10.02 Uhr
Tunnel zwischen den U-Bahnhöfen Leicester Square und Tottenham Court Road
Glen hörte leise Stimmen, die vom Zug herüberdrangen, vermutlich Fahrgäste, die sich unterhielten. Schweiß rann ihm übers Gesicht, und sein Herz pochte gegen sein Brustbein. Denk an deine Ausbildung. Dieser Satz, den ihm seine Ausbilder immer wieder eingebläut hatten, war wie ein Mantra. Wenn du deine Ausbildung nicht vergisst, kann dir nichts passieren. Als CO19-Polizist stand er an vorderster Front einer der weltweit besten Spezialeinheiten. Aufgrund einiger öffentlich bekannt gewordener Fehler hatte der Ruf der Elitetruppe in letzter Zeit gelitten, aber auch die Medien hatten ihren Teil dazu beigetragen, indem sie die Erfolge der Einheit heruntergespielt hatten. Glen war stolz darauf, Mitglied von CO19 zu sein, stolz darauf, dass er die psychologischen Tests bestanden hatte und zu einem achtwöchigen Ausbildungslehrgang am Trainingszentrum der Metropolitan Police eingeladen worden war, um dort Kenntnisse über Schusswaffen, Stürmung von Gebäuden, Abseiltechniken, Zugriffsmethoden, Rettungsmaßnahmen und drohende Terrorangriffe zu erwerben. Sein Kollege Rob war einer der besten CO19-Polizisten des Landes, und dass er, Glen, dazu auserwählt worden war, ihn auf diesen Einsatz zu begleiten, musste doch wohl bedeuten, dass auch er bei den Vorgesetzten hohes Ansehen genoss.
Aus seinem Headset drang eine Stimme. »Könnt ihr irgendwas sehen?«
»Nichts«, antwortete Rob.
»Okay, dann rückt weiter vor und haltet mich auf dem Laufenden.«
Rob stand als Erster auf und schlich an Glen vorbei, der ihm folgte und die Neun-Millimeter-Glock-17 dabei auf den Zug richtete. Das Vorrücken war zwar noch nicht der gefährlichste Teil ihrer heutigen Mission, aber unangenehm. Sie hatten sich aus ihrer Deckung begeben und näherten sich einem statischen Ziel. Zum Glück war die Dunkelheit, die im Tunnel herrschte, auf ihrer Seite, genau wie die Tatsache, dass sie sich an den Seitenwänden des Tunnels entlangschleichen konnten. Es war unwahrscheinlich, dass sie auf diese Entfernung von einem Nachtsicht-Zielfernrohr erfasst würden. Glen sah, wie Rob wenige Meter vor ihm in die Hocke ging, und tat es ihm nach, wobei er darauf achtete, nicht die Stromschiene zu berühren.
»Okay, wir haben uns jetzt auf etwa sechs bis sieben Meter genähert«, sagte Rob in das Mikro seines Headsets. »Alles ist still, es bewegt sich nichts.« Genau in diesem Moment bewegte sich doch etwas. Vor dem hintersten Waggon des Zuges blitzte ein Licht auf, dann war ein gedämpfter Knall zu hören. Glen spürte, wie Kieselsteine und eine warme Flüssigkeit auf sein Gesicht spritzten. Erst als er zu Rob hinübersah, wurde ihm klar, was passiert war. Das rechte obere Viertel seines Kopfes fehlte, und aus dem ausgefransten Rand, den die zertrümmerten Knochenfragmente und Hirnreste bildeten, schoss eine Blutfontäne. Robs Beine gaben nach, und er stürzte zu Boden.
»Rob?« Glen hatte keine Ahnung, warum er ihn überhaupt ansprach. Rob konnte ihn nicht mehr hören.
»Was ist los?«, fragte die Stimme aus dem Headset.
»Scheiße.« Es war kein Ausruf, sondern eine leise Feststellung. Glen warf einen Blick auf den Zug und fühlte sich auf einmal sehr einsam. Die Verhaltensregeln für Sondereinsätze waren in weite Ferne gerückt. Er wusste genau, was er zu tun hatte, aber ihm war ebenso klar, was dann passieren würde. Dennoch hob er seine Waffe und richtete sie auf den hintersten Waggon, vor dem erneut ein Licht aufblitzte, gefolgt von einem dumpfen Knall. Bevor Glen seinen Schuss abfeuern konnte, wurde die gesamte obere Hälfte seines Kopfes weggesprengt, vom Nasenrücken aufwärts. Er fiel rückwärts auf die Schwellen zwischen den Schienen.
»Ich bitte um Antwort«, drang die gelassene, ausdruckslose Stimme aus den blutigen Überresten der beiden Headsets. Aber niemand hörte sie.
00.04 Uhr (ZEHN STUNDEN FRÜHER)
Madoc Farm, Snowdonia
Das Geräusch, das den Flur entlanghallte, klang wie Gelächter. Varick blickte von seinem Buch auf und blinzelte in die Dunkelheit jenseits des Lichtkegels, den die Kerze auf seinen Schreibtisch warf. Aber warum hätte jemand nach Mitternacht noch so laut lachen sollen? Die Glaubensgemeinschaft Cruor Christi verbot derlei Ausschweifungen nicht, denn sie belästigte ihre Anhänger nicht mit Gesetzen und Vorschriften. Das war auch nicht nötig. Die Brüder und Schwestern, die auf Madoc Farm lebten, waren hier, weil sie hier sein wollten. Sie wollten das einzig wahre Leben führen, hatten es ebenso erwählt, wie sie selbst von Gott erwählt waren. Trotzdem war derart lautes und zügelloses Lachen zu dieser nächtlichen Stunde ungewöhnlich.
