10.28 Uhr

Zug Nummer 037 der Northern Line

Die Temperatur in der Innenstadt von London betrug vierunddreißig Grad; es war der bisher heißeste Tag des Jahres. Diese Information tauchte in vielen Morgenzeitungen allerdings erst als zweitwichtigste Meldung auf. Titelstory war, dass das gesamte Londoner U-Bahn-Netz wegen eines Sicherheitsalarms gesperrt und ein Teil des West Ends evakuiert worden war.

Nachrichtencrews und Übertragungswagen drängten sich an strategischen Punkten vor den Polizei-Absperrbändern, die die Außengrenze des evakuierten Gebiets bildeten. Die Polizei hatte keine offizielle Stellungnahme abgegeben, was für Spekulationen seitens der Medien sorgte. Die Anwesenheit von biochemischen Spezialeinheiten im Evakuierungsbereich heizte die Gerüchte, dass London von einer »schmutzigen Bombe« bedroht sei, noch weiter an. Besser informierte Quellen berichteten, Grund für die Sperrung des U-Bahn-Netzes und die Evakuierung von Teilen des West End sei ein entführter Zug.

Bei derart spärlichen soliden Erkenntnissen waren die Fernsehteams gezwungen, Passanten zu interviewen, die Zeugen des gewaltigen Polizeiaufmarsches geworden waren. Über der gesamten Innenstadt Londons war eine Flugsperre verhängt worden, von der allein die Polizeihubschrauber ausgenommen waren, die tief über der Charing Cross Road kreisten. Das monotone Geräusch ihrer Rotorblätter war auf allen Fernsehaufnahmen vom Schauplatz im Hintergrund zu hören.

Auf der Website des MI5 wurde die Sicherheitslage als kritisch eingestuft, was den Medien natürlich nicht entgangen war. Allerdings wurde keine nähere Erklärung geliefert. Alles deutete darauf hin, dass Regierung und Geheimdienste von einer Bedrohung überrascht worden waren, von der sie zuvor keinerlei Kenntnis gehabt hatten, und nun gezwungen waren, so rasch wie möglich auf die Ereignisse zu reagieren.

Im entführten Zug betrug die Temperatur inzwischen über vierzig Grad. Elf Fahrgäste litten unter hitzebedingter Erschöpfung und Dehydrierung und wurden von Passagieren mit medizinischer Ausbildung versorgt. Vordergründig überwog die Wut – man beschwerte sich lautstark über die mangelnde Rücksicht der Londoner U-Bahn-Betriebe auf Gesundheit und Sicherheit ihrer Kunden –, doch dahinter schwelte die Angst. Der Zug, in dem sie saßen, steckte nun schon seit über eineinhalb Stunden im Tunnel fest. Was auch immer der Grund dafür war, es schien etwas Ernstes zu sein.

Im sechsten Waggon war Hugh Taylor, Kolumnist für Verbraucherthemen, inzwischen überzeugt, Stimmen aus dem Schlusswagen zu hören, aber er beschloss, vorläufig den Mund zu halten. Seit zwanzig Minuten hatte er seine Panik nun schon unter Kontrolle, was ihm nur gelang, weil er zum ersten Mal seit einer Asienreise mit dem Rucksack vor über dreißig Jahren wieder zu meditieren versuchte. Es schien zu funktionieren. Vielleicht bildete er sich die Stimmen ja nur ein, und wenn nicht, gehörten sie wahrscheinlich den Wartungstechnikern, von denen der Fahrer gesprochen hatte.

Im zweiten Waggon klagte ein Mann Mitte dreißig, der noch nie zuvor Herzprobleme gehabt hatte, über einen stechenden Schmerz in der Brust und wurde von einem Fahrgast, der am Empfang des Guy’s Hospital arbeitete, angewiesen, sich auf den Boden zu legen.

Leere Wasserflaschen und Proviantdosen dienten als behelfsmäßige Toiletten. Wer sich erleichtern musste, zog sich in die Ecken der Waggons zurück und ließ sich von anderen Passagieren abschirmen. Bei zwei Erwachsenen und vier Kindern kam diese Lösung allerdings zu spät.

Im ersten Waggon beschloss eine Griechin, die ein Restaurant in Brighton besaß und in London eine alte Schulfreundin besuchte, ein Wörtchen mit dem Fahrer zu reden. Seine letzte Durchsage, dass sie umgehend evakuiert würden, war schon mindestens eine Viertelstunde her, und sie wollte herausfinden, was los war. Also hämmerte sie gegen die Tür zur Fahrerkabine.

»He, Fahrer!«, brüllte sie. »Öffnen Sie sofort die Tür!«

Als er die geräuschvollen Anzeichen für eine mögliche Rebellion auf der anderen Seite der Trennwand hörte, schöpfte George Wakeham neuen Mut, aber Denning befahl ihm, eine weitere Durchsage zu machen.

»Und diesmal bitte ein bisschen überzeugender. Klingen Sie möglichst aufrichtig und versprechen Sie, dass Sie tun, was Sie können. Keine Sorge, die Leute werden Ihnen schon glauben. Sie haben immer noch keinen Grund, es nicht zu tun. Und bringen Sie auch die Frau hinter der Tür zum Schweigen, wenn Sie schon dabei sind.«

George griff nach dem Mikrofon. »Hier spricht noch einmal George, der Fahrer. Es tut mir sehr leid, dass es schon wieder eine Verzögerung gegeben hat. Ich habe gerade mit dem Disponenten gesprochen, und er hat mir versichert, dass Sie so schnell wie möglich hier rausgeholt werden.«

Wenn er ein Held gewesen wäre, hätte er den Leuten die Wahrheit gesagt, hätte ihnen so schnell wie möglich erklärt, der Zug sei entführt worden, und sie sollten versuchen zu fliehen. Einige Fahrgäste hätten es sicher geschafft, schon aufgrund ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit. Doch George war kein Held. Er wollte nur seine Frau und seine Kinder wiedersehen und würde nichts tun, was die Erfüllung dieses Wunsches gefährdete.

»Wie gesagt, das Ganze tut mir aufrichtig leid. Soweit mir mitgeteilt wurde, werden wir aus Sicherheitsgründen hier unten festgehalten. Mir ist durchaus klar, dass es hier drinnen unerträglich heiß und stickig ist, aber die Anweisung lautet nun mal, unter allen Umständen stehen zu bleiben. Also harren Sie bitte noch einen Moment aus. Ich verspreche, dass ich Sie über alles auf dem Laufenden halten werde. Ach, eins noch: Könnte die Lady, die hinter mir herumbrüllt und gegen die Tür hämmert, bitte damit aufhören? Ich kriege Kopfschmerzen von dem Lärm, und damit ist keinem von uns gedient.«

»Nicht schlecht«, lobte Denning, als George das Mikro wieder zurückhängte. »Sie werden immer besser.« Dennings belustigtes Lächeln und das ironische Kräuseln seiner Oberlippe gingen George immer mehr auf die Nerven. Er war nie ein gewalttätiger Mensch gewesen, sehnte sich nun aber danach, Denning das Lächeln aus dem Gesicht zu prügeln.

»Darf ich Sie etwas fragen?«, erkundigte er sich.

»Das haben Sie doch gerade schon getan«, antwortete Denning.

»Warum zögern Sie das Ganze hinaus? Warum setzen Sie Ihr Vorhaben nicht endlich in die Tat um?«

Die Frage hatte immerhin den Vorteil, dass Denning jetzt nicht mehr lächelte.

»Sie haben offenbar keinerlei Ahnung von Dramaturgie. Im Theater stürmen die Darsteller doch auch nicht sofort die Bühne, sobald ihr Publikum eingetroffen ist. So funktioniert das nicht. Man muss erst eine gewisse Erwartung aufbauen, eine gewisse Spannung. Das ist Showbusiness. Adolf Hitler hat die Menschen bei seinen Kundgebungen erst eine Weile warten lassen, bevor er schließlich mit einem Hubschrauber zu ihnen herunterkam. Er ist buchstäblich aus dem Himmel herabgestiegen, eine starke Symbolik. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin kein Hitler-Verklärer oder so etwas, aber der Mann wusste wirklich, wie man Eindruck schindet. Ich warte, bis die Medien ihre Zelte aufgebaut haben und die Übertragung steht, wie man so schön sagt. Es soll doch niemand etwas verpassen. In New York ist noch nicht einmal Frühstückszeit.«

George hätte Denning gerne gefragt, was er für eine Symbolik anstrebte. Was wollte er den Leuten mit seinem Angriff aus dem Untergrund sagen? Dass er nicht der Erlöser aus dem Himmel, sondern der Mann aus der Kanalisation war?

Je mehr Zeit verstrich, desto selbstsicherer schien Denning zu werden, so als zöge er jede Menge Kraft und Energie aus der Macht, die ihm die Situation verlieh.

