Neunter Tag
Himmelarsch, wir müssen halt Beweise finden, die auch den Richter und den Staatsanwalt überzeugen, und dann mach mer den Sack zu!«, schimpfte Kluftinger und fand selbst, dass er ein wenig nach Lodenbacher klang. Mittlerweile war es schon später Vormittag, in gut einer Stunde müssten sie das Ehepaar Fink wieder laufen lassen.
Sein kleiner Wutausbruch führte sofort zur Intensivierung des Drucks in seiner Brust, der heute Morgen eigentlich noch ganz erträglich gewesen war. Beim Blick in den Spiegel allerdings war er angesichts seiner dunklen Augenringe erschrocken.
»Glaubst du denn wirklich, dass sie es waren?«, warf Strobl ein.
»Was ich glaub, ist nicht wichtig.«
»Schon, aber du hast dich sonst immer auf dein Gefühl verlassen.«
»Ich hab irgendwie keine Intuition bei diesem ganzen Schlamassel. Das ist mir viel zu wirr alles. Keine Ahnung, wie das alles zusammenhängen soll.«
Die anderen zuckten mit den Schultern.
»Ich mein, die Täter müssen auf ihre Opfer einen Riesenhass gehabt haben, sonst hätten sie nicht alle so zugerichtet. Was also haben die ihnen angetan? Ich will nicht glauben, dass die nur aus Mordlust gehandelt haben. Wieso sollte es denn ausgerechnet diese Leute treffen?« Kluftinger lief nervös auf und ab. Niemand sprach ein Wort. »Also, was haben die alle gemeinsam? Na?«
Keine Reaktion.
»Irgendwie hat immer alles mit Herz zu tun, oder? Der Herzspezialist, der Taxifahrer, dem durchs Herz geschossen wird, der Versicherungsmakler, dessen Herz im Kühlschrank liegt …«
»Was wir sicher sagen können, ist: Nach ihrem Tod hatten sie alle ein massives Herzproblem«, sagte Hefele bitter grinsend in die Runde. Kluftinger schluckte. Seine gesundheitlichen Probleme ließen ihn einfach nicht los. Sofort waren all die schrecklichen Gedanken wieder da. Und auch die Schmerzen. Aber konnte das sein? Nur, weil er daran dachte? Er musste sich wirklich zusammenreißen. »Schon. Aber was ist vorher gewesen? Beim Arzt ist es klar, aber wie sieht’s beim Taxifahrer aus? Richard?«
Maier stand wortlos auf und ging an einen der Computer. Dabei kniete er sich auf einen der Stühle – ein groteskes Bild, fand Kluftinger.
»Unglaublich!«, tönte Maier nur wenig später. »Volltreffer, Chef! Der Mann hatte eine Herztransplantation – die ist gerade mal ein Jahr her!«
»Wie bitte? Das gibt’s doch nicht.« Er eilte zu Maier und schaute ihm von hinten über die Schulter. »Und wieso weiß ich das nicht schon längst? So ein Zusammenhang muss euch doch auffallen, das ist doch eine riesige Schlamperei. Verlasst euch halt nicht immer nur auf mich, zefix!«
Die Kollegen saßen bedröppelt da.
»Das stellt doch alles in ein ganz neues Licht. Jetzt haben wir sogar zum Taximord einen eindeutigen Bezug. Herrschaftszeiten, warum haben wir das nicht früher erfahren?«
»Weil’s nicht relevant war«, verteidigte sich Maier.
»Hast du’s etwa gewusst?«
»Nein, das nicht, aber es war ja wirklich nicht von Bedeutung. Ich mein, wenn dir einer ins Herz schießt, dann bist du tot, Transplantation hin oder her.«
»Richie, komm, jetzt hör dir doch mal zu. Das kannst du doch nicht ernst meinen, was du da sagst. Wenn jemandem ins Herz geschossen wird, dem das vor einiger Zeit eingesetzt worden ist, dann hat das natürlich ein ganz anderes G’schmäckle, als wenn da nix war vorher.«
Keiner widersprach.
»Also, dann, hopp, mal ein bissle Einsatz, die Herren! Wir müssen rauskriegen, ob der Versicherungsheini auch ein Herzproblem gehabt hat. Und wir müssen das Rätsel lösen, wer die Person ist, die all diese Opfer verbindet.« Kluftinger ging zur Pinnwand und machte eine vage Handbewegung. »Wo ist der Punkt, wo sich die Lebenslinien dieser Menschen kreuzen? Da müss mer jetzt weiterkommen, sonst hat der Willi irgendwann ein Streichholzheftchen mit gar keinen Hölzern in einem Asservatenbeutel.«
»Also zählt er doch bis null runter?«, mischte sich Maier ein.
»Herrschaft, jetzt lass mich doch mit deinen Zahlenspielen zufrieden. Ihr wisst schon, was ich mein.«
Sie sahen ihn mit großen Augen an. Kluftinger erinnerte sich daran, dass er doch vorgehabt hatte, seine Leute zu motivieren. Also fügte er an: »Ist doch toll, Männer. Versteht ihr nicht? Das ist der Zusammenhang, den wir so lange gesucht haben. Auch wenn wir jetzt scheinbar noch nicht viel mehr wissen: Das wird uns unweigerlich zu den Tätern führen.« Von seinen eigenen Worten mitgerissen, fuhr er fort: »So, und jetzt knöpf ich mir noch mal die Finks vor. Irgendwas muss doch da noch gehen!«
Auf seine Verhörfertigkeit war Kluftinger einigermaßen stolz. Dabei hatte er, im Gegensatz zu manch anderen Kollegen, weder dicke Fachbücher über Verhörtechniken gewälzt noch reihenweise Kurse dazu besucht. Er verließ sich einfach auf seine Intuition. Und die hatte ihm schon einige spektakuläre Erfolge beschert, von denen man in der Dienststelle heute noch sprach.
Dennoch war die heutige Befragung in mehrfacher Hinsicht heikel: Das eigentliche Verhör war geführt und hatte nichts ergeben. Nun galt es, doch ein bisschen die Hierarchiekarte auszuspielen. Allerdings auf eine Art und Weise, die sich am Rande des Erlaubten bewegte, denn die Täuschung eines Verdächtigen war unzulässig. Er konnte nicht einfach sagen: »Wir haben die Beweise zusammen, Sie brauchen gar nichts mehr zu sagen, wir wissen, dass Sie es waren!« Auch wenn das manchmal ungemein hilfreich wäre. Man konnte dieses Verbot aber durchaus ein bisschen dehnen, und genau das hatte Kluftinger nun vor.
Er betrat den Raum, in dem Fink bereits auf ihn wartete. Instinktiv blickte der Kommissar zu der kleinen Kamera, die im Rücken des Verdächtigen unauffällig an der Decke angebracht war. Er wusste, dass seine Kollegen ihm nun zusahen, und er wusste, dass sie wie er auf ein verwertbares Ergebnis hofften. Sollte das ausbleiben, müssten sie den Schießbudenbetreiber und seine Frau gehen lassen.
»Guten Morgen, Herr Fink.«
Der Mann brummte etwas, das wie »Mrgn« klang.
»Haben Sie gut geschlafen?« Kluftinger spürte förmlich, wie die Kollegen am Bildschirm die Gesichter verzogen. Er ärgerte sich wegen dieses unglücklichen Einstiegs. Natürlich hatte Fink nicht gut geschlafen, und er würde die Frage entweder als Provokation auffassen oder einfach mit einem »Nein« antworten. Und ein Nein war so ziemlich der schlechteste Start, den man sich für eine Vernehmung vorstellen konnte.
»Geht so«, antwortete der Mann überraschenderweise, was Kluftinger beruhigte. Er hätte gut und gerne sofort »dichtmachen« können, doch die Nacht in der Untersuchungshaft hatte offenbar Wirkung gezeigt. Seine Einstiegsfrage war wider Erwarten also genau richtig gewesen.
»Herr Fink, ich will offen zu Ihnen sein.« Das war gut, es signalisierte Ehrlichkeit. Deutete an, dass man, selbst auf die Gefahr hin, keine weiteren Informationen zu erhalten, an einem partnerschaftlichen Gespräch interessiert war.
Fink sah skeptisch auf.
»Wir haben den Zusammenhang zwischen den Morden aufgedeckt.« Diese Formulierung hatte sich der Kommissar auf dem Weg in den Vernehmungsraum genau überlegt. Es war keine Lüge: Sie wussten um Zusammenhänge. Ob Fink damit zu tun hatte, konnten sie nur mutmaßen, aber das hatte er auch gar nicht unterstellt. Der Mann vor ihm reagierte jedoch völlig anders als gedacht.
»Dann wissen Sie also, dass ich nichts damit zu tun hab?« In seinem Blick lag Hoffnung.
Kruzinesn. Das war ja wirklich eine harte Nuss.
»Nein, das hab ich nicht gesagt. Sie müssen mir zuhören. Wir wissen, warum die drei Männer umgebracht worden sind. Der Taxifahrer. Der Arzt. Und der Versicherungsmakler.«
Er wartete auf eine Reaktion, die jedoch ausblieb. Fink schien gespannt, wie Kluftinger fortfahren würde. »Es gab nur noch ein paar offene Fragen, gerade was den Mord am Taxifahrer angeht. Aber auch hier konnten wir die Zweifel ausräumen. Wir haben ja auch Ihre Frau vernommen. Der Junkie, den man auf jemanden ansetzt, den man loshaben will. Nicht schlecht. Man sagt dem armen Teufel einfach, da gibt es was zu holen – und schon muss man sich die Finger nicht mehr schmutzig machen.«
Kluftinger blickte in ein leeres Gesicht.
»Das mit den Streichhölzern, das ist schon eine ganz raffinierte Masche gewesen, das muss ich zugeben.« Würde er ihn durch diese Schmeichelei aus der Reserve locken?
»Ich nehm immer ein Feuerzeug. Das heißt, ich hab’s ja gestern abgeben müssen. Aber sonst halt.«
Der Kommissar atmete tief durch. Seine Strategie war gescheitert. Also beschloss er, in die Vollen zu gehen: »Wie schon gesagt, wir kennen ja die Zusammenhänge. Aber bei einer Sache müssen Sie mir helfen.«
Fink sah ihn weiter ausdruckslos an. Kluftinger versuchte es dennoch. »Warum so brutal? Warum dieses Blutbad?«
Fink schüttelte den Kopf, seine Kiefermuskeln zuckten.
»Ich will Sie doch bloß verstehen! Vielleicht kann ich Ihnen helfen.«
»Helfen? Sie?«
Kluftinger schürzte die Lippen. Das zumindest schien auf Finks Interesse zu stoßen. »Natürlich. Erstens gibt es ja sicher einen guten Grund, weshalb es zu diesen Taten kam. Kaum jemand tötet aus Spaß. Man wird auch zum Mörder gemacht. Und ich möchte nicht meine Hand dafür ins Feuer legen, dass es nicht Umstände geben könnte, in denen auch ich …«
Fink lachte kurz und bitter auf.
»Sehen Sie, wenn wir nachvollziehen können, warum es zu den Taten kam, dann erst können wir auch Sie verstehen. Vertrauen Sie sich mir an. Haben Sie Angst vor dem Gefängnis?«
Keine Reaktion.
