitfahren? Wollte er überhaupt mitfahren? Er wußte es nicht. Er wäre jetzt am liebsten nach Hause gegangen, um im Bett darüber nachzudenken, ob er nach Amerika fahren solle. Vielleicht hätte er im Bett geweint. Vielleicht hätte er auch nur Old Shatterhand gelesen und Schokolade gegessen. Konnte man Karl May trauen? Washington sagte, Indianer gebe es nur noch in Hollywood. Sollte er nach Hause gehen? Sollte er zu Bett gehen? Sollte er über all diese Probleme nachdenken? Da kam das Auto, das einem Flugzeug so ähnlich sah, auf den Platz gefahren. Der Parkwächter wies das Auto ein. Christopher und Ezra stiegen aus. Ezra guckte sich um. Er war also gekommen. Er wollte das Geschäft machen. Heinz konnte nicht mehr zurück. Er konnte nicht mehr ins Bett gehen. Es wäre feige gewesen, sich jetzt vom Geschäft zurückzuziehen. Christopher ging ins Bräuhaus. Ezra ging langsam hinter Christopher her. Er schaute sich immer wieder um. Heinz dachte ›ob ich ihm ein Zeichen gebe?‹ Aber er überlegte mein, es ist noch zu früh, sein Vater, der alte Ami, muß erst beim Bier sitzen‹.
›Was für ein junger Kerl er ist, was für ein junger Ami‹, dachte das Fräulein, ›es ist sein erster Abend in Deutschland , und schon habe ich ihn kennengelernte Das Fräulein war hübsch. Es hatte dunkle Locken und blanke Zähne. Das Fräulein hatte sich von Richard in der Hauptstraße ansprechen lassen. Es hatte gesehen, daß Richard Lust hatte, ein Mädchen anzusprechen, und daß er zu schüchtern war, es zu tun. Das Fräulein hatte es Richard leicht gemacht. Das Fräulein hatte sich ihm in den Weg gestellt. Richard merkte, daß sie es ihm leicht machte. Sie gefiel ihm, aber er dachte ›wenn sie nun krank ist?‹ Man hatte ihn in Amerika gewarnt. Man warnte in Amerika die ausreisenden Soldaten vor den Fräuleins. Aber er dachte ›ich will ja gar nichts von ihr, und vielleicht ist sie auch gar nicht krank‹. Sie war nicht krank. Sie war auch kein Straßenmädchen. Richard hatte Glück gehabt. Das Fräulein verkaufte im Warenhaus am Bahnhof Socken. Das Warenhaus verdiente an den Socken. Das Fräulein verdiente wenig. Es gab das Wenige zu Hause ab. Es hatte aber keine Lust, am Abend zu Hause zu sitzen und die Radiomusik zu hören, die der Vater bestimmte: Glühwürmchen-flimmere, das ewige tödlich langweilige Wunschkonzert, das zäheste Erbe des Großdeutschen Reiches. Der Vater las, während das Glühwürmchen flimmerte, die Zeitung. Er sagte: »Bei Hitler war's anders! Da war Zug drin.« Die Mutter nickte. Sie dachte an die alte ausgebrannte Wohnung; da war Zug drin gewesen; es war Zug in den Flammen gewesen. Sie dachte an die immer gehütete und dann verbrannte Aussteuer. Sie konnte den Linnenschrank der Aussteuer nicht vergessen, aber sie wagte dem Vater nicht zu widersprechen: der Vater war Portier in der Vereinsbank, ein angesehener Mann. Das Fräulein suchte nach den Socken und nach der Glühwürmchen-Musik etwas Heiterkeit. Das Fräulein wollte leben. Es wollte sein eigenes Leben. Es wollte nicht der Eltern Leben wiederholen. Das Leben der Eltern war nicht nachahmenswert. Die Eltern waren gescheitert. Sie waren arm. Sie waren unheiter, unglücklich, vergrämt. Sie saßen vergrämt in einer grämlichen Stube bei grämlich munterer Musik. Das Fräulein wollte ein anderes Leben, eine andere Freude, wenn es sein sollte, einen anderen Schmerz. Die amerikanischen jungen waren dem Fräulein lieber als die deutschen Jungen. Die amerikanischen Jungen erinnerten das Fräulein nicht an das grämliche Zuhause. Sie erinnerten das Fräulein nicht an alles, was es bis zum Überdruß kannte: die ewige Einschränkung, das ewige Nach-der-Decke-Strecken, die Wohnungsenge, die völkischen Ressentiments, das nationale Unbehagen, das moralische Mißvergnügen. Um die amerikanischen Jungen war Luft, die Luft der weiten Welt; der Zauber der Ferne, aus der sie kamen, verschönte sie. Die amerikanischen Jungen waren freundlich, kindlich und unbeschwert. Sie waren nicht so mit Schicksal, Angst, Zweifel, Vergangenheit und Aussichtslosigkeit belastet wie die deutschen jungen. Auch wußte das Fräulein, was ein Kommis im Warenhaus verdient; es kannte die Entbehrungen, die er litt, um sich einen Anzug kaufen zu können, einen Anzug im schlechten Geschmack der Konfektion, in dem er unglücklich aussah. Das Fräulein würde einmal einen überarbeiteten, enttäuschten, schlecht angezogenen Mann heiraten. Das Fräulein wollte das heute vergessen. Es wäre gern tanzen gegangen. Aber Richard wollte ins Bräuhaus gehen. Auch das Bräuhaus war lustig. Ging man also ins Bräuhaus. Aber man spielte auch im Bräuhaus die Glühwürmchen-Musik.
Die Säle waren überfüllt. Die Volks- und Völkergemeinschaft, die viel gerühmte, die oft besungene Gemütlichkeit des Bräuhauses tobte. Aus großen Fässern strömte und schäumte das Bier; es strömte und schäumte in ununterbrochenem Fluß; die Zapf er drehten die Spünde nicht ab; sie hielten die Maßkrüge unter den Strom, rissen sie vom Bier zurück, schnitten sie ab vom Naß und hielten schon den nächsten Krug unter den Fluß. Kein Tropfen ging verloren. Die Kellnerinnen schleppten acht, zehn, ein Dutzend Krüge zu den Tischen. Das Fest des Gottes Gambrinus wurde gefeiert. Man stieß an, man trank aus, man legte den Krug auf den Tisch, man wartete auf die zweite Füllung. Die Oberländerkapelle spielte. Es waren alte Herren in kurzen Lederhosen, die haarige gerötete Knie zeigten. Die Kapelle spielte das Glühwürmchen, sie spielte Sah-ein-Knab-ein-Röslein-stehn, und alle im Saal sangen das Lied mit, sie faßten sich unter, sie standen auf, sie stellten sich auf die Bierbänke, sie hoben die Krüge und brüllten langgezogen gefühlsbetont Röslein-auf-der-Hei-hei-den. Man setzte sich wieder. Man trank wieder. Väter tranken, Mütter tranken, kleine Kinder tranken; Greise umstanden den Waschbottich und suchten nach Bierneigen in den abgestellten Krügen, die sie durstig gierig hinunterspülten. Man sprach von der Ermordung des Taxifahrers. Ein schwarzer Soldat hatte einen Taxifahrer ermordet. Es war Josefs Tod, von dem gesprochen wurde; aber die Fama hatte aus dem Dienstmann einen Taxifahrer gemacht. Ein Dienstmann schien der Fama ein zu armes Opfer für einen Mord zu sein. Die Stimmung war den Amerikanern nicht günstig. Man schimpfte, man raunzte; man hatte zu klagen. Bier hebt in Deutschland das nationale Bewußtsein. In andern Ländern regt Wein, in manchen vielleicht Whisky den Nationalstolz an. In Deutschland ist das Bier der die Vaterlandsliebe belebende Stoff: ein dumpfer, ein nicht erhellender Rausch. Den einzelnen Angehörigen der Besatzung, die sich in den Hexenkessel des Bräuhauses verirrt hatten, begegnete man nachbarlich freundlich. Viele Amerikaner liebten das Bräuhaus. Sie fanden es großartig und gemütlich. Sie fanden es noch großartiger und noch gemütlicher als alles, was sie darüber gelesen oder gehört hatten. Die Oberländer-Kapelle spielte den Badenweiler Marsch, den Lieblingsmarsch des toten Führers. Man brauchte der Kapelle nur eine Lage zu spendieren, und sie spielte den Marsch, der den Einzug Hitlers in die Versammlungssäle der Nationalsozialisten begleitet hatte. Der Marsch war die Musik der jungen und verhängnisvollen Geschichte. Der Saal hob sich wie eine einzige geschwellte Brust der Begeisterung von den Plätzen. Es waren nicht Nazis, die sich da erhoben. Es waren Biertrinker. Die Stimmung allein machte es, daß alle sich erhoben. Es war nur eine Gaudi! Warum so ernst sein? warum an Vergangenes, Begrabenes, Vergessenes denken? Auch die Amerikaner wurden von der Stimmung mitgerissen. Auch die Amerikaner erhoben sich. Auch die Amerikaner summten den Marsch des Führers, schlugen mit Füßen und Fäusten den Takt. Amerikanische Soldaten und davongekommene deutsche Soldaten umarmten sich. Es war eine warme rein menschliche Verbrüderung ohne politische Absicht und diplomatischen Handel. FRATERNIZATION VERBOTEN, FRATERNIZATION FREIGEGEBEN, DIE WOCHE DER GUTEN NACHBARSCHAFT. Christopher fand es wunderbar. Er dachte › war um sträubt Henriette sich dagegen? warum kann sie nicht vergessen? sie sollte das hier sehen, es ist wunderbar, es sind prächtige Leute‹. Ezra beobachtete die Kapelle, er beobachtete die Menschen. Seine Stirn hatte sich noch mehr gekraust; ganz eng, ganz klein war sie. Er hätte schreien mögen! Er war in einem finsteren Wald. Jeder Mann war hier ein Baum. Jeder Baum war eine Eiche. Und jede Eiche war ein Riese, der böse Riese des Märchens, ein Riese mit einer Keule. Ezra ahnte, daß er den Aufenthalt in diesem Wald nicht lange ertragen konnte. Er würde die Furcht nicht lange mehr bannen können. Wenn der Junge mit dem Hund nicht bald kam, würde Ezra schreien. Er würde schreien und davonlaufen. Frau Behrend drängte sich durch die Reihen. Sie suchte Richard, den jungen amerikanischen Verwandten, den Sohn des Paketeschickers, man konnte nicht wissen, vielleicht kam wieder eine schlechte Zeit, KONFLIKT VERSCHÄRFT SICH, Verwandte mußten zusammenhalten. Welch eine Dummheit von dem Jungen, sie in das Bräu haus zu bestellen! Fast an jedem Tisch saß ein Amerikaner. Sie saßen da wie unsere Soldaten, fast wie die Soldaten der Wehrmacht; sie saßen nur in schlechterer Haltung, sie saßen bequem und nicht zackig da. ›Zu viel Freiheit verwildert‹ dachte Frau Behrend. Sie sprach junge Amerikaner an: »Bist du es, Richard? Ich bin Tante Behrend!« Sie erntete Verständnislosigkeit oder Gelächter. Einige riefen »setz dich, Alte« und schoben ihr den Bierkrug hin. Ein dicker Kerl, ein Faß fast, klapste ihr den Hintern. ›Was die für Soldaten haben, es sind nur ihre Autos und ihre Flugzeuge die gesiegt haben.‹ Frau Behrend eilte weiter. Sie mußte Richard finden! Richard durfte nicht nach Hause berichten, was die giftige Lebensmittelhändlerin ihm erzählt hatte. Frau Behrend mußte Richard finden. Sie sah ihn mit einem Mädchen sitzen, einem schwarzlockigen ganz hübschen Flitscherl. Die beiden tranken aus einem Krug. Die linke Hand des Mädchens lag auf der rechten Hand des jungen Mannes. Frau Behrend dachte ›ist er das? er könnte es sein, dem Alter nach könnte er es sein, aber er kann es nicht sein, es ist unmöglich daß er es ist, er wird doch wenn er mit seiner Tante verabredet ist nicht sein Flitscherl mitbringen. Richard merkte, daß die Frau ihn beobachtete. Er erschrak. Er dachte ›das ist sie wohl, die Frau mit dem Fischgesicht ist die Tante mit der Negertochter, ich bin nicht neugierig, ich will mich nicht aufdrängen‹ Er wandte sich seinem Mädchen zu, er nahm das Fräulein in die Arme und küßte es. Das Fräulein dachte ›ich muß aufpassen, er ist stürmischer als ich dachte, ich fürchtete er würde mich erst vorm Haus küssen‹. Des Fräuleins Lippen schmeckten nach Bier. Auch Richards Lippen schmeckten nach Bier. Das Bier war sehr gut. ›Er ist es nichts dachte Frau Behrend, ›er würde sich nie so benehmen, auch wenn er in Amerika groß geworden ist, würde er sich nie so benehmen‹ Sie setzte sich auf eine Bank und bestellte sich zögernd ein Bier. Das Bier war eine unnötige Ausgabe. Frau Behrend machte sich nichts aus Bier. Aber sie war durstig, und sie war auch zu erschöpft, um den Kampf mit der Kellnerin, den Kampf mit dem Saal aufzunehmen und nichts zu bestellen.
Carla und Washington waren in den Negerclub gegangen, um die Zukunft zu feiern, die Zukunft, in der niemand mehr unerwünscht ist. An diesem Abend glaubten sie an die Zukunft. Sie glaubten, daß sie diese Zukunft erleben würden, die Zukunft, in der niemand, wer er auch sein mochte und wie er leben würde, unerwünscht wäre. Carla war musikalisch. Noch ehe sie ihn sah, hatte sie an seiner Art, den Jazz zu spielen, ihren Vater, den alten Freischützdirigenten, erkannt. Gestern wäre es Carla noch peinlich gewesen, den Musikmeister in einem Negerclub zu treffen, und fürchterlich wäre es ihr erschienen, von ihm dort mit Washington gesehen zu werden. Jetzt berührte sie die Begegnung anders. Sie waren Menschen. Menschen dachten anders. In einer Musikpause begrüßte Carla den Vater. Herr Behrend freute sich, Carla zu sehen. Er war etwas verlegen, aber er bekämpfte die Verlegenheit und machte Carla mit Vlasta bekannt. Auch Vlasta war verlegen. Sie waren alle drei verlegen. Aber sie dachten nichts Böses voneinander. »Da sitzt mein Freund«, sagte Carla. Sie deutete auf Washington. »Wir gehen nach Paris«, sagte sie. Der Musikmeister wäre auch beinahe einmal nach Paris gegangen. Er sollte im Krieg nach Paris versetzt werden. Er wurde aber nach Prag versetzt. Herr Behrend überlegte ›ob es recht von Carla ist, einen Neger zu lieben?‹ Er wagte die Frage nicht zu beantworten. Der Neger war wohl ein guter Mensch, wenn Carla mit ihm lebte. Einen Augenblick regte sich in allen das Gift des Zweifels. Sie dachten ›wir verkehren miteinander, weil wir alle deklassiert sind‹. Aber weil sie sich an diesem Abend froh fühlten, hatten sie die Kraft, den Zweifel zurückzudrängen, die hämischen Empfindungen zu töten. Sie blieben freundlich und liebten sich. Herr Behrend sagte: »Jetzt wirst du staunen. Du wirst sehen, daß dein Vater auch hot spielen kann, einen richtigen Hot Jazz.« Er ging wieder auf das Podium. Carla lächelte. Auch Vlasta lächelte. Der arme Vater. Er bildete sich ein, richtigen Jazz spielen zu können. Den richtigen Jazz konnten nur die Schwarzen spielen. Die Kapelle des Herrn Behrend fing an, mit Blech zu rasseln und die Trommeln zu rühren. Dann setzten die Trompeten ein. Es war laut, und es war auch schön. Susanne hatte Odysseus gefunden. Er hatte sich in den Club gewagt. Er hatte sich ihretwegen aus Verstecken hervor an Polizeischlingen vorbei in den Club gewagt, Susanne hatte gewußt, daß Odysseus kommen würde; sie hatten sich mit einem Wort, einem Ruf verständigt, und er war gekommen. Susanne, die Kirke und die Sirenen und vielleicht auch Nausikaa war, hielt Odysseus umschlungen. Zur Hot-Weise des Musikmeisters glitten sie wie ein Leib im Tanz über das Parkett, wie eine vierfüßige sich windende Schlange. Sie waren beide erregt. Alles, was sie heute erlebten, hatte sie erregt. Odysseus hatte fliehen, Odysseus hatte sich verstecken müssen, man hatte ihn nicht gefangen, der große listenreiche Odysseus war den Häschern entkommen, er hatte Susanne Kirke die Sirenen betört, oder sie hatten ihn betört, und vielleicht hatte er Nausikaa erobert. Wenn das nicht erregte? Es erregte. Es erregte sie beide. Die Schlange mit den vier Beinen, die so geschmeidig sich windende Schlange wurde von allen bewundert. Nie würden sie sich aus dieser Umschlingung lösen. Die Schlange hatte vier Beine und zwei Köpfe, ein weißes und ein schwarzes Gesicht, aber nie würden die Köpfe sich gegeneinander wenden, nie die Zungen gegeneinander geifern: sie würden sich nie verraten, die Schlange war ein Wesen gegen die Welt.
Er war nicht die Rote Schlange, er war Wildtöter. Der rothaarige Amerikaner junge war die Rote Schlange. Wildtöter beschlich die Rote Schlange. Heinz war in die Ruine eines Geschäftshauses geklettert. Vom Stumpf der gesprengten Mauer konnte er in den Saal des Bräuhauses blicken. Die Prärie wogte. Büffelherden zogen durch das Gras. Das Licht der Saallampen, an riesige Wagenräder gehängte Leuchten, verdämmerte in der Ausdünstung der Menschen und des Bieres wie in einem Nebel. Heinz konnte niemand erkennen. Wild töter mußte die blauen Berge verlassen. Er mußte sich auf Schleichwegen durch die Prärie bewegen. Er duckte sich unter Tische und Bänke. Da entdeckte er einen Feind, den er hier nicht vermutet hatte. Frau Behrend saß überraschenderweise im Bräuhaus und trank Bier. Heinz mochte die Großmutter nicht. Frau Behrend wollte Heinz in eine Erziehungsanstalt geben. Frau Behrend war eine gefährliche Frau. Was tat sie im Bräuhaus? War sie jeden Abend hier? Oder war sie nur heute hier, um Heinz aufzulauern? Ahnte sie, daß er auf dem Kriegspfad war? Heinz durfte sich nicht sehen lassen. Aber es lockte ihn, Frau Behrend einen Streich zu spielen. Es war eine Mutprobe. Er durfte sich ihr nicht entziehen. Die Kapelle spielte Fuchs-du-hast-die-Gans-gestohlen. Der Saal hatte sich wieder erhoben. Alle hatten sich untergefaßt und sangen das Lied. Frau Behrend war von zwei kahlköpfigen Geschäftsleuten untergefaßt und sang gib-sie-wieder-her. Heinz wollte Frau Behrend das Bier ausschütten. Er drängte sich hinter Frau Behrend und die dicken kahlköpfigen Geschäftsleute. Aber als er dicht hinter Frau Behrend stand, traute sich Heinz nicht mehr, den Krug zu nehmen und das Bier auszuschütten. Er nahm nur das volle Schnapsglas, das neben dem Krug stand, und schüttete den Schnaps in das Bier. Dann entwischte er. Er war wieder Wildtöter, der die Rote Schlange suchte.