»Und jetzt möchte ich, dass Sie Funkkontakt mit diesem Ed Mallory aufnehmen und ihm Ihre erste Forderung mitteilen.«

»Meine erste Forderung?«

»Sie wissen, was ich meine.«

»Und was ist meine erste Forderung?«

»Sagen Sie ihm, dass ich einen Wireless Router will, der an der Station Leicester Square am Tunneleingang installiert wird, damit der ganze Zug Zugang zum Internet hat. Es darf kein Passwort erforderlich sein, um ins Internet zu kommen, gar nichts. Internet für alle, sozusagen. Ich will, dass jeder, der in diesem Zug sitzt, Kontakt zu seinen Angehörigen aufnimmt. Mallory und seine Leute haben Zeit bis halb zwölf, um den Router zu installieren. Dann fange ich an, Passagiere zu töten, und zwar einen pro überzogener Minute, nach guter alter Hollywood-Manier.«

10.41 Uhr

U-Bahn-Leitstelle, St. James’s

»George, ich muss direkt mit der Person sprechen, die Ihnen Befehle erteilt, sonst kommen wir auf keinen grünen Zweig.«

»Das geht nicht. Der Router muss um Punkt halb zwölf an Ort und Stelle sein, sonst gibt es Tote.«

»Ich kann Ihnen nicht versprechen, dass ich das schaffe. Dafür muss ich erst mit den Entscheidungsträgern sprechen. Keine Ahnung, ob das überhaupt machbar ist, technisch gesehen, meine ich.«

»Es ist machbar. Die Verbindung muss frei zugänglich sein. Jeder Versuch, sie in irgendeiner Weise einzuschränken, wird als Nichterfüllung der Forderung gewertet. Dann stirbt ein Fahrgast pro Minute.«

»George.« Ed senkte die Stimme, damit sie so verschwörerisch wie möglich klang, auch wenn ihm natürlich klar war, dass der oder die Zugentführer mithörten. »Sie müssen der Person, die bei Ihnen ist, mitteilen, wie unwahrscheinlich es ist, dass ich die Forderung erfüllen kann. Es könnte kompliziert werden, eine behelfsmäßige WLAN-Verbindung zu installieren, die durch den Tunnel bis zum Zug reicht. Wenn ich mit der Person direkt spreche, kann ich besser herausfinden, was sie genau möchte, und ihre Vorstellungen anschließend besser in die Tat umsetzen.«

Ed versuchte mit allen Mitteln, die Zielperson ans Funkgerät zu kriegen. Er wusste, dass ihm die Lage wesentlich aussichtsreicher erscheinen würde, wenn er eine Stimme zu hören bekam, wenn er Tonfall und Sprechweise analysieren konnte. Ohne Stimme ließ sich kein Persönlichkeitsprofil erstellen, um die weiteren Verhandlungen danach auszurichten.

»Sie haben Zeit bis halb zwölf. Dann stirbt jemand.«

»George?«

Es war zu spät. Die Funkverbindung war tot. Ed zog das Headset ab und legte es auf den Schreibtisch. Dann rieb er sich mit der Hand übers Gesicht, wobei seine Finger über zerklüftetes Narbengewebe glitten.

»Ed, Laura Massey ist hier«, sprach ihn Calvert an. »Sie wird die Verhandlungen koordinieren.«

Ed freute sich, dass Laura diese Aufgabe übernahm. Sie hatten bereits einmal bei einer Geiselnahme im East End zusammengearbeitet. Vier Tage hatten sie mit dem Rest des Verhandlungsteams in einem Hochhaus mit Sozialwohnungen gesessen und versucht, einen cracksüchtigen siebenfachen Vater zur Vernunft zu bringen. Der Mann hatte seine Frau als Geisel genommen, nachdem er herausgefunden hatte, dass sie seit fünf Jahren mit seinem Bruder schlief. Es waren zermürbende Verhandlungen gewesen, aber Ed hatte Laura als extrem professionell und gleichzeitig menschlich in Erinnerung. Sie konnte nicht nur erfolgreich eine Kommandozentrale leiten, sondern war auch selbst eine hervorragende Verhandlungsführerin.

Ed streckte die Hand aus, und Laura schüttelte sie. Ihre Hand fühlte sich weich und trocken an. Sie trug kein Parfüm, sondern duftete nur leicht nach Deodorant und Feuchtigkeitscreme. Ed mochte ihren Geruch.

»Hallo, Laura. Wie sieht die Aufgabenverteilung aus? Wie immer?«

»Ja, Ed. Sie sind die Nummer eins, Calvert Nummer zwei und White Nummer drei.«

»Sehe ich das richtig, dass wir bis auf Weiteres hier in der Leitstelle bleiben?«

»So ist es. Wir können unsere Konsole an das System der Londoner U-Bahn anschließen, um direkten Funkzugriff auf die Fahrerkabine des Zuges zu haben. Später können wir dann immer noch zum Ort des Geschehens umziehen, falls nötig.«

»Ich vermute, Serina Boise übernimmt die Einsatzleitung?«

»Genau. Ich soll Sie übrigens noch einmal in Serinas Namen darauf hinweisen, dass der MI5 über jeden Schritt auf dem Laufenden gehalten werden muss.«

»Natürlich, wir haben ja nichts anderes zu tun.« Ed war es egal, ob Mark Hooper oder jemand anders seine Missbilligung mitbekam. Die ständige Betonung, dass der MI5 ebenfalls mit einzubeziehen sei, kam ihm merkwürdig vor, aber es war reine Zeitverschwendung, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Jetzt gab es Wichtigeres zu tun.

»Gibt es schon Informationen bezüglich des WLAN-Anschlusses?«, fragte Ed.

»Möglich ist es theoretisch. Die Techniker müssen allerdings erst ein bestimmtes Hochleistungsgerät auftreiben, damit das Signal weit genug in den Tunnel hineinreicht.«

»Gut«, sagte Ed. »Wir schalten das Gerät erst mit Ablauf der Frist ein. Mir ist klar, dass dort unten Hunderte von Menschen extremen Bedingungen ausgesetzt sind, aber wir müssen trotzdem auf Zeit spielen. Es gelten die üblichen Regeln, und die wichtigste lautet: Ruhe in die Sache hineinbringen. Es besteht kein Grund zur Eile, wir haben alle Zeit der Welt.«

»Und was passiert, sobald der Internetanschluss steht?«, fragte Hooper.

»Dann gehen die Entführer auf Sendung und teilen sich der ganzen Welt mit, es sei denn, es gelingt uns, die Verbindung irgendwie zu beschränken. Im Prinzip reicht ihnen ein handelsüblicher Laptop, um Bild und Ton in sämtliche Länder zu übertragen. Die schaffen sich ihre eigene Reality-TV-Show.«

»Das kann auf keinen Fall gut für uns sein«, knurrte Hooper verärgert. Ed konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der MI5-Mann die Situation persönlich nahm.

»Was wäre denn die Alternative?«, fragte er.

»Keine Ahnung, aber sobald die Entführer im Internet sind, haben wir keine Kontrolle mehr über sie. Sie könnten irgendjemandem ein Zeichen geben, Nachrichten an Komplizen verschicken.«

»Trotzdem bleibt uns im Moment wohl nichts anderes übrig, als dieses Risiko einzugehen. Vielleicht profitieren wir ja ebenfalls von der Internetverbindung. Nicht nur den Entführern eröffnen sich damit neue Kommunikationswege, sondern auch uns. Wir könnten die Identität möglichst vieler Passagiere herausfinden. Man weiß schließlich nie. Vielleicht befinden sich ja Personen an Bord, die über die nötigen Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen, um aus dem Innern des Zugs heraus einen Gegenangriff zu starten. Selbst wenn wir niemanden finden, sammeln wir vermutlich wertvolle Informationen. Die Fahrgäste könnten als unsere Augen und Ohren fungieren. Auf die Weise lässt sich das Internet letztlich gegen die Entführer verwenden. Der Datenaustausch muss auf jeden Fall vom technischen Aufklärungsdienst analysiert werden, jedes einzelne Wort, das bei Gesprächen fällt, jede E-Mail. Wir brauchen ständige Updates über sämtliche Daten, die in den Zug hinein- oder aus ihm herausgelangen.«

»Ich weiß trotzdem nicht so recht«, erwiderte Hooper zögernd.

»Uns bleibt keine andere Wahl«, betonte Ed noch einmal. »Wenn es stimmt, was uns der Fahrer mitgeteilt hat, haben die Entführer bereits zwei Männer umgebracht. Außerdem liefert uns die Einrichtung der WLAN-Verbindung eine gute Verhandlungsgrundlage, weil wir dafür eine Gegenleistung verlangen können. Gibt es diesbezüglich Vorschläge?«

»Kinder raus?«, lautete Hoopers Idee.

»Das versuchen wir natürlich bei nächster Gelegenheit. Ich fürchte allerdings, dass wir damit keinen Erfolg haben werden.«

»Und warum nicht?«, fragte White.

»Wenn sie uns weichklopfen wollen – und genau das ist hier meiner Meinung nach der Fall –, erreichen sie das am besten, indem sie die Kinder drinnenbehalten.«

Ed versuchte bei jeder Verhandlung aufs Neue, die Anzahl der Geiseln aus seinen Gedanken zu verbannen, doch es fiel ihm schwer, sich nicht davon beeinflussen zu lassen. Es war nun einmal beängstigend, wenn besonders viele Menschenleben auf dem Spiel standen. Wie bei der Brize-Norton-Entführung von 2003. Damals hatte ein Soldat, der in den Irak fliegen sollte, auf dem Luftwaffenstützpunkt Brize Norton ein Flugzeug mit vierundsechzig Kameraden und Besatzungsmitgliedern in seine Gewalt gebracht und eineinhalb Tage lang damit gedroht, sich selbst und das Flugzeug mit Handgranaten in die Luft zu jagen. Dass es Ed gelungen war, dem Soldaten – einem Neunzehnjährigen mit psychischen Problemen – die Sache auszureden, war eine Leistung, die ihn sehr stolz gemacht hatte. Sein Stolz hatte sich jedoch rasch in Frust verwandelt, als der für den Vorfall zuständige Oberste Befehlshaber angedeutet hatte, Ed verdanke seine Fähigkeiten allein seiner Blindheit, so als ob jeder Blinde in der Lage wäre, eine komplexe und gefährliche Geiselsituation zu meistern.

Ed war immer schon ein guter Zuhörer gewesen, das lag ihm im Blut. Bereits als Kind musste er ein angeborenes Gespür für die Stimmungen und Gefühle der Menschen besessen haben, denn er erkannte beispielsweise sofort, dass seine Tante, die Schwester seines Vaters, massive psychische Probleme hatte. Da das außer ihm niemand zu bemerken schien, traute er sich nicht, es seinen Eltern zu sagen. Schließlich war er nur ein Kind, dem niemand geglaubt hätte. Aber sein Verdacht bestätigte sich, als sie einen Nervenzusammenbruch erlitt und in eine Psychiatrie eingewiesen wurde, aus der sie nie wieder in die normale Gesellschaft zurückkehrte. Bei einem seiner seltenen Besuche vertrauten ihm die Betreuer an, dass sie in seiner Gesellschaft am ruhigsten und zufriedensten sei. Dieses Talent, mit Menschen zu kommunizieren und dafür zu sorgen, dass sie sich wohlfühlten, erwies sich in seinem Berufsleben immer wieder als entscheidender Pluspunkt. Nicht nur Geiseln am anderen Ende einer Telefonleitung reagierten positiv auf ihn, die meisten Menschen entspannten sich in seiner Gegenwart, weil er ihnen das Gefühl gab, es nicht eilig zu haben und kein festes Ziel zu verfolgen. So war es tatsächlich. Im Moment des Gesprächs konzentrierte er sich ganz auf die Sichtweise seines Gegenübers, fühlte sich vollkommen in denjenigen ein. Andere Verhandlungsführer – eigentlich die meisten – verloren das Ziel der Verhandlung keine Sekunde aus den Augen. Es schwebte über allem, riesig, unübersehbar. Ed hingegen konnte eine echte Beziehung zur jeweiligen Zielperson aufbauen und dafür sorgen, dass diese ihre meist aussichtslose, zwischen Leben und Tod schwankende Lage vergaß, wenn auch nur vorübergehend. Bei einer Krisensituation in Nigeria hatte er mit der Zielperson einmal über die Chancen von Manchester United beim UEFA-Cup diskutiert. »Die Kanäle offen halten«, nannten es die Psychologen. Wie auch immer man diese Fähigkeit bezeichnete, man konnte sie nicht erlernen. Ed besaß sie von Geburt an und griff immer wieder darauf zurück.

Doch angesichts der jetzigen Sachlage wurde alles, was er in seiner bisherigen Karriere erreicht hatte, klein und unbedeutend. Er hatte es mit einer unbestimmten Anzahl von Terroristen zu tun, die Hunderte Geiseln genommen hatten und bisher kein anderes Motiv erkennen ließen als das, mit der Außenwelt kommunizieren zu wollen. Allerdings war es gerade die Forderung nach einer Internetverbindung, die Ed ein wenig Hoffnung machte. Wenn die Terroristen allein das Ziel verfolgt hätten, den Fahrgästen etwas anzutun, hätten sie es längst getan. Offenbar ging es ihnen in erster Linie um Medienaufmerksamkeit, und sobald sie diese erhalten hatten, ließen sie die Geiseln möglicherweise gehen. Außerdem konnte Ed Druck auf die Entführer ausüben, indem er drohte, die Verbindung wieder zu kappen. Vielleicht war das riesige Ausmaß der Entführung, die Drohung, Menschen umzubringen, nichts als Show. Und wenn Ed schon dabei war, seinem Optimismus freien Lauf zu lassen, dann waren möglicherweise auch die CO19-Männer nicht getötet, sondern nur in Geiselhaft genommen worden. Die Behauptung, sie seien tot, sollte vielleicht den ernst zu nehmenden Charakter der Zugentführung unterstreichen. Der Gedanke, das Ganze könnte lediglich ein aus dem Ruder gelaufener PR-Coup sein, tröstete Ed ein wenig. Mit fehlgeleiteter Theatralik kam er klar. Terrorismus hingegen machte ihn nervös.

11.02 Uhr

Zug Nummer 037 der Northern Line, sechster Waggon

Der Hitze zum Trotz trug Hugh immer noch sein Sportsakko. Maggie wusste nicht, ob sie sich eine weitere Panikattacke von ihm wünschen sollte oder nicht. Ein Teil von ihr wollte, dass endlich etwas – irgendetwas – passierte, dass sich eine Situation entwickelte, die ihren Mitgefangenen die Wahrheit aufzwang, ihnen klarmachte, dass sie Geiseln waren. Ein anderer Teil von ihr war wie betäubt und wollte gar nichts, am allerwenigsten, dass Hugh, diese tickende Zeitbombe, ihre Familie gefährdete.

Warum hatte es ausgerechnet sie getroffen? Diese Frage ließ ihr keine Ruhe. Welche Stromschnelle im Fluss des Schicksals hatte diese Leute gerade vor ihre Haustür gespült, bei all den Zugführern, die die Londoner U-Bahn beschäftigte?

Jeder Gedanke, der sich nicht mit Sophie und Ben und der Frage beschäftigte, wo sie wohl jetzt waren und was mit ihnen geschah, war eine willkommene Ablenkung von der Verzweiflung, die von ihr Besitz ergriffen hatte. Als die Entführer ihr eröffnet hatten, dass sie sich von ihren Kindern trennen musste, hatte sie versucht zu schreien und Passanten auf sich aufmerksam zu machen, bis der orientalisch aussehende Mann ihr die Hand auf den Mund gelegt und gedroht hatte, die Kinder persönlich umzubringen, wenn sie nicht still war. Dann war der andere Mann – der mit dem kurz geschorenen Haar – mit Sophie und Ben verschwunden, und seither hatte sie ihre Kinder nicht mehr wiedergesehen. Sie hatte den Mann und die Frau, die sie in den U-Bahnhof und schließlich in die U-Bahn geführt hatten, mit Fragen bombardiert, aber nur die Antwort erhalten, dass es umso schlimmer für sie werden würde, je mehr Fragen sie stellte und je mehr sie sich widersetzte.

»Wenn Sie nicht den Mund halten, bringen wir die beiden um.« Diese Drohung hatte die Frau mehrfach wiederholt, bevor die beiden Entführer Maggie in den Waggon gesetzt hatten und im Schlusswagen verschwunden waren. Sie wusste, dass ihr vorerst nichts anderes übrigblieb, als stillzuhalten und sich totzustellen. Zumindest so lange, bis sich ihr ein Ausweg eröffnete.

Hugh war wieder aufgesprungen und fixierte Adam, als wolle er ihn auffordern, ebenfalls aufzustehen und beruhigend auf ihn einzureden, wie er es das letzte Mal getan hatte.

»Da drin hat jemand Sex.« Hugh wies auf die Tür zum Schlusswagen. »Die ficken da drin. Hören Sie das denn nicht?«

Maggie hörte es schon seit einer ganzen Weile, und Adam konnte es ebenfalls nicht entgangen sein. Die beiden Entführer waren zwar nicht laut, doch der Rhythmus ihrer Stöße, das laute Atmen und das unterdrückte Keuchen waren unverkennbar.

Adam stand auf. »Schon gut, Kumpel. Alles in Ordnung.« Er legte Hugh die Hand auf die Schulter, doch bevor seine beschwichtigenden Worte zu Hugh durchdringen konnten, riss sich dieser los und warf sich gegen die Tür zum Schlusswagen, wobei er den Aktenkoffer wie eine Ramme vor sich ausstreckte.

Während der Koffer gegen die Tür krachte, brüllte er: »Ich kann euch hören! Hört sofort auf damit! Hört auf und macht die beschissene Tür auf!«

Maggie, die direkt neben der Tür saß, spürte deutlich, wie sehr Hugh zitterte. Adam hatte sich inzwischen hinter ihn gestellt und redete beruhigend auf ihn ein: »Alles okay, Kumpel, ganz ruhig.« Hugh schleuderte noch ein weiteres Mal den Koffer gegen die Tür, bevor es Adam gelang, ihn wegzuziehen.

11.07 Uhr

Zug Nummer 037 der Northern Line, Schlusswagen

Auf der anderen Seite der Tür hörten Simeon und Belle zwar, dass es einen Tumult gab, nahmen aber keine Notiz davon, da sie genau in diesem Moment gleichzeitig zum Höhepunkt kamen. Nur mit Mühe gelang es ihnen, ihre Lustschreie zu unterdrücken. Inzwischen schwitzten sie wie in einer Sauna, und Belle genoss es, wie sich ihre Körpersäfte vermischten. Es fühlte sich an, als bestünden sie nur noch aus Flüssigkeit. Ob es nun an der verbotenen Situation lag oder daran, dass heute »der große Tag« war – Belle war sich sicher, noch nie einen derart intensiven Orgasmus erlebt zu haben. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, presste ihre Lippen auf Simeons Mund und rieb ihre Zunge an seiner, um das erregende Gefühl so lange wie möglich auszukosten. Er legte ihr die Hände um den Hals und grub seine Daumen in ihr Fleisch. Sie liebte seine Kraft. Sein Penis war immer noch hart, und er stieß ihn ein letztes Mal in sie hinein, bevor die gierigen Bewegungen endgültig abebbten.

»Ich wusste, dass es dazu kommen würde«, sagte sie. Simeon hatte immer noch seine Hände an ihrem Hals und starrte ihr in die Augen. »Ich liebe dich, Simeon«, hauchte sie. Sein Blick hatte etwas merkwürdig Angestrengtes. Wieder grub er die Daumen in die zarte Haut an ihrem Hals. Wie stark er ist, dachte sie. Er könnte im Handumdrehen jedes Leben aus mir herauspressen. Sie legte ihre Hände auf seine und flüsterte: »Wir können es nachher noch einmal tun, bevor … du weißt schon. Aber jetzt sollten wir uns erst mal den Leuten im Zug vorstellen.« Er ließ zu, dass sie seine Hände von ihrem Hals zog und sie stattdessen auf ihre Brüste legte. Dann sagte sie noch einmal: »Ich liebe dich, Simeon.«

Das Anziehen gestaltete sich schwierig, weil die Kleider an ihren schweißnassen Körpern klebten. Sie küsste ihn noch einmal, bevor sie nach dem Walkie-Talkie griff, es sich an den Mund hielt und die Sprechtaste drückte. »Tommy? Kannst du mich hören?«

Das Funkgerät erwachte knisternd zum Leben. »Hallo, Belle, was ist los?«

»Die Fahrgäste werden langsam frech. Soll ich ihnen einen kleinen Schrecken einjagen?«

»Warte noch ein bisschen«, antwortete Tommy. »Ich sage dem Fahrer, dass er eine weitere Durchsage machen soll.«

Sollte er sie jetzt töten? Der Zeitpunkt war genauso gut wie jeder andere. Er musste sie töten, bevor sie ihren Plan umsetzte und den Passagieren »einen kleinen Schrecken einjagte«, musste sie unschädlich machen, bevor noch jemand verletzt wurde. Er würde ihr zwei Kugeln aus seiner Browning-Neun-Millimeter in das hübsche Gesicht jagen, damit sie niemanden mehr erschrecken konnte. Dann würde er die Geiseln freilassen und sich auf die Nachbesprechung seines Einsatzes vorbereiten. Doch die Beklemmung, die an ihm nagte, ließ sich nicht vertreiben. Warum hatte Tommy die Aktion eine Woche zu früh gestartet? Wer war dafür verantwortlich? Oder, wichtiger noch, wem würde man die Schuld daran geben? Er musste Belle jetzt sofort erschießen, es endlich hinter sich bringen. Schließlich hatte er seinen Spaß gehabt. Es war eine der intensivsten sexuellen Erfahrungen gewesen, die er je erlebt hatte. Genau das war das Problem. Einerseits wusste er, dass er sie umbringen und dem Wahnsinn ein Ende bereiten musste, andererseits wollte er das Vergnügen, sie hochzuheben und ihre Beine um sich zu ziehen, die erregende, fließende Bewegung, mit der sie auf ihn herabgeglitten war, noch einmal erleben. Konnte er denn nicht beides haben?

»Jetzt wird es richtig lustig.« Sie hob die beiden Glocks und zielte auf ihn. »Peng! Peng!«, machte sie und kicherte.

Aus der Lautsprecheranlage war ein leises Summen zu hören, bevor der Fahrer sagte: »Also, ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht. Die schlechte Nachricht ist, dass die Stromverbindung für den Zugantrieb tot ist und wir nicht aus eigener Kraft zur Tottenham Court Road weiterfahren können. Die gute Nachricht ist, dass wir von einem anderen Zug aus dem Tunnel geschleppt werden, der jeden Moment eintreffen müsste. Aus Sicherheitsgründen muss ich leider alle Fahrgäste aus dem ersten und dem letzten Waggon bitten, sich in Richtung Zugmitte zu begeben, da diese Waggons leer sein müssen. Ich wiederhole: Alle Passagiere verlassen bitte umgehend den ersten und den sechsten Waggon und begeben sich in die Mitte des Zuges.«

Simeon hörte, wie Bewegung in den sechsten Waggon kam. Die Leute folgten den Anweisungen des Fahrers. Nur der Mann, der sich gegen die Tür geworfen hatte, brüllte weiter herum, obwohl ihn nun bereits mehrere Stimmen zu beruhigen versuchten. »Öffnet endlich die verdammte Tür!«, schrie er. Es folgte ein Handgemenge; offenbar versuchte man, ihn zu überwältigen. Simeon beobachtete Belle. Sie war aufgeregt wie ein kleines Kind im Vergnügungspark. Der Gedanke, sie töten zu müssen, bereitete ihm kein Kopfzerbrechen, damit konnte er leben. Die Gewissensbisse würden nichts sein im Vergleich zu dem Schmerz, den seine Tat in Helmand in ihm ausgelöst hatte. Während Belle und er erneut übereinander herfielen, gierig und lüstern, dachte er daran, dass es andere Frauen geben würde, andere Gelegenheiten, andere Orte. Er musste endlich tun, wozu er hergekommen war. Belle mochte vögeln wie ein Pornostar, aber sie war immer noch eine Mörderin, sie war Abschaum. Er griff in die Tasche und schloss die Finger um seine Browning. Während er die Waffe entsicherte, fixierte er Belle. »Ich freue mich schon auf das, was jetzt kommt«, sagte sie, berauscht von dem Gedanken, noch mehr Menschen zu erschießen. Sie war die gestörteste Person, der er je begegnet war, von ihrem Bruder einmal abgesehen. Wie schwer ihre Kindheit auch gewesen sein mochte und wie sehr ihre Gedanken benebelt waren von religiösem Wahn, all das war keine Entschuldigung für ihr Verhalten. Sie musste sterben, dazu gab es keine Alternative. Jetzt war der richtige Zeitpunkt, es zu Ende zu bringen. Simeon zog die Browning mit einer fließenden Bewegung aus der Tasche und hielt den Lauf wenige Zentimeter vor ihr Gesicht.

»Tut mir leid, Belle.« Er wartete etwa eine halbe Sekunde – zu kurz, als dass sie eine der Glocks hätte hochreißen können, aber lange genug, um die Erkenntnis, dass sie sterben würde, in ihrem Gesicht aufflackern zu sehen. Doch er wartete vergeblich, die Erkenntnis kam nicht. Sie starrte nur gelassen auf seine Waffe. Ach, egal, dachte er und drückte ab. Zwei kurze Bewegungen seines Fingers, ein zweimaliges Klicken, metallisch, träge, leblos. Statt ihr Gehirn an die Wände spritzen zu sehen, statt Zeuge zu werden, wie ihr Körper zusammensackte und der seltsame, keuchende Ausdruck in ihr Gesicht trat, den das Sterben mit sich bringt, erlebte er nur gespenstische Stille. Belle musterte ihn schweigend. Er zog den Abzug noch einmal, zweimal. Bis auf ein leises Klicken gab seine Waffe keinen Laut von sich.

»Also wirklich, Simeon. Wir haben atemberaubenden Sex miteinander, und du gehst einfach hin und schießt mir ins Gesicht. Behandelt man so eine Lady?«

Simeon zog verzweifelt immer wieder den Abzug durch, bis Belle die Glock in ihrer rechten Hand auf ihn richtete und erklärte: »Ich wusste, dass du den Gewichtsunterschied bemerkt hättest, wenn ich die Kugeln einfach herausgenommen hätte, also habe ich sie nur unbrauchbar gemacht.«

Simeon hatte von Anfang an ein schlechtes Gefühl gehabt, als der MI5 bei ihm angeklopft und ihn auf Cruor Christi angesetzt hatte, aber ein Mann in seiner Lage konnte ein derartiges Angebot schlecht ablehnen.

»Komm schon, Belle, ich mache doch nur Spaß«, behauptete er nun und merkte selbst, wie erbärmlich diese Lüge klang. Sie würde ihm nicht glauben, das war ihm klar.

Wie zur Bestätigung sagte sie: »Du bist ein furchtbar schlechter Schauspieler, Sim. Tommy und ich wussten von Anfang an Bescheid.«

Belle war froh, dass sie nicht ihren Breischläger benutzen musste – das Scharfschützengewehr mit den Teilmantelgeschossen. Sie konnte jetzt keine Sauerei gebrauchen. Auch so hätte sie ihm niemals ins Gesicht geschossen, denn das brauchte sie noch. Also schoss sie ihm ins Herz. Zweimal, genau wie Tommy befohlen hatte. Simeon sank erst rückwärts gegen das Bedienpult und dann auf den Boden der Kabine, wobei er ihr die ganze Zeit in die Augen starrte, genau wie sie gehofft hatte.

»Schon gut, Sim, ich weiß, dass du gerade nicht reden kannst.« Die Luft entwich seiner Lunge mit einem langen Seufzen. »Wir werden schon bald wieder zusammen sein. Warte auf mich, es wird nicht lange dauern, bis ich wieder bei dir bin.«

Nachdem er aufgehört hatte zu blinzeln und sein letzter Atemzug in ein Gurgeln übergegangen war, beugte sie sich über ihn und küsste ihn auf die Lippen. Sie waren immer noch warm, immer noch sinnlich und lebendig, zumindest für kurze Zeit. Sie zwängte ihre Zunge zwischen seine Lippen und schmeckte ihn, während er starb.

Der Tag wurde immer besser, genau wie Tommy versprochen hatte. Heute konnte sie tun, was auch immer sie wollte. Sie legte die Glock-Pistolen beiseite, ergriff den Breischläger und vergewisserte sich, dass er geladen war, bevor sie die Tür zum Waggon öffnete.

11.11 Uhr

Zug Nummer 037 der Northern Line, sechster Waggon

Der Strom der Fahrgäste vom sechsten in den fünften Waggon geriet durch eine Gruppe Männer ins Stocken, die in die entgegengesetzte Richtung unterwegs waren. Hugh Taylor war nicht der einzige Passagier, der die Informationen, die sie vom Fahrer erhielten, für fragwürdig hielt. Es handelte sich um fünf Männer, die während der letzten zwei Stunden ins Gespräch gekommen waren und mögliche Interpretationen der Fahrerdurchsagen durchgespielt und analysiert hatten. Die Evakuierung des sechsten Waggons hatte sie vollends misstrauisch gemacht, weil sie keinen Grund dafür erkennen konnten. Warum hätte man vor einem Abschleppen des Zuges zur Tottenham Court Road den ersten und letzten Waggon evakuieren sollen? Das ergab keinerlei Sinn. Jetzt waren sie unterwegs, um die Sache zu klären, und nichts und niemand würde sie aufhalten. Alle fünf waren gestandene Männer: Zwei arbeiteten in der IT-Branche, einer als Metallhändler, und einer war Versicherungsmakler, hatte jedoch gerade frei, weil er bald bei einem neuen Arbeitgeber anfangen würde. Der Fünfte im Bunde machte derzeit seinen Master of Business Administration an einer amerikanischen Privatuni in London.

Nach Ansicht dieser Männer war der Fahrer entweder unfähig, oder er machte sich selbst etwas vor. Er hätte seinen Vorgesetzten erklären müssen, dass sie die Fahrgäste umgehend aus dem Zug befreien sollten, bevor jemand ernsthaften Schaden nahm. Es war Zeit, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Sich zum Fahrer durchzuschlagen, war sinnlos, schließlich war dieser vier Waggons entfernt. Stattdessen wollten sie einfach in den sechsten Waggon marschieren, die Tür zum Schlusswagen öffnen, von dort auf die Gleise steigen und durch den Tunnel zur nächsten Station gehen, wobei sie selbstverständlich darauf achten würden, nicht auf die Stromschienen zu treten. Die Verzögerung hatte ihre Zeitpläne durcheinandergebracht, sie hatten Meetings verpasst. Aber Problemlösung war Teil ihres Arbeitsalltags, und so betrachteten sie auch diese Situation als Herausforderung, die es anzugehen galt. Zumal sie nicht allein waren. Sie waren fünf Männer zwischen siebenundzwanzig (der MBA-Student) und fünfzig Jahren (der Versicherungsmakler). Ihre gemeinsame Mission verlieh ihnen ein wichtiges, selbstsicheres Auftreten, das eine beruhigende Wirkung auf die Fahrgäste ausübte, die sie zum Beiseitetreten aufforderten. Diese Männer waren da, um ihnen zu helfen.

Am hinteren Ende des Waggons versuchte Adam immer noch, Hugh von der Tür zum Schlusswagen wegzuziehen, als es dahinter plötzlich zweimal laut knallte. Hugh und Adam registrierten es kaum, so vertieft waren sie in ihr Streitgespräch.

»Ich trage Sie weg, wenn Sie jetzt nicht endlich mitkommen«, drohte Adam.

»Fassen Sie mich verdammt noch mal nicht an!«, brüllte Hugh. »Die belügen uns, kapieren Sie das denn nicht? Das ist doch alles Schwachsinn, was sie uns erzählen!«

Adam beschloss kurzerhand, sich Hugh über die Schulter zu werfen und ihn mit Gewalt in den fünften Waggon zu schleppen. Wenn er ihn heftig genug anrempelte und seine Schulter dabei in Hughs Magengrube stieß, blieb diesem vielleicht die Luft weg, und er hörte auf, sich zu wehren, bis sie sicher angekommen waren.

Als Adam in die Knie ging, um sein Manöver auszuführen, passierten in schneller Folge zwei Dinge: Zuerst kamen die fünf Männer bei der Tür zum Schlusswagen an. Voller Eifer und Leidenschaft für ihre wichtige Mission wollten sie Hugh und Adam gerade erklären, was sie vorhatten, als das zweite Ereignis eintrat.

Die Tür ging auf, und vor ihnen stand eine hübsche junge Frau, die ein Schnellfeuergewehr in der Hand hielt. Hugh sah sich in seinen schlimmsten Ängsten und Befürchtungen bestätigt. Die fünf Möchtegernhelden hingegen waren vor Schreck über den Anblick der bewaffneten Frau wie gelähmt. Die Szene wirkte absurd, fast so, als handele es sich um eine moderne Theaterproduktion, bei der sich die Darsteller unters Publikum mischen. Die Männer hatten erwartet, sich mit unsinnigen bürokratischen Bestimmungen der Londoner U-Bahn-Betriebe auseinandersetzen und sich über strenge Gesundheits- und Sicherheitsbestimmungen hinwegsetzen zu müssen, um sich und die anderen Fahrgäste zu retten und endlich mit ihrem hektischen Alltag weitermachen zu können. Was sie nicht erwartet hatten, war eine attraktive Frau mit Sturmgewehr im Anschlag.

Selbst als sie den Lauf der Waffe auf die Männer richtete, kam ihnen das Ganze noch wie ein Schwindel vor, wie Schauspielerei, eine Illusion. Ein Lächeln begann sich auf dem Gesicht der Frau auszubreiten. Zwei der fünf Männer ertappten sich dabei, wie sie das Lächeln erwiderten. Die Frau sah toll aus in ihrem engen Oberteil und der schwarzen Cargohose.

Aus der Hüfte schießend eröffnete sie das Feuer.

Das Geräusch, das die Waffe von sich gab, klang wie eine Aneinanderreihung dumpfer Schläge. Es war, als würde ein Presslufthammer Fleischstücke aus menschlichen Körpern reißen. Das Blut spritzte aus klaffenden Wunden, und die fünf selbsternannten Retter wurden vom explodierenden Blei der Kugeln in verschiedene Richtungen geschleudert. Als die Salve aufhörte, lagen sechs der sieben Männer, die sich um die Tür zum Schlusswagen versammelt hatten, auf dem Boden. Fünf waren tot oder lagen im Sterben, und einer, Adam, schrie wie am Spieß. Ein Geschoss hatte sein linkes Bein auf Höhe des Knies abgetrennt. Was von der unteren Hälfte des Beins übriggeblieben war, war über den Boden des Waggons gerutscht und hatte dabei eine blutige Spur hinterlassen.

»Und jetzt Bewegung!«, rief die Frau in der Tür. Sie sah Hugh dabei direkt in die Augen. Farbige Punkte tanzten über sein Sichtfeld, und Adams Schmerzensschreie hallten gellend von den Waggonwänden wider. Für einen Moment glaubte Hugh, er würde in Ohnmacht fallen. Die Frau hob erneut die Waffe und richtete sie auf ihn, woraufhin er kehrtmachte und in einer instinktiven Handlung nach unten griff, um Adams Arm zu packen und ihn durch sein eigenes Blut und über die blutigen Überreste seiner unteren Beinhälfte hinweg zur Tür zu schleifen, die in den fünften Waggon führte.

11.13 Uhr

U-Bahn-Leitstelle, St. James’s

Wer war der Mann, und was wollte er? Falls es überhaupt ein Mann war. Die wenigen geflüsterten Worte, die Ed über Funk vernommen hatte, hatten jedenfalls männlich geklungen. Er benutzte Terror als Verhandlungstaktik, also war er nach allen gängigen Definitionen ein Terrorist. Bis jetzt hatte er noch keinen falschen Schritt gemacht. Planung und Recherche waren offenbar akribisch und präzise erfolgt. Dass es Komplizen gab, deutete auf ein gemeinsames Ziel hin. Zum jetzigen Zeitpunkt saßen die Entführer am längeren Hebel.

Ed hörte, wie um ihn herum die behelfsmäßige Verhandlungszelle eingerichtet wurde. Immer wieder erklang die Stimme von Laura, die alle Abläufe koordinierte und dafür sorgte, dass jeder im Raum bekam, was er brauchte. Ed hatte um Ventilatoren und eine Klimaanlage gebeten. Es war drückend heiß, und aufgrund seines erhöhten Pulses spürte er die Hitze mehr als sonst. Starke Schweißbildung reizte zudem das Narbengewebe in seinem Gesicht.

»Ed, Howard Berriman möchte Sie sprechen«, sagte Mark Hooper.

Aus seiner Stimme war die Entrüstung von vorhin verschwunden. Sie klang verhalten, so als bemühe er sich um Mäßigung und eine Atmosphäre der Vertrautheit. Ed hatte seine Bedenken bezüglich der Beteiligung des MI5 erfolgreich verdrängt gehabt, aber der Anruf holte sie wieder in sein Bewusstsein zurück. Was wollte Howard Berriman von ihm? Der übliche Weg führte über die Einsatzleiterin Serina Boise, nicht über den Verhandlungsführer. Aber Ed blieb keine Zeit, länger darüber nachzudenken, weil ihm bereits ein Blackberry in die Hand gedrückt wurde.

»Ja, Ed Mallory.«

»Hallo, Ed. Hier ist Howard Berriman.«

»Hallo. Was kann ich für Sie tun?«

»Sie wissen sicher, dass wir ebenfalls an dem Einsatz beteiligt sind.«

»Ja, daran scheinen mich ständig alle erinnern zu wollen.«

»Tut mir leid, falls es diesbezüglich Probleme gibt. Grund für unsere Beteiligung ist, dass wir kürzlich relevante Geheimdienstinformationen erhalten haben.«

»Irgendetwas, was Sie uns anvertrauen möchten?«

»Es ist nichts, was Ihnen bei den Verhandlungen helfen könnte, daher möchte ich zum jetzigen Zeitpunkt lieber noch nicht darüber sprechen.«

»Sind Sie sich da sicher?« Ed war es egal, wenn Berriman ihn für schwierig hielt. Die Beteiligung des MI5 machte alles noch komplizierter, und es passte ihm gar nicht, wie Scotland Yard und seine Vorgesetzten vor Berriman katzbuckelten. Er musste sich ganz auf die Verhandlungen mit den Tätern konzentrieren und konnte auf Klüngeleien im Hintergrund gut verzichten.

»Wie gesagt, es ist nichts, was Ihnen in irgendeiner Weise helfen würde. Dennoch hätte ich gerne ein persönliches Update von Ihnen, da Sie meines Wissens bereits mit dem Fahrer des Zuges gesprochen haben. Wie ist die aktuelle Lage?«

Allmählich wurde es Ed wirklich zu bunt. Auf allen Seiten wurde gegen das übliche Protokoll verstoßen. Die Geiselsituation, für die er eine Lösung finden musste, war schon bizarr genug, ohne dass diese ungewöhnlichen Vorgänge alles noch komplizierter machten.