»Wenn es um Ihr Geschäft geht, ich kann da schon schauen, dass das abgewickelt wird für die Dauer Ihrer Haft.«
»Wissen Sie was? Wenn Sie sich doch so sicher sind, dass ich jemanden umgebracht hab, dann legen Sie einfach Ihre Beweise auf den Tisch. Es gibt ja immerhin auch Richter hier im Land, die das entscheiden. Ich kann Ihnen nur sagen, ich hab damit nix zu tun.«
Entweder war der Mann ein guter Schauspieler, oder er wusste tatsächlich nichts. So oder so, das Ergebnis war fürs Erste dasselbe: Sie würden ihn laufen lassen müssen.
»Und, was hatte der Hübner denn mit dem Herzen?«, fragte Kluftinger in die Runde, und als die Kollegen nicht reagierten, schob er nach: »Habt ihr irgendeinen Zusammenhang mit unserer Herzthematik gefunden?«
»Na ja«, begann Hefele, »ich würd’s mal so sagen: Er war nicht erst nach dem Mord ziemlich herzlos. Und kalt, sonst wäre wahrscheinlich sein Herz nicht im Gefrierfach gelandet.«
Kluftinger musterte ihn kritisch. »Was heißt das?«
»Das heißt, dass er ein ziemlich ausgebuffter Versicherungsmakler war. Wenn man seine Fälle mal so durchgeht, und das haben wir gemacht, dann stößt man immer wieder auf Abschlüsse von Krankenversicherungen, die dann wenig später Anlass zu Beschwerden gegeben haben.«
»Im Klartext?«
»Hübner scheint immer wieder eine bestimmte Klientel gesucht zu haben. Neben ganz normalen Versicherungen sind das auffallend häufig Neuabschlüsse von privaten Krankenversicherungen für so Kleingewerbetreibende, Kleinstunternehmer, Freiberufler. Diese Versicherungen, meist mit Sitz im Ausland, haben einen ziemlich geringen monatlichen Beitrag, viele von denen hätten sich ja gar nicht mehr leisten können. Aber: Die Versicherungen sind unter einem seltsamen Vorbehalt von Vorerkrankungen abgeschlossen. Ich hab immer gedacht, das geht gar nicht, aber bei denen stand das im Kleingedruckten. Deswegen konnten die es meistens so hindrehen, dass, wenn die Leute ernsthaft krank wurden und die Versicherungen große Zahlungen hätten leisten müssen, es dann geheißen hat: Tut uns leid, Vorerkrankung. Die Versicherungsunternehmen waren fein raus. Und wenn die aus dem Ausland waren, dann hast du juristisch ja kaum eine Chance, allein, was ein Anwalt kostet, der sich mit den Gesetzen da auskennt! Dafür aber war das Ding, wie gesagt, recht günstig, und die Leute haben keine Gesundheitsprüfung gebraucht. Und waren auf dem Papier krankenversichert. Bei einem Schnupfen hätt’s wahrscheinlich auch keine Probleme gegeben.«
»Und das ist legal?«, erkundigte sich Strobl.
»Na ja, schwer zu sagen. Das sind ja privatwirtschaftliche Verträge. Da könnte man halt mit Sittenwidrigkeit argumentieren. Klar haben sich ab und zu Patienten beschwert, aber meist keine weiteren Schritte unternommen. Zumindest geht da kaum was aus Hübners Unterlagen hervor. Wenn du mich fragst: Das wär mal eine ganz eigene Ermittlung auch im Hinblick auf die Institute wert, deren Versicherungen er da vermittelt hat. Ich meine: Kann denen was Besseres passieren? Sie haben einen Kunden, aber müssen, wenn’s drauf ankommt, nix zahlen. Also, das müsst doch mit dem Teufel zugehen, wenn die nicht irgendwie getrickst haben.«
Die anderen nickten.
Hefele fuhr fort: »Was ich aber gefunden hab, sind massenweise Kärtchen, auf denen er für Versicherungsabschlüsse ohne Gesundheitsprüfung wirbt.«
»Ich hab übrigens auch ein bisschen Fleißarbeit gemacht«, verkündete Richard Maier und drückte auf der Tastatur seines Laptops herum. Die Augen der Kollegen richteten sich auf ihn, doch er schien sich nicht weiter äußern zu wollen.
»Hast du uns ein Bild gemalt?«, fragte Strobl nach einer Weile.
»Oder hat der kleine Richie mal wieder einen Film gedreht, den er uns jetzt zeigen will?«, gab Hefele beifallheischend zum Besten, während Maier immer hektischer auf dem Computer herumfuhrwerkte, wobei ihm ein leises »Scheiße!« entfuhr.
Kluftinger ließ sich schließlich zu der Mutmaßung hinreißen, der Kollege habe möglicherweise zu Hause einen Kuchen gebacken und an die Büroadresse gemailt, habe nun aber Probleme, ihn herunterzuladen.
»Sehr nett, Kollegen.« Maier klappte den Computer zu. »Ich habe eine Aufstellung aus den Akten von Hübner gemacht, die zeigt, wie viele von seinen Kunden herzkrank waren. Aber ich glaube, ich hab vergessen, die Tabelle zu speichern.« Er räusperte sich verlegen.
»Und wie sieht das Ergebnis aus? Wie viele waren es?«, insistierte der Kommissar.
»Also … schon einige.«
»Schon einige?«, fragte Hefele. »Das ist das Ergebnis deiner Arbeit in der letzten Stunde? Respekt, Richie. Morgen bring ich dir ein Fleißbildchen mit!«
Maier schaute so ehrlich betroffen drein, dass in Kluftinger eine Art Beschützerinstinkt erwachte. »Aber das kann ja jedem mal passieren, Richard«, wiegelte er daher ab. »Ich will jedenfalls, dass ihr seine Kunden kategorisiert: Wer hatte engeren Kontakt zu ihm, wer hatte Ärger mit ihm, und – das wär natürlich eine Art Volltreffer – war vielleicht jemand in Oberstaufen in Behandlung?«
»Und ist möglicherweise auch noch mit dem Taxi dahin gefahren …«, fügte Strobl mit bitterem Grinsen an.