Ezra schwitzte. Er zitterte. Er glaubte zu ersticken. Auch sein Vater war nun ein Riese geworden, einer der deutschen Riesen in dem deutschen Zauberwald. Christopher stand neben den andern und sang sonst-wird-dich -der-Jäger-holen-mit-dem-Schießgewehr. Er kannte die Worte nicht, er konnte sie nicht aussprechen, aber er bemühte sich, sie zu singen, und zuweilen unterstützte ihn sein deutscher Nachbar, stieß ihn an und sang die Worte deutlicher silbentrennend und belehrend Schieß-ge-wehr, und Christopher nickte und lachte und hob den Bierkrug gegen den Nachbar, und dann bestellten Christopher und der Nachbar Würste und Rettiche, und sie aßen zusammen Würste und Rettiche, und Christopher ahnte nicht, daß sein Kind sich fürchtete. Wildtöter hatte sie gefunden. Er suchte den Blick der Roten Schlange und machte ihr ein Zeichen. Es war soweit. Ezra konnte dem Kampf nicht ausweichen. Der deutsche Junge war sein ihm von den Riesen des Waldes erwählter Gegner. Mit ihm mußte er sich messen. Mit ihm mußte er ringen. Wenn er den Jungen besiegte, hatte er den Wald besiegt. »Ich geh zum Auto«, sagte Ezra. - Christopher sagte: »Was willst du im Wagen? Bleib hier.« - »Ich sitz lieber im Auto«, sagte Ezra. »Komm auch bald. Wir müssen nach Hause fahren. Wir müssen ganz schnell nach Hause fahren.« Christopher dachte ›Ezra hat recht, es gefällt ihm nicht, es ist nichts für einen Jungen, er ist noch zu klein, ich werde mein Bier austrinken, und dann werde ich ihn ins Hotel fahren, ich kann ja noch mal zurückkommen wenn ich noch weiter Bier trinken will, wenn Ezra schläft kann ich zurückkommen und weiter Bier trinken. Es gefiel ihm. Das Bräuhaus gefiel ihm sehr. Es gefiel ihm, zu denken, daß er zurückkommen und weiter Bier trinken würde.
Die Fama erreichte Frau Behrend. Ein Neger hatte gemordet, Neger waren Verbrecher, die Polizeisirenen kreischten, man suchte den Neger. »Es ist eine Schande«, sagte Frau Behrend. »Sie sind wie die wilden Tiere. Sie sind wie wilde reißende Tiere. Man sieht es ihnen ja an. Ich könnte Ihnen Geschichten erzählen.« Der Geschäftsmann zur Linken von Frau Behrend verdächtigte sie im stillen, seinen Schnaps ausgetrunken zu haben. Er dachte ›sieh mal an, die Alte, ganz munter, trinkt heimlich meinen Schnaps und tut, als sei nichts gewesene Aber er fand, daß Frau Behrend eine anständige Gesinnung hatte. Mochte sie den Schnaps getrunken haben, sie hatte eine anständige Gesinnung, er würde ihr noch einen bestellen. Frau Behrend dachte ›ich könnte es nicht erzählen, ich brächte es nicht über mich, aber wenn ich es erzählen könnte -‹. Sie malte sich das Erstaunen und die Entrüstung der Geschäftsleute aus. Sie dachte ›der Vater mit einem ausländischen Flitscherl und die Tochter mit einem Neger ‹. Und der amerikanische Neffe? Der Neffe hatte sich gedrückt. Er hatte sie genarrt. Er war nicht im Bräuhaus erschienen. Frau Behrend tat ergrimmt einen tiefen Zug aus ihrem Krug. Mit den Ausländern kannte man sich nicht aus. Bei den Steinkrügen sah man nicht, wieviel man noch drin hatte. Sollte sie wirklich schon das Bier ausgetrunken haben? Es war wahr; der Saal, die Musik, die Menschen, das Singen, die Erregung, der Ärger, die Verbrechen der Neger - alles machte einen durstig. Auch der andere Geschäftsmann dachte, daß Frau Behrends Gesinnung gut sei. Ihr Krug war leer. Er würde sie zu einem weiteren Bier einladen. Die Frau sah noch ganz gut aus. Aber vor allem hatte sie die richtige Gesinnung. Darauf kam es an. Was wollten die Neger hier? Es war eine Schande! Die Geschäftsleute hatten keine schwarzen Kunden.
»Wo ist der Hund?« fragte Ezra, »ich will ihn sehen.« Die Rote Schlange wollte den Hund sehen. Wildtöter hatte es gefürchtet. Es konnte alles noch an dem verdammten, ausgekniffenen Hund scheitern. Heinz mußte Zeit gewinnen. Er sagte: »Kommen Sie in dieses Haus. Ich werde Ihnen dann den Hund zeigen.« Die Kinder begegneten einander steif und mit Würde. Sie sprachen miteinander, als ob sie die Sätze aus einem Reisediktionär für vornehme Leute gelernt hätten. Heinz führte Ezra in das zerstörte Geschäftshaus. Er kletterte auf den Mauerstumpf. Ezra folgte ihm. Er wunderte sich nicht, daß Heinz ihn in eine Ruine führte. Auch Ezra wollte Zeit gewinnen. Auch er hatte noch immer keinen festen Plan. Er sorgte sich, ob Christopher rechtzeitig zum Auto kommen würde. Er mußte rechtzeitig zum Auto kommen und schnell davonfahren. Alles hing davon ab, daß Christopher rechtzeitig davonfahren würde. Sie saßen auf dem Mauerstumpf und blickten in den Saal des Bräuhauses. Für eine Weile fanden sie sich ganz nett. ›Wir könnten uns eine Schleuder machen und Steine in das Fenster schießen, Steine in die Prärie, Steine auf die Büffel‹ dachte Heinz. ›Von hier draußen sehen die Riesen nicht so furchtbar aus‹, dachte Ezra. ›Es hat keinen Zweck, es länger hinauszuzögern‹ dachte Heinz. Er hatte wahnsinnige Angst. Er hätte sich lieber nicht drauf einlassen sollen. Aber da er sich nun mal drauf eingelassen hatte, mußte er es auch durchführen. Er fragte: »Haben Sie die zehn Dollar bei sich?« Ezra nickte. Er dachte ›jetzt geht es los, ich muß siegen‹. Er sagte: »Wenn ich Ihnen das Geld zeige, rufen Sie dann den Hund?« Heinz nickte. Er rückte etwas zum Rand der Mauer. Von dort konnte er leicht abspringen. Wenn er das Geld gepackt hatte, konnte er abspringen. Er konnte auf eine niedrigere Mauer springen und dann durch die Ruine zur Bäckergasse laufen. Der amerikanische Junge würde ihm nicht folgen. Er würde in der Ruine hinfallen. Er würde Zeit verlieren und ihn in der Bäckergasse nicht mehr erwischen. Ezra sagte: »Wenn Sie ihn gerufen haben, kann ich dann den Hund mit in das Bräuhaus nehmen und ihn meinem Vater zeigen?« Er dachte ›wenn ich den Hund habe, müssen wir weg, Christopher muß dann losfahren‹. Heinz sagte: »Erst müssen Sie mir die zehn Dollar geben.« Er dachte ›zeig du was du willst, dir zeig ich es schon‹. Ezra sagte: »Erst muß mein Vater den Hund sehen.« - »Sie haben das Geld garnicht«, schrie Heinz. »Ich habe das Geld, aber ich kann es Ihnen erst geben, wenn mein Vater den Hund gesehen hat.« - ›Falscher Hund‹ dachte Heinz. Der war schlau. Die Rote Schlange war schlauer, als Heinz gedacht hatte. »Sie bekommen den Hund nicht, bevor ich nicht das Geld habe.« - »Dann ist nichts zu machen«, sagte Ezra. Seine Stimme bebte. Heinz schrie wieder: »Sie haben das Geld nicht!« Er war dem Weinen nahe. »Ich habe es!« rief Ezra. Seine Stimme überschlug sich. »Dann zeigen Sie es! Zeig's doch, blöder Hund, Hund blöder, zeig's doch, wenn du's hast!« Heinz hielt die Spannung nicht länger aus. Er fiel aus dem vornehmen Konversationston und packte Ezra. Ezra stieß ihn zurück. Die Knaben rangen. Sie rangen auf der Ruinenmauer, die unter den Bewegungen ihres erbitterten Ringens, unter der Erschütterung ihrer wütenden Stöße zu bröckeln begann. Der von der Hitze des Brandes ausgedörrte Mörtel rieselte aus den Fugen zwischen den Steinen, und die Mauer stürzte mit den kämpfenden Jungen ein. Sie schrien. Sie schrien um Hilfe. Sie schrien deutsch und englisch um Hilfe. Die Polizisten auf dem Platz hörten die Schreie. Die deutschen Polizisten hörten die Schreie, und die amerikanischen Militärpolizisten hörten die Schreie. Auch die Negerpolizisten hörten die Schreie. Die Sirene des amerikanischen Polizeijeeps schrillte. Die Sirenen der deutschen Streifenwagen antworteten.