»Der Fahrer hat sich über Funk gemeldet und Aussagen einer unbekannten zweiten Person weitergeleitet. Angeblich sind die beiden CO19-Männer, die wir in den Tunnel geschickt haben, tot. Er droht, die Waggons in die Luft zu sprengen, falls sich erneut jemand dem Zug nähert. Außerdem hat er einen WLAN-Anschluss für den Zug gefordert und damit gedroht, Passagiere umzubringen, falls der Anschluss nicht bis halb zwölf installiert ist. Aber ich vermute, das wissen Sie alles längst.«

»Und es liegen immer noch keine weiteren Forderungen vor? Nur der Internetanschluss?«

Es gab nicht den geringsten Grund dafür, dass Berriman diese Frage ausgerechnet Ed stellte, doch er spielte das Spielchen brav mit. »Nein, bisher liegen keine weiteren Forderungen vor, bis auf die, dass wir uns vom Zug fernhalten sollen.«

»Und Sie erachten es wirklich als eine gute Idee, diesen Leuten einen WLAN-Anschluss einzurichten?«

»Der Anschluss kommt uns genauso zugute wie ihnen. Wir könnten nützliche Informationen über die Passagiere sammeln und sie möglicherweise sogar für unsere Zwecke mobilisieren, falls es nötig werden sollte.«

»Glauben Sie, dass Al-Qaida dahintersteckt?«

»Das ist nicht unbedingt deren Handschrift.«

»Dann vielleicht einheimische Fanatiker wie die von den Anschlägen vom siebten Juli?«

»Möglich, aber das lässt sich jetzt noch nicht sagen.«

»Hören Sie, Ed«, sagte Berriman. »Mir ist klar, dass zusätzlicher Druck das Letzte ist, was Sie derzeit gebrauchen können. Dennoch möchte ich Sie bitten, mich entweder direkt oder über Mark Hooper jederzeit über die Ereignisse auf dem Laufenden zu halten. Wir dürfen nicht zulassen, dass den Insassen des Zuges irgendetwas zustößt. Die Freiheit unseres Landes steht auf dem Spiel.« Berriman klang, als würde er für ein Radiointerview üben.

»Das sehe ich genauso, Howard«, erwiderte Ed.

»Mir wurde gesagt, Sie seien der beste Verhandlungsführer, den wir haben.«

»Dazu kann ich nun wirklich nichts sagen«, erwiderte Ed mit gespieltem Ernst und brachte Berriman damit zum Lachen.

»Dann bis später, Ed.«

Der Tag wurde immer eigenartiger. Jetzt rief ihn schon der Chef des MI5 persönlich an und behandelte ihn, als stünde er in Zukunft an Weihnachten auf seiner Geschenkliste. Und das alles ohne erkennbares Motiv. Berrimans und Hoopers Verhalten war schwer zu durchschauen, aber es war offensichtlich, dass die beiden etwas im Schilde führten. Daran gab es für Ed nicht den geringsten Zweifel, auch wenn es momentan wichtigere Dinge gab, über die er nachdenken musste. Weil er blind war, konnte man ihm relevante Rechercheergebnisse oder Geheimdienstinformationen nicht schriftlich vorlegen, und es dauerte zu lange, die Dokumente in Blindenschrift zu übertragen. Ihm blieb also nichts anderes übrig, als Fragen zu stellen. Viele Fragen.

»Was für eine Art von Sperrzone wurde um den Tatort herum errichtet?«

Die Antwort kam von Nick Calvert, der Nummer zwei des Einsatzteams. »Wir haben zwei innere Kreise, die direkt um die U-Bahnhöfe Tottenham Court Road und Leicester Square verlaufen, und eine Außengrenze, die einen Korridor von etwa hundert Metern beidseitig der Charing Cross Road mit einschließt sowie jeweils einen Radius derselben Größe um die beiden U-Bahnhöfe. Die Evakuierung ist inzwischen abgeschlossen, und an beiden Bahnhöfen steht eine Sondereinheit auf Abruf bereit.«

»Ist Laura da?«

»Ja, ich bin da, Ed.«

»Welche Daten empfangen wir vom Tatort? Gibt es Kameras?«

»Wir versuchen, Bild- und Tonaufnahmen aus dem Tunnel zu bekommen, aber nach dem, was den CO19-Beamten passiert ist, sind alle ein bisschen nervös.«

»Haben wir einen Schnellzugriffsplan für den Fall der Fälle?«

»Daran wird noch gearbeitet«, antwortete sie. »Wie Sie wissen, führen die Sondereinsatzkommandos am liebsten erst einmal eine Simulation durch, bevor sie konkrete Strategien aufstellen. Es könnte also noch ein Weilchen dauern. Boise will sich mit dem zuständigen Einsatzleiter in Verbindung setzen.«

Unter anderen Umständen hätte es Ed beruhigt, dass bereits Unterstützung durch ein Sondereinsatzkommando angefordert worden war, doch heute spendete ihm diese Information nur wenig Trost.

11.15 Uhr

Zug Nummer 037 der Northern Line, erster Waggon

Terror kennt keine Regeln, sondern ist reine Anarchie. Niemand weiß vorher, wie er reagiert, wenn er mit Terror konfrontiert wird. Von wenigen spezialisierten Sondereinsatzkräften abgesehen – einem winzigen Bruchteil der Bevölkerung –, ist kein Mensch für eine solche Konfrontation gewappnet. Wissenschaftliche Studien zu dem Thema sind zwecklos, bis auf solche, die sich mit rein körperlichen Phänomenen wie der Ausschüttung von Pheromonen beschäftigen. Terror lässt sich unmöglich simulieren, Rollenspiele bringen nichts. Nichts kann Terror reproduzieren, es sei denn, der Terror selbst. Die Passagiere von Zug 037 spürten, wie er sich wie ein elektrischer Impuls durch die vier Waggons verbreitete, in denen sie sich zusammendrängten.

Was hier passierte, war Nachrichtenübermittlung in ihrer primitivsten Form: Mund-zu-Mund-Propaganda. Im letzten Waggon war es zu einer Schießerei gekommen. Es waren Menschen getötet worden. Der Zug befand sich in der Gewalt von Terroristen. Sie waren Geiseln, Opfer einer Zugentführung.

Einige beteten zu Gott, andere verfluchten ihn. Es gab jene, die schwiegen und sich zurückzogen, und solche, die redeten, schimpften, flehten, weinten.

Je mehr Nachrichten sich durch den Zug verbreiteten, desto größer wurde der kollektive Fluchtimpuls. Doch bevor die Passagiere im zweiten Waggon zurück in den leeren ersten Waggon stürmen konnten, ging die Tür zur Fahrerkabine auf, und ein schlanker Mann Mitte zwanzig trat heraus: Tommy Denning, Bruder Thomas von der Glaubensgemeinschaft Cruor Christi. Er ging zielstrebig durch die verwaisten Sitzreihen auf die Tür zum zweiten Waggon zu. In der Hand hielt er eine Automatikpistole mit Schalldämpfer.

Ein frisch verheirateter Börsenfachmann – ein anständiger Bürger, wie die Zeitungen später schreiben würden – war nicht der Einzige, der Tommy Denning für ein Mitglied eines Sondereinsatzkommandos hielt, das den Zug gestürmt hatte und nun die Freilassung der Passagiere veranlassen würde.

Da er Tommy Denning am nächsten stand, ergriff er stellvertretend für die anderen Geiseln das Wort und fragte: »Was zur Hölle ist hier eigentlich los?« Denning hob seine Browning und schoss ihm mitten durch die Stirn, wobei die Kugel eine kleine, vollkommen runde Eintrittswunde auf seiner wohlgepflegten Haut hinterließ, die im Vergleich zu dem klaffenden Loch der Austrittswunde, die Knochensplitter und Gehirnmasse auf zahlreiche Fahrgäste verteilte, geradezu klinisch sauber wirkte. Schreiend wichen die Leute zurück, während der Mann zu Boden sank.

Denning schlug die beiden Verbindungstüren zwischen erstem und zweitem Waggon zu und zog eine Kette aus der Tasche, die er um beide Türgriffe schlang. Nachdem er sie festgezogen hatte, sicherte er sie mit einem Vorhängeschloss, genau wie es Belle inzwischen am anderen Ende des Zuges mit den Türen zwischen fünftem und sechstem Waggon getan hatte. George war allein im Führerhaus. Er könnte weglaufen, könnte die Tür an der Spitze des Zuges öffnen und die Gleise entlangrennen, dessen war sich Denning bewusst. Er war sich ebenso sicher, dass der Zugführer nichts Derartiges versuchen würde.

»Denken Sie daran, George«, hatte er ihm eingeschärft, bevor er die Fahrerkabine verlassen hatte, »wenn es mir nicht gelingt, mein Vorhaben umzusetzen, werden Sie Ihre Familie nie wiedersehen. Es liegt an Ihnen.« Mehr war nicht nötig. Denning wusste, dass George sich anständig benehmen würde. Falls nicht, würde er ihn einfach erschießen, schließlich brauchte er ihn jetzt nicht mehr. Allerdings musste Tommy zugeben, dass es ihm gefiel, jemanden zu haben, der seine Forderungen überbrachte. Das verlieh ihm noch größere Macht, und Tommy liebte Macht.

»George!«, rief er quer durch den Waggon, aber das Stimmengewirr der Passagiere – ihr Schreien und Wehklagen – übertönte ihn. »George!«, rief er noch lauter, und diesmal erhielt er eine Antwort.

»Ja.«

»Machen Sie jetzt bitte Ihre Durchsage an die Fahrgäste, und zwar so, wie wir es besprochen haben.«

Tommy drehte sich wieder zum zweiten Waggon um. Der Mann, den er erschossen hatte, lag in einer immer größer werdenden Blutlache. Andere Passagiere hatten sich weiter hinten im Waggon zusammengekauert. Tommy überlegte flüchtig, ob er noch einen weiteren Fahrgast erschießen sollte, der einschüchternden Wirkung wegen. Doch der richtige Moment war verstrichen. Hier ging es nicht um sinnloses Morden.

Die Lautsprecheranlage knisterte, und dann erklang Georges Stimme. Der gute alte George. Tommy war froh, dass er ausgerechnet ihn erwischt hatte, einen Ungläubigen. Das machte es irgendwie leichter.

»Hier spricht George, der Fahrer. Wie den meisten von Ihnen inzwischen klar sein dürfte, habe ich Sie angelogen. Der Zug wurde von einer bewaffneten Bande entführt und mit Sprengstoff präpariert. Solange alle ruhig bleiben und nicht versuchen, sich mit den Entführern anzulegen, wird niemandem etwas passieren. Ich soll Ihnen sagen, dass jeder, der zu fliehen versucht, getötet wird – auch Frauen und Kinder. Im Falle eines erneuten Fluchtversuchs wird dann der Sprengstoff gezündet.«

»Okay, das reicht«, sagte Denning. Er brauchte nicht mehr zu schreien, denn im Zug herrschte Totenstille, als George die Lautsprecheranlage ausschaltete. Tommy wusste, dass das Schweigen nicht lange andauern würde, doch fürs Erste waren die Fahrgäste ausreichend eingeschüchtert. Ihr Selbsterhaltungstrieb hatte eingesetzt, und sie verhielten sich mucksmäuschenstill, während sie die beunruhigenden Neuigkeiten verarbeiteten.

Denning ging durch den ersten Waggon zurück zum Führerhaus.

»Kommen Sie mit, George«, sagte er, als er in die Kabine trat und die Tür hinter sich zuschlug. »Wir machen einen kleinen Ausflug.«

George beobachtete Denning genau. Die freudige Erregung des jungen Mannes ließ ihn beinahe kindlich erscheinen. Er wirkte weder wie ein Wahnsinniger noch wie ein Psychopath. Was zwang ihn dazu, ohne erkennbaren Grund eine U-Bahn zu entführen? Und warum wollte er mit ihm, George, einen Ausflug in den Tunnel unternehmen? Würde er ihn umlegen? Und falls ja, warum erschoss er ihn dann nicht gleich hier? Denning zog ein Bündel aus seiner Stofftasche, öffnete die Tür an der Spitze des Zuges und bedeutete George, dass er vorausgehen sollte.

Beim Hinausklettern achtete George darauf, nicht auf den Azubi zu treten, der immer noch vor dem Zug lag. Seine leblosen Augen starrten zur Decke des Tunnels empor. George hatte sich noch nie außerhalb eines Zuges in einem U-Bahn-Tunnel aufgehalten. Aus der Fahrerkabine drang nur wenig Licht auf die Gleise hinaus, und während George nach vorne in die Dunkelheit spähte, fragte er sich, ob dort Scharfschützen lauerten und ihre Zielfernrohre auf sie richteten. Denning hatte wohl den gleichen Gedanken, denn er zwang George, direkt vor ihm herzugehen. Ihr Ziel war nicht weit entfernt, höchstens zehn Meter. Denning knipste seine Taschenlampe an und richtete sie auf die Wand. Er fand schnell, wonach er suchte: eine schmale Metallleiter, die die gewölbte Tunnelwand hinaufführte und in einem etwa sechzig mal sechzig Zentimeter großen Loch in der Decke verschwand.

»Sie bleiben hier. Ich höre es, wenn Sie versuchen wegzurennen. Wir sind jetzt Freunde, also zwingen Sie mich nicht, Sie umzubringen.«

Denning sah ihn an und grinste wie ein kleiner Junge, der einen Dialog aus einem Gangsterfilm nachspielt. Doch hinter seinem kindischen Verhalten verbarg sich eine brutale, unberechenbare Energie.

»Okay?«

George erwiderte Dennings Blick und nickte.

Mit der Beweglichkeit und Präzision eines Turners kletterte Denning die Leiter hinauf und verschwand in dem engen Loch. Sein Aufstieg wurde vom Knarren der alten Metallstreben begleitet. George blickte den Tunnel entlang und dann zurück zum Zug. Welchen Fluchtplan er auch ausheckte, er wusste, dass er ihn nicht in die Tat umsetzen würde. Noch hatte er keinen Grund, an Dennings Versprechen zu zweifeln, dass er seine Familie wiedersehen würde, wenn er sich genau an die Anweisungen hielt. Diese Hoffnung war das Einzige, was ihm blieb. Ohne sie werde ich verrückt, dachte er. Den Geräuschen nach zu urteilen, die aus dem Zug herüberdrangen, galt das Gleiche auch für viele Fahrgäste. Er hörte schrilles Heulen und laute Schreie. Ein Mann wiederholte immer wieder etwas, was wie eine religiöse Beschwörungsformel klang, vielleicht ein Gebet. Ein anderer Mann fluchte vor sich hin, ein Baby weinte.

Die Leiter begann wieder zu knarzen; Denning hatte den Abstieg angetreten.

»Es ist vollbracht, George«, sagte er. »Jetzt liegt es nicht mehr in unserer Hand.«

Als er hinunter auf die Gleise sprang, fiel George auf, dass er eine Spule mit rotem Draht in der Hand hielt, der hinauf in das Loch führte. Während sie die wenigen Meter zurück zum Zug gingen, legte Denning den Draht hinter sich aus und schob die Spule durch das Fenster des Zuges, bevor sie hineinkletterten. Dann machte er die Tür hinter sich und George zu und schob das Fenster hoch, wobei er einen kleinen Spalt für den Draht ließ.

»Sie sollten sich die Ohren zuhalten und den Mund öffnen«, riet er, während er an einer großen Batterie herumbastelte. George sah ihn verwirrt an. »Um Ihre Ohren zu schützen. Sagen Sie hinterher nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt«, fügte Denning hinzu. George spürte Panik in sich aufsteigen und befolgte hastig die Anweisungen des Entführers, der im selben Moment den Draht mit den Elektroden der Batterie zusammenführte. Die Explosion, die daraufhin im Tunnel erfolgte, ließ das Glas in den Kabinenfenstern zerspringen. Obwohl George die Hände auf die Ohren presste, spürte er, wie die verdrängte Luft gegen sein Trommelfell stieß. Der Lärm des einstürzenden Gemäuers hallte ohrenbetäubend durch die Enge des Tunnels, und nachdem eine heftige Druckwelle Kies und Mauerteile den Tunnel entlanggeblasen hatte, herrschte sekundenlang angsterfülltes Schweigen. Dann brach – drängender und verzweifelter als zuvor – Geschrei in den Waggons los. Als George die Hände von den Ohren nahm, hörte er noch ein anderes, völlig unerwartetes Geräusch: fließendes Wasser.

11.16 Uhr

U-Bahn-Leitstelle, St. James’s

»Sämtliche Nachrichten und Internetaktivitäten werden zunächst zwischengespeichert, damit wir sie analysieren können«, erklärte Laura. »Wenn die Entführer merken, dass wir den Internetanschluss auf diese Weise manipulieren, haben wir allerdings ein Problem.«

»Ich bezweifle es«, sagte Ed. »Die haben ganz andere Sorgen. Zum Beispiel, lange genug am Leben zu bleiben, um ihre Botschaft unters Volk zu bringen.«

»Aber falls sie es doch merken, fangen sie vielleicht an, Geiseln umzubringen.«

»Wir sollten unsere Strategie nur ändern, wenn uns zweifelsfrei Belege dafür vorliegen, dass sie Menschen umbringen. Ansonsten verhandeln wir weiter. Wie lange noch bis Ablauf der Frist?«

»Zwölf Minuten«, antwortete White.

»Und der Router ist im Tunnel installiert?«

»Ja, er muss nur noch freigeschaltet werden.«

»Okay. Uns bleibt wohl nichts anderes übrig, als ihnen die Plattform Internet zu bieten. Ganz ohne Kommunikation ist die Sache für uns nicht zu lösen. Wir erfüllen ihre Forderung und bringen sie damit hoffentlich dazu, wieder mit uns zu reden. Und dann sehen wir weiter.«

»Wie lange überziehen wir die Frist?«, fragte White.

»Sagen wir fünfundvierzig Sekunden.«

»Sind Sie sicher, dass das eine gute Idee ist, Ed?«, fragte Laura.

»Ganz sicher«, erwiderte Ed. »Wir müssen jede Gelegenheit nutzen, uns ein Stück Kontrolle zurückzuerobern, wie winzig es auch sein mag. Wenn die Entführer sehen, dass der Zeiger auf halb zwölf springt und sie noch kein WLAN haben, werden sie in Panik geraten. Klar könnten sie dann eine Geisel umbringen, aber das werden sie nicht sofort tun. Wie jeder andere Mensch auf diesem Planeten, der schon einmal einen Computer benutzt hat, werden sie zunächst glauben, dass etwas mit der Verbindung nicht stimmt. Und im Hinterkopf werden sie den nagenden Zweifel haben, ob wir wirklich so gefügig sind, wie sie uns gerne hätten. Wir injizieren eine kleine Dosis Angst in ihre Köpfe, bringen sie aus dem Gleichgewicht.«

»Okay …«

Ed hörte die Unschlüssigkeit in Lauras Stimme. »Laura, uns bleibt nichts anderes übrig. Wir müssen an ihrem Selbstvertrauen kratzen, mit allen Mitteln, die uns zur Verfügung stehen. Zum Beispiel, indem wir so tun, als wäre jede Forderung ein großes Problem, das viel Zeit in Anspruch nimmt. Wir haben Zeit, die nicht.«

»Ich brauche wirklich keine Nachhilfe von Ihnen, was Verhandlungstaktik angeht, Ed. Also gut, dann werde ich mal sehen, was sich tun lässt.«

Ed drehte sich zu Laura um und richtete die Brillengläser seiner Ray-Ban auf die Stelle, wo er sie vermutete. »Damit wollen Sie doch hoffentlich nicht sagen, dass wir noch gar keine Freigabe für das Einschalten der Internetverbindung haben?«

»Doch, ich muss erst Commander Boise anrufen. Nur sie kann die Sache absegnen.«

»Dann beeilen Sie sich, Laura. Wir haben nur noch – wie lange?«

»Neun Minuten und dreißig Sekunden«, sagte White.