Kluftinger war völlig gerädert, als er nach Hause fuhr. Eingestehen wollte er sich das jedoch nicht, seit er auf einer dieser Gesundheitsseiten im Internet gelesen hatte, ein Gefühl völliger Abgeschlagenheit könne Anzeichen für einen Herzinfarkt sein.
Als er sah, wohin ihn sein Unterbewusstsein gelenkt hatte, erschrak er ein bisschen: Er hatte nicht etwa den direkten Weg nach Hause genommen, sondern war wie selbstverständlich in die Kirchstraße eingebogen. Nun stand er mit laufendem Motor auf dem Vorplatz des Gotteshauses und wusste nicht so recht, was er tun sollte. Schließlich entschloss er sich, auszusteigen; ein Gebet mehr konnte ja nicht schaden.
Während er jedoch gerade eine Kerze entzündete und das Geld dafür klimpernd in den Opferstock fiel, öffnete sich die Tür zur Sakristei, und der Pfarrer kam herein. Kluftinger ärgerte sich nun doch, dass er nicht gleich nach Hause gefahren war. Dem Geistlichen hatte er wirklich nicht begegnen wollen. Außerdem wunderte er sich, dass der überhaupt noch hier war, hatte er doch gelesen, dass bald ein jüngerer Kollege die Pfarrei übernehmen sollte. Beim fortgeschrittenen Alter des Geistlichen war das auch wirklich an der Zeit. Aber offensichtlich war es noch nicht so weit, und Kluftinger waren auf dem Weg dorthin noch ein paar Prüfungen auferlegt. Er bemühte sich gar nicht, sich in einer tief gebückten Demutshaltung vor dem in eine schwarze Soutane gekleideten Mann zu verstecken. Er wusste, dass der Pfarrer sehr genau registrierte, wer in der Kirche aus und ein ging, und bestimmt vermutete, dass er nicht zufällig hereingekommen war.
»Ja, so was, das gibt’s doch gar nicht!« Der Ruf des Priesters hallte von den Kirchenwänden wider. »Der große Kommissar in meiner bescheidenen Hütte.«
»Wohl eher die Hütte vom Chef, oder?« Kluftinger vermied es, den Pfarrer direkt anzusprechen. Zwar duzte ihn der Geistliche, allerdings rührte das noch aus alten Ministrantentagen her. Kluftinger dagegen scheute vor der vertraulichen Anrede zurück. Das lag wohl ebenfalls in seiner Zeit als Messdiener begründet, denn der Pfarrer hatte mit strengem Regiment und der ein oder anderen Backpfeife dafür gesorgt, dass der Respekt – und in manchen Fällen sogar die Angst – vor ihm die Jahre überdauert hatte.
»Na, was treibt dich her? Eheprobleme? Geldsorgen? Oder geht das Böse wieder um?«
Kluftinger spannte die Kiefermuskeln an. Der Mann schaffte es immer wieder innerhalb kürzester Zeit, dass er um Fassung ringen musste. »Er treibt mich her«, sagte der Kommissar mit Blick nach oben. Das nahm dem Geistlichen ein wenig den Wind aus den Segeln, und er setzte sich auf die Bank hinter Kluftinger.
»Ja, Seine Wege sind verschlungen. Also, wie geht’s dir?«
»Ganz gut. Und selbst?«
»Hm, bisschen viel Beerdigungen in letzter Zeit.«
Kluftinger lächelte bitter. »Bei mir auch.«
Die Turmglocken schlugen zur vollen Stunde und hallten im Inneren des Kirchenschiffs dröhnend wider. Die Männer saßen schweigend da und lauschten, bis der letzte Ton verklungen war.
Kluftinger fasste in seine Tasche und spielte mit dem Zettel, der sich dort befand. Er rang einen Moment mit sich, ob er den Pfarrer darauf ansprechen sollte. »Ich hab da was, da bräucht ich mal Hilfe«, begann er schließlich. »Von einem Experten, sozusagen.« Er reichte das Papier nach hinten.
»Mein Vermächtnis«, las der Priester laut vor, und der Kommissar meinte, einen ironischen Unterton aus seiner Stimme herauszuhören. Sofort bereute er, dieses intime Dokument einem Außenstehenden ausgehändigt zu haben. Andererseits kannte sich mit der Thematik wohl kaum jemand so gut aus wie der Pfarrer. Zudem kostete dessen Expertise nichts, abgesehen von der Kirchensteuer.
Der Geistliche las das Testament sorgfältig durch, bewegte dabei die Lippen, ohne die Worte laut auszusprechen, schmunzelte hin und wieder und blickte den Kommissar ab und zu streng an. Dann zog er einen Bleistift heraus und begann nun, mit süffisantem Grinsen zu korrigieren. Als er jedoch einige Dinge großzügig durchstrich und durch andere Passagen ersetzte, stieg in Kluftinger die kalte Wut hoch.
Er war doch kein Schuljunge mehr, dessen Hausaufgabe es zu verbessern galt. Noch dazu handelte es sich um ein Schriftstück, in dem er sein Innerstes nach außen kehrte. Gedanklich formulierte er ein leidenschaftliches Stoßgebet, dass der Herr doch ein Einsehen haben möge mit ihm, dass er doch schon auf einem guten Weg sei, dass er ihn aus dieser Situation …
In diesem Moment stimmte Kluftingers Handy die Bayernhymne an.
Sofort bewölkte sich das Gesicht des Geistlichen, und er funkelte Kluftinger mit einer Miene an, die nach Fegefeuer und jüngstem Gericht aussah. Der Kommissar jedoch war ganz entspannt, denn hier schien ja der Herr direkt auf sein Gebet geantwortet zu haben.
»Ja, Kluftinger«, sagte er in den Hörer. »Was? Einen Kreuztreffer? Nein, nein, passt wunderbar. Ich bin sofort bei euch.« Er stand rasch auf und riss dem Pfarrer das Papier aus den Fingern. »Ich lass es dann daheim vom Papa unterschreiben und bring’s wieder, Herr Pfarrer.«
»Aber bedenke: Auch die Kirche ist auf Spenden angewiesen. Ein kleiner, diesbezüglicher Vermerk im Testament sollte bei keinem gläubigen Katholiken fehlen«, rief ihm der Pfarrer hinterher, als er zum Ausgang eilte. »Wird dir auf die Zeit im Fegefeuer angerechnet werden. Und lass dich mal wieder in der Messe sehen – auch das Ritual des Gottesdienstes kann Trost in schwerer Zeit sein!«
Dann tauchte der Kommissar zwei Finger in den Weihwasserkessel, deutete ein schludriges Kreuzzeichen an, weil er wusste, dass der Pfarrer das hasste, und verließ die Kirche.
»Schau, das muss das Auto von diesem Baur sein!«
Strobl zeigte auf einen alten lindgrünen Mercedes-Kombi, der vor einer Wellblechgarage im Hinterhof parkte. Vinzent Baur war bei Doktor Steiner in Behandlung gewesen, hatte sogar an dessen Testreihe teilgenommen. Er wohnte mitten in Kempten, unweit des Königsplatzes. Der Jahrmarkt war als dröhnende Geräuschkulisse präsent, und hinter dem riegelförmigen Betonbau aus den siebziger Jahren zuckten immer wieder bunte Lichter hervor. Kluftinger ging in die Hocke und suchte den Boden unter dem Wagen ab.
»Kein Tropfen Öl«, erklärte er.
Da öffnete sich im ersten Stock eine Wohnungstür, die wie alle anderen auf einen offenen Gang führte, von dem man den Hof einsehen konnte. Heraus trat ein Mann, etwa in Kluftingers Alter, einen Trachtenjanker über einem weißen Unterhemd, Jogginghose, die nackten Füße in Sandalen. »Was machen Sie an meinem Auto?«, rief er ihnen zu.
»Sind Sie Vinzent Baur?«
»Schon mein ganzes Leben lang, ja. Was gibt’s denn?«
Der Kommissar wollte sich schon über den Hof schreiend vorstellen, besann sich aber eines Besseren, hob eine Hand und stieg hinter Strobl die Außentreppe hoch. »Ein schönes Auto haben Sie da, Herr Baur«, begann er oben im Plauderton.
»Schön, ja von wegen! Ein alter Bock ist das. Der ist bald dreißig Jahre. Ich kann mir halt keinen neueren leisten. Und fahren kann ich in meinem jetzigen Zustand eh nicht. So schaut’s aus.«
Der Kommissar stutzte. Der Kombi war ungefähr so alt wie sein geliebter Passat.
»Aber Sie werden kaum wegen meinem alten Daimler gekommen sein, oder?«
»Nein, wir sind von der Kriminalpolizei. Mein Name ist Kluftinger, das ist Hauptkommissar Strobl. Wir wollten uns nur ein bissle unterhalten mit Ihnen.«
»Aha. Um was soll’s denn da gehen?«
»Könnten wir drinnen sprechen, Herr Baur?«
Sie traten in eine kleine Wohnung, von deren Korridor ein Wohnzimmer mit der obligatorischen Eichenwand abging. Sofort fiel Kluftinger ein vertrauter Geruch auf.
»So, hat’s Kässpatzen gegeben bei Ihnen?«, fragte er.
»Wie immer am Dienstagabend. Früher hat sie mir meine Frau immer gemacht. Jetzt gibt es keine Frau mehr.«
Irgendwie kam ihm das alles ziemlich bekannt vor. »Was machen Sie denn beruflich, Herr Baur?«, wollte Strobl wissen, als sie auf der ledernen Couchgarnitur Platz genommen hatten.
»Gar nix mehr«, brummte er bitter, »ich hab da drüben im Finanzamt fünfunddreißig Jahre meinen Dienst versehen, alles war gut. Bis ich’s dann auf dem Herzen bekommen hab. Dann war’s schnell vorbei mit der Arbeit. Da ging nix mehr.«
»Wie lange ist es denn her, dass Sie krank geworden sind?«
»Ziemlich genau drei Jahre. Es hat alles mit so einem Stechen im Brustkorb angefangen«, begann der Mann, und Kluftinger hörte ihm gebannt zu, »dann bin ich halt mal zum Doktor, hab ein EKG machen lassen, und da haben sie dann was gefunden. Der Arzt hat gesagt, ich soll abnehmen, mich gesünder ernähren, der ganze Schmarrn. Das hilft doch hinten und vorn nix! Wenn die Pumpe nicht mehr will, dann hast du nicht mehr viel zu lachen.«
Der Kommissar wurde bleich.
»Ich hab nie groß Ärzte gebraucht vorher, und irgendwann, mit dreiundfünfzig, hab ich mich neu versichert. Privat.«
»Beim Herrn Hübner«, ergänzte Strobl.
Baur sah ihn verblüfft an. »Genau. Der Hübner, der hat mir so eine Drecksversicherung angedreht, die bei Vorerkrankungen fast nix zahlt. Da war ich verratzt! Ich hätt ein sauteures Ding gebraucht, wissen Sie, das meine Rhythmusstörungen von innen mit Elektroschocks … na, führt vielleicht auch zu weit jetzt. Jedenfalls … so einen Defi. Ich geh da hin und sag, ich bin ja privatversichert! Ja, von wegen. Den Kopf haben sie geschüttelt und gesagt, ich müsste das selber zahlen.«
»Und dann haben Sie sich bei Doktor Steiner in Behandlung begeben?«, fragte Strobl.