Die Schreie der Sirenen drangen in den Bräuhaussaal und entzündeten die Biergeister. Die Fama, die allmächtige Unheil webende Fama erhob aufs neue ihr Haupt und kündete ihre Mär. Die Neger hatten ein neues Verbrechen begangen. Sie hatten ein Kind in die Ruinen gelockt und es erschlagen. Die Polizei war am Tatort. Die verstümmelte Leiche des Kindes war gefunden worden. Die Volksstimme gesellte sich der Fama. Die Fama und die Volksstimme sprachen im Chor: »Wie lange wollen wir das noch mit ansehen? Wie lange wollen wir uns das noch gefallen lassen?« Vielen war der Negerclub ein Ärgernis. Vielen waren die Mädchen, die Frauen, die sich mit Negern einließen, ein Ärgernis. Die Neger in Uniform, ihr Club, ihre Mädchen, waren sie nicht ein schwarzes Symbol der Niederlage, der Schmach des Besiegtseins, waren sie nicht das Zeichen der Erniedrigung und der Schande? Noch einen Augenblick lang zögerte die Menge. Der Führer fehlte. Ein paar Burschen brachen als erste auf. Dann folgten sie alle, folgten mit roten Gesichtern, schwer atmend und erregt. Christopher wollte gerade zum Wagen gehen. Er fragte: »Was ist los? Warum rennen sie alle?« Der Mann, mit dem Christopher Rettich gegessen hatte, sagte: »Die Nigger haben ein Kind umgebracht. Ihre Nigger!« Er stand auf und sah Christopher herausfordernd an. Christopher rief: »Ezra!« Er lief mit der Menge auf den Platz und rief: »Ezra!« Sein Ruf ging unter im Geheul der erregten Stimmen. Er konnte sich zu seinem Auto nicht durchdrängen. Er dachte ›warum ist keine Polizei auf dem Platz?‹ Der Eingang zum Negerclub war unbewacht. Hinter den großen Fensterscheiben leuchteten rote Vorhänge. Man hörte Musik. Die Musik des Herrn Behrend spielte Hailelujah. »Schluß mit der Niggermusik«, schrie die Volksstimme. »Schluß, Schluß«, rief Frau Behrend. Die beiden kahlköpfigen Geschäftsmänner stützten sie. Frau Behrend schwankte ein wenig, aber ihre Gesinnung war vorzüglich. Man mußte sie stützen. Man mußte die gute Gesinnung stützen. In einem Auflauf weiß man nie, wer den ersten Stein wirft. Wer den ersten Stein wirft, weiß nicht, warum er es tut, es sei denn, man habe ihn dafür bezahlt. Aber einer wirft den ersten Stein. Die andern Steine fliegen dann schnell und leicht. Die Fenster des Negerclubs zerbrachen unter den Steinen.
›Alles zerbricht‹, dachte Philipp, ›wir können uns nicht mehr verständigen, nicht Edwin redet, der Lautsprecher spricht, auch Edwin bedient sich der Lautsprechersprache, oder die Lautsprecher, diese gefährlichen Roboter, halten auch Edwin gefangen: sein Wort wird durch ihren blechernen Mund gepreßt, es wird zur Lautsprechersprache, zu dem Weltidiom, das jeder kennt und niemand versteht.‹ Immer wenn Philipp einen Vortrag hörte, mußte er an Chaplin denken, jeder Redner erinnerte ihn an Chaplin. Er war auf seine Weise ein Chaplin. Im ernstesten und traurigsten Vortrag mußte Philipp über Chaplin lachen. Chaplin bemühte sich, seine Gedanken zu äußern, Erkenntnisse zu vermitteln, freundliche und weise Worte in das Mikrophon zu sprechen, aber die freundlichen und weisen Worte stürzten wie Fanfarenstöße, wie laute Lügen und demagogische Parolen aus den Schalltrichtern. Der gute Chaplin am Mikrophon hörte nur seine Worte, er hörte die freundlichen und weisen Worte, die er in das Tonsieb sprach, er hörte seine Gedanken, er lauschte seinem Seelenklang, aber er vernahm nicht das Brüllen der Lautverstärker, es entgingen ihm ihre Simplifikationen und ihre dummen Imperative. Am Ende seiner Ansprache glaubte Chaplin sein Auditorium zur Besinnlichkeit geführt und es lächeln gemacht zu haben. Er war peinlich überrascht, wenn die Leute aufsprangen, Heil riefen und sich zu prügeln begannen. Edwins Zuhörer würden sich nicht prügeln. Sie schliefen. Die Leute, die sich vielleicht gerauft hätten, schliefen. Wer nicht schlief, würde sich auch nicht raufen. Es waren die Sanften, die nicht schliefen. Bei einem andern Chaplin hätten die Wilden nicht geschlafen, und die Sanften wären eingenickt. Die Wilden hätten dann die Friedfertigen unsanft geweckt. In Edwins Vortrag würde niemand geweckt werden. Der Vortrag würde völlig folgenlos bleiben. Als erster war Schnakenbach eingeschlafen. Befinde hatte ihn von den Mikrophonen weggeführt. Er hatte Schnakenbach zwischen sich und die Philosophieklasse des Priesterseminars gesetzt. Er dachte ›weder sie noch ich können ihm helfen, wir erreichen ihn nicht‹. Gab es Schnakenbach überhaupt? Für Schnakenbach war der Saal, waren der vorlesende Dichter und seine Zuhörer ein nicht zu rechter Reaktion kommender chemisch-physikalischer Prozeß. Schnakenbachs Weltbild war unmenschlich. Es war völlig abstrakt. Seine Schulmeisterausbildung hatte Schnakenbach noch ein äußerlich intaktes Weltbild, das Weltbild der klassischen Physik, vermittelt, in der alles schön kausalgesetzlich zuging und in der Gott in einer Art Austragsstübchen, belächelt, aber geduldet, wohnte. In dieser Welt hätte sich auch noch Schnakenbach einrichten können. Seine Jahrgangskollegen richteten sich ein. Sie fielen im Krieg und hinterließen Frauen und Kinder. Schnakenbach wollte nicht in den Krieg ziehen. Er war unverheiratet. Er fing an nachzudenken, und er fand, daß das ihm überlieferte Weltbild nicht mehr stimmte. Vor allem entdeckte er, daß es schon Gelehrte gab, die wußten und verkündeten, daß dieses Weltbild nicht stimmte. Schnakenbach, um der Kaserne zu entgehen, schluckte Schlafentzugsmittel und studierte Einstein, Planck, de Broglie, Jeans, Schrödinger und Jordan. Er sah nun in eine Welt, in der Gottes Austragsstüblein aufgehoben war. Entweder gab es Gott garnicht oder Gott war tot, wie Nietzsche behauptet hatte, oder, auch dies war möglich und war so alt wie neu, Gott war überall, doch er war gestaltlos, kein Gottvater mit Bart, und der ganze Vaterkomplex der Menschheit von den Propheten bis Freud erwies sich als selbstquälerischer Irrtum des Homo sapiens, Gott war eine Formel, ein Abstrakt um, vielleicht war Gott Einsteins allgemeine Theorie der Schwerkraft, war das Kunststück der Balance in einer sich immer ausdehnenden Welt. Wo Schnakenbach auch war, er war die Mitte und der Kreis, er war der Anfang und das Ende, aber er war nichts Besonderes, jeder war Mitte und Kreis, Anfang und Ende, jeder Punkt war es, das Schlafkorn in seinem Auge, die ihm reichlich zugemessene Gabe des Sandmanns, war noch ein zusammengesetztes Ding, ein Mikrokosmos für sich mit Atomsonnen und Trabanten, Schnakenbach sah eine mikrophysikalische Welt, bis zum Bersten angefüllt mit dem Kleinsten, und, freilich, sie barst, barst fortwährend, explodierte in die Weite, entfloh in den unbeschreibbaren, den endlich unendlichen Raum. Der schlafende Schnakenbach war in dauernder Bewegung und Verwandlung; er empfing und verströmte Kräfte; aus den fernsten Teilen des Alls kamen sie zu ihm und flohen ihn, sie reisten mit AÜberlichtgeschwindigkeit und reisten Milliarden Lichtjahre, es kam auf die Betrachtungsweise an, erklären ließ es sich nicht, es ließ sich vielleicht in ein paar Zahlen aufnotieren, vielleicht konnte man es auf die abgerissene Hülle einer Pillenpackung schreiben, vielleicht brauchte man ein Elektronengehirn, um eine Annäherungsziffer zu finden, die wahre Summe würde unbekannt bleiben, vielleicht hatte der Mensch abgedankt. Edwin sprach von der Summa theologiae der Scholastik. »Veni creator spiritus, komm Schöpfer Geist, bleib Schöpfer Geist, nur im Geiste sind wir.