Zweiter Tag
Ein weißes Boot, im Sonnenglanz …
Es war ein schöner Tag, sonnig, warm, fast frühlingshaft. Kluftinger blickte zufrieden aus dem Fenster seiner Almhütte auf den schneeweißen Sandstrand.
… und du schenkst mir den Blütenkranz. Ich folgte dir ins Paradies …
Er wollte nur hier sitzen bleiben und den Kühen zusehen, die am Strand grasten, doch irgendetwas brummte an seinem Hintern, und er wusste instinktiv, dass das mit dem Paradies nichts zu tun hatte, und als er aufsah, war der Himmel nicht mehr blau, sondern grau, die Landschaft vereist und …
… ein Märchenland, das Barbados hieß …
Er wachte auf. »Zefix!« Er hatte einen so schönen Traum gehabt, doch jetzt blickte er durch das Schlafzimmerfenster in die Dämmerung eines trüben Tages.
Die rote Sonne von Barbados …
Er spürte das Vibrieren wieder, und nun wurde ihm auch klar, dass es sein Handy gewesen war, das ihn aus seiner Traumwelt gerissen hatte. Er musste gestern Nacht darüber eingeschlafen sein, als er den Anruf immer und immer wieder abgehört hatte.
… für dich und mich scheint sie immer noch …
»Himmel!« Er wälzte sich herum, doch er konnte das Telefon nicht sehen. Erika wurde bereits unruhig, und er wollte sie zu dieser frühen Stunde nicht wecken.
… mit den Wolken nach Süden ziehn …
Da! Das Klingeln kam genau aus der Ritze zwischen den zwei Matratzen. Er langte hinein, fuhr mit der Hand herum, zog es heraus und nahm den Anruf sofort an, damit der Klingelton endlich verstummte.
»Ja?«, flüsterte er. »Was ist denn?«
»Morgen, Kollege.« Es war Strobls Stimme. Er klang, als wäre er schon eine ganze Weile auf den Beinen. »Du machst dich besser gleich hübsch und kommst her, wir haben ihn.«
»Wen?«
»Na, den Taximörder. Dank deiner scharfsinnigen Birne. Ganz ehrlich, ich weiß nicht, wo du das immer hernimmst, wo du doch sonst eher …«
»Du mich auch«, knurrte Kluftinger und beendete das Telefonat.
Sie hatten ihn! Das schien doch ein guter Tag zu werden. Er sprang förmlich aus dem Bett, woraufhin der Boden unter ihm zu schwanken begann, sein Kopf eigenartig leicht wurde und sein Sichtfeld sich immer mehr einengte. Automatisch griff er nach dem Vorhang, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren und der Länge nach hinzuschlagen. Er blieb starr stehen und versuchte, sich zu konzentrieren, bis das Schwindelgefühl wieder nachließ und das Kribbeln in seinem Kopf abebbte. Als es vorbei war, verfluchte er sich für seine Aktion. Er war aus dem Bett gehüpft wie ein Teenager – allerdings im Körper eines Endfünfzigers. Er atmete erleichtert ein – was er wieder mit einem stechenden Schmerz in der Brust bezahlte. Stärker als in den letzten Tagen. Er griff sich panisch an den Brustkorb – war es das nun? Der Herzinfarkt? Seit sein Vater eine Bypassoperation gehabt hatte, fürchtete er sich vor dem Moment, wo es auch ihm so ergehen würde.
»Ist was, Butzele?« Erikas besorgte Stimme riss ihn aus seinen düsteren Gedanken. Mit einem Mal ließ der Schmerz nach.
»Na, alles gut«, erwiderte er, doch ihm war klar, dass er wenig überzeugend war, so wie er dastand: eine Hand in das Schlafanzugoberteil auf der Brust gekrallt, die andere am Vorhang, seine Stirn bedeckt von Schweißtröpfchen.
Entsprechend beunruhigt blickte seine Frau drein. »Hast du was am Herz? Wieder dieses Stechen?«
»Am Herz? Schmarrn. Ich bin … wo draufgetreten. Weil bei uns auch immer so ein Verhau ist und alles rumliegt.« Mit diesen Worten lief er aus dem Schlafzimmer.
»Hast du denn schon bei dem Spezialisten angerufen? Bei dem dein Vater in der Reha war?«, rief ihm seine Frau nach.
»Ja, hab ich. Aber der hat bloß gesagt, ich soll erst mal zum Langhammer gehen.«
»Kennt der ihn denn?«
»Herrgott, jetzt schrei doch nicht so.« Kluftinger stampfte zurück zur Schlafzimmertür. Wenn sich seine Frau einmal Sorgen machte, ließ sie einfach nicht locker. »Ich glaub, der Langhammer gibt in der Rehaklinik irgendwelche Kurse. Jedenfalls hat er ihn recht gelobt, der sei für einen Hausarzt ein richtiges Ass.«
»Siehst du, Butzele, das hab ich doch immer gesagt.«
»Ja, ja, Aas hat er wahrscheinlich sagen wollen.«
»Ach komm, ich mach dir einen Termin beim Martin.«
»Warum denn, ich … hab ja eh nix.« Besonders glaubhaft klang sein Protest nicht, immerhin hatte er selbst so seine Zweifel. Dann drehte er sich um und ging mit einem »Ach, mach doch, was du willst!« ins Bad. Er wusste, dass seine Frau das als Ermutigung verstehen würde – diesmal durchaus in seinem Sinne. Denn selbst um eine Audienz beim Doktor nachzusuchen kam für ihn nicht in Frage.
Im Badezimmer blieb er erst einmal ein paar Minuten stehen, um sicherzugehen, dass keine Schmerzen mehr zu spüren waren. Da das der Fall war, begab er sich erleichtert zum Waschbecken und schüttete sich eiskaltes Wasser ins Gesicht. Beim anschließenden Blick in den Spiegel erschrak er dennoch: Seine Augen wirkten müde und lagen in tiefen, dunklen Höhlen. Auch kam ihm seine Haut fahl, fast grau vor. Er hatte zwar nie besonders gesund gelebt, war aber dafür immer besonders gesund gewesen. Darauf war er stolz. Praktisch keine krankheitsbedingten Fehltage im Beruf, immer wie ein Fels in der Brandung des Lebens … und nun? Seit der Sache mit seinem Vater hatte er sich manchmal dabei ertappt, wie er sich Sorgen um sich selbst machte. Aber so früh? Sein Vater war immerhin schon über achtzig, hatte den Großteil seines Lebens gelebt. Ganz im Gegensatz zu ihm. Erika brauchte ihn doch, und Markus war zwar beim Studieren, aber noch weit von einem selbständigen Leben entfernt. Kurz: Es gab noch so viel zu tun, das Feld war noch nicht bestellt.
Mit leerem Magen setzte er sich wenige Minuten später ins Auto. Er hatte am Frühstückstisch keinen Bissen herunterbekommen. Trübe Gedanken verfolgten ihn die ganze Strecke bis nach Kempten. Erst kurz vor der Polizeidienststelle beschloss er, das Radio anzuschalten, um durch ein bisschen Musik auf andere Gedanken zu kommen. Kaum hatte er den Knopf gedrückt, wurde er blass. Aus dem Lautsprecher dröhnte ein Achtziger-Jahre-Hit: Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei …
»Ist der Aufzug kaputt?« Hefele sah Kluftinger mit großen Augen an, als der gerade vom Treppenhaus in den Gang im zweiten Stock einbog, in dem ihre Büros untergebracht waren.
Kluftinger verstand nicht, was sein Kollege meinte, und wechselte das Thema: »Wo ist er?«
»Sitzt im Vernehmungszimmer. Hat schon gestanden. Wolfgang Schratt heißt er.«
»Echt?« Der Kommissar war ein wenig enttäuscht.
»Ja, ist doch gut. Keine Angst, alle wissen, dass wir ihn ohne dich nicht so schnell gekriegt hätten.«
»Darum geht’s mir doch gar nicht. Lass mich mal schauen.« Er ging zu dem Besprechungsraum neben dem Verhörzimmer. Dort saß Maier vor einem Schwarzweißmonitor, der außer einem uniformierten Polizisten auch Eugen Strobl zeigte, wie er gerade einen kleinen, bärtigen Mann in Handschellen vernahm.
»War es das bisschen Geld wirklich wert?«, hörte er Strobl fragen, doch der Tatverdächtige rührte sich nicht und schwieg.
»War der die ganze Zeit so schweigsam?«, wollte Kluftinger wissen.
Maier schüttelte nur den Kopf.
»Und du bist auch nicht gerade gesprächig heute, oder wie?« Kluftingers Kollege wirkte verstimmt.
»Wir haben ihn nur angebohrt, dann ist alles aus ihm rausgesprudelt«, beantwortete nun Hefele seine Frage. »Leugnen hätte auch wenig Sinn gehabt: Wir haben in seiner Wohnung Geldbeutel und Uhr des Ermordeten gefunden. Er hat sofort zugegeben, dass er es wegen des Geldes getan hat. Habgier. Riecht nach ner astreinen Mordanklage.«
»Aber warum hat er ihn denn dann gleich erschossen?«
Hefele zuckte die Achseln.
»Ich geh noch mal rein. Aber vorher …« Er kramte sein Handy aus der Tasche und ging damit zu Maier: »Wegen dem Anruf, der Aufzeichnung, weißt du …«
»Du brauchst ja jetzt nicht auch noch drauf rumzureiten! Kam ja sogar im Lokalfernsehen. Wirft ein tolles Licht auf die Polizei, wirklich … Aber was soll’s. Wir belassen es einfach dabei, gut?«
Kluftinger runzelte die Stirn und steckte das Handy wieder weg. Deshalb war Maier so verschnupft. Er würde später einen neuen Versuch starten. Dann begab er sich in den Vernehmungsraum.
Strobl begrüßte ihn mit einem Kopfnicken. Noch bevor er sich setzen konnte, ergriff Schratt das Wort: »Schon wieder einer! Ich muss aber meine Geschichte jetzt nicht noch mal erzählen, oder?«
»Sie werden sie so oft erzählen, wie wir es für richtig halten«, erwiderte Kluftinger ruhig. »Vielleicht erklären Sie mir mal, wie Sie gerade auf den Siegfried Holz gekommen sind.«
»Ich hab das jetzt langsam satt. Aber zum Mitschreiben: Es hat geheißen, der hat immer einen Haufen Geld bei sich. Und es war ja auch ziemlich bequem, man hat ihn mit dem Handy rufen können. Hat immer schön angezeigt, wo er gerade war.«
»Zweihundertsiebenundfünfzig Euro nennen Sie einen Haufen Geld?«
Schratt senkte den Kopf. »War wohl ne falsche Info.«
»Und warum haben Sie ihn dann hinterrücks erschossen? Sie haben ihn ja regelrecht hingerichtet. Nicht einmal wehren konnte er sich.«
»Auch das hab ich schon mehrfach gesagt: Der Schuss … hat sich gelöst.«
Kluftinger blickte zu Strobl, der nickte, was so viel heißen sollte wie »Das reicht fürs Erste«. Sie verließen den Vernehmungsraum.
Die Runde vor dem Monitor hatte sich inzwischen um einen gut gelaunten Polizeipräsidenten erweitert. »Jo, oiso, Manner, ehrlich, i woaß goar ned, wos i … Maier, tun S’ mir sofort eine Pressemeldung verfassn. Des solln alle wissn, wia schnöll mia den Fall … wirklich, des wird beim Ministerium für Aufsehen sorgen, und die Leut da draußen wird’s beruhigen. Guat hommer des gmocht.« Mit diesen Worten verließ er den Raum.
»Wir? Ich hör immer wir«, sagte Hefele, ihm nachblickend. »Was hat er noch mal genau zur Aufklärung beigetragen?«
»Hm, was ist?« Kluftinger hatte nicht zugehört. Seine Gedanken kreisten um den geheimnisvollen Telefonanruf. »Setzt euch mal alle hin, Männer … und Frauen.« Sandy Henske, die gerade mit einem Stapel Akten das Zimmer betrat, sah ihn überrascht an. Als alle saßen, legte Kluftinger sein Handy in die Mitte des Konferenztisches und spielte die Aufnahme ab, die er sich in den letzten Stunden so oft angehört hatte. Er kannte jede Stelle genau, wusste, wo das, was er für ein Murmeln hielt, in ein dumpfes Poltern überging, und blickte bei jedem Geräusch erwartungsvoll in die Gesichter seiner Kollegen. Als die Aufnahme endete, wartete er gespannt auf eine Reaktion. Da diese ausblieb, fragte er: »Und?«
»Wie: und?« Strobl hob verwirrt die Augenbrauen.
»Na, was habt ihr gehört?«
»Gehört?« Hefele zuckte die Schultern. »Nix. Dass dein Handy einen furchtbar schlechten Lautsprecher hat, vielleicht.«
»Jetzt denkt’s doch mal genau nach. Was ist das für eine Aufnahme, hm?«
Maier meldete sich zu Wort: »Ein Livemitschnitt aus der Hosentasche deines Anrufers? Garniert mit ein paar Verdauungsbeschwerden?«
»Oder du beim Mittagsschlaf im Büro?«, ergänzte Hefele.
»Himmelherrgott! Fräulein Henske?«
»Ich?« Sandy schaute hilfesuchend in die Runde. »Ich, also ich … hab bei so was ja gar keine Fantasie! Und ich muss sowieso schnell noch zu dieser … Sache.« Sie stand auf und verließ hastig den Raum.
Der Kommissar seufzte, hielt mit theatralischer Geste sein Handy hoch und erklärte: »Ich sag euch jetzt mal, was da drauf ist: Ein Mord ist da nämlich drauf. So!«
Ein paar Sekunden blieb es still, dann prusteten die Kollegen los: »Ja, sicher«, sagte Strobl, »aber von einem Wurm am Nachbarwurm, tief unten im Erdreich.«
Hefele stimmte lachend ein: »Oder zwischen zwei Fischen.«
Die Äderchen auf Kluftingers Nase füllten sich mit Blut: »Hört’s zu, ich hab ja auch erst nicht gewusst, was, aber dann hab ich gestern im Fernsehen diesen Film …«
»Ah, jetzt haben wir’s!« Hefele klatschte in die Hände. »Der Herr schaut zu viel Krimis.«
Jetzt platzte dem Kommissar der Kragen, und er sprang auf. »Herrschaft, so borniert, wie ihr manchmal seid’s, da könnte man nicht meinen, dass wir bei der …« Er merkte, wie ihn der Schwindel von heute Morgen wieder heimsuchte und seine Stimme brüchig wurde. Er hielt sich am Stuhl fest und riss die Augen auf.
Sofort verstummte das Gelächter. »Ist was, Klufti?« Strobl stellte sich besorgt neben den Kommissar.
»Ich hab’s mir eh schon gedacht, du siehst in letzter Zeit nicht gesund aus«, befand Maier, und alle anderen nickten.
Doch Kluftinger, der sich nun wieder gefangen hatte, winkte gereizt ab: »Ach was, was soll schon sein, ich hab bloß … Jetzt kümmert’s euch doch um euren eigenen Scheiß.«
Zehn Minuten später saß der Kommissar in seinem Büro und stierte zum Fenster hinaus. Hinter seinem halb durchsichtigen Spiegelbild jagten graue Wolken über den Himmel. Sah er wirklich so schlecht aus? Wenn es sogar den Kollegen aufgefallen war, die in solchen Dingen sonst nicht allzu sensibel waren? Er senkte seinen Blick auf das Mobiltelefon, das er gedankenverloren in seinen Händen hielt. »Ach was, vom Rumsitzen wird’s auch nicht besser«, sagte er schließlich halblaut und stand auf.
Er wählte den schnellsten Weg durch die Gänge seiner alten Dienststelle oberhalb der Iller, wo nun das Polizeipräsidium Schwaben Süd-West untergebracht war. Normalerweise besuchte er immer, wenn er hierherkam, ein paar der Kollegen, von denen sie seit dem Auszug der Kripo räumlich getrennt waren. Doch heute scheute er den Kontakt, befürchtete er doch Kommentare zu seinem gestrigen Auftritt im Lokalfernsehen. Beinahe wäre er an seinem Ziel vorbeigelaufen, dann hielt er aber inne. »W. Zint, Phonetik«, las er auf dem Schild neben der Bürotür. Er klopfte und trat ein, ohne auf eine Antwort zu warten.
»Ja, mi leckst am Arsch: der Klufti höchstpersönlich!« Ein Mann mit mächtigen Ausmaßen in der Höhe wie in der Breite saß auf einem viel zu kleinen Bürostuhl in einem Raum voller technischer Gerätschaften, von denen der Kommissar nicht die geringste Ahnung hatte, wozu sie gut waren.
»Servus, Werner. Du, du musst mir mal helfen.«
»Ja, danke der Nachfrage, mir geht’s gut. Ja, ja, den Kindern auch.«
»Ach, jetzt hör auf mit dem Schmarrn. Ich hab da wirklich was Ernstes.«
Zint rollte auf seinem Stuhl etwas auf ihn zu. Kluftinger fürchtete, dass das Möbel unter dieser Belastung zusammenbrechen würde. »Hm, wenn du dich selber herbequemst und nicht den gescheiten Richie schickst, scheint es ja wirklich was Wichtiges zu sein. Dann schieß mal los.«
Als Kluftinger sein Handy aus der Tasche holte, verzog der Mann seine wulstigen Lippen zu einem breiten Grinsen. »Ha, brauchst du einen neuen Klingelton? Oder willst du wissen, wie man während Pressekonferenzen auf lautlos schaltet?«
Hatte es sich also doch schon bis hier herumgesprochen. Geduldig ließ Kluftinger die Späße auf seine Kosten über sich ergehen, dann spielte er Zint die Aufnahme vor. Wenn ihm einer helfen könnte, dann er. Eigentlich machte solche akustischen Auswertungen das Landeskriminalamt, und ebendort hatte Zint früher gearbeitet. Glück für sie, dass er nun wieder in seine Heimat zurückgekehrt war – seine Fähigkeiten waren ihnen schon mehr als einmal von großem Nutzen gewesen. Doch Zints Reaktion war nicht besonders ermutigend, auch er konnte keinen Mord aus dem Mitschnitt heraushören. Immerhin hatte er einige Geräusche, die selbst Kluftinger noch nicht zuordnen konnte, schon beim ersten Hören identifiziert.
»Also, da sind auf jeden Fall Kuhglocken drauf.«
»Kuhglocken?«
»Ja, sicher. Und dann könnte noch ein Auto oder so … im Hintergrund.«
»Respekt. Aber wenn du es mit deinen Maschinen da …«, Kluftinger zeigte vage in den Raum, »… also verarbeitest oder so, dann müsstest du doch noch mehr hören, oder?«
»Ja, schon, wahrscheinlich. Aber ich seh da wenig Sinn, deine Liveübertragung von der Almhütte …«
»Ich seh aber Sinn drin.« Kluftinger klang nun sehr bestimmt. »Außerdem hab ich ja vorher schon was gehört von dem Anruf, bevor ich … also bevor ich das Ganze geistesgegenwärtig aufgezeichnet habe.«
Zint nickte. »Also, von mir aus, schließlich werd ich für die Zeit bezahlt, die ich hier bin, ob ich sie sinnvoll verbringe oder nicht.« Er erhob sich ächzend und nahm vor einem großen Bildschirm wieder Platz, wobei auch der andere Bürostuhl bedrohlich knarzte. »Gib mir mal dein Sync-Kabel.«
»Hm?«
Zint stieß hörbar die Luft aus. »Dann mail mir das Audiofile.«
»Hm?«
»Hättest du dann die Güte, es mir als Datei per MMS zu schicken?«
Die beiden taxierten sich ein paar Sekunden, dann sagte Kluftinger: »Was hältst du davon, wenn ich’s dir einfach in die Hand gebe?«
Werner Zint grinste und langte nach dem Telefon, das Kluftinger ihm hinstreckte. Dann zog er die Schublade einer kleinen Kommode auf, kramte eine Weile darin herum und entnahm ihr schließlich etwas, das er vor dem Gesicht des Kommissars schwenkte. »Schau, Klufti, das ist ein Sync-Kabel, damit kann man das Handy am Computer an-stöp-seln.«
»Ach was«, versetzte Kluftinger gelangweilt, »ich wüsst nicht, wofür ich das brauchen sollte. Erstens hab ich gar keinen Computer daheim, und mein Bürorechner hat auch nur äußerst selten das Bedürfnis zu telefonieren.«
Zint sog die Luft ein. »Schau, ein Handy schließt man ab und zu am Computer an, um …« Er hielt inne und warf Kluftinger einen skeptischen Blick zu. »Ach, vergiss es! Ich schau gleich, vielleicht kann ich auf die Schnelle schon was Brauchbares rausholen. Wart mal einen Moment.«
Zehn Minuten lang blickte Kluftinger Zint gebannt über die Schulter. Der hatte einen großen Kopfhörer aufgesetzt, so dass der Kommissar nichts mitbekam, sondern lediglich die oszillierenden, wellenartigen Ausschläge sah, die sein Mitschnitt auf dem Bildschirm verursachte. Immer wieder drückte der Fachmann auf Maus und Tastatur herum, woraufhin sich neue Fenster öffneten.
Auf einmal zog Zint den Kopfhörer ab und blickte den Kommissar von unten an: »Also, Kollege, ich hab jetzt mal zwei Geräusche, die man auf deiner komischen Aufnahme hört, isoliert. Die sind lauter als der Rest, die kann ich dir direkt vorspielen, alles andere ist furchtbar verrauscht. Da brauch ich eine Weile dafür. So, und jetzt spitz mal die Ohren, hier kommt Nummer eins.«
Zint drückte eine Taste, und vertraute Töne drangen aus den Lautsprecherboxen. Der Ausschnitt an sich war zwar nur kurz, doch er begann immer wieder von vorn. Kluftingers Mundwinkel hoben sich: Er hörte das Läuten von Glocken. Es müsste schon mit dem Teufel zugehen, wenn das sanfte Gebimmel nicht von glücklichen Allgäuer Kühen stammte.
»Das ist doch irgendwo bei uns, oder?«, murmelte er.
»Na ja«, gab Zint zu bedenken, »ich würd mir jetzt nicht zutrauen, eine Allgäuer Schelle von einer Vorarlberger oder einer Garmischer zu unterscheiden, aber es ist mal nicht ganz unwahrscheinlich, dass das im Allgäu ist. Wieso sollte jemand von außerhalb auch ausgerechnet dich anrufen?«
Kluftinger runzelte die Stirn, und Zint fuhr fort: »Okay, ich sag dir gleich, jetzt wird’s diffiziler. Dieses Brummen hier, wofür hältst du das?«
Kluftinger senkte den Kopf und lauschte konzentriert. »Hm … ein Traktor … Lkw …«
»Ich hätt eher an was anderes gedacht. Aber wart mal, ich versuch, noch mal einen anderen Rauschfilter drüberlaufen zu lassen.«
Eine Minute später war das Brummen wieder zu hören, ein wenig dumpfer und ohne das störende Rauschen von vorher.
»Ein Flugzeug!«, rief Kluftinger.
»Könnte hinkommen, ja. Eine Düsenmaschine vielleicht, ziemlich tief, wahrscheinlich im Landeanflug auf Friedrichshafen oder Memmingen.«
»Kannst du mir genau sagen, wann das war?«, fragte Kluftinger aufgeregt.
»Wann was war?«
»Na ja, ich mein halt, wann das Geräusch aufgenommen worden ist.«
»Ja, schon. Wir wissen ja, wann der Anruf auf deinem Telefon eingegangen ist – das ist ja sogar von Fernsehkameras festgehalten worden …«
»Werner«, entfuhr es Kluftinger drohend.
»Ja, ja, schon recht. Also, wie gesagt, das kannst du dir auf die Sekunde ausrechnen. Das Geräusch beginnt genau siebzehn Sekunden nach Beginn des Anrufs. Laut Datei also um neunzehn Uhr sechsundzwanzig und neununddreißig Sekunden. Und wenn’s dir zu ungenau ist, dann extrahieren wir die Zeitdaten aus der Aufnahmedatei.«
Kluftinger dachte nach. Ob ihm das weiterhelfen könnte? Mit Hilfe von Flugdaten vielleicht? Immerhin, ein erster Strohhalm, und er hatte vor, sich daran zu klammern. »Okay. Brauchst du mein Handy noch?«
»Nein, den alten Knochen kannst du wieder mitnehmen, ich hab mir das Audiofile runtergezogen.«
»Alter Knochen, jetzt hör mal, ich hab das erst …«
»Weißt du, Klufti, die Mobilfunktechnik entwickelt sich fast so schnell wie dein Ranzen.«
Kluftinger presste die Zähne zusammen. »Wann krieg ich die anderen Geräusche?«
»Sobald ich was Vernünftiges hab, ruf ich dich an. Aber ob das heut noch was wird, kann ich nicht versprechen.«
Er drückte noch ein paar Tasten auf Kluftingers Handy und reichte es ihm mit einem spöttischen Grinsen.
Den Kommissar ließ das kalt. Sollten die Kollegen ruhig alle die Nase rümpfen, nur weil er nicht mit einem dieser Smartphones herumlief. Wofür hatte er Mitarbeiter wie Richard Maier? Sein Handy war prima zum Telefonieren geeignet. Und zu mehr war weder das Gerät noch dessen Besitzer gedacht.
»Roland, du musst was für mich ermitteln.« Grußlos hatte Kluftinger das Büro des Kollegen Hefele betreten.
»Aha. Gut, dass ich Polizist bin, das Ermitteln liegt mir sozusagen im Blut. Was darf’s denn sein?«
»Du musst beim Luftfahrtbundesamt was nachfragen.«
»Beim … unser Taximörder ist doch mit der Bahn gefahren.«
»Es geht ja gar nicht darum. Frag bitte, wo am Montagabend, um genau neunzehn Uhr sechsundzwanzig, ein Flugzeug übers Allgäu geflogen ist, und zwar so, dass es hörbar war, wahrscheinlich also im Landeanflug.«
Hefele sah den Kommissar fragend an. In diesem Moment öffnete sich die Tür, und Richard Maier kam herein.
»Kann das nicht der Richie …«, begann Hefele, wurde aber von Maier unterbrochen: »Nein, das kann der Richie nicht. Der Richie muss auf Anweisung von ganz oben«, bei diesen Worten zeigte er mit dem Finger in Richtung Decke, »eine Pressemeldung verfassen.« Er schnappte sich eine Akte und verließ den Raum.
»Und wofür brauchst du diese Flugzeugsache?«, knurrte Hefele. »Willst du den anzeigen, weil er zu laut war, als er über deinen Garten geflogen ist, oder wie?«
»Schmarrn.«
»Ach so, hat er die Toilette ausgerechnet beim Flug über dein Haus entleert, hm?«
»Sehr witzig. Dann würd ich mich aber wohl nicht so für den Ort interessieren, weil ich ihn ja schon wüsste, Herr Superermittler!«
»Ist ja schon gut. Aber jetzt sag halt, warum du das wissen willst.«
»Weil, na wegen … ich mein … dem Wetter.«
»Dem Wetter?«
»Ja, und den … Abgasen.«
»Du bist ein bissle überarbeitet, glaub ich.«
»Überarbeitet?«, zischte Kluftinger auf einmal und war selbst überrascht, wie aggressiv er dabei klang. »Ich gehör noch nicht zum alten Eisen, bloß weil …«, er fasste sich unwillkürlich an die Brust, »… weil ich vielleicht … ach, ist ja auch egal! Wenn du Ergebnisse hast, will ich sie sofort haben, klar?« Mit diesen Worten stürmte Kluftinger aus dem Zimmer.
In seinem Büro ließ er sich auf seinen Schreibtischstuhl fallen und lehnte sich zurück. Er seufzte tief. Was war nur los mit ihm? Warum lief er gerade so neben der Spur? War es das Alter, das ihm zu schaffen machte? Der normale, schleichende Prozess, der jedem noch so gesunden, noch so belastbaren und noch so vitalen Menschen unwiderruflich widerfuhr und ihn letztendlich zum tattrigen Greis werden ließ? Würde das Leben jeden Tag beschwerlicher, mühseliger werden? Oder hatte er wirklich eine ernstzunehmende Krankheit, die ihm die Lebenskraft und seinen sprichwörtlich langen Atem nahm? Irgendeinen Grund musste es doch haben, dass er sich zurzeit alles so zu Herzen nahm, sein Nervenkostüm so dünn war, dass er bei jeder Gelegenheit gleich aufbrauste …
Er stand auf, öffnete das Fenster und atmete mit geschlossenen Augen tief ein. Zum ersten Mal roch es heute nach Frühling. Bald war es wieder Zeit für die dünne Trachtenjacke, dann hatte der dicke Strickjanker für ein halbes Jahr ausgedient. Er öffnete die Augen wieder. Im Haus gegenüber stand anscheinend der Frühjahrsputz an: Alle Fenster waren geöffnet, Betten hingen über die Brüstung des Balkons, wo sich Uschi, eine der Prostituierten, die dort ihrem Gewerbe nachgingen, gerade einen Kaffee schmecken ließ. Kluftinger trat einen Schritt zurück, ihm war nicht nach einem Schwätzchen mit dem »leichten Mädchen«, an dem der Zahn der Zeit freilich auch schon seit ein paar Jahren merklich nagte.
Er lehnte sich an der Rückseite seines Schreibtisches an und starrte ins Leere. Sein Atem ging schwer. Ihm war, als könne er auf einmal tief in sich hineinhören. Er spürte dieselbe dunkle Leere, die ihn umfing, wenn er nach langem Wachen in einen steinschweren Schlaf fiel, aus dem er dann morgens schweißgebadet aufwachte.
Es half nichts.
Er brauchte einen Arzt.
Das Klingeln seines Büroanschlusses riss ihn unsanft aus diesem seltsamen Zustand zwischen Wachen und Dösen. Er lehnte sich über den Tisch und hob ab.
Es war sein Vater. Er wollte zunächst nicht so recht mit der Sprache raus, verriet sich dann aber zwischen den Zeilen doch irgendwie: dass seine Schwiegertochter bei ihm angerufen und ihm von diesen Beschwerden erzählt habe, die ihren Mann auf einmal plagten. Dass sie ihn gebeten habe, doch deswegen mal bei ihm anzurufen. Das habe er ja jetzt getan, und damit könne man die Sache als erledigt betrachten. Daraufhin legte Kluftinger senior auf.
Kluftinger hätte später nicht mehr genau sagen können, wie er die nächste halbe Stunde verbracht hatte. Er wusste nur, dass er den täglichen Lagebericht des Präsidiums im Computer gelesen hatte, ohne gedanklich daran Anteil zu nehmen. Das Spektakulärste waren ohnehin seit Tagen seine eigenen Berichte zum Taximord. Dennoch las er alles über die Einbrüche, Betrügereien, Verkehrsdelikte und Fahndungen, ohne auch nur das geringste Detail davon in sein Gedächtnis aufzunehmen.
Er hatte gar nicht gehört, wie Eugen Strobl in sein Büro gekommen war. »Komm, Klufti, auf geht’s ins Forum! Essen fassen.«
»Ich komm gleich, Eugen!«, sagte er, froh über die Aussicht, dass ihn die gemeinsame Mahlzeit mit den Kollegen im Einkaufszentrum wieder auf andere Gedanken bringen würde.
»Sag mal, Klufti, du schnaufst ja heut wie eine alte Dampflok! Hast du heimlich das Rauchen angefangen, oder ist bei dir eine Erkältung im Anzug?« Eugen Strobl grinste, als sie die Drehtür des Shoppingcenters passiert hatten.
»Schmarrn. Die Frühjahrsluft schlaucht mich ein bissle, sonst bin ich topfit, wie immer«, hörte er sich brummig erwidern, ohne seinen Worten selbst den geringsten Glauben zu schenken.
»Und? Was gibt’s heut? Leberkäs oder Halssteak?«, fragte Hefele in die Runde und streichelte sich über seinen immer ausladender werdenden Bauch.
»Also, ich hol mir heut was Gesundes«, erklärte Kluftinger und ließ seine Kollegen staunend zurück.
Fünf Minuten später gesellte er sich wieder zu ihnen an einen hohen Tisch mit unbequemen Barhockern, schob belegte Semmeln und Speziflaschen beiseite und schaffte Platz für sein Mittagsmenü.
Gebannt beobachteten seine Kollegen, wie er nacheinander Pommes frites, Ketchup, Mayonnaise und Cocktailsauce sowie frittierten Backfisch aus einer Tüte zog. Dazu stellte er eine kleine Mineralwasserflasche und machte sich mit einer hölzernen Gabel ans Essen.
»Aha«, kommentierte Strobl, »ist das bei dir jetzt Diätessen …«
»Ja, sicher«, rechtfertigte sich Kluftinger barsch, »ist ja vegetarisch!«
»Vegetarisch? Und was genau ist mit dem Fisch?«, fragte Maier und biss mit hochgezogenen Brauen in eine Bratensemmel.
»Beim Vegetarischen geht’s ja mehr um Säugetiere. Um … Säugetiere, die an Land leben und … Geräusche von sich geben!«
Strobl lachte laut auf. »Aha. Deswegen kriegt man in vegetarischen Restaurants auch die besten Entengerichte. Und Wal und Delphin sollen da auch vorzüglich sein.«
»Jedenfalls ist Fisch saumäßig gesund wegen dem … Omega…dings. Fürs Herz ist das am allerbesten.«
»Stimmt, da bleibt’s im Training«, erwiderte Hefele und klopfte ihm auf die Schulter. »Ach ja, übrigens: Die von der Flugsicherung rufen zurück, wenn sie die Daten überprüft haben.«
»Was für Daten?«, erkundigte sich Maier.
»Nicht so wichtig«, wiegelte Kluftinger ab. Auf eine Diskussion über die Sinnhaftigkeit seiner Ermittlung wegen des Tötungsdeliktes, das er hinter dem Anruf vermutete, hatte er gerade überhaupt keine Lust.
Die weitere Mittagspause verlief ruhig, alle kauten zufrieden schmatzend ihren Imbiss. Bis auf Kluftinger, der vom Fisch alles andere als begeistert war: Er schmeckte fad, und irgendwie hatte er das Gefühl, seinen Körper um die gute, nahrhafte Fleischportion betrogen zu haben, die er sich unter normalen Umständen einverleibt hätte. Deshalb schnappte er sich beim Aufbruch heimlich den Rest von Hefeles dritter Leberkässemmel, schob ihn sich auf einmal in den Mund und marschierte schwer kauend hinter den Kollegen her. Es dauerte den ganzen Fußmarsch lang zum Büro, bis er den riesigen Brocken gekaut und hinuntergeschluckt hatte. Als Strobl dann noch bemerkte, er sei auf dem Weg ungewöhnlich still gewesen, zuckte er nur seufzend mit den Schultern.
Sandy Henske kam sofort auf den Korridor gestürzt, als sie hörte, dass die Beamten wieder aus der Mittagspause zurück waren. »Herr Kluftinger«, rief sie aufgeregt, »da sind Sie ja endlich. Ihre Frau hat angerufen, Sie sollen umgehend zu Doktor Langhammer kommen. Er zieht Sie extra vor. Ehrlisch gesagt: Sie klang ziemlisch besorgt.«
Die Kollegen sahen sich erstaunt an.
Sandy biss sich schuldbewusst auf die Unterlippe. »Tut mir leid, ich wollte das ja nich an die große Glocke hängen. Aber wenn ich fragen darf: Was ham Se denn?«
»Ich hab gar nix, ich … achte auf meine Gesundheit und lass mich deshalb … immer mal wieder durchchecken. Eine Weile müsst ihr mich noch ertragen, fürchte ich. Aber wenn ich mal über den Jordan geh, seid ihr sicher die Ersten, die es erfahren. Könnt ja ein schönes Gesteck bestellen!«
»Ach was, Klufti«, sagte Strobl und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter, »wir legen alle zusammen und kaufen einen Kranz: Für unseren lieben, immer gut gelaunten und humorvollen Vorgesetzten.«
»Für das Geld, das ihr zusammenkratzt, wird’s wahrscheinlich nicht mal ein Kaktus.«
»Die Gesundheit geht vor«, mischte sich Maier ein. »Ich sag immer: Die Gesundheit ist das höchste Gut. Wenn du mal ein paar Entspannungs- und Meditationstipps brauchst, ich hab da allerhand Fachliteratur, die ich dir leihen könnte. Autogenes Training zum Beispiel, oder Qigong.«
Der Kommissar lehnte dankend ab und schob in Hefeles Richtung nach: »Bis ich wiederkomme, hätt ich gern die Ergebnisse vom Luftfahrtbundesamt, ja?«
Mit gemischten Gefühlen zog Kluftinger gerade mal eine halbe Stunde später die Tür zu Langhammers Praxis im Herzen seines Heimatörtchens Altusried auf. Erika hatte er am Handy noch einmal hoch und heilig versprechen müssen, dass er auch wirklich sofort und ohne Umwege dorthin fahren würde. Nun war er einerseits froh darüber, dass er schon bald Gewissheit über seinen wahren Gesundheitszustand haben würde, andererseits war er sich nicht sicher, ob er die denn überhaupt haben wollte. Außerdem stand zwischen ihm und dieser Gewissheit noch eine Herkulesaufgabe: die Untersuchung durch Dr. Langhammer.
Mit trockenem Mund betrat er die Praxis. Die Sprechstundenhilfe Frau Ruth, wie sie von allen genannt wurde, arbeitete schon seit einer halben Ewigkeit hier und wusste über die Zipperlein des halben Dorfes Bescheid. Wobei sie mit den ihr anvertrauten Informationen nicht immer diskret umging.
»Ja, Herr Kluftinger«, sagte sie, als er vor ihrem Tresen stand, »das wird heute was Längeres, oder?«
Der Kommissar zog die Brauen zusammen und sah die Frau forschend an. Was Längeres? Wusste sie mehr als er?
»Hm?«, hauchte er vorsichtig.
»Na ja, so was kann schon langwierig sein – je nachdem, was rauskommt, gell? Dann sehen wir uns ja vielleicht jetzt öfter. Wenn Sie noch im Wartezimmer Platz nehmen, der Doktor hat gleich Zeit für Sie. Er hat Ihnen extra den Vorrang gegeben – wenn Sie schon mal freiwillig kommen, müsste es ziemlich ernst sein, hat er gesagt!«
Irgendwie wurde Kluftinger das Gefühl nicht los, einen besorgten Unterton aus ihrer Stimme herauszuhören. Dann stellte sie ihm einen Becher hin.
»Danke, ich mag jetzt nix trinken.«
Sie schaute ihn amüsiert an. »Das kann schon sein, aber ich bräuchte etwas Flüssigkeit von Ihnen. Danach einfach in die Klappe zum Labor stellen.«
Er wurde rot. »Ach ja, freilich …« Schnell schnappte er sich das Gefäß und ging damit auf die Toilette.
Als er so dastand, den Becher in der richtigen Höhe haltend und auf den ersten Tropfen wartend, kam allerdings nichts. Da auch alles Walken, Ziehen und Drücken erfolglos blieb, warf er den Becher in den Papierkorb und schlich sich schuldbewusst an der Sprechstundenhilfe vorbei.
Er betrat das Wartezimmer mit einem gemurmelten »G’ß Gott«, was die drei anderen Patienten ähnlich nuschelnd erwiderten: ein junger Mann, ein älterer Herr und eine Mutter mit Säugling in einem dieser Tragetücher. Er suchte sich den Platz aus, der am weitesten von allen anderen entfernt war. Kaum saß er, brach der ältere Herr in einen rasselnden Husten aus.
Priml, dachte Kluftinger, wer hier nicht schon krank reinkommt, geht als Patient wieder raus.
Er griff sich willkürlich eine Zeitschrift, die auf dem gläsernen Tischchen in der Mitte des Zimmers lag. Im Schutz des aufgeschlagenen Magazins sah er sich um. Zumindest von dem jungen Mann drohte keine Ansteckungsgefahr: Er trug eine aufwendige Knieschiene, neben ihm lehnte ein Paar Krücken.
Kluftinger schaute das erste Mal auf die Uhr: Diese öde und sinnlose Warterei in Arztpraxen. Er verstand nicht, warum man die Patienten nicht so bestellen konnte, dass möglichst wenig Lebenszeit vernichtet wurde. Gelangweilt wanderte sein Blick auf eines der Bilder an der Wand. Er wusste, dass es Urlaubsfotos des Doktors waren, denn die meisten hatte er schon bei dessen gefürchteten Heim-Diaabenden gesehen. Hier dominierten Bilder von einer Reise nach Afrika: Auf einem war der Doktor sogar selbst zu sehen, umringt von dunkelhäutigen Menschen, die fröhlich lachten. Sicher über Langhammers Tropenkleidung samt Safarihut, schoss es Kluftinger durch den Kopf. Dieser Gedanke ließ sogar den Anflug eines Lächelns über seine Mundwinkel huschen. Doch schon als er ein Stück weiter blickte, verflog dieses Lächeln wieder: Eine Schautafel zum Thema Herz-Kreislauf-Erkrankungen prangte wie ein Warnschild an der Wand. Sie wies mit Darstellungen von verstopften Blutgefäßen, verfetteten Herzen und einer Ernährungspyramide in bunten Farben auf die Gefahr zu hoher Cholesterinwerte für Leib und Leben hin. Kluftinger seufzte und widmete sich wieder seiner Illustrierten. Erst jetzt bemerkte er, was er sich da überhaupt gegriffen hatte: Es handelte sich um das »Adelsspecial« der »Aktuellen Post«. Priml, das war ja genau sein Interessensschwerpunkt. Fahrig blätterte er die ersten Seiten durch. Jedem der europäischen Fürstenhäuser waren gleich mehrere Doppelseiten gewidmet; die jungen Prinzessinnen waren besonders häufig abgebildet.
Vom rasselnden Husten seines Nebenmanns begleitet, kam eine neue Patientin herein, eine ältere Dame mit weißen Haaren, die einen Stich ins Lila hatten: Berta Grüning. Kluftinger kannte sie flüchtig, sie war eine Bekannte seiner Mutter, die sich wie diese bei den Landfrauen engagierte. Er nickte der Frau zu und senkte seinen Blick wieder auf die Zeitschrift.
Sie setzte sich direkt neben ihn und neigte ihren Kopf ebenfalls über seine Lektüre. Dann sah sie ihn vorwurfsvoll an und räusperte sich noch einmal, bevor sie ihren Blick wieder senkte. Er folgte ihm – und spürte, wie seine Wangen zu leuchten begannen: Auf der Doppelseite waren Bilder von mehreren nackten Frauen in eindeutigen Posen abgebildet, deren Gesichter und Geschlechtsorgane von schwarzen Balken verdeckt waren. Wie er der Schlagzeile entnehmen konnte, ging es um »Perverse Orgien bei Hofe«.
Schnell blätterte er weiter. Priml, schon bald nach dem nächsten Bastelnachmittag der Landfrauen würde ihn wohl ein Anruf seiner Mutter erreichen. Dabei hatte er im Moment weiß Gott andere Sorgen.
Er zuckte zusammen, als der Mann wieder in ein derart dröhnendes Husten ausbrach, dass er höchste Ansteckungsgefahr vermutete, TBC oder am Ende sogar Diphtherie … Noch nicht einmal die Hand hielt der sich ordentlich vors Gesicht. Kluftinger bekam es mit der Angst zu tun. Mittlerweile war sicher schon die ganze Luft in dem kleinen Wartezimmer kontaminiert. Mit jedem Atemzug erhöhte sich die Gefahr, ebenfalls einer dieser heimtückischen Krankheiten zum Opfer zu fallen. Deswegen versuchte er nun, nur noch ganz flach hechelnd Luft zu holen – eine Technik, die ihn nicht nur schnell außer Puste kommen ließ, sondern ihm auch einen entsetzten Blick seiner Sitznachbarin eintrug.
Just in diesem Moment trat Frau Ruth ein und bat ihn, mitzukommen. Als er ihr gegenüberstand, musterte sie ihn und klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter: »Wird schon, Herr Kluftinger, bloß nicht nervös sein.«
»Wenn Sie schon einmal ins Behandlungszimmer gehen wollen?«
Kluftinger folgte ihr widerwillig. Er fand es lächerlich, welchen Wind Ärzte in ihren Praxen um sich selbst machten. Bis man die Mediziner überhaupt einmal zu Gesicht bekam, musste man zahlreiche Hürden überwinden: die Sprechstundenhilfe, das große Wartezimmer, dann der Aufstieg ins kleine Wartezimmer – in der Regel nur ein paar Stühle vor dem Behandlungsraum – und dann der Behandlungsraum selbst, in den der Doktor, wenn man von den herumstehenden Gerätschaften, Körper-von-innen-Modellen, Fachbuch-Wälzern und Weiterbildungsurkunden ausreichend eingeschüchtert war, mit wehendem Kittel stürmte.
Der Kommissar setzte sich auf einen dieser Designerstühle, die es schafften, mit geringstem Materialaufwand die größtmögliche Unbequemlichkeit zu gewährleisten. Er erinnerte Kluftinger an barocke Kirchenbänke, die den reuigen Sünder in eine Demutshaltung zwingen sollten. Immerhin hatte diese Sitzgelegenheit noch einen Hebel für die Feineinstellung. Als er diesen drückte, zischte es, und die Sitzfläche rauschte derart rasant nach unten, dass ihm ein kehliger Laut entfuhr. Sosehr er sich auch abmühte, er brachte das Möbel nicht mehr in die ursprüngliche Position, weswegen er es vorzog, stehend auf den Doktor zu warten.
Er begutachtete Langhammers Kunstgegenstände, afrikanische Statuetten aus Ebenholz mit grotesk langen Gesichtern – und Gliedern.
»Tja, da werden Sie neidisch, was?« Kluftinger fuhr herum, als der Doktor mit wehendem Kittel hereinstürmte.
»Was?«
»Na … egal. Aber nehmen wir doch Platz.«
»Danke, ich steh lieber.«
Langhammer drohte ihm scherzhaft mit dem Zeigefinger: »Na, na, na, keine Widerworte, hier sind Sie in meinem Reich. Sonst setzt es nachher noch ein paar Spritzen mit der stumpfen Kanüle!«
Widerwillig nahm der Kommissar auf dem Stühlchen Platz, das nun etwa auf die Sitzhöhe eines Bobbycars eingestellt war.
Der Doktor blickte ihn etwas irritiert von oben herab an, dann fragte er: »Und bei Ihnen?«
»Wie: bei mir?«
»Na, alles im Lot aufm Boot?« Er deutete mit dem Kopf auf die Statuen. »Sind die Segel noch gesetzt? Der Mast hart im Wind, wenn Sie verstehen, was ich meine?« Er zwinkerte ihm zu.
»Kein Wort. Könnten wir das … hier alles jetzt hinter uns bringen?«
»Aber sicher doch, mein Lieber. Erika klang etwas besorgt.« Er blätterte in einem Ordner. »Sagen Sie mal: Kriegen Sie ihn nicht mehr hoch?«
Kluftinger lief rot an. »Ich glaub, bei Ihnen hakt’s. Ihre Anzüglichkeiten können Sie vielleicht mit Ihren Sprechstundenhilfen …«
Langhammer hob den Kopf und sagte ganz ruhig: »Ich meine den Stuhl.«
»Ich … ach so.«
»Sie müssen nur den Hebel ziehen und den Knopf drücken. Und schon geht’s nach oben.«
»Aha, danke … Ja, besser. Und jetzt?«
»Wo drückt uns denn der Schuh?«
In beiläufigem Ton schilderte Kluftinger seine Beschwerden, ließ allerdings auch nichts aus – man konnte ja nie wissen, ob es nicht am Ende doch etwas Ernstes war …
Der Doktor lehnte sich zurück und hörte ihm aufmerksam zu. Als Kluftinger fertig war, befand Langhammer: »Nun, so etwas kann vergleichsweise harmlos sein, etwa von Blockaden im Rücken kommen, aber es könnte sich natürlich auch um ein kardiologisches Problem handeln, was in Ihrem Fall naheliegt. Wir müssen das auf jeden Fall abklären. Damit ist nicht zu spaßen, Sie fallen genau in die Risikogruppe: zu dick, schlechtes Essen, keinen Sport, stressiger Job. Na ja, Letzteres vielleicht nicht gerade …«
Der Kommissar überhörte die Spitze, hatte er doch auf eine Diagnose gehofft wie »Ach, das, na da brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen«.
»Jetzt lassen Sie sich mal abhören. Bitte den Oberkörper frei machen.«
Der Arzt hatte ihn vor einiger Zeit schon einmal untersucht, bei ihm zu Hause, das war damals beinahe in eine Prügelei ausgeartet. Diesmal leistete Kluftinger keinen Widerstand, er hielt buchstäblich den Atem an, auf ein erlösendes »Gott sei Dank« oder »Ist doch gar nicht so schlimm« wartend. Doch der Doktor zeigte keinerlei Reaktion.
Stattdessen stand er auf, murmelte mit geschürzten Lippen etwas von einem »großen Blutbild« und holte ein metallenes Tablett mit allerlei Röhrchen und einer Spritze darauf. Kluftinger schluckte.
»Ich mach das ja nicht mehr allzu oft, normalerweise übernehmen das meine Helferinnen«, sagte Langhammer, als er sich neben den Kommissar setzte. »Aber in diesem Fall lass ich mir das natürlich nicht nehmen.« Dann legte er eine Manschette um Kluftingers Oberarm, zog sie so fest zu, dass dieser sicher war, sein Arm würde innerhalb weniger Sekunden absterben, sprühte etwas Desinfektionsmittel auf und sagte grinsend: »Jetzt wird’s gleich höllisch weh tun.«
»Au.«
»Ich hab doch noch gar nicht richtig angefangen …«
»Ach so, ja. Wollt mich bloß schon mal warm schreien.«
»Herr Kluftinger, keine Angst. Wenn Sie das jetzt wie ein großer, tapferer Junge durchstehen, gibt’s hinterher auch einen Lolli vom Onkel Doktor.«
Kluftinger hatte gewusst, dass es so kommen würde. Er drehte seinen Kopf, dass es aussehen musste, als beobachte er den Arzt bei seiner Tätigkeit, starrte aber in Wirklichkeit auf einen Punkt am Boden und sang zur Ablenkung innerlich den Schneewalzer ab.
Als Langhammer schließlich von seinem Rollhocker aufstand, drängte er: »Jetzt machen S’ halt mal des mit dem Blut.«
Der Doktor runzelte die Stirn. »Aber ich bin doch schon fertig.«
»Ich … freilich, ich hab ja nur gemeint … das Labor«, stammelte der Kommissar mit einer Mischung aus Scham und Erleichterung. Dann griff er sich sein Hemd: »Rufen Sie mich dann an, wegen den Ergebnissen?«
Langhammer hob drohend den Finger: »Wir zwei sind noch lange nicht fertig miteinander, mein Lieber.«
Fünfzehn Minuten und diverse erniedrigende Untersuchungen später, bei denen Kluftinger unter anderem ein zu hoher Blutdruck, Adipositas und schlimme Haltungsschäden, ein hohes Risiko für einen Bandscheibenvorfall an der Halswirbelsäule sowie Irritationen im Brustwirbelbereich attestiert worden waren, stand er mit nacktem Oberkörper vor einer Art Trimmrad, das an einen Computer angeschlossen war. Allein der Anblick des Gerätes, gepaart mit der Furcht vor dem Ergebnis des Belastungs-EKGs, trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. Besonders belastbar war er in letzter Zeit nicht gewesen.
»Hier, trocknen Sie sich mal ab, Sie schwitzen ja jetzt schon wie ein brunftiger Eber.« Langhammer reichte ihm ein Handtuch. Die Sprechstundenhilfe, ein hübsches, blondes Mädchen, das der Doktor nur mit »liebe Sonja« ansprach, gluckste, als sie dem Kommissar die Saugnäpfe der Elektroden anlegte.
Schließlich saß er auf dem Rad und sah aus wie ein zu dick geratener Roboter, mit all den Kabeln, die aus seinem Körper herauszuwachsen schienen.
Langhammer setzte sich vor einen Monitor und tönte mit lächerlich verstellter Stimme: »Meine Damen und Herren, wir begrüßen Sie hier beim letzten, entscheidenden Zeitfahren der Tour de Farce. Am Start scharrt schon der diesjährige Favorit mit den Hufen, der ungeschlagene, gefürchtete Kluftinger, das Urvieh aus dem Allgäu.«
Wieder unterdrückte die »liebe Sonja« ein Lachen, was den Doktor anzustacheln schien: »Besonders bei den Bergetappen hat unser Favorit die Konkurrenz mit einem einfachen Trick deklassiert: Er hat sie auf dem Weg nach unten einfach überrollt.«
Auf einmal piepste der Computer vor Langhammer. »Was ist denn jetzt los?«, fragte der irritiert. »Ihr Blutdruck steigt ja jetzt schon gefährlich an, und wir haben noch gar nicht begonnen.«
»Tja, ich weiß auch nicht, woran das liegen könnt«, erwiderte Kluftinger bitter. Dann begann er zu treten. Wider Erwarten ging es ziemlich leicht, und seine Anspannung schwand, so dass er geradezu beschwingt war: Wenn das schon eine Belastung sein sollte, dann hieß das ja, dass er kerngesund …
»Ich sehe schon, mit Stufe null haben Sie noch keine Probleme«, attestierte der Doktor. »Lassen Sie uns doch gleich mal zu Stufe fünf springen.«
Kluftingers Lächeln erstarb, als er den Widerstand spürte, der sich ihm nun auf einmal bot, und er lehnte sich unwillkürlich ein wenig nach vorn, um mehr Kraft auf die Pedale zu bringen. Dabei merkte er, dass sein Kopf rot anlief, und er war froh, dass Langhammer gerade mit seiner Sprechstundenhilfe scherzte, was diese mit kokettem Lachen erwiderte. Kluftinger freute sich schon darauf, mit der fantasievoll ausgeschmückten Nacherzählung dieser Episode Erikas Bild vom vorbildhaften Doktor ins Wanken zu bringen.
Als der Arzt den zufriedenen Blick seines Patienten bemerkte, wurde er wieder ernst und bat seine Helferin: »Können Sie mal diesen Spezialisten für mich anrufen, Sie wissen schon …«
Der Kommissar schluckte. Einen Spezialisten? Stand es so schlecht um ihn, dass der Doktor mit seinem Hausarztwissen nicht mehr weiterkam? Sogleich strengte er sich noch mehr an, umklammerte den Lenker so stark, dass seine Knöchel weiß wurden, und trat japsend in die Pedale. Wieder bemerkte er das Stechen in der Brust, doch der Apparat, an den er angeschlossen war, gab keine Warntöne von sich.
Langhammer wechselte wieder in die Kommentatoren-Stimme: »Unser Favorit biegt eben auf die Champs-Élysées ein, drauf und dran, die Tour der Leiden zu beenden. Und er ist ganz allein! Hat er die anderen abgehängt? Nein, deren Zieleinlauf war ja schon gestern …«
Die Tür ging auf, und Sonja kam wieder herein. Kluftinger senkte den Kopf und trat mit geschlossenen Augen weiter. Der Schweiß rann ihm in Strömen über das Gesicht, und er prustete lautstark. So hörte er auch nicht, wie die junge Frau leise zum Doktor sagte: »Der Herr Fischer, wegen unserer Heizungsanlage, ist jetzt am Apparat. Soll ich durchstellen?«
Langhammer blickte zum Kommissar: »Mein Lieber, jetzt überanstrengen Sie sich mal nicht, nicht dass Sie mir noch hier in der Praxis den Löffel abgeben. Macht keinen so guten Eindruck, wenn hier einer die Füße voraus rausgetragen wird, nicht wahr?« Er drückte auf einen Knopf. »So, jetzt wieder Stufe null, zum Abwärmen. Ich muss nur mal schnell einen wichtigen Anruf tätigen.«
Der Kommissar nickte wortlos und trat weiter.
Langhammer verschwand im angrenzenden Sprechzimmer, die Tür fiel jedoch nicht ins Schloss, so dass Kluftinger hören konnte, wie er zum Telefon ging und sich mit den Worten meldete: »Schön, dass Sie sich gleich Zeit genommen haben, aber ich habe hier auch einen ganz schwierigen Fall, da brauche ich die Meinung eines Fachmanns.«
Vor Schreck hörte er kurz auf zu treten, woraufhin der Computer piepste und die Sprechstundenhilfe ihn aufforderte, doch weiterzumachen, bis der Doktor wiederkomme. Mechanisch trat Kluftinger in die Pedale, allerdings so, dass er möglichst wenig Krach machte. Dazu hob er den Kopf und drehte ihn ein wenig zur Tür, hinter der der Doktor gerade sagte: »Haben Sie sich die Messwerte angesehen? Also, wenn Sie mich fragen: Die Pumpe ist kaum mehr zu retten. Überlastung über viele, viele Jahre. Und natürlich ein schlechter Allgemeinzustand des ganzen Systems. Ich würde da gerne mal Ihre Meinung dazu hören.«
Obwohl er schwitzte, wurde dem Kommissar plötzlich eiskalt. Das konnte nicht sein. Sicher würde der andere Arzt gleich sagen, dass …
»Aha, verstehe, sehen Sie genauso«, tönte Langhammer. »Und ich glaube, wir dürfen keine Zeit verlieren. Sobald wie möglich raus damit, sonst geht irgendwann gar nichts mehr, nicht wahr? Klar, das wird natürlich eine größere Operation.«
Bilder von sich selbst auf einem OP-Tisch tauchten vor Kluftingers innerem Auge auf, hilflos, an Schläuche angeschlossen, Langhammer mit seiner Riesenbrille und grünem Mundschutz tief über ihn gebeugt … »Das reicht ja jetzt wohl!« Mit diesen Worten sprang er vom Rad und riss sich die Elektroden von der Brust; er konnte sie plötzlich nicht mehr ertragen.
»Halt, Moment, das dürfen Sie nicht einfach so.« Sonja eilte herbei und nahm, begleitet vom wilden Piepsen des Computers die restlichen Schläuche kopfschüttelnd ab.
In diesem Moment betrat der Doktor wieder den Raum. Er wirkte seltsam abwesend, fast niedergeschlagen. Sein Gesicht war blass.
»Ist was?«, fragte Kluftinger vorsichtig.
»Wie? Ach so, ja … nein. Alles … gut. Man muss sich eben damit abfinden, dass nichts von ewiger Dauer ist. Da muss man jetzt handeln, sonst kann sich das übel lange hinziehen. Das belastet ja dann nur, bis es dann endlich vorbei ist. Ach herrje, ich weiß gar nicht, wie ich es meiner Frau beibringen soll …« Die letzten Silben ließ er wie dunkle Wolken im Raum schweben.
Seiner Frau? Wenn überhaupt, dann war doch Erika diejenige, der etwas beigebracht werden musste. Nur: was? Kluftinger wagte nicht nachzufragen. Ihm war nur klar, dass er es seinen Lieben selbst beibringen würde, auch wenn er noch keine Ahnung hatte, wie.
Doch plötzlich übernahm sein Überlebenswille das Ruder, und seine Stimmung änderte sich schlagartig. Nein, so leicht war ein echter Kluftinger nicht totzukriegen. Er würde kämpfen. Sein Vater hatte es ihm vorgemacht, er würde …
»Wird schon nicht so schlimm sein, gell? Irgendeine Hoffnung gibt es immer.«
»Ich weiß nicht. Man muss sich da wohl mit den Gegebenheiten abfinden. Aber ich will Sie nicht damit langweilen.«
Langweilen? Langhammer war wirklich der unsensibelste Quacksalber, der ihm je untergekommen war. Wie kam er denn bitte darauf, dass ihn sein lebensbedrohlicher Zustand langweilen würde?
Er zog sich rasch an, um diesem Ort des Schreckens zu entkommen. Er musste zuerst selbst über alles nachdenken.
»Ich möchte bis zur endgültigen Beurteilung noch die Laborwerte abwarten«, fuhr der Doktor geistesabwesend fort. »Haben wir denn schon Ihre Urinwerte?«
»Ich … die sind in Ordnung, hat’s geheißen.«
»Aha, stellen meine Mitarbeiter jetzt schon die Diagnosen? Na ja, egal. Ich will mich da jedenfalls noch gar nicht festlegen. Was ich aber jetzt schon sagen kann, ist, dass eine Umstellung Ihres Lebenswandels einschließlich der Ernährungsgewohnheiten angezeigt ist, egal, was die Werte sagen.«
»Eine Umstellung?«, fragte Kluftinger und schöpfte wieder Hoffnung.
»Ja, ich geb Ihnen die Adresse von einer Rehaklinik in Oberstaufen, die verfolgt einen holistischen Ansatz.«
»Also, mit so religiösem Zeug hab ich’s nicht so.«
Langhammer blickte ihn irritiert an. »Wie auch immer. Melden Sie sich da. Die behandeln auch ambulant. Für eine Kur fehlt Ihnen ja doch die Geduld. Zuständig ist ein Doktor Steiner, sehr fähiger Mann.«
»Ja, ja, den kenn ich.« Er verschwieg ihm, welch hohe Meinung der Arzt selbst von Langhammer hatte.
»Und wegen Ihrer Verspannungen an der Wirbelsäule schreib ich Ihnen achtmal Fango und Massagen auf. Das müsste eigentlich die Blockaden lösen. Vielleicht sollten Sie auch mal einen Osteopathen aufsuchen, das hat schon manchem geholfen. Ein Advocatus Diaboli würde jetzt natürlich …«
Er machte ein kurze Pause. »Sie wissen doch, was das heißt, oder?«
Kluftinger nickte mechanisch. »Klar, der … Diabolus halt.«
»Diaboli. Genitiv, mein Lieber. Verwechseln viele. Jedenfalls müsste ich eigentlich sagen: Vorsicht – alternative Heilmethode. Aber, wie sagt schon Hamlet zu Horatio: Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als unsere Schulweisheit sich träumen lässt. Probieren Sie’s einfach mal.«
Kluftinger atmete hörbar aus. Die paar Verspannungen im Rücken belasteten ihn im Moment vergleichsweise wenig.
Der Doktor blickte auf die Uhr: »Oje, böses Ührchen. Jetzt hab ich aber ganz schön viel Zeit mit Ihnen vertrödelt. Also, ich melde mich dann, wenn ich die Werte habe, dann schauen wir, wie’s weitergeht.« Dann schlug er ihm auf die Schulter und raunte ihm zu: »Und immer dran denken: Heute ist der erste Tag vom Rest Ihres Lebens. Carpe diem!«
Draußen musste sich Kluftinger erst einmal auf eine Bank setzen. Es war kalt, und er war verschwitzt, doch was konnte ihm nun eine Erkältung noch anhaben? Er hatte wahrlich größere Sorgen. Ein paar Minuten saß er wie paralysiert da, während Begriffe wie Spenderherz, Transplantation und Testament durch seinen Kopf schwirrten. Ächzend stand er auf, atmete tief durch und ging mit gesenktem Kopf in den benachbarten Supermarkt. Wie oft hatte er schon von Menschen gelesen, die allein durch eine radikale Änderung ihrer Lebensweise dem Tod von der Schippe gesprungen waren? Menschen, die noch weit schlimmere Probleme hatten als er, zum Beispiel … na, jedenfalls schlimmere.
Er gab sich einen Ruck, bahnte sich entschlossen seinen Weg durch das verlockende Warenangebot, schritt an der Wursttheke vorbei wie ein Präsident, der den letzten Zapfenstreich abnimmt, und verabschiedete sich dabei im Geiste von all den heiß geliebten Speisen in der Auslage, dem dunkel schimmernden Presssack, dem saftig-rosafarbenen Leberkäse, der blutroten Rindersalami. Vor dem Kühlregal mit den Milchprodukten machte er schließlich halt.
Vor allem die Joghurts schienen ihm verlockend, denn die mit Kürzeln wie »LC1« und »A,C,E« sowie bunten Bildchen von Früchten versehenen Produkte verhießen nicht nur vollmundigen Geschmack, sondern auch heilsame Wirkung. Allein vom eingehenden Studium der ihm weitgehend unbekannten Inhaltsstoffe fühlte Kluftinger sich gesünder, jünger, merkte, wie die Lebensgeister zurückkehrten, spürte die Überlegenheit des kritischen Konsumenten gegenüber den armen, triebgesteuerten Kreaturen, die neben ihm zum Sahnepudding griffen.
Schließlich entschied er sich für einen Magermilchjoghurt mit »probiotischen Kulturen und cholesterinregulierendem Alphakollagen«, was ihm zwar ebenfalls nichts sagte, aber wahnsinnig gesund klang. Aus der Gemüsetheke fischte er sich dann noch eine Gurke.
Als er damit zufrieden an der Kasse stand, blickte ihn die Kassiererin über den Rand ihrer Hornbrille skeptisch an. »Du, Klufti, ich glaub, du hast den falschen Einkaufswagen erwischt. Das wird ja kaum alles sein, oder?«
Er senkte den Blick auf seine Waren und schluckte: Tatsächlich boten die Gurke und der Joghurt ein erbärmliches Bild. Priml. Das also war sein neues Leben?
Er presste trotzig die Lippen zusammen: ja. Das war es. Sein neues Leben. Leben! Alles andere war unwichtig.
»Stimmt«, antwortete er deswegen, machte einen Schritt zur Seite, fischte sich aus dem Regal an der Kasse noch einen fettarmen, zuckerreduzierten Bio-Getreideriegel und legte ihn zu den anderen Sachen aufs Band. »Jetzt hab ich alles.«
»So, Herr Kluftinger, wie sieht’s aus? Sind Sie noch zu retten, oder sollten Sie sich besser keene Langspielplatte mehr kaufen?«
Sandy Henske empfing den Kommissar grinsend auf dem Korridor der Kemptener Kriminalpolizeiinspektion. Unmittelbar darauf traten auch Strobl, Hefele und Maier aus ihren Büros.
»Und, hat dich der Doktor gelobt, weil du heut Mittag so gesund gegessen hast?«, gluckste Eugen Strobl. Von Besorgnis war bei seinen Kollegen keine Spur zu erkennen.
»Redet doch nicht so saudumm daher! Habt’s ihr keine Arbeit?«, bellte Kluftinger sie an.
»Ich muss wirklich sagen: Hört auf, den Chef so zu foppen!«, sprang Maier ihm bei. »Auch psychosomatische Erkrankungen oder Erschöpfungszustände sind nicht auf die leichte Schulter zu nehmen! Ich stand vor einem halben Jahr auch ganz knapp vor einem Burn-out – aber das habt ihr unsensiblen Rüpel ja nicht gemerkt!« Seine Stimme wurde brüchig. »Nur die Sandy hat damals ein offenes Ohr für mich gehabt!« Er warf der Sekretärin einen dankbaren Blick zu, dem diese jedoch betreten auswich.
»Richie, ich kann mich schon selber verteidigen«, sagte Kluftinger emotionslos, »aber trotzdem danke.«
Maier hob die Arme und ging wortlos in sein Büro zurück.
»So, Roland, wie schaut’s mit den Flugdaten aus?«
»Also: Zur fraglichen Zeit gab es genau einen Überflug einer Passagiermaschine, die tief genug war, dass man sie hätte hören können: Die King Air 285 aus Wien im Anflug auf den Flughafen Friedrichshafen. Das Gebiet lässt sich auf etwa zehn Kilometer eingrenzen, zwischen Immenstadt und Thalkirchdorf, also Richtung Oberstaufen.«
»Hm … ein bissle genauer geht’s nicht?«
»Anscheinend nicht. Aber sagst du mir jetzt mal, was das genau soll? Warum willst du das denn so genau wissen?«
»Himmelarsch, weil man genau an dem Ort, wo dieses Flugzeug drübergeflogen ist, einen Menschen umgebracht hat«, platzte Kluftinger heraus. »Ob ihr mir das jetzt glaubt oder nicht. Ich find die Leiche, und wenn es das Letzte ist, was ich tue.« Kluftinger erschrak selbst über seine Worte, die durch seinen Arztbesuch so ungewollte Brisanz erhalten hatten, und schob nach: »Ihr wisst schon, was ich meine.«
»Bitte, du bist ja der Chef hier«, lenkte Hefele ein. »Wir müssen wahrscheinlich auch nicht alles verstehen, was in deinem Hirn so vor sich geht. Aber ich glaub nach wie vor, du hast dich da in was verrannt!«
»Wir fahren jetzt in die Wohnung von diesem Schratt, unserem Taximörder. Gehst schon mit, oder?«, fragte Strobl, sichtlich bemüht, seinen Chef nicht weiter zu reizen.
»Nein, Männer«, versetzte der kraftlos, »macht ihr das bitte. Ihr müsst auch lernen, dass ihr allein zurechtkommt, wenn mal was sein sollte.«
Damit drehte Kluftinger sich um und ließ seine Mitarbeiter ratlos zurück.
Nur eine halbe Stunde später betrat der Kommissar seine Wohnung mit einem matten Seufzer statt seines gewohnten »Bin dahoim!«, schlüpfte in seine Fellclogs und ging zur Küche, in der Hand eine Plastiktüte mit der Gurke und dem Joghurt. Auf der Türschwelle hielt er inne und sah Erika versonnen dabei zu, wie sie an der Küchenmaschine hantierte. Da fasste er einen Entschluss: Er würde ihr die Wahrheit über seinen Zustand schonend und in kleinen Dosen beibringen. Dann trat er ein und legte ihr eine Hand auf die Schulter.
Seine Frau zuckte zusammen und fuhr herum. »Ja, sag mal, musst du mich so erschrecken?« Sie atmete schwer und legte sich eine Hand auf die Brust. »Du kannst dich doch nicht hier reinschleichen wie der Sensenmann! Da bleibt einem ja schier das Herz stehen!«
Kluftinger schluckte. Bevor er etwas erwidern konnte, stellte seine Frau die Maschine ab und fragte: »Wie war’s denn beim Martin? Ich hab versucht, dich zu erreichen. Hat er was feststellen können? Jetzt sag halt: Was meint er?«
Kluftinger hob beschwichtigend die Hand. »Mei, er weiß noch nix Genaues, er muss die Blutergebnisse abwarten, das dauert ja, bis die kommen.«
»Aber nix Gravierendes, was er vermutet, oder? Und wegen diesem Stechen in der Brust?«
»Also … er hat … ich soll jedenfalls mal die Ernährung umstellen. Kann man ja mal probieren.«
»Die Ernährung, na dann …« Erika klang ein wenig erleichtert. »Das hab ich dir aber schon lang gesagt – und der Martin auch. Bei dem vielen Fleisch, das du isst, das kann ja nicht gesund sein. Von mir aus können wir gern öfters fleischlos und ein bissle fettreduziert essen. Die Annegret hat mir da einen Haufen Rezepte gegeben. Ich find’s toll, dass du das auch ausprobieren willst, Butzele!«
»Hier, ich hab schon was mitgebracht.«
Er streckte seiner Frau die Tüte hin und wunderte sich, dass sie sich bereits mit dieser kurzen Erklärung zufriedengab. So konnte er selbst entscheiden, wann er seine Familie mit dem ganzen Ernst der Lage konfrontieren würde.
Erika griff sich den Beutel, sah hinein und blickte ihren Mann ungläubig an. »Du hast allen Ernstes eine Gurke gekauft? Wusstest du denn überhaupt, wo die im Laden liegen? Oder hast du fragen müssen?«
»Gurke ist doch gut. Kannst ja mal was Feines draus zaubern. Aber wenn du jetzt schon was vorbereitet hast mit der Küchenmaschine, können wir ja auch morgen …«
»Nein, Schmarrn, ich hab nur Semmelbrösel gemahlen. Ich mach uns schon was Gesundes.«
Der Kommissar nickte, zog die Kühlschranktür auf, langte nach einem Bier, um sich dann jedoch kurzerhand für die Mineralwasserflasche zu entscheiden, deren Inhalt er schließlich leise seufzend in seinen Steingutkrug goss. Mit hängenden Schultern verließ er die Küche.
»So, ich hab uns einen schönen Kräuterjoghurt gemacht, Tomatenspalten und Gurkensticks dazu. Und Staudenselleriestücke, die sind auch toll zum Dippen. Kommst du rüber an den Esstisch?«
Kluftinger erhob sich ächzend aus seinem Sessel, in dem er seit einer halben Stunde vor sich hin dämmerte. Sein trüber Blick wanderte über das Abendessen. Ob es da nicht doch besser wäre, die lukullischen Genüsse, die er so liebte, bis zum großen Knall auszukosten?
»Hm, und wo ist das Brot?«
»Gibt’s nicht. Keine Kohlenhydrate abends.«
»Na ja, aber vielleicht ein Brot ohne Kohlen…dings?«
Erika legte ihm die Hand auf den Arm. »Schau, aller Anfang ist schwer. Du schaffst das schon. Und wenn du erst mal dran gewöhnt bist, dann willst du das ungesunde Zeug gar nicht mehr. Nach einer Weile können wir ja dann ein paar Vollkornprodukte dazu nehmen, gell?«
»Mhm«, brummte er resigniert, griff sich ein Stück Gurke, tauchte es in den Joghurt und kaute mit langen Zähnen darauf herum.
»Deine Mutter kommt noch vorbei, sie bringt Bärlauch aus dem Garten.«
»Priml«, stöhnte Kluftinger. Er konnte gut auf diesen Terror der »saisonalen Produkte« verzichten: Die Bärlauchzeit ging nahtlos in die Spargelzeit über, dann gab es überall Holunderblüten, um schon bald von Pfifferlingen und, am allerschlimmsten, von Kürbis abgelöst zu werden, bis man alles so überhatte, dass es ein Jahr brauchte, um es wieder essen zu können.
Wie auf ein Stichwort klingelte es an der Tür. Erika stand auf und kam zwei Minuten später mit Kluftingers Eltern im Schlepptau wieder herein.
»Griaß di, Mutter, griaß di, Vatter«, sagte Kluftinger mampfend, ohne das Essen zu unterbrechen.
Dennoch entging ihm nicht, wie sich das Gesicht seiner Mutter bewölkte. Erschrocken blickte sie auf die Teller, dann zu ihrem Sohn und schließlich zu ihrer Schwiegertochter. Man merkte ihr förmlich an, wie sie mit sich rang, dann sagte sie mit mühsam unterdrücktem Beben in der Stimme: »Heu, ihr habt’s aber eine gesunde Vorspeise heut Abend!«
»Sicher«, murmelte Kluftinger.
Doch damit gab sich seine Mutter nicht zufrieden. Sie maß Erika mit einem tadelnden Blick, dann setzte sie sich neben den Kommissar, ergriff seine Hand und sagte mit heiligem Ernst: »Du bist doch eh so schmal worden! Ein richtiger Strich in der Landschaft! Erika, schaust du schon, dass er ein-, zweimal am Tag was Warmes hat, oder?«
Erika sog scharf die Luft ein. »Ich werd am besten gleich mal den Bärlauch in den Kühlschrank packen«, sagte sie und eilte aus dem Zimmer.
Ihre Schwiegermutter blickte ihr nach und zuckte die Achseln: »Ich mein ja bloß. So ein bissle Gemüse, das ist doch kein Essen für einen gestandenen Mann.« Dann wandte sie sich an ihren Sohn: »Ich will halt, dass es dir gutgeht, Bub! Komm doch mal wieder auf eine gescheite Fleischmahlzeit bei uns vorbei!«
»Jetzt gib einfach a Ruh, bittschön, Mutter, dann geht’s mir gleich besser.«
Hedwig Maria Kluftinger stand beleidigt auf, fügte jedoch noch halblaut einen Satz an, eine Angewohnheit, die Kluftinger regelmäßig zur Weißglut trieb: »Schon recht, wenn meine Anwesenheit hier nicht gewünscht ist, geh ich halt mal in die Küche und geh der Erika ein bissle zur Hand …«
Es folgten einige Minuten einvernehmlichen Schweigens zwischen Vater und Sohn. Dann sagte Kluftinger: »So, Vatter. Und?«
»Schon recht. Und selber?«
»Du, mei … schon.«
»Gut.«
Wieder ein paar wortlose Minuten.
»Sag mal, Vatter, was hast du eigentlich nach deinem Bypass gemacht? Bei der Reha?«
»Wieso willst das denn jetzt auf einmal wissen, das war vor zwei Jahren!«
»Wollt halt mal fragen.«
Kluftinger senior zuckte mit den Schultern. »Mei, einen Haufen Untersuchungen halt. Übungen, Training, lauter so Zeug. Und man kann ja auch selber viel machen.«
»Aha. Was denn?«
»Du, so dies und das …«
»Machst du da was?«
»Regelmäßig Trimm-dich.«
»Regelmäßig?«
»Mhm.«
»Wie oft?«
»Glaubst mir’s nicht?«
»Doch, ich mein bloß.«
»So … einmal im Monat. Weißt schon, auf dem Trimm-dich-Pfad beim Freilichtspiel. Und dann geh ich ja in die Berg und in die Pilze, und der Garten hält mich auch fit.«
»Und mit der Ernährung? Da hältst du dich doch nicht dran, oder? Das würd doch die Mutter gar nicht zulassen …«
Sein Vater blickte verschwörerisch zur Tür. »Bub, was ich dir jetzt sag, das musst du unbedingt für dich behalten, ja?« Seine Stimme hatte einen verschwörerischen Ton angenommen.
Kluftinger zog verwundert die Brauen zusammen.
»Also? Du sagst niemandem was?«
»Nein, Vatter, jetzt red halt!«
Kluftinger senior rückte noch ein wenig näher. Schließlich flüsterte er: »Ich ess immer heimlich ein bissle rohes Gemüse und Obst vor dem Essen. Meistens hol ich’s direkt aus dem Garten. Wegen den Vitaminen und so. Weißt du, deine Mutter kocht wunderbar, aber halt ziemlich mächtig und schwer. Es würd sie unendlich kränken, wenn ich sagen tät, sie darf ihre geliebten Braten nicht mehr machen und ihr weich gekochtes Gemüse. Wahrscheinlich würd sie sich auch viel zu viele Sorgen machen um mich, das will ich nicht. Und so denkt sie halt, ich kann einfach nicht mehr so viel essen, seit der Operation. Verstehst du?«
»Ich versteh schon, Vatter, ich versteh schon«, versicherte Kluftinger. Er betrachtete seinen Vater und hatte Mühe, seine Rührung zu verbergen vor diesem Mann, der seine ruppige Schale kultivierte wie kaum ein Zweiter und doch im Kern ein so rücksichtsvoller und liebender Mann war.