»Der Kardiologe, bei dem ich immer war, der hat mir den empfohlen. Der Steiner hat ein Medikament getestet – und dafür haben sie Probanden gesucht. Ich hab mich gefreut: Das war wie für meine Situation gemacht. Hat ja nix gekostet, und ich hab keinen Defibrillator gebraucht. Das hat zumindest der Steiner am Anfang gesagt. Das war ein bissle komisch, weil die meisten anderen so ein Gerät eingepflanzt hatten und gleichzeitig das Medikament gekriegt haben. Nein, sagt der Steiner, in meinem Fall kann man auf diesen Defi verzichten. Aber hingehauen hat das nicht. Im Gegenteil: Meine Rhythmusstörungen haben zugenommen, so sehr, dass ich’s kaum ausgehalten hab. Dauernd dieses Beklommenheitsgefühl.«
»Beklommenheitsgefühl? Und wie ging’s dann weiter?«, fragte Kluftinger mit trockenem Mund.
»Irgendwann bin ich aus dem Programm ausgestiegen. Ich bin immer wieder bewusstlos geworden, das hat dann auch der Steiner nicht mehr übersehen können. Er hat einfach nur gesagt, wenn ich nicht an die Sache glaub, dann muss ich’s halt lassen. Als ich gesagt hab, ich will raus und will auch den Defi, wollt er nix mehr von mir wissen. Ich bin wieder zu meinem alten Kardiologen und hab mir so ein Gerät einpflanzen lassen. AICD heißt das. Das ist die Hölle auf Erden, aber es verhindert, dass ich irgendwann über den Jordan geh bei so einer Rhythmusstörung. Denn die wird durch einen Stromschlag beendet. Können Sie sich vorstellen, wie es ist, wenn man Ihnen bei vollem Bewusstsein einen Schlag mit dem Defi gibt? Ein Scheißleben ist das. Das Ding rettet mir das Leben und hat es doch auch völlig zerstört.«
Die Beamten schwiegen betreten.
»Mit der Privatoperation, die ich dann aus eigener Tasche gezahlt hab, hat alles angefangen: Wir haben spät gebaut, ich hab die Kredite nicht mehr zahlen können, die haben mir doch das Gehalt zusammengestrichen. Ich will nicht ins Detail gehen, das Ergebnis ist schon traurig genug – Haus weg, Frau weg, Geld weg und eine miese Pension! Drum bin ich hier in die kleine Wohnung gezogen. Ich krieg nach fünf Treppenstufen schon Herzrasen, und wenn ich zum Einkaufen geh, muss ich alle zwei Minuten Pause machen, weil ich’s nicht mehr verschnaufe. Wie ein Neunzigjähriger! Meine Frau lebt jetzt in Spanien mit einem Doktor zusammen. Wenigstens mein Sohn, der Martin, kümmert sich noch ab und zu um mich.«
Kluftinger blies hörbar die Luft aus. Würde auch er einmal so enden? Unwahrscheinlich, beruhigte er sich, immerhin hatte er eine intakte Ehe. Glaubte er zumindest. Und er war vernünftig versichert, das Haus war bezahlt.
Er versuchte, sich wieder auf seine Arbeit zu konzentrieren: Hatte diese Reihe von Schicksalsschlägen ausgereicht, Baur irgendwann austicken zu lassen? Alle zu töten, die für sein Leid verantwortlich waren? Doch was war dann mit dem Taximord? Und vor allem: Wenn er wirklich in einer so desolaten gesundheitlichen Verfassung war, wie könnte er dann solche brutalen Taten begehen? Oder hatte er sie nur geplant und andere ausführen lassen?
Kluftinger musterte Baur: ein gebrochener, nein, nicht nur das, ein gebrechlicher Mann. Ein Mann, zu dem diese Morde ganz und gar nicht passen wollten. Ein braver, kleiner Finanzbeamter … Aber was hieß das schon? War er nur ein guter Schauspieler, der vorgab, von Krankheit und Ärger so sehr gezeichnet zu sein? War er fitter, als es schien? Der Kommissar beschloss, beim Staatsanwalt Einsicht in die Krankenakten zu beantragen, um seine Aussagen zu überprüfen.
»Wissen Sie«, sagte Baur, »manchmal denk ich, es wär besser gewesen, mich hätt’s auch irgendwann erwischt bei so einer beschissenen Rhythmusstörung. Wie die Frau Burlitz, die hat’s hinter sich.«
»Wer ist denn das?«, fragte der Kommissar.
»Die Frau Burlitz? Die gleiche Diagnose und die gleiche Drecksversicherung. Auch vom Hübner übrigens.«
»Sie meinen, es gibt noch mehr Menschen mit … Ihrem Schicksal?«
»Davon können Sie ausgehen. Aber das finden Sie ja bestimmt raus, oder? Ich kann das nur für die Frau Burlitz sagen. Wir haben uns immer wieder getroffen, in der Sprechstunde vom Steiner. Nette ältere Frau. Der ist es genauso gegangen wie mir. Nur dass es bei der am nötigen Geld für einen Defi gefehlt hat. Bei uns, in unserer ach so hoch entwickelten Bundesrepublik, gibt’s das. Eine Schande! Bis die sich erst mal das Geld für die OP beim Sozialamt zurückgeholt hätt … Also ist sie auch zum Steiner gekommen. Und bumm, irgendwann war sie weg, die Frau Burlitz. Einfach so. Die Kinder haben mich angerufen und es mir gesagt. Das war schon schlimm für die, soviel ich weiß, hat sich ihr Mann gar nicht allzu lang davor das Leben genommen. Ich sag’s ja, wenn einen das Unglück mal am Wickel hat, lässt es einen nimmer aus.«
»Sag mal, Eugen, habt ihr diese Frau auch schon in den Unterlagen vom Hübner gefunden?«
»Burlitz? Hm, nein, nicht dass ich wüsste.«
»Herr Baur, wie lange ist das denn her mit ihrem Tod?«
»Ein paar Monate, ein Jahr vielleicht.«
»Wahrscheinlich werden die Akten dann abgeschlossen und gehen zu den Versicherungsunternehmen ins Archiv«, mutmaßte Strobl.