»Gut. Ich rufe sie jetzt sofort an.«

Ed verabscheute die alte Maxime, dass Verhandlungsführer zu verhandeln und Entscheidungen den Entscheidungsträgern zu überlassen hatten. Er hätte sich gewünscht, direkt in den Entscheidungsprozess eingebunden zu sein, auch wenn er natürlich wusste, dass in einer Verhandlungszelle jeder seine feste Aufgabe hatte und es möglichst wenig Überschneidungen geben durfte. Die Logik dahinter sah er ein, aber es war dennoch frustrierend.

Als Laura zurückkam, verkündete sie: »Sie rufen in Kürze zurück.« An ihrem Tonfall erkannte Ed, dass auch sie genervt war von der Einmischung des MI5. Er konnte nicht verhindern, dass Wut in ihm aufstieg.

»Das ist doch lächerlich, verdammt.« Ed erhob nicht die Stimme. Bis auf seine Wortwahl verriet nichts, dass er sauer war. »Wir brauchen mehr Autonomie und müssen während der Verhandlung strategische Entscheidungen treffen können. Wenn wir kein grünes Licht für die Aktion kriegen, können wir genauso gut unsere Sachen packen und nach Hause gehen. Warum haben wir denn überhaupt das ganze WLAN-Zeug nach unten in den Tunnel geschafft?«

»Ed, die Tragweite der Entscheidung ist enorm. Wir haben es hier mit einer bewaffneten Bande zu tun, die Hunderte von Geiseln festhält und eine Verbindung zu den Medien fordert. Das ist politisch gesehen eine äußerst heikle Situation.«

»Also warten wir weiter.«

»Der Zeitrahmen ist allen Beteiligten bekannt.«

Sie saßen da und warteten. Ed hätte das Team gern mit einem ungezwungenen Gespräch abgelenkt, um die Anspannung zu lockern, doch seine Gedanken kreisten unaufhörlich um die Freigabe. Der MI5 musste die Internetverbindung einfach genehmigen. Alles andere wäre Wahnsinn gewesen. Überrascht hätte ihn ein negativer Bescheid dennoch nicht, schließlich schien an diesem Tag keine der üblichen Spielregeln zu gelten. Wenigstens war die Einrichtung der Verhandlungszelle inzwischen abgeschlossen, Technik und Ausstattung waren komplett. Jedes Teammitglied verfügte über ein Headset, und es standen Kaffee und Wasser bereit. Jemand hatte einen Ventilator auf den Tisch gestellt, der kühle Luft über Eds vernarbtes Gesicht blies.

Drei Minuten vor Ablauf der Frist hörte Ed, wie die Tür aufging und ein geflüstertes Gespräch zwischen Laura und einer zweiten Person stattfand.

»Okay, Ed«, sagte Laura. »Wir haben grünes Licht.«

»Gut. Wir schalten das Ding fünfundvierzig Sekunden nach Ablauf der Frist ein. Keine Sekunde früher.«

11.17 Uhr

Zug Nummer 037 der Northern Line, Fahrerkabine

»Was ist das für ein Geräusch?«, fragte George.

Denning lächelte und legte theatralisch eine Hand ans Ohr. »Das, mein Freund, ist Weihwasser.«

»Was meinen Sie mit Weihwasser?«

»Sind Sie denn nicht getauft?«

Georges Gedanken schossen zu dem gerahmten Foto von seiner Taufe, das seine Eltern auf dem Tischchen im Flur stehen hatten. Trotz seiner Proteste stand es dort bis heute. Es zeigte den einjährigen George in einem unförmigen weißen Gewand, das wie ein Leichentuch aussah. Seine Mutter pflegte zu sagen, dass er darin wie ein kleiner Engel ausgesehen habe. George hatte die Religiosität seiner Mutter nie verstanden und bevorzugte die skeptische Haltung seines Vaters, was ihn jedoch nicht davon abgehalten hatte, sich mit fünfzehn konfirmieren zu lassen. Alle seine Freunde waren konfirmiert worden, und im Vorfeld hatte es geheißen, dass es jede Menge Geschenke gebe. Doch dann hatte er nur ein Buch mit dem Titel Worte der Andacht bekommen, das irgendwo ganz hinten in einem Schrank verschwunden war. Das war nicht gerade die Art von Geschenk, die er sich vorgestellt hatte.

»Doch, ich bin getauft«, antwortete er auf Dennings Frage.

»Gut«, sagte Denning, wurde aber gleich darauf von Schritten abgelenkt, die plötzlich im Tunnel zu hören waren. Er beugte sich aus dem Fenster in der M-Tür, der Seitentür der Fahrerkabine, und spähte am Zug entlang nach hinten. Dann zog er seine Waffe, griff nach seiner Tasche und sagte zu George: »Folgen Sie mir.« Er öffnete die Verbindungstür und trat vor George in den ersten Waggon, an dessen Außenwand sich ein schwitzender, rotgesichtiger Mann zwischen vierzig und fünfzig entlanghangelte. Als er Denning auf sich zukommen sah, versuchte er, sich unter das Fenster zu ducken, doch es war bereits eine Neun-Millimeter-Kugel auf dem Weg zu ihm, die ein sauberes Loch in die Scheibe stanzte, sich in das linke Ohr des Mannes bohrte und auf der rechten Seite seines Halses wieder austrat, wo sie eine blutrote, an eine Blume erinnernde Wunde hinterließ. Während der Mann tot zu Boden fiel, setzte sich Denning wieder in Bewegung und ging auf das hintere Ende des Waggons zu.

»Wieder einer weniger!«, rief er und stellte sich vor die Tür, um durch das Fenster einen Blick auf die zu Tode erschrockenen Fahrgäste zu werfen. »In meiner Waffe sind noch viele Kugeln, genug für euch alle, wenn es sein muss. Wenn ihr wollt, dass ich euch abknalle, tut euch keinen Zwang an.« Er machte kehrt und durchquerte wieder den Waggon, wobei er seine Tasche öffnete und einen Laptop samt Ersatzakku herauszog. In der Mitte des Waggons hängte er ein doppelt gefaltetes Bettlaken zwischen die beiden Handläufe, spannte es und tackerte es fest. Anschließend stellte er den Laptop in die so entstandene Hängematte und klappte ihn auf.

George sah Denning bei seinen Vorbereitungen zu. Man merkte, dass er jeden Handgriff mehrmals geübt hatte. Sobald der Laptop sicher auf der improvisierten Ablage stand und hochgefahren war, machte Denning eine Webcam daran fest und tippte auf der Tastatur herum. Auf dem Bildschirm öffnete sich ein Fenster, in dem eine Liveaufnahme von ihm selbst zu sehen war. Er lächelte sich zufrieden zu.

»Wunder der Technik, was, George?«

11.30 Uhr

Zug Nummer 037 der Northern Line

Genau fünfundvierzig Sekunden nach Ablauf der Frist kündigte eine Symphonie aus Klingeltönen und Signalgeräuschen das Zustandekommen der WLAN-Verbindung an. Endlich konnten die Passagiere dem inneren Zwang nachgeben, sich mitzuteilen und ihre ganze Anspannung und Angst an Freunde und Angehörige zu übermitteln. Sie besuchten soziale Netzwerke, schrieben E-Mails, tätigten Internetanrufe und Video-Chats. Von Zug Nummer 037 begann ein Kommunikationsfluss zu strömen, der sich bald schon zu einer tosenden Sturzflut auswuchs, einer Sturzflut, die sich in beide Richtungen ergoss. Der Begriff Massenmedien erreichte eine ganz neue Bedeutung. Unverhüllt offenbarten sich menschliche Emotionen, ungeschnittenes und unzensiertes Rohmaterial, das die Medien genüsslich nach Höhepunkten und dramatischen Momenten durchforsten konnten und in dem sie mühelos die Puzzleteile für ihre Story fanden. Die Tragödie, die sich in diesem Londoner U-Bahn-Tunnel abspielte, wurde den Völkern der Erde in der internationalen Sprache des Sensationsjournalismus präsentiert.

Es befanden sich sogar Presseleute an Bord des Zuges, zwei freiberufliche Journalisten und ein Kulturredakteur des London Evening Standard, doch ihr Profistatus war kaum von Bedeutung. Im ganzen Zug schilderten Amateurreporter ihre Erfahrungen, berichteten direkt von der Front. Foto- und Filmmaterial aus dem gekidnappten Zug wurde in alle Welt gesendet und von einem Publikum konsumiert, das begierig darauf war, sich einen eigenen Eindruck von der Geiselnahme zu verschaffen.

Militante Entführer kapern Londoner U-Bahn.

Terroristen greifen London an.

U-Bahn-Entführung: Terroristen bringen Nahverkehrszug in ihre Gewalt.

Hunderte von Geiseln in Londoner U-Bahn.

Der Mut der Londoner im Angesicht des Schreckens.

Stacey nach dem Umstyling: exklusive Fotos.