« Edwin rief die großen Namen Homer, Vergil, Dante, Goethe. Er beschwor die Paläste und die Ruinen, die Dome und die Schulen. Er sprach von Augustin, Anselm, Thomas, Pascal. Er erwähnte Kierkegaard, die Christenheit sei nur noch ein Schein, und doch, sagte Edwin, sei dieser Schein, der vielleicht letzte Abendschein des müden Europas, das einzige wärmende Licht in der Welt. Die Modeschöpfer schliefen. Ihre Puppen schliefen. Alexander, der Erzherzogdarsteller, schlief. Sein Mund stand offen; Leere strömte ein und aus. Messalina kämpfte mit dein Schlaf. Sie dachte an Philipp und die reizende Grünaugige, und ob man nicht vielleicht doch noch Edwin für die Party gewinnen könne. Miss Wes-cott schrieb nach, was sie nicht verstand, aber für bedeutend hielt. Miss Burnett dachte ›ich habe Hunger, immer wenn ich einen Vortrag höre, kriege ich furchtbaren Hunger, mit mir muß was nicht stimmen: ich fühle mich nicht erhoben, ich fühle mich hungrige Alfredo, die zarte ältliche Lesbierin, hatte die Wange auf Hänschens Konfirmandenanzug gelegt und träumte etwas furchtbar Unanständiges. Häuschen dachte ›ob sie Geld hat?‹ Er war eine kleine Rechenmaschine; aber er war noch unerfahren, sonst hätte er wissen müssen, daß die arme Alfredo kein Geld hatte. Er hätte seinen Arm, auf den sie sich stützte, zurückgezogen. Hänschen war brutal. Jack versuchte, sich alles zu merken, was Edwin sagte. Jack war ein Papagei. Er sprach gern nach. Aber die Rede war zu lang. Sie ermüdete und verwirrte. Jack konnte sich immer nur für eine kleine Weile konzentrieren. Er hatte Sorgen. Er dachte an Hänschen. Hänschen wollte schon wieder Geld haben. Aber auch Jack hatte kein Geld. Kay war vom Whisky, den sie mit Emilia getrunken hatte, benommen. Sie verstand ihren Dichter nicht. Was er sprach, war schön und weise; aber es war wohl zu hoch, Kay verstand es nicht. Doktor Kaiser hätte es wohl verstanden. Sie saß unbequem auf ihrem Feuerwehrsitz, und sie legte sich in den Arm des deutschen Dichters, der hart auf dem Polizeistuhl saß. Sie dachte ›vielleicht ist der deutsche Dichter leichter zu verstehen, er wird nicht so klug wie Edwin sein, aber vielleicht hat er mehr Herz, die deutschen Dichter träumen, sie besingen den Wald und die Liebe‹. Philipp dachte ›sie schlafen, und doch ist Größe in seinem Vortrag, hatte der Irre nicht recht, als er uns wecken wollte? es ist einer von Behudes Patienten, Edwins Bemühung rührt mich, ich verehre ihn, jetzt verehre ich ihn, sein Vortrag ist eine vergebliche Beschwörung, er empfindet sicher auch wie vergebens die Beschwörung ist, vielleicht rührt mich das, Edwin ist einer von den rührenden hilflosen gequälten Sehern, er sagt uns nicht was er sieht, was er sieht ist furchtbar, er versucht einen Schleier vor sein Gesicht zu ziehen, nur manchmal lüftet er den Schleier vor dem Grauen, vielleicht gibt es kein Grauen, vielleicht ist nichts hinter dem Schleier, er spricht nur für sich, vielleicht spricht er noch für mich, vielleicht für die Priester, ein Augurengespräch, die andern schlafen‹. Er drückte seinen Arm fester um Kay. Sie schlief nicht. Sie wärmte ihn. Sie war warmes frisches Leben. Immer wieder empfand Philipp Kays freiere Existenz. Nicht das Mädchen, die Freiheit verführte ihn. Er betrachtete ihren Schmuck, ein mondbleiches Geschmeide aus Perlen, Email und diamantenen Rosen. ›Es paßt nicht zu ihr‹, dachte er, ›wo mag sie es herhaben, vielleicht hat sie geerbt, sie sollte keinen Schmuck tragen, dieser alte Schmuck stiehlt ihr etwas von ihrer Frische, vielleicht sollte sie Korallen tragen.‹ Der Schmuck kam ihm bekannt vor, aber er erkannte ihn nicht als Emilias Schmuck. Philipp hatte keinen Sinn für Juwelen und kein Gedächtnis für ihre Form und Gestalt, und außerdem vermied er es, Emilias Preziosen zu betrachten; er wußte, daß die Steine, die Perlen und das Gold Tränen herbeilockten, Tränen, die ihn bedrückten; Emilia mußte ihren Schmuck verkaufen, sie weinte, wenn sie ihn zum Juwelier trug, und von dem Erlös der Kostbarkeiten und der Tränen lebte auch Philipp. Es gehörte zu den Kalamitäten seiner Existenz, daß er allein, ohne Emilia, viel einfacher leben und sich erhalten konnte, aber da er Emilia liebte und mit ihr lebte, mit ihr die Tafel teilte und das Lager, beraubte er sie ihres Gutes und war, wie ein Vogel an der Rute, der Luxusbohème des Kommerzienratserbes verleimt und konnte seine natürlichen Schwingen zu den kleinen Flügen, die ihm bestimmt waren und die ihm sein Futter gegeben hätten, nicht mehr rühren. Es war eine Fesselung, Liebesfesselung, Bande des Eros, aber der Lebenslauf führte in die Abhängigkeit von der schlechten Verwaltung eines in Trümmer gesunkenen Vermögens, und das war eine andere Fesselung, eine ungewollte, die sich drückend auf das Empfinden der Liebe legte. ›Ich werde nie wieder frei sein‹, dachte Philipp, ›ich habe mein Leben lang die Freiheit gesucht, aber ich habe mich verlaufene Edwin erwähnte die Freiheit. Der europäische Geist, sagte er, sei die Zukunft der Freiheit, oder die Freiheit werde keine Zukunft mehr in der Welt haben. Hier wandte sich Edwin gegen einen Ausspruch der seinen Zuhörern völlig unbekannten amerikanischen Dichterin Gertrude Stein, von der erzählt wird, daß Hemingway bei ihr zu schreiben gelernt habe. Gertrude Stein und Hemingway waren Edwin gleichermaßen unsympathisch, er hielt sie für Literaten, Boulevardiers, zweitrangige Geister, und sie wieder gaben ihm die Nichtachtung reichlich zurück und nannten ihn ihrerseits einen Epigonen und sublimen Nachäffer der großen toten Dichtung der großen und toten Jahrhunderte. Wie Tauben im Gras, sagte Edwin, die Stein zitierend, und so war doch etwas von ihr Geschriebenes bei ihm haften geblieben, doch dachte er weniger an Tauben im Gras als an Tauben auf dem Markusplatz in Venedig, wie Tauben im Gras betrachteten gewisse Zivilisationsgeister die Menschen , indem sie sich bemühten, das Sinnlose und scheinbar Zufällige der menschlichen Existenz bloßzustellen, den Menschen frei von Gott zu schildern, um ihn dann frei im Nichts flattern zu lassen, sinnlos, wertlos, frei und von Schlingen bedroht, dem Metzger preisgegeben, aber stolz auf die eingebildete, zu nichts als Elend führende Freiheit von Gott und göttlicher Herkunft. Und dabei, sagte Edwin, kenne doch schon jede Taube ihren Schlag und sei jeder Vogel in Gottes Hand. Die Priester spitzten die Ohren. Bearbeitete Edwin ihren Acker? War er nichts als ein Laienprediger? Miss Wescott hörte auf, die Rede mitzuschreiben. Hatte sie, was Edwin jetzt sagte, nicht schon einmal vernommen? Waren es nicht ähnliche Gedanken, die Miss Burnett auf dem Platz der Nationalsozialisten geäußert hatte, hatte nicht auch sie die Menschen mit Tauben oder mit Vögeln verglichen und ihr Dasein als zufällig und gefährdet geschildert? Miss Wescott blickte überrascht auf Miss Burnett. War der Gedanke, daß der Mensch sich gefährdet und als Objekt des Zufalls empfand, so allgemein, daß ihn der verehrte Dichter und die viel weniger verehrte Lehramtskollegin fast gleichzeitig äußern konnten? Miss Wescott verwirrte das. Sie war keine Taube oder sonst ein Vogel. Sie war ein Mensch, eine Lehrerin, sie hatte ein Amt, auf das sie sich vorbereitet hatte und immer wieder vorbereitete, sie hatte Pflichten, und sie suchte sie zu erfüllen. Miss Wescott fand, daß Miss Burnett hungrig aussah; ein seltsam hungriger Ausdruck lag in Miss Burnetts Gesicht, als habe die Welt, als hätten Edwins Erleuchtungen sie schrecklich hungrig gemacht. Philipp dachte ›jetzt wendet er sich Goethe zu, es ist fast deutsch, wie Edwin sich jetzt auf Goethe beruft, auf das Gesetz-nach-dem-wir-angetreten, und er sucht wie Goethe die Freiheit in diesem Gesetz: er hat sie nicht gefundene. Edwin hatte sein letztes Wort gesprochen. Die Lautsprecher knirschten und knackten. Sie knirschten und knackten weiter, als Edwin geendet hatte, und das wortlose Knirschen und Knacken in ihren zahnlosen Mündern riß die Zuhörer aus Schlaf, Traum und abwegigem Denken.
Die Steine, die Steine, die sie geworfen hatte, das klirrende Glas, die fallenden Scherben erschreckten die Menge. Die Älteren fühlten sich an etwas erinnert; sie fühlten sich an eine andere Blindheit, an eine frühere Aktion, an andere Scherben erinnert. Mit Scherben hatte es damals begonnen, und mit Scherben hatte es geendet. Die Scherben, mit denen es endete, waren die Scherben ihrer eigenen Fenster gewesen. »Hört auf! Wir müssen es doch bezahlen«, sagten sie. »Wir müssen's doch immer bezahlen, wenn etwas kaputt geht.« Christopher hatte sich vorgedrängt. Er wußte nicht recht, um was es ging, aber er hatte sich vorgedrängt. Er stellte sich auf einen Stein und rief: »Seid doch vernünftig, Leute!« Die Leute verstanden ihn nicht. Aber da er die Arme so schützend ausgebreitet hielt, lachten sie und sagten, es sei der heilige Christopherus. Auch Richard Kirsch war vorgelaufen. Sein Fräulein hatte gemahnt »kümmere dich nicht darum, misch dich nicht ein, es geht dich nichts an«, aber er war doch vorgelaufen. Er war bereit, mit Christopher zusammen Amerika zu verteidigen, das schwarze Amerika, das hinter ihm lag, das dunkle Amerika, das sich hinter zerbrochenen Fenstern und wehenden roten Vorhängen versteckte. Die Musik hatte aufgehört zu spielen. Die Mädchen kreischten. Sie riefen um Hilfe, obwohl ihnen niemand etwas tat. Der Luftzug, der durch die zersplitterten Fenster drang, legte sich wie eine Lähmung auf die schwarzen Soldaten. Sie fürchteten nicht die Deutschen. Ihr Schicksal, das sie verfolgte, die lebenslängliche Verfolgung, die sie auch in Deutschland nicht freigab, verfinsterte und lähmte sie. Sie waren entschlossen, sich zu verteidigen. Sie waren entschlossen, sich auf dem Boden des Clubs zu verteidigen. Sie würden kämpfen, sie würden in ihrem Club kämpfen, aber die Lähmung hinderte sie, sich in das Meer zu stürzen, in das Meer der weißen Menschen, in diese weiße See, die meilenweit um ihre kleine schwarze Insel brandete. Die Sirenenwagen der Polizei rückten an. Man hörte ihre gellenden Rufe. Man hörte Pfiffe, Geschrei und Gelächter. »Komm«, sagte Susanne. Sie kannte einen Ausweg. Sie nahm Odysseus an die Hand. Sie führte ihn durch einen dunklen Gang, an Mülltonnen vorbei über einen Hof und zu einer niedrigen eingestürzten Mauer. Susanne und Odysseus kletterten über die Mauer. Sie tasteten sich durch eine Ruine und erreichten eine verlassene Gasse. »Schnell!« sagte Susanne. Sie eilten die Gasse entlang. Das Geräusch ihrer Schritte wurde übertönt vom unaufhörlichen Heulen der Sirenen. Die Polizei drängte die Menge zurück. Ein Kordon der Militärpolizei stellte sich vor den Eingang des Clubs. Wer den Club verlassen wollte, wurde kontrolliert. Christopher fühlte sich von einer kleinen Hand von seinem Stein gezerrt. Vor ihm stand Ezra. Sein Anzug war zerrissen, seine Hände und sein Gesicht waren verschrammt. Hinter Ezra stand ein fremder Junge; auch seine Kleider waren zerrissen, auch sein Gesicht und seine Hände waren verschrammt. Ezra und Heinz waren auf die Steine der einstürzenden Mauer gefallen. Sie hatten sich wehgetan. In der ersten Angst hatten sie um Hilfe gerufen. Aber dann, als sie die Polizeisirenen hörten, hatten sie sich gegenseitig von den Steinen aufgeholfen und waren zusammen in die Bäckergasse geflohen. Von dort hatten sie den Platz wieder erreicht. Sie wollten nichts mehr voneinander. Sie vermieden es, sich anzusehen. Sie waren aus Märchen und Indianergeschichten erwacht und schämten sich. »Frag nicht«, sagte Ezra zu Christopher, »frag nicht, ich möchte nach Hause fahren. Es ist nichts. Ich bin hingefallen.« Christopher drängte durch die Menge zu seinem Wagen. Aus dem Club kamen Washington und Carla. Sie gingen zu ihrem Auto. »Da ist er!« rief Frau Behrend. »Wer ist das?« riefen die kahlköpfigen Geschäftsmänner. Frau Behrend schwieg. Sollte sie ihre Schande hinausschreien? »Ist es der Taxi-mörder?« fragte der eine Kahlkopf. Er leckte sich die Mundwinkel. »Da geht der Taximörder«, rief der zweite Kahlkopf. »Die Frau sagt, es ist der Taximörder. Sie kennt ihn!« Dem zweiten Kahlkopf stand der Schweiß im Gesicht. Eine neue Welle der Wut schäumte aus der Menge. Die zerbrochenen Fenster hatten sie ernüchtert, aber da sie menschliches Wild sahen, erwachten ihre Jagdinstinkte, die Verfolgungswut und das Tötungsgelüste der Meute. Pfiffe gellten, »der Mörder und seine Hure« wurde gerufen, und wieder flogen die Steine. Die Steine flogen gegen die horizontblaue Limousine. Sie trafen Carla und Washington, sie trafen Richard Kirsch, der hier Amerika verteidigte, das freie, brüderliche Amerika, indem er den Gefährdeten beistand, die ruchlos geworfenen Steine trafen Amerika und Europa, sie schändeten den oft berufenen europäischen Geist, sie verletzten die Menschheit, sie trafen den Traum von Paris, den Traum von Washington's Inn, den Traum NIEMAND IST UNERWÜNSCHT, aber sie konnten den Traum nicht töten, der stärker als jeder Steinwurf ist, und sie trafen einen kleinen Jungen, der mit dem Schrei »Mutter« zum horizontblauen Wagen gelaufen war.
Der kleine Hund schmiegte sich dicht an Emilia an. Noch fürchtete er sich. Er fürchtete sich vor den anderen Hunden der Fuchsstraßenvilla, er fürchtete sich vor den Katzen und vor dem kreischenden Papagei, er fürchtete sich vor der kalten und toten Luft dieses Hauses. Aber die Tiere taten ihm nichts. Sie beruhigten sich. Sie hatten geknurrt, gejault, gekreischt, sie hatten ihn beschnuppert, und dann beruhigten sie sich. Sie wußten, der neue Hund würde bleiben. Er war ein neuer Gefährte, ein neuer Kollege, mochte er bleiben. Es war genug Essen für die Tiere in diesem Haus, wenn es auch für die Menschen nicht mehr reichte. Der Hund würde sich an die kalte und tote Luft gewöhnen, und Emilia war ihm ein Versprechen von Freundschaft und Wärme. Emilia aber fror. Sie hatte gehofft, daß Philipp in der Wohnung auf sie warten würde. Noch war sie Doktor Jekyll. Sie hatte noch nicht viel getrunken, sie wollte Doktor Jekyll bleiben. Doktor Jekyll wollte nett zu Philipp sein. Aber Philipp war nicht da. Er hatte sich ihr entzogen. Er hatte den lieben Doktor Jekyll nicht lieb gehabt. Wie Emilia das Haus haßte, aus dem sie niemals für immer fortgehen würde! Das Haus war ein Grab, aber es war das Grab der lebenden Emilia, und sie konnte es nicht verlassen. Wie haßte sie die Bilder, die Philipp aufgehängt hatte! Ein Kentaur mit einem nackten Weib auf dem Pferderücken, die Nachbildung eines pompejanischen Wandgemäldes, starrte sie mit höhnischem Lächeln an. In Wahrheit war das Gesicht des Kentauren ausdruckslos. Es war so ausdruckslos wie alle Gesichter auf den pompejanischen Bildern, aber Emilia schien es, daß der Kentaur sie verhöhnte. Hatte nicht auch Philipp sie entführt, nicht gerade auf einem Pferderücken, aber jung und nackt hatte er sie aus dem Glauben an den Besitz, aus dem schönen unschuldigen Glauben an das ewige Recht des Besitzes gerissen und sie in das Reich der Intellektualität, der Armut, des Zweifels und der Gewissensnot geführt. In einem dunklen Rahmen hing ein Stich des Piranesi, das Gemäuer des alten Aquäduktes in Rom, eine Mahnung an Untergang und Verfall. Nur Moder umgab Emilia, Stücke der Kommerzienratserbschaft, tote Bücher, toter Geist, tote Kunst. Dieses Haus war nicht zu ertragen. Hatte sie nicht Freunde? Hatte sie nicht Freunde unter den Lebenden? Konnte sie nicht zu Messalina und Alexander gehen? Bei Messalina gab es Musik und Getränke, bei Messalina wurde getanzt, bei Messalina gab es Vergessen. ›Wenn ich jetzt gehe‹, sagte sie sich, ›werde ich als Mister Hyde nach Hause kommen.‹ ›Schön‹, sagte sie sich, ›Philipp ist nicht hier. Wenn er es anders wollte, wäre er hier. Soll ich hier auf ihn warten? Bin ich eine Witwe? Will ich wie ein Eremit leben? Und wenn Philipp hier wäre? Was wäre dann? Nichts wäre! Keine Musik, kein Tanz. Wir würden uns düster gegenübersitzen. Die Liebe bliebe uns noch, die erotische Verzweiflung. Warum soll ich nicht trinken, warum nicht Mister Hyde sein?‹
Philipp führte Kay aus dem Saal. Er sah noch, wie Edwin sich verneigte, wie lange er sein Gesicht zu Boden senkte, schäm voll die Augen schloß, als wäre der Dank, der ihm nun zuteil wurde, der Beifall, um den er geheim die Schauspieler und die Protagonisten der Zeit beneidet hatte, etwas Sichtbares und Gräßliches, aus reinem Mißverstehen entstanden, ein brutaler Niederschlag, der dem Nichtverstehen folgte, eine Befreiung der Zuhörer, die nichts von Edwins Worten begriffen hatten und die nun mit dem Beifallklatschen ihrer Hände noch den zarten und zärtlichen, den schon durch den Lautsprecher vergröberten und, als er sie erreichte, schon gestorbenen, schon toten, ja zu Staub und Moder gewordenen Anhauch seines Geistes als lästige Spinnwebe von sich streiften: es war eine Beschämung, und weil sie als Hohn und Beschämung und Sieg der Rührigkeit, der bloßen Konvention, des unrühmlichen Ruhmbetriebes und des Ungeistes von ihm erfaßt wurde, schloß der Dichter schamvoll die Augen. Philipp verstand ihn. Er dachte ›mein unglücklicher Bruder, mein lieber Bruder, mein großer Bruder‹. Emilia hätte gesagt: »Und mein armer Bruder? Das verschweigst du.« - »Gewiß. Auch mein armer Bruder«, hätte Philipp erwidert, »aber das ist unbedeutend. Was du arm nennst, ist das Herz des Dichters, um das sich Glück, Liebe und Größe der dichterischen Existenz legen, wie Schnee um den Kern der Lawine. Ein kaltes Bild, Emilia, aber Edwin, sein Wort, sein Geist, seine Botschaft, die in diesem Saal ohne sichtbare Wirkung blieben und keine wahrnehmbare Erschütterung hinterließen, zählen zu den großen Lawinen, die ins Tal unserer Zeit rollen.« - »Und zerstören«, hätte Emilia hinzugesetzt, »und Kälte verbreiten.« Aber Emilia war ja nicht da, sie war wohl zu Hause und schuf aus Schnaps und Wein den fürchterlichen Mister Hyde, der die Besitzzerstörung beweinte , der über die Zerstörung des Besitzes zum Süffel wurde und mit Zerstörung im kleinen, mit dem irren Toben des Betrunkenen gegen die große Zerstörung der Zeit kämpfte. Philipp führte Kay aus dem Saal. Sie entkamen den Lehrerinnen; sie entwischten Alexander und Messalina. Die kosmetisch gepflegten, gutangezogenen und vergleichsweise wohlsituierten amerikanischen Lehrerinnen standen arm wie verschüchterte deutsche Lehrerinnen im Vortragssaal. In ihre Merkbücher hatten sie tote Wörter geschrieben, eine Aufzählung toter Wörter, Grabzeichen des Geistes; Wörter, die sie nicht zum Leben, die sie zu keinem Sinn erwecken würden. Es erwartete sie eine Autobusheimfahrt ins Hotel, ein kalter Imbiß im Hotel, das Briefeschreiben nach Massachusetts wir-haben-eine-deutsche-Stadt-besichtigt,wir-haben-Edwin-gehört-es-war-wundervoll, es erwartete sie das Herbergsbett, und es war nicht viel anders als das Bett an anderen Orten der Reise. Was blieb? Der Traum blieb. Und dann die Enttäuschung mit Kay; die Reizende, die Schamlose, sie war mit dem deutschen Dichter, von dem man nicht mal wußte, wer er war und wie er hieß, davongelaufen, und es war sehr zu überlegen, ob man nicht die Polizei verständigen sollte, aber Miss Burnett war dagegen, und sie schüchterte Miss Wescott mit dem Skandal ein, den es wohl gäbe, wenn die Militärpolizei mit ihren Sirenenwagen die kleine treulose Kay suchen müßte. Das Amerikahaus, ein Führerbau des Nationalsozialismus, lag hinter Philipp und Kay. Das Haus sah, aus seinen symmetrisch aneinandergereihten Fenstern in die Nacht leuchtend, wie gewisse Museen aus, wie ein kolossales Grabmal der Antike, wie ein Bürogebäude, in dem der Nachlaß der Antike verwaltet wird, der Geist, die Heldensagen, die Götter. Kay wollte Philipp nicht begleiten, aber etwas in ihr sträubte sich nicht, ihn doch zu begleiten, und dieses Etwas riß die Kay, die nicht mit Philipp gehen wollte, mit, so stark war es, und es war Sehnsucht nach Romantik, Sehnsucht nach dem Ungewöhnlichen, Sehnsucht nach Erfahrung, nach besonderem Erleben, nach Abenteuer, nach Alter, nach Degeneration und Untergang, nach Opfer, Hingabe und Iphigenienmythe, es war Trotz, es war Überdruß an der Reisegesellschaft, es war die Erregung der Fremde, die Eile der Jugend, es war Emilias Whisky, es war, daß sie der schwärmenden, hemmungsvollen Liebe der Damen Wescott und Burnett müde war. Kay dachte ›er wird mich in seine Wohnung führen, ich werde die Wohnung eines deutschen Dichters sehen, das wird Doktor Kaiser interessieren, vielleicht wird der deutsche Dichter mich in seiner Wohnung verführen, Edwin wollte mich nicht verführen, ich hätte mich natürlich lieber von Edwin verführen lassen, aber Edwins Vortrag war langweilig, wenn ich ehrlich sein soll, war er kalt und langweilig, ich werde die einzige von unserer Reisegesellschaft sein, die zu Hause erzählen kann wie es ist wenn einen ein deutscher Dichter verführte Sie stützte sich auf Philipps Arm. Die Stadt war erfüllt vom Schrei der Polizeisirenen. Kay dachte ›es ist ein Dschungel, in dieser Stadt passieren sicher viele Verbrechen‹. Und Philipp dachte ›wo kann ich mit ihr hingehen? ich könnte in die Fuchsstraße gehen, aber Emilia ist vielleicht schon betrunken, sie ist Mister Hyde, wenn sie Mister Hyde ist kann sie keinen Gast empfangen, soll ich mit der Amerikanerin in das Hotel Zum Lamm gehen? das Hotel ist schäbig, es ist deprimierend, das hieße, das Lämmchen zum Lamm bringen, was will ich von ihr? will ich mit ihr schlafen? vielleicht könnte ich mit ihr schlafen, für sie ist es Reiseromantik, ich bin für sie so etwas wie ein ältlicher Strichjunge, das Gedicht über die Porta Nigra von George: fühle ich den Hochmut des alten Strichjungen? Kay ist reizend, aber ich bin gar nicht versessen darauf, ich will gar nicht sie, ich will das andere Land, ich will die Weite, ich will die Ferne, einen anderen Horizont, ich will die Jugend, das junge Land, ich will das Unbeschwerte, ich will die Zukunft und das Vergängliche, den Wind will ich, und da ich nichts anderes will wäre das andere ein Verbrechen?‹ Nach ein paar Schritten dachte Philipp ›ich will das Verbrechen‹.
Sie lagen zusammen, weiße Haut, schwarze Haut, Odysseus Susanne Kirke die Sirenen und vielleicht Nausikaa, sie schlängelten sich, schwarze Haut weiße Haut, in einer Kammer, die sich windig auf ein paar Balken stützte und fast wie ein kleiner Ballon über der Tiefe schwebte, denn die Grundmauern des Hauses waren an dieser Seite fortgerissen, eine Bombe hatte sie zur Seite gerissen, und nie würden sie wieder errichtet werden. Die Wände der Kammer waren mit Schauspielerbildern beklebt, die meistbetrachteten, die repräsentativen Gesichter der Zeit blickten mit ihrer dummen Wohlgeformtheit, mit ihrer leeren Schönheit auf sie herab, die auf den Kissen lagen, schwarz und weiß, auf den Kissen, die wie Tiere, wie Teufel und langbeinige Vamps geformt waren, nackt weiß und schwarz, sie lagen wie auf einem Floß, im Taumel der Vermischung lagen sie wie auf einem Floß, nackt und schön und wild, sie lagen unschuldig auf einem Floß, das in die Unendlichkeit segelte.
»Eine Unendlichkeit! Aber eine Unendlichkeit zusammengefügt aus allerkleinsten Endlichkeiten, das ist die Welt. Unser Körper, unsere Gestalt, das, von dem wir denken, daß wir es sind, das sind nur lauter Pünktchen, kleine aller-allerkleinste Pünktchen. Aber die Pünktchen, die haben es in sich: das sind Kraftstationen, allerallerkleinste Kraftstationen von allergrößter Kraft. Alles kann explodieren! Aber die Milliarden Kraftstationen sind für den kleinsten Augenblick, für unser Leben, wie Sand in diese Form geweht, die wir unser Ich nennen. Ich könnte Ihnen die Formel aufzeichnen.« Schnakenbach wankte im Halbschlaf, auf Behudes Arm gestützt, nach Hause. Sein armer Kopf sah wie ein gerupftes Vogelhaupt aus. ›Es ist blödsinnige dachte Behude ›aber was kann ich ihm entgegnen? Es ist Blödsinn, aber vielleicht hat er recht, wir kennen uns weder im Kleinen noch im Großen aus, wir sind garnicht mehr zu Hause in dieser Welt, die Schnakenbach mir in einer Formel deuten will, wußte Edwin eine Deutung? Er wußte keine, sein Vortrag ließ mich kalt, er führte auch nur in eine kalte finstere und ausweglose Gasse.‹
Edwin hatte sich aller Gesellschaft entzogen, wie ein alter Aal hatte er sich allen Einladungen entwunden, auch der Heimfahrt im Konsulatswagen war er entkommen; über die Treppen des Amerikahauses, die breiten Marmorstufen des Führerbaus, war er in die Nacht, in die Fremde und in das Abenteuer entwischt. Ein Dichter altert nicht. Sein Herz schlägt jung. Er war in die Gassen gegangen. Er ging ohne Plan, seiner Nase nach, seine große Nase führte ihn. Er fand die finsteren Gassen um den Bahnhof, die Anlagen um den Justizpalast, die Gassen der Altstadt, das Revier von Oscar Wildes goldenen Nattern. Edwin war in dieser Stunde Sokrates und Alkibiades. Er wäre gern Sokrates in Alkibiades' Leib gewesen, aber er war Alkibiades in Sokrates’ Körper, wenn auch aufrecht und wohlgekleidet. Sie erwarteten ihn. Bene, Kare, Schorschi und Sepp erwarteten ihn. Sie hatten schon lange auf ihn gewartet. Sie sahen nicht Sokrates und Alkibiades. Sie sahen einen alten Freier, einen alten Deppen, eine alte wohlhabende Tante. Sie wußten nicht, daß sie schön waren. Sie ahnten nicht, daß es ein Verfallensein an die Schönheit gibt und daß der Liebhaber im Geliebten, im Körper eines rüden Burschen, den Abglanz des ewig Schönen, das Unsterbliche lieben kann, die Seele, wie Plato sie anbetete. Bene, Schorschi, Kare und Sepp hatten auch Platen nicht gelesen wer-die-Schönheit-angeschaut-mit-Augen-ist-dem- Tode-schon-anheimgegeben. Sie sahen einen eleganten reichen Freier, ein komisches Geschäft, das ihnen nicht einmal ganz verständlich, das aber, wie sie aus Erfahrung wußten, mitunter einträglich war. Edwin sah ihre Gesichter. Er dachte ›sie sind stolz und schön‹. Er übersah nicht ihre Fäuste, ihre großen und grausamen Fäuste, aber hielt sich an ihre Gesichter, stolz und schön.
Es war ein Fest ohne Stolz und Schönheit. War es ein Fest? Was feierten sie? Feierten sie das Nichts? Sie sagten: »Wir feiern!« Aber sie ließen nur ihre trüben Sinne laufen. Sie tranken Champagner, und sie ließen die Trostlosigkeit leben, sie füllten die Lebensleere mit Geräuschen, sie jagten die Angst mit Mitternachtsmusik und schrillem Lachen. Es war ein scheußliches Fest. Es kam keine Stimmung auf; nicht einmal die Stimmung der Lust kam auf. Alexander schlief. Er schlief mit offenem Mund. Auch Alfredo schlief, ein spitzmäuliges, enttäuschtes, schlecht träumendes Kätzchen. Messalina tanzte mit Jack. Jack unterlag widerwillig in einem Freistilringen. Flanschen sprach mit Emilia von Geschäften. Er wollte wissen, ob der Besatzungsdollar eingezogen würde. Er wollte sich Bruchgold kaufen. Er wußte, daß Emilia etwas vom Handel verstand. Die kleine Rechenmaschine Hänschen-klein schnurrte. Emilia trank. Sie trank Champagner und scharfen brennenden Gin, sie trank hochprozentigen Cognac und schwere Pfälzer Spätlesen. Sie füllte sich voll. Sie trank alles durcheinander. Sie baute den Mister Hyde auf. Sie baute ihn böse und systematisch auf. Sie trank, um Messalina zu schädigen. Sie tanzte mit niemand. Sie ließ sich von niemand berühren. Sie war ein keuscher Süffel. Sie füllte hinein, was hineinging. Was kümmerte sie die Gesellschaft? Sie war hergekommen, um zu trinken. Sie lebte für sich. Sie war die Kommerzienratserbin. Das war genug. Man hatte die Erbin bestohlen; die Menschen hatten das Erbe angetastet. Das genügte ihr. Das genügte ihr von den Menschen. Mehr brauchte sie über die Menschen nicht zu wissen. Wenn sie ausgetrunken hatte, würde sie gehen. Sie hatte genug getrunken. Die Orgie interessierte sie nicht. Sie ging. Sie ging heim zu ihren Tieren. Sie ging heim, um zu toben, heim, um anzuklagen. Der feige Philipp würde sich dem Mr. Hyde nicht stellen, er würde sich dem Toben entziehen , sie mußte gegen den Hauswart toben, sie mußte gegen die verschlossenen Türen schreien, gegen die Türen, hinter denen nur Berechnung und Kälte wohnten.
Er schloß die Tür des Zimmers, und er sah, daß sie fror. Das häßliche Einbettzimmer, der schäbige Raum mit den billigen Schleiflackmöbeln, diese geschmacklose Einrichtung aus der Fabrik, war das die poetische Behausung, das Heim des deutschen Dichters? Er sah sie an, ›sie denkt, es ist eine Absteigen Er durfte jetzt nicht versuchen, zärtlich zu sein; er mußte sie niederwerfen, wie ein Kalb im Hof des Schlächters; er mußte sie niederwerfen, › da mit sie was von der Absteige hat‹. Verdorrt. Erstarrt. Er fühlte sich alt und fühlte sein Herz erkalten. Er dachte ›ich will nicht böse werden: kein Herz aus Stein‹. Er öffnete das Fenster. Die Hotelluft war dumpf und säuerlich. Sie atmeten die Nacht ein. Sie standen am Fenster des Hotels Zum Lamm und atmeten die Nacht ein. Ihr Schatten sprang in die Straße. Es war der Schatten der Liebe, eine flüchtige, vor überhuschen de Erscheinung. Sie sahen das Leuchtschild des Ecarteclubs aufflammen und das Kleeblatt des Glücks sich entfalten. Sie hörten die Sirenenwagen der Polizei. Sie hörten einen Hilferuf. Eine schrille englische Stimme rief um Hilfe. Es war nur ein kurzer kleiner Schrei, und dann starb der Schrei. »Das war Edwins Stimme«, sagte Kay. Philipp erwiderte nichts. Er dachte ›es war Edwin‹. Er dachte ›welche Sensation für das Neue Blatt‹. Selbst das Abendecho würde einen Überfallenen Dichter von Weltruhm auf die erste Seite setzen. Philipp dachte ›ich bin ein schlechter Reporter‹. Er rührte sich nicht. Er dachte ›kann ich noch weinen? habe ich noch Tränen? würde ich weinen, wenn Edwin tot wäre?‹ Kay sagte: »Ich möchte gehen.« Sie dachte ›er ist arm, wie arm er ist, er geniert sich, weil er so arm ist, wie arm ist dieses Zimmer, er ist ein armer Deutscher‹. Sie hakte den Schmuck ab, das mondbleiche Geschmeide aus Perlen, Email und diamantenen Rosen, den alten Großmutterschmuck, den Emilia ihr geschenkt hatte. Sie legte Emilias Versuch, eine freie und absichtslose Tat zu tun, auf die Fensterbank. Philipp verstand die Geste. Er dachte ›sie hält mich für einen Hungrigem. Die kleine Kay sah das Kleeblatt, das aufflammende Neonlicht und dachte ›das ist sein Wald, sein Eichenhain, sein deutscher Wald, in dem er wandelt und dichtet‹.
Mitternacht schlägt es vom Turm. Es endet der Tag. Ein Kalenderblatt fällt. Man schreibt ein neues Datum. Die Redakteure gähnen. Die Druckformen der Morgenblätter werden geschlossen. Was am Tage geschehen, geredet, gelogen, erschlagen und vernichtet war, lag in Blei gegossen wie ein flacher Kuchen auf den Blechen der Metteure. Der Kuchen war außen hart, und innen war er glitschig. Die Zeit hatte den Kuchen gebacken. Die Zeitungsleute hatten das Unheil umbrochen, Unglück, Not und Verbrechen; sie hatten Geschrei und Lügen in die Spalten gepreßt. Die Schlagzeilen standen, die Ratlosigkeit der Staatenlenker, die Bestürzung der Gelehrten, die Angst der Menschheit, die Glaubenslosigkeit der Theologen, die Berichte von den Taten der Verzweifelten waren vervielfältigungsbereit, sie wurden in das Bad der Druck er schwärze getaucht. Die Rotationsmaschinen liefen. Ihre Walzen preßten auf das Band des weißen Papiers die Parolen des neuen Tages, die Fanale der Torheit, die Fragen der Furcht und die kategorischen Imperative der Einschüchterung. Noch wenige Stunden, und müde, arme Frauen werden die Schlagzeilen, die Parolen, die Fanale, die Furcht und die schwache Hoffnung ins Haus des Lesers tragen; verfrorene, mißmutige Händler werden den Morgenspruch der Auguren an die Wände ihrer Kioske hängen. Die Nachrichten wärmen nicht. SPANNUNG, KONFLIKT, VERSCHÄRFUNG, BEDROHUNG. Am Himmel summen die Flieger. Noch schweigen die Sirenen. Noch rostet ihr Blechmund. Die Luftschutzbunker wurden gesprengt; die Luftschutzbunker werden wieder hergerichtet. Der Tod treibt Manöverspiele, BEDROHUNG, VERSCHÄRFUNG, KONFLIKT, SPANNUNG. Komm-du -nun-sanfter-Schlummer. Doch niemand entflieht seiner Welt. Der Traum ist schwer und unruhig. Deutschland lebt im Spannungsfeld, östliche Welt, westliche Welt, zerbrochene Welt, zwei Welthälften, einander Feind und fremd, Deutschland lebt an der Nahtstelle, an der Bruchstelle, die Zeit ist kostbar, sie ist eine Spanne nur, eine karge Spanne, vertan, eine Sekunde zum Atem holen, Atempause auf einem verdammten Schlachtfeld.