»Wenn Sie was über die Frau Burlitz wissen wollen: Die Tochter von ihr arbeitet in einer Putzkolonne oben im Stadtkrankenhaus. Also im Klinikum, wie es jetzt heißt. Ich seh sie manchmal morgens, wenn ich zur Wassergymnastik muss.«
Kluftinger nickte. Vielleicht würde er einmal mit ihr reden.
In diesem Moment surrte die Türglocke.
»Das wird mein Martin sein«, erklärte Baur, erhob sich jedoch nicht vom Sofa. Stattdessen hörte man den Schlüssel im Schloss der Wohnungstür.
»Vatter? Bist du dahoim?«, tönte es kurz darauf aus dem Gang.
Ein junger Mann betrat den Raum, vielleicht Mitte zwanzig. Er schien ein wenig verwundert über die Besucher, die er nickend grüßte.
»Die Herren sind von der Polizei, Martin. Sie wollen was über den Doktor Steiner aus Oberstaufen wissen und über diesen Versicherungsheini. Stell dir vor, die sind umgebracht worden.«
»Nix anderes hat er verdient. Aber reg dich bloß nicht zu sehr auf, Vatter, du weißt ja, dass du dich schonen musst.« Dann wandte er sich an die Polizisten. »Wie Sie wissen, ist mein Vater schwer herzkrank, bitte nehmen Sie Rücksicht darauf, ja? Wenn Sie sich ein bissle kurz fassen würden«, sagte er in forschem Ton. »Ich geh rüber in die Küche und räum auf, Vatter!«
Baur lächelte ihn dankbar an.
Keine fünf Minuten später fuhr der Kommissar wieder in Richtung Altusried. Versuchte, die neuen Aspekte in ihre bisherige Ermittlung einzuordnen. Waren sie mit den Jahrmarktsleuten einfach auf eine falsche Fährte geraten? Gab es da gar keinen Zusammenhang? Und was war mit Baurs Sohn? Konnte es sein, dass dieser treusorgende Junge das Unglück seines Vaters rächen wollte? Er hatte ein Alibi für die Mordnächte angegeben, aber überprüft war es noch nicht. Er würde Martin Baur jedenfalls noch einmal getrennt vom Vater vernehmen, dann würde man schon sehen. Und am nächsten Morgen würde er sich mit dieser Frau Burlitz unterhalten. Er hoffte nur, dass ihn das ein wenig weiterbringen und nicht wieder in eine ganz neue Richtung lenken würde. Langsam wurden die ständige Unsicherheit und diese immer neuen Wendungen zur echten Belastungsprobe.
Es war schon spät, als er die Wohnung betrat, also sparte er sich seinen Feierabend-Schlachtruf. Er wäre wohl auch nicht mehr dazu in der Lage gewesen: Hatte er sich schon bei seiner ersten Heimfahrt heute wie erschlagen gefühlt, so spürte er nun ganz deutlich, dass er krank war. Nicht mehr belastbar. Er hörte den Fernseher aus dem Wohnzimmer und vermutete, dass Erika bereits bei einer ihrer Lieblingssendungen – entweder der Magazinsendung »mit diesem Moderator, der wo so nett lächelt« oder dieser Talkshow im Zweiten »mit diesem Moderator, der wo so nett aussieht« – eingeschlafen war. Als er die Tür jedoch öffnete, saß da nur sein Sohn auf der Couch, die Beine in Schlafanzughosen auf das Tischchen gelegt, den Blick gelangweilt auf die Mattscheibe gerichtet. Ohne ein Wort zu sagen, aber mit einem Seufzer, der aus dem tiefsten Inneren kam, ließ Kluftinger sich in seinen Sessel plumpsen.
Sie saßen eine Weile nebeneinander und guckten sich wortlos jene Magazinsendung an, in der es heute um die Zukunft des Urheberrechts ging, ein Thema, das Kluftinger ungefähr so sehr interessierte wie Schuppenflechte bei Lipizzanerpferden. Trotzdem blieb er sitzen. Seit sie die Wohnung von Vinzent Baur vorhin verlassen hatten, hatte sich dieses Gefühl in ihm eingenistet, ein Unbehagen, das noch nicht richtig greifbar war. Doch jetzt, hier neben Markus auf dem Fernsehsessel, wurde ihm plötzlich klar, was ihn umtrieb. Es war das Bild, das sich ihm dort in der kleinen Wohnung in Kempten geboten hatte: der todkranke Mann, der nur noch seinen Sohn hatte, der sich um ihn kümmerte. Und der das sogar gern zu tun schien.
Wie würde das bei ihnen laufen, wenn er … Nein, er wollte seinem Kind nie zur Last fallen. Aber zu wissen, dass es jemanden gab, der für einen da war, war eine beruhigende Vorstellung. Die ständigen Kabbeleien zwischen ihm und Markus, die schon zur Routine geworden waren, erschienen ihm in diesem Moment albern und unnütz. Musste man denn nicht die wenige gemeinsame Zeit genießen? Es musste doch noch einen anderen Weg für Vater und Sohn geben, zusammenzufinden, als eine todbringende Krankheit.
Mitten in diese Überlegungen hinein richtete sich Markus ein wenig auf und schob die zweite Bierflasche, die er sich bereitgestellt hatte, ein Stück nach links. In seine Richtung. Kluftinger bekam einen Kloß im Hals. Diese kleine Geste berührte ihn mit einer emotionalen Wucht, wie er sie lange nicht gespürt hatte. Was war zurzeit nur mit ihm los? Er griff sich die Flasche, stieß sie gegen die bereits halb ausgetrunkene, die danebenstand, nahm einen großen Schluck und schloss die Augen: Das war doch etwas ganz anderes als diese alkoholfreie Brühe, die er seit ein paar Tagen immer trank.
»Alles klar?«, fragte Markus auf einmal, und Kluftinger erwiderte seinen Blick.
»Wie man’s nimmt.«
»Stress?«
Auf einmal brach es förmlich aus Kluftinger heraus. Er erzählte seinem Sohn alles, von dem Anruf bei der Pressekonferenz bis zu ihrer heutigen Spur in Kempten. Nur über seinen Gesundheitszustand ging er etwas oberflächlich hinweg und sagte lediglich, dass er sich das alles wohl zu sehr zu Herzen nehme und dass es ihn »aufschaffen« würde.
Markus hörte gebannt zu. Es kam nicht oft vor, dass sein Vater von seinen Fällen erzählte, und es war noch seltener der Fall, dass ihn diese dann auch noch interessierten. Aber nach einem solchen, wie er ihn nun schilderte, hätte sich jeder seiner Kommilitonen die Finger abgeleckt. Jedenfalls diejenigen, die wie er eine Karriere als operativer Fallermittler bei der Polizei anstrebten. Oder Profiler, wie er zu sagen pflegte, denn das klang ein bisschen weniger nach deutscher Bürokratie und ein bisschen mehr nach amerikanischer Krimi-Coolness.
Als Kluftinger fertig war, nahm er noch einmal einen großen Schluck und ließ sich zurück in den Sessel fallen. Er war irgendwie erleichtert, aber auch völlig ermattet von der Erzählung und dem erneuten Durchleben der letzten Tage. Markus nahm die Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus. Er blickte seinen Vater nicht an, sie saßen einfach stumm nebeneinander. Dann sagte er: »Du sagst, es sind zwei, Papa?«
Er hatte ihn lange nicht mehr so genannt. »Davon müssen wir ausgehen. Die Spuren deuten jedenfalls darauf hin.«
»Hm. Du weißt schon, was man über Mörderduos sagt?«
»Doppelt hält besser?«
Sie lachten kurz auf und prosteten sich noch einmal zu, was Kluftinger schon wenige Sekunden später ziemlich deplaziert vorkam. Immerhin ging es hier um grausame Morde. »Also, was sagt man denn?«, fragte der Kommissar jetzt ernsthaft.
»Na ja, es gibt ein paar empirische Daten, nicht viele, weil Mörder ja ganz selten in Gruppen agieren. Mord ist etwas sehr Persönliches, wenn man so will. Und oft auch nicht geplant, gemeinschaftlicher Mord aber in der Regel schon. Es gibt jedenfalls ein Muster, das sich durch die meisten Fälle zieht.«
»Und wie sieht das aus?«
»Einer von beiden ist in der Regel dominant. Das Morden liegt einem ja normalerweise nicht im Blut, das brauch ich dir nicht zu erzählen. Dass sich zwei zusammenfinden, die dieser Beschäftigung frönen, ist an sich schon was Außergewöhnliches. Man kann also vermuten, dass die Initiative von einem ausgeht und der andere mitmacht, weil er der dominanten Person folgt. Oft bindet sich diese Person an den anderen, um damit einen familiären Verlust auszugleichen.«
»Was heißt das: ›familiären Verlust ausgleichen‹? Dass der keine Eltern hat, oder was?«
»Das wär eine Möglichkeit. Wenn jemandem eine wichtige Bindung genommen wird, aus welchem Grund auch immer, sublimiert man das gerne, indem man die Bindung auf einen anderen Menschen überträgt.«
Kluftinger dachte über die Worte seines Sohnes nach. »Du meinst, wie die jungen Dinger, die sich mit so alten Dackeln einlassen, nur weil sie ihren Vater nie kennengelernt haben?«
Markus grinste. »Ja, nicht so ganz, aber es geht schon in die Richtung. Der dominante Teil kann quasi so eine Art Vater- oder Mutterersatz sein.«
Sie schwiegen eine ganze Weile, dann fuhr Kluftinger fort: »Es könnte also nicht verkehrt sein, wenn wir noch die familiäre Situation mit in unsere Ermittlungen einbeziehen? Also, ob jemand einen Unfall hatte oder so?«
»Es könnte nicht schaden, ja. Ist nicht garantiert, aber die Empirie spricht dafür.«
»Ja, ja, die Empirie.«
»Ich mein, ihr habt hier ja einen ganz klassischen Fall des Übertötens. Und wenn man bedenkt, dass Spuren immer Entscheidungen des Täters offenbaren …«
»… und ihm das, was über das Töten hinausgeht, sehr wichtig sein muss …« Kluftingers Miene hellte sich auf. »Dann haben wir schon ein bisschen mehr als vor unserem Gespräch.« Er klopfte seinem Sohn auf die Schulter. »Freut mich, dass das viele schöne Geld, das uns dein Studium kostet, nicht ganz umsonst ist.«
»Also, wenn ich ehrlich bin, das meiste geb ich schon für Drogen aus.«
Kluftinger blickte seinen Sohn erschrocken an. Der lachte frech zurück.
»Jetzt jag deinem alten Vater keinen solchen Schrecken ein. Wenn das deine Mutter gehört hätt …«
Sie tranken noch einen Schluck.
»Weißt du«, sagte der Kommissar halblaut, »vielleicht kennst du das auch. Ich hab das Gefühl, ich hab die Teile des Puzzles schon zusammen, ich muss sie nur noch an den richtigen Platz legen.« Fragend sah er seinen Sohn an.
»Nein, kenn ich nicht«, antwortete der gähnend. »Aber von allen Rätselspielen hab ich Puzzles immer am wenigsten gemocht, das weißt du ja.«