Als Varick schließlich verstand, dass das Geräusch, das er hörte, keineswegs Gelächter war, nahm er die Kerze von seinem Schreibtisch und öffnete die Tür. Während er den Flur entlang auf die Geräuschquelle zuging, schirmte er die Flamme mit der Hand ab.
Die Türen zu den Schlafräumen waren geschlossen, bis auf eine Tür neben dem Badezimmer, die zu Pater Owens Zimmer führte. Doch das Geräusch kam nicht von dort, sondern aus dem Bad, wo Bruder Alistair neben der Badewanne kniete. Er schien sich in einem Zustand der Hysterie zu befinden, denn Tränen strömten ihm über die Wangen, und er stieß mit verzerrtem Mund das Geräusch aus, das Varick fälschlicherweise für Gelächter gehalten hatte.
Er wollte Alistair gerade auf die Beine zerren und mit einer Ohrfeige wieder zur Besinnung bringen, als sein Blick auf die Badewanne fiel. Zitternd und nackt, die knotigen Hände um den Badewannenrand gekrallt, als versuche er, sich am Leben festzuklammern, lag dort Pater Owen, aus dessen Kehle der Griff eines Tranchiermessers ragte. Das Badewasser hatte die Farbe von Roséwein angenommen.
Varick fiel die Kerze aus der Hand und erlosch. Die einzige Lichtquelle waren nun die Kerzen, die nebenan in Owens Zimmer brannten. Varick schlang die Arme um den gütigen alten Mann, der ihn aufgenommen und gerettet hatte, als er am Ende gewesen war, und hievte ihn aus der Badewanne, bevor er ihn im Flur auf den Steinboden legte.
»Wer hat dir das angetan?«, fragte Varick. Auf dem Flur war das Licht besser, und er konnte erkennen, dass der alte Mann ihm etwas zu sagen versuchte. Aber der einzige Laut, den er herausbrachte, war ein schwaches Pfeifen, das aus der Wunde an seinem Hals drang. Seine Zunge bewegte sich heftig und brachte das Blut in seinem Mund zum Schäumen. Owen unternahm noch einen zweiten Versuch zu sprechen, bevor sein Körper erschlaffte und sein Kopf zurück auf den Boden fiel. Die Blutblasen, die sich um den Messergriff in seiner Kehle gebildet hatten, platzten. Der alte Mann hatte sein Leben ausgehaucht.
»Wer kann etwas so Grausames getan haben?«
Alistair hielt mit seinen Klagelauten lange genug inne, um Varick zu antworten: »Tommy.«
Varick hatte Mühe, diese Aussage zu verarbeiten. Das Unbehagen, das ihn schon den ganzen Tag geplagt hatte, manifestierte sich plötzlich gestochen scharf. Tommy – natürlich. So etwas konnte nur Tommy getan haben. Am Vortag hatte Varick gerade ein Beet im Gemüsegarten ausgehoben, als Pater Owen zu ihm getreten war, um ihm mitzuteilen, dass er auf etwas »Erschütterndes« gestoßen sei, wie er es ausdrückte. Tommys Verhalten hatte Pater Owen schon länger Sorgen bereitet, und so hatte er etwas getan, was Varick nicht guthieß: Er hatte das Zimmer des ehemaligen Soldaten durchsucht und dort ein Notizbuch gefunden, in dem der junge Mann seinem wachsenden Verdruss über seinen Glauben und den Zustand der Welt Ausdruck verlieh. Daran war nichts Ungewöhnliches; vor allem die jüngeren Mitglieder von Cruor Christi waren nicht immer mit sich und ihrem Glauben im Reinen. Aber dann hatte Owen etwas in dem Notizbuch gelesen, was ihn in Angst und Schrecken versetzte, und er war zu Varick geeilt, um ihn darüber zu informieren. Varick, der von der schweren Gartenarbeit in der grellen Sonne erschöpft gewesen war, hatte dem alten Mann verärgert mitgeteilt, dass er sein Eindringen in Tommys Zimmer und sein Herumschnüffeln in dessen Tagebuch für einen Fehler hielt.
»Weißt du, wo Tommy jetzt ist?«
»Ich habe ihn wegrennen hören«, antwortete Alistair, der immer noch heftig schluchzte. »Und er war nicht allein.«
Das war die letzte Bestätigung, die Varick brauchte. Jetzt, da Pater Owen tot war, lag die Verantwortung für die Zukunft der Glaubensgemeinschaft in seinen Händen. Er wusste, wo Tommy hinwollte, schließlich hatte der junge Mann alle Einzelheiten seines Vorhabens in seinem Notizbuch notiert. Wenn Tommy seinen Plan ernsthaft in die Tat umsetzen wollte – und der Mord an Owen deutete darauf hin –, war das weit mehr als ein Angriff auf Cruor Christi. Tommys Hass richtete sich gegen jeden, der den Wahnsinn seiner hochfliegenden Pläne nicht teilte. Varick wusste, was das alles zu bedeuten hatte: Gott wollte ihn auf die Probe stellen.
00.07 Uhr
Vor den Toren der Madoc Farm, Snowdonia
Sie waren unterwegs. Der Moment, auf den sie so lange gewartet hatte, war endlich gekommen. Es kribbelte in ihrem ganzen Körper. Sie fühlte sich seltsam berauscht und hatte gleichzeitig das beruhigende Gefühl, alles unter Kontrolle zu haben. Noch nie hatte sie an ihrem Bruder gezweifelt oder einen Grund gesehen, die Legitimität oder Moral ihrer gemeinsamen Mission in Frage zu stellen. Tommy war ein Prophet. Und auch sie war eine Prophetin. Zumindest hatte Tommy das gesagt.
Die Ermordung des alten Mannes hatte ihr gar nicht behagt. Erinnerungen an ihre Eltern waren wieder hochgekommen. Keine schönen Erinnerungen. Aber wenn sie ehrlich war – und das war sie immer, weil Gott ohnehin merkte, wenn sie log –, war sie auch ein wenig stolz auf sich. Sie war stark genug gewesen, hatte den Blick nicht abgewendet. Das bedeutete, dass sie den Aufgaben, die im Laufe des Tages auf sie zukommen würden, problemlos gewachsen sein würde. Ihr Beitrag zu der gemeinsamen Mission hatte ihr in den vergangenen Wochen viel Kopfzerbrechen bereitet. Sie wollte Tommy auf keinen Fall enttäuschen.
Während Tommy seine Tasche in den Kofferraum des Autos lud, das er für diesen Anlass gestohlen hatte, fragte Simeon: »Was ist los? Warum jetzt schon?«
»Nur eine Übung«, antwortete sie. Sie log Simeon nicht gerne an, aber er würde die Wahrheit ohnehin bald herausfinden. Natürlich war es nicht nur »eine Übung«. Warum hätten sie den alten Mann umbringen sollen, wenn es nur eine Übung gewesen wäre? Andererseits wusste Simeon ja nicht, dass Pater Owen tot war. Tommy hatte dafür gesorgt, dass er noch in seinem Zimmer war, während sie sich Pater Owen vorgeknöpft hatten. Simeon blieb keine Zeit, weitere Fragen zu stellen, denn Tommy stieg ins Auto, ließ den Motor an und fuhr los.
Belle fühlte sich an ihre Kindheit erinnert. Als ihre Eltern noch gelebt hatten, hatte die ganze Familie manchmal Ausflüge mit dem Auto unternommen. Damals war ihr egal gewesen, wo es hinging, Hauptsache, sie konnte vom Rücksitz aus die vorbeiziehende Landschaft bewundern. Als sie jetzt neben Tommy saß, der den Wagen durch die walisischen Berge steuerte, spürte sie wieder die gleiche Vorfreude. Ihr Ziel war noch einige Stunden entfernt. Sie konnte die Fahrt also in Ruhe genießen, sicher und wohlbehütet im Auto mit den beiden Männern, die sie am meisten liebte: Tommy und Simeon.
Tommy hatte ihr immer wieder eingebläut, dass sie jeden Zweifel aus ihren Gedanken verbannen musste, was ihr nicht immer leichtfiel. Sie wusste, dass die meisten Menschen keinerlei Verständnis für ihr Vorhaben aufgebracht hätten, doch das hieß nicht, dass sie nicht das Richtige taten. Jesus war auch missverstanden und für seinen Glauben verfolgt worden. Dass man zweifelte und litt, gehörte dazu, aber jetzt, wo sie auf dem Weg nach London waren und das Warten ein Ende hatte, würde ihr Leiden bald vorbei sein.
00.09 Uhr
Madoc Farm, Snowdonia
Varick eilte zurück in sein Zimmer. Die vertraute Umgebung erlaubte es ihm, sich in der fast völligen Dunkelheit zurechtzufinden. Er betrat das Büro neben seinem Zimmer, ging zum Schreibtisch und öffnete die Schublade, aus der er eine große Taschenlampe und einen Smith-&-Wesson-Revolver zog. Noch nie hatte sich das geprägte Schachbrettmuster auf dem Schaft so tröstlich angefühlt. Wie immer stärkte die Waffe seine Entschlusskraft. Er knipste die Taschenlampe an und ging zu Tommys Zimmer, das am anderen Ende des Flurs lag. Die Tür stand offen, und er wusste schon vor dem Eintreten, dass das Zimmer leer war.
Varick ging zu den Regalbrettern über dem Bett, nahm die Schuhkartons herunter, in denen Tommy seine persönlichen Gegenstände aufbewahrte, und kippte den Inhalt aufs Bett. Die Kartons enthielten Briefe, Postkarten, Leichtathletik-Urkunden aus Schulzeiten, Tagebücher, Notizbücher, Computerdisketten und Spielkarten. Varick hatte keine Ahnung, wonach genau er suchte. Während er Tommy Dennings Habseligkeiten durchsah, ging ihm auf, dass er den jungen Mann eigentlich kaum kannte.
Cruor Christi war ein evangelischer Orden, der auch gescheiterte Existenzen willkommen hieß. Varick war selbst eine solche und brachte durch seine Vergangenheit viel Verständnis für andere geplagte Seelen auf. Den psychisch gestörten, aber auch extrem intelligenten Tommy hatte er als sein persönliches Projekt betrachtet. Als der Exsoldat auf Madoc Farm eingetroffen war, hatte er an eine gespannte Sprungfeder erinnert, doch Varick war von Anfang an überzeugt gewesen, dass er Tommy retten konnte und dass Cruor Christi schaffen würde, woran andere Einrichtungen offensichtlich gescheitert waren. Die Aufgabe, ihn wieder auf den rechten Weg zu führen, stellte sich als mühsam heraus, aber das war ihm von vornherein klar gewesen. Tommys schreckliche Kindheitserlebnisse und seine Zeit als Soldat in Afghanistan hatten ihn gezeichnet, und er wäre mit Sicherheit irgendwann im Gefängnis gelandet, wenn Varick ihn nicht auf der Farm aufgenommen hätte. Owen hingegen hatte geunkt, dass Tommy und seine Schwester Belle, die dem Orden als Erste beigetreten war und ihren Bruder zum Beitritt ermuntert hatte, Madoc Farm eines Tages zum Verhängnis werden würden. Über dieses Thema hatten Owen und Varick mehr als einmal gestritten. Und jetzt sah es so aus, als hätte der alte Mann recht behalten.
Panik ergriff von Varick Besitz, genau wie früher, vor seiner Wiedergeburt. Er warf einen Blick in den Wandspiegel. Bald wurde er fünfzig, und man sah ihm sein Alter an. Doch er war immer noch groß und stark, immer noch fest entschlossen. Er würde tun, was nötig war.
Bruder Varick schloss Bruder Thomas‘ Zimmertür hinter sich und ging wieder den Flur entlang. An Bruder Simeons Tür brauchte er nicht zu klopfen, das verriet ihm eine dunkle Ahnung. Noch bevor der Lichtschein seiner Taschenlampe auf das verlassene Bett fiel, wusste er, dass das Zimmer leer war. Er schloss die Tür und ging weiter zu Schwester Belles Zimmer. Leer. Tommy hatte seine beiden Fußsoldaten mitgenommen.
Varick hörte Geräusche aus den übrigen Schlafräumen. Vermutlich hatte der nächtliche Tumult auch die anderen Brüder und Schwestern geweckt, die nun nach Kerzen und Streichhölzern tasteten. Am Ende des Flurs kniete Bruder Alistair immer noch neben Pater Owens leblosem Körper und schluchzte vor sich hin, wenn auch nicht mehr ganz so laut. Er blickte auf, als Varick näher kam, und sagte: »Tommy ist verschwunden, oder?«
»Ja«, antwortete Varick. »Er ist weg. Alle drei sind weg.«
»Was tun wir jetzt?«
»Wir fahren nach London.« Dieser Satz genügte, um Alistair endgültig zum Verstummen zu bringen. Mit panisch aufgerissenen Augen hörte er sich Varicks Plan an: »Erst geben wir Pater Owen die Letzte Ölung, und dann fahren wir nach London.«
»Ich auch?« Alistair schüttelte den Kopf, als wolle er Varick zu einem Nein bewegen.
»Ja, du auch. Wir müssen Tommy und die beiden anderen finden und sie aufhalten.«
6.45 Uhr
14 Highfield Road, South Wimbledon
George Wakehams Radiowecker ging an, und die Stimme des Radiomoderators erfüllte den Raum. Es war der schottische Moderator mit dem singenden Tonfall. Gut gelaunt berichtete er von den Arbeitskampfmaßnahmen der Gepäckabfertiger in Stansted, durch die sich die Abflugzeiten von Urlaubsreisenden leider verzögerten, von der Umleitung der Buslinie 43 in Muswell Hill, von einem Lastwagen, der bei Acton auf der A40 seine Ladung verloren habe, was Verzögerungen in östlicher Fahrtrichtung mit sich bringe, und von der Sperrung des Strand-Underpass-Tunnels. Außerdem sei der Hangar-Lane-Kreisverkehr »durch die extreme Verkehrsbelastung heillos verstopft«.
»Und jetzt zur U-Bahn …« George spitzte die Ohren. Von den zweihundertfünfundsiebzig U-Bahnhöfen des Netzes war einer wegen Bauarbeiten gesperrt – Southfields auf der District Line – und einer – East Acton auf der Central Line – aufgrund akuten Personalmangels geschlossen. Abgesehen von diesen »wenigen Fliegen in der kollektiven Suppe« gehe alles seinen geregelten Gang, wie der Radiomoderator betonte.
»Allerdings haben die Londoner Verkehrsbetriebe angesichts der für heute angekündigten Temperaturen von über fünfunddreißig Grad eine Reisewarnung herausgegeben: Fahrgäste werden aufgefordert, eine Flasche Wasser mitzuführen, und Personen, die anfällig für hitzebedingte Befindlichkeitsstörungen sind, wird empfohlen, ganz zu Hause zu bleiben.«
Da saß dieser Schotte also in seinem klimatisierten Studio und verkündete beiläufig, dass es der heißeste Tag des Jahres werden würde. Das hatte George gerade noch gefehlt. Er war seit vier Uhr wach. Seine Schlafstörungen hatten keinen besonderen Grund. Einfach nur die ganz normale Paranoia der mittleren Lebensjahre, die einen mitten in der Nacht anstupste und nervte, bis an Schlaf nicht mehr zu denken war.
Die Sonne brannte bereits jetzt unerbittlich auf das Dach des kleinen Reihenhauses in South Wimbledon herunter, in dem George mit seiner Familie lebte. Er spürte, wie die Hitze durch die Decke und die Wände drang, die mal wieder einen Anstrich hätten vertragen können, eine Arbeit, die er sich immer wieder vornahm und dann doch nie anpackte.
Heutzutage wurde wegen jeder Kleinigkeit gleich eine Warnung an die Bevölkerung herausgegeben. Als ob die Leute zu dumm wären, die Hitze zu bemerken und sich entsprechend zu verhalten. Offenbar brauchten sie dringend jemanden, der sie warnte und bevormundete. Wie auf diesen Plakaten, die vor übermäßigem Alkoholkonsum warnten und in Wirklichkeit von der Spirituosenindustrie finanziert wurden. Behandelte man die Leute wie Schwachköpfe, dann verhielten sie sich auch so.
Der Ventilator am Fußende des Bettes blies warme Luft über Georges Körper, der sich seit den Zeiten, als er Stammspieler in der Fußballmannschaft seiner Schule gewesen war, nur geringfügig verändert hatte. Seine Arme und Beine waren immer noch genauso muskulös, nur seine Körpermitte verriet inzwischen die sitzende Tätigkeit und drohte, über den Rand seines Gürtels zu quellen.
Außerdem musste er dringend mal wieder zum Friseur. Der stachelige Kurzhaarschnitt, den er sich im Frühjahr zugelegt hatte, war längst herausgewachsen, und er hegte den dringenden Verdacht, dass seine viel zu lang gewordenen, buschigen Koteletten seine vollen Wangen betonten. Heute hätte ihn wohl niemand mehr mit dem jungen Albert Finney verglichen, wie es eine Exfreundin einmal getan hatte. George hatte auch dann noch stolz mit diesem Vergleich geprahlt, als er längst nicht mehr mit besagter Freundin zusammen gewesen war. Vielleicht war die Ähnlichkeit ja mit ihm gealtert, so dass er jetzt aussah wie Albert Finney mit vierzig – nach ein bisschen zu viel Kuchen.
George genoss den Luftzug des Ventilators, aber der Radiowecker zeigte unerbittlich die fortschreitende Uhrzeit an. Es war immer dasselbe. Wenn er endlich müde war, war es Zeit zum Aufstehen. Dieses Problem hatte Maggie nicht. Sie schlief ein, sobald ihr Kopf das Kissen berührte, und wachte nur auf, wenn Sophie oder Ben unruhig wurden, so als hätte sie einen sechsten Sinn für ihre Kinder. In dieser Nacht hatte sich jedoch keiner der beiden gerührt, und Maggie schlief immer noch tief und fest. Sie hatte ihm den Rücken zugedreht, das Laken fest um die Schultern gezogen.
Als er Maggie kennengelernt hatte, war ihm unbegreiflich gewesen, wie ihn eine so schöne Frau attraktiv finden konnte. Offenbar hatte ihr imponiert, dass er – anders als ihre ehemaligen Collegefreunde, die allesamt karrierebewusst gewesen waren und BWL oder Marketing studiert hatten – einen alternativeren Lebensstil vorgezogen hatte. (Er hasste das Wort alternativ.) Dass er arm gewesen war – er hatte damals als Bassist in einer Band namens Crawlspace gespielt –, war kein Problem für sie gewesen. Maggie hatte einen guten Job im West End gehabt, wo sie für eine Theateragentur gearbeitet hatte, weshalb sie es sich leisten konnte, Verständnis für seine künstlerischen Ambitionen zu zeigen.
Als junger Mann hatte er einen schlecht bezahlten Job nach dem anderen angenommen, immer getrieben von der festen Überzeugung, dass hinter der nächsten Ecke der große künstlerische Durchbruch auf ihn wartete. Im Laufe der Jahre hatte er sich als Popstar, Schriftsteller, Komiker und Schauspieler versucht, auf jedem Gebiet aber schon beim ersten Anzeichen von Ablehnung wieder aufgegeben. Manchmal dachte er, dass er vielleicht erfolgreicher gewesen wäre, wenn er sich auf eine Begabung konzentriert hätte. Er hatte wohl »auf zu vielen Hochzeiten getanzt« – ein Ausdruck, den er von seinen Eltern zu hören bekam, seit er ein kleiner Junge war.
Vor zehn Jahren hatte er dann eine Anzeige im Evening Standard entdeckt, in der für den U-Bahnhof Morden Personal gesucht wurde. Morden war die südlichste Station der Northern Line und lag nicht weit von seinem Wohnort entfernt. George hatte sich beworben und war prompt eingestellt worden. Es ist ja nur eine Notlösung, bis sich etwas Besseres ergibt, hatte er sich eingeredet. Ein paar Wochen später war er auf eine Annonce in der Wochenzeitschrift Traffic Circular gestoßen und hatte sich als U-Bahn-Fahrer beworben. Wieder war seine Bewerbung erfolgreich gewesen, und nach einem kurzen Ausbildungslehrgang hatte er am Steuerhebel gesessen und war offizieller Fahrer der Londoner U-Bahn geworden.
Anfangs war ihm alles neu und aufregend vorgekommen. Er hatte das Gefühl gehabt, sich von seinen Mittelschichtswurzeln befreit zu haben, um Seite an Seite mit dem »einfachen Volk« zu arbeiten. Das entsprach den sozialistischen Idealen, die er am College für sich entdeckt hatte, bevor er das Studium nach ein paar Semestern Psychologie wieder hingeschmissen hatte. Als frischgebackener U-Bahn-Fahrer war er sofort der Gewerkschaft beigetreten und zu einigen Versammlungen gegangen, um sich in der Politik zu versuchen, hatte jedoch bald festgestellt, dass er zu schüchtern und zurückhaltend war, um sich gegen die anderen Gewerkschaftsvertreter behaupten zu können. Nicht umsonst sangen The Smiths von den Zielen, die man sich durch Schüchternheit verbauen konnte.
All die Musik, die er im Laufe der Jahre gehört hatte, all die Platten, die er immer noch kistenweise besaß … Platten von Bands, die für Integrität, Leidenschaft und Feuer standen und zu einem gerechteren Leben aufriefen, an das er als junger Mann fest geglaubt hatte. Und jetzt standen diese Kisten ganz hinten im Regal auf dem Treppenabsatz. Rebellion gerät nun mal zur Nebensache, wenn man Vorratspackungen Pampers unterbringen muss. Seltsam, wie das Leben die Kanten des eigenen Idealismus abschliff. Eben war man noch ein junger Mann mit stacheligen Haaren und schwarzen Klamotten, dessen Streben nach Coolness genauso ernst gemeint war wie der Haarschnitt, und im nächsten Moment fand man sich als übergewichtiger Vater mit Geheimratsecken und einer furchteinflößend hohen Hypothek wieder.
George träumte immer noch davon, sich künstlerisch zu verwirklichen. Er wollte immer noch der Typ sein, der plötzlich einen Bestseller schrieb (Das Buch ist echt gut! Wusstest du, dass der Autor früher U-Bahn-Fahrer war?). Oder Gitarrist einer erfolgreichen Band (Wusstet ihr, dass er früher U-Bahnen gelenkt hat?). Er wollte alles sein, nur nicht George Wakeham, Zugführer.
Als Maggie noch für die Agentur in Soho gearbeitet hatte, war er manchmal mit ihr zu Theaterpremieren gegangen. Dort waren sie alle aufgetaucht, die Komiker, Fernsehgrößen, Prominenten, auch solche, die begierig Einladungen zur x-ten Musicalpremiere des Jahres annahmen, nur um ihr Gesicht in die Kameras halten zu können. Er hatte sich eingeredet, dass tief in ihm drin mehr Talent schlummerte als in all diesen Leuten zusammen. Er musste nur endlich ein Ventil dafür finden. Dass sein Streben nach künstlerischem Erfolg allein dazu diente, seine Eitelkeit zu befriedigen, war ihm insgeheim klar, und dennoch wuchs in ihm die Angst, dass er seine Zeit und sein Potenzial vergeudete, indem er den ganzen Tag U-Bahn fuhr.
Hätte er sein Leben doch nur akzeptieren können wie die anderen Zugführer und U-Bahn-Mitarbeiter. Das hätte alles viel leichter gemacht. Aber er konnte es einfach nicht. Vielleicht ging es seinen Kollegen ja genauso, und sie wollten es nur nicht zugeben. Wie deprimierend. Er beneidete Menschen, die Spaß an ihrer Arbeit hatten, denen ihr Job reichte, die glücklich waren. Es hatte Zeiten gegeben, in denen er das U-Bahn-Fahren für eine Übergangslösung gehalten hatte, einen reinen Broterwerb, während er weiter seine Laufbahn als Künstler verfolgte. Inzwischen war er längst nur noch U-Bahn-Fahrer, sonst nichts.
Die roten Leuchtdioden des Radioweckers rissen ihn aus seinen Gedanken. Es war Zeit, die Kinder zu wecken. Er zerrte an dem klammen Laken, das sich um seine Taille gewickelt hatte, aber er lag darauf und hielt es mit seinem Gewicht fest. Einen Moment lang verspürte er einen Anflug von Klaustrophobie, bevor er es schaffte, sich zu befreien.
Manchmal hatte er tagelang Ruhe vor seiner Platzangst, bis er wieder mitten in einem Tunnel an einem Haltesignal stehen bleiben und minutenlang warten musste. In solchen Momenten brach ihm der kalte Schweiß aus. Er wusste, dass er in ernsthafte Schwierigkeiten geraten würde, falls er einmal mehr als ein paar Minuten zum Stillstand gezwungen sein würde.
Solange der Zug in Bewegung war, war alles in Ordnung. Dann wurde die Tatsache, dass sein Arbeitsplatz eines der tiefsten und engsten U-Bahn-Netze der Welt war, völlig unbedeutend. Wenn er hingegen bewegungslos in einem Tunnel verharren musste, war es aus mit dem Gleichmut. Alle zwei bis drei Monate gab es eine längere Verzögerung. Meist waren es nur fünf oder sechs Minuten, damit konnte er umgehen. Er fühlte sich dann zwar elend, hatte sich aber unter Kontrolle. Nur einmal wäre es beinahe zur Katastrophe gekommen. Ein Fahrgast war im U-Bahnhof Elephant & Castle mit einem Messer Amok gelaufen, woraufhin die ganze Station gesperrt worden war. Georges Zug hatte fast eine Stunde im Tunnel festgesteckt.
Das Unbehagen war in Wellen gekommen, und jede Welle hatte sich ein kleines bisschen höher aufgebäumt als die letzte und ein kleines bisschen länger gebraucht, bis sie brach. Wenn seine Klaustrophobie zuschlug, wusste er, dass der einzige Ausweg darin bestand, sich zu bewegen. Für einen U-Bahn-Fahrer gab es nur zwei Fluchtwege: entweder durch die sogenannte J-Tür zwischen Fahrerkabine und Fahrgastbereich oder durch die M-Tür an der Spitze des Zuges, die auf die Schienen hinausführte. In welche Richtung er auch floh, es bedeutete das sichere Aus seiner Laufbahn als U-Bahn-Fahrer, das war ihm bewusst. Doch während der letzten Minuten seines Martyriums war ihm dies immer als kleineres Opfer erschienen. Endlich hatte die Leitstelle die Strecke wieder freigegeben, und er war gerettet gewesen. Noch nie hatte er beim Anblick eines grünen Signals solche Erleichterung empfunden. Schwitzend, hyperventilierend, aber unversehrt, hatte er seine Fahrt fortgesetzt.
Er wusste, wie lächerlich das Ganze war. Kennt ihr den Witz von dem U-Bahn-Fahrer, der an Klaustrophobie leidet? Ha, ha, ha. George fand seine Phobie gar nicht witzig, zumindest nicht heute, am heißesten Tag des Jahres.
06.58 Uhr
Highfield Road, South Wimbledon
Simeon saß auf dem Rücksitz des Autos, das vor dem Haus des Zugführers geparkt war, und grübelte immer noch darüber nach, warum Tommy seinen Plan eine Woche zu früh gestartet hatte. Wenn es nur eine Übung war, warum warteten sie dann hier auf den Fahrer? Es könnte doch sein, dass er diese Woche eine ganz andere Schicht hatte. Wie auch immer die Antwort auf seine Fragen lautete, Tommy rückte nicht damit heraus. Wenn er in dieser Stimmung war, wurde man unmöglich schlau aus ihm. Dann ließ er einen auflaufen und gab nur sein übliches rätselhaftes Gequatsche von sich.
Als Tommy ihn kurz nach Mitternacht geweckt hatte, war Blut an seinem Ärmel gewesen. Simeon hatte ihn natürlich gefragt, von wem es stammte und was zum Teufel hier eigentlich los war, doch Tommy hatte nur geflüstert, dass sie nach London aufbrechen und er ihm alles später erklären würde. Simeons Unbehagen war durch Bruder Alistairs Schluchzen noch verstärkt worden, aber er hatte keine Gelegenheit gehabt, Nachforschungen anzustellen, sondern in aller Eile seine Sachen gepackt und sich mit Tommy und Belle auf den Weg gemacht.
Belle wollte ihm weismachen, dass es sich nur um einen Probedurchlauf handelte. Während Tommy vor der Farm die Ausrüstung in den Kofferraum geladen hatte, war Simeon auf dem Rücksitz zu ihr gerückt, um sie zu fragen, was der überhastete Aufbruch sollte.
»Nur eine Übung«, hatte sie beiläufig geantwortet, und bevor er ihr weitere Fragen stellen konnte, hatte Tommy schon auf dem Fahrersitz gesessen, und sie waren schweigend aufgebrochen. Vom Rücksitz aus hatte Simeon Tommys Gesicht im Rückspiegel beobachtet. Der Blick des jungen Mannes war geradeaus auf die schmale Straße gerichtet gewesen, die sich im Licht der Scheinwerfer durch die Berge schlängelte. Er schien mit seinen Gedanken ganz weit weg gewesen zu sein.
Auf der M4 hatte Tommy ihm und Belle geraten, ein wenig zu schlafen. Simeon hatte es mit seiner Fragerei nicht zu weit treiben wollen, aber dennoch einen weiteren Versuch unternommen: »Wir starten die Aktion also früher? Oder ist das wirklich nur eine Übung?« Tommy war seinem Blick im Rückspiegel begegnet, und Simeon hatte an den Lachfalten um seine Augen erkannt, dass er grinste. Der Bastard schien die Situation richtig zu genießen. Er machte sich gar nicht erst die Mühe, Simeons Frage zu beantworten, sondern lächelte nur weiter vor sich hin.
Während sie nun im Auto vor dem Haus des Zugführers saßen und warteten, fiel Simeon auf, wie angespannt Tommy und Belle wirkten. Sie verhielten sich ganz und gar nicht so, als handele es sich nur um einen Probedurchlauf. Tommy war wachsam und hoch konzentriert, während Belle ihren Bruder beobachtete und auf ihren Einsatz lauerte. Erneut sah sich Simeon gezwungen, das Wort zu ergreifen.
»Wir ziehen es also heute durch?« Er versuchte, möglichst erwartungsfroh zu klingen, aber er war noch nie ein guter Schauspieler gewesen. In der Schule hatte er sich vor jedem Theaterstück gedrückt.
»Ergib dich«, sagte Tommy und drehte sich auf dem Fahrersitz um, um ihn offen anzulächeln.
»Wie meinst du das?«
»Ergib dich dem Willen Gottes.«
Als er diese Worte hörte und das Handy mit Headset in Tommys Hand sah, wusste Simeon, dass die heutige Aktion bitterer Ernst war.
07.06 Uhr
14 Highfield Road, South Wimbledon
George schlurfte ins Badezimmer, während Maggie selig weiterschlummerte. Er stand wie immer als Erster auf, um dem Andrang im Bad zuvorzukommen. Prüfend betrachtete er sich im Spiegel. Er war vierzig Jahre alt. Seine Eltern hatten immer gefragt: »Wo ist nur die Zeit geblieben?« Jetzt verstand er endlich, was sie damit gemeint hatten. Der Titel eines Gedichts von Charles Bukowski brachte es auf den Punkt. George hatte das Gedicht zwar nie gelesen, aber auf der Rückseite von Der Mann mit der Ledertasche, einem Bukowski-Roman, den er gerade las, waren weitere Werke des Autors aufgelistet, darunter ein Gedicht namens »Die Tage rennen wie Wildpferde über die Hügel«. Es stimmte, genauso war es. Bukowski hatte den Nagel auf den Kopf getroffen.
Je älter George wurde, desto emotionaler wurde er. Er brauchte nur eine traurige Filmszene zu sehen oder von einem tragischen Vorfall in den Nachrichten zu hören, und schon füllten sich seine Augen mit Tränen. Vielleicht hatte es mit seiner ersten »Springerin« zu tun – der Selbstmörderin, die kürzlich vor seinen Zug gesprungen war. In seiner Anfangszeit als U-Bahn-Fahrer war er einerseits entsetzt und andererseits fasziniert von dem Gedanken gewesen, dass sich eines Tages jemand vor seinen Zug werfen könnte. Er war ganz sicher nicht auf irgendeinen perversen Nervenkitzel aus gewesen, aber wenn er sich schon damit abfinden musste, dass ihm in seinem Berufsleben etwas so Grausames widerfahren konnte, warum sollte er dem Ganzen dann nicht mit Neugier begegnen? Einige seiner Kollegen waren von dieser Erfahrung vollkommen traumatisiert, anderen schien es weniger auszumachen. George hatte sich oft gefragt, wie er wohl reagieren würde, wenn seine Zeit gekommen war. Denn dass sie kommen würde, war so gut wie sicher. In London ereigneten sich über hundert Fälle pro Jahr. Er hatte sich gefragt, wie es sich wohl anfühlte, jemanden sterben zu sehen. Die meisten U-Bahn-Fahrer, die lange genug dabei waren, erlebten früher oder später einen Selbstmord. Und dann war George selbst an der Reihe gewesen.
Es war vor sechs Monaten passiert, bei der Einfahrt in den U-Bahnhof Warren Street gegen fünf Uhr nachmittags. Der Bahnsteig war voll gewesen mit den üblichen Pendlern, die vergeblich versuchten, noch vor der Rushhour nach Hause zu kommen. Georges Zug war ungefähr zur Hälfte eingefahren gewesen, als sich eine schick gekleidete Frau Anfang fünfzig aus der gesichtslosen Masse gelöst hatte und von der Bahnsteigkante direkt vor den Zug gesprungen war. Perfektes Timing, das Paradebeispiel eines effizienten Suizids. Ihr Körper war gegen die Spitze des Zuges geknallt und dann unter die Räder gekommen. Sie war sofort tot gewesen. In dieser Hinsicht hatte George Glück gehabt. Und die Frau vermutlich auch, zumindest wenn sie ihren Todeswunsch ernst gemeint hatte, und davon ging George angesichts ihres präzisen Sprungs aus.
Von Kollegen hatte er gehört, dass die Selbstmörder manchmal nur verletzt wurden und dann unter dem Zug eingeklemmt lagen, was grauenvoll für alle Beteiligten war. Umso dankbarer war er, dass bei »seinem« Selbstmord alles ganz schnell gegangen war – eine echte Gnade, sowohl für ihn als auch für die Springerin.
George hatte bei der gerichtlichen Untersuchung des Falls als Zeuge aussagen müssen, was ihm schwerer gefallen war als angenommen, vor allem, weil er dabei den trauernden Angehörigen der Frau gegenübertreten musste. Nachdem das Gericht zweifelsfrei Selbstmord als Todesursache festgestellt hatte, war der Ehemann vor dem Gerichtsgebäude auf ihn zugekommen und hatte sich für die Tat seiner Frau entschuldigt. Diese Geste hatte George sehr berührt.
Er hatte die bezahlte Auszeit beansprucht, die ihm zustand, und sogar das Therapieangebot seines Arbeitgebers angenommen, nicht, weil er wirklich das Gefühl hatte, eine Therapie zu brauchen, sondern weil er neugierig war, ob sie ihm bei der Bewältigung seiner Beklemmungszustände und der damit einhergehenden Schlaflosigkeit helfen konnte. Leider war das nicht der Fall gewesen.
George genoss es, unter der Dusche den klebrigen Schweißfilm abzuwaschen, der sich über Nacht auf seiner Haut gebildet hatte. Inzwischen musste es fast halb acht sein, Zeit, den Rest der Familie zu wecken. Er wickelte sich ein Handtuch um die Hüfte, drückte Zahnpasta auf seine Zahnbürste und fing an, sich die Zähne zu putzen, während er zurück ins Schlafzimmer ging.
»Du wolltest mich doch wecken«, sagte Maggie vorwurfsvoll, als er in der Tür erschien.
»Mach ich doch gerade«, nuschelte er, den Mund voll weißem Schaum.
»Zu spät, ich bin ja schon wach.«
»Warum hältst du mir dann vor, dass ich dich nicht wecke?«
»Ich zieh dich doch nur auf.« Diesen schelmischen Tonfall kannte er. Seine Frau war gut gelaunt. Er freute sich darüber, dass sie glücklich war.
»Wie viel Uhr ist es?«
»Ungefähr zwanzig nach sieben.«
Sie gähnte und reckte die Arme. George lächelte ihr zu, und sie erwiderte sein Lächeln. Er wollte ihr gerade ein Kompliment über ihre neue Frisur machen – der kurze Bob stand ihr wirklich gut –, als sie sagte: »Mann, siehst du fertig aus!«
»Vielen Dank.«
»Immer gerne.«
George drehte sich wieder zur Tür um.
»Weckst du Sophie und Benji?«, fragte Maggie.
Er brummte ein Ja und trat zurück auf den Flur.
Sophie schlief noch tief und fest. George betrachtete sie zärtlich und hoffte, dass das Geräusch seiner Zahnbürste sie sanft aufweckte, aber seine Tochter rührte sich nicht. Sie lag auf der Seite und lutschte am Daumen. Ihre dunkelbraunen Haare hatten die gleiche Farbe wie die ihrer Mutter und fielen über ihr winziges Koboldgesicht. Wie hilflos sie aussah. Ihre Zukunft lag in seinen Händen, doch so sehr er sich in jeder Hinsicht das Beste für sie wünschte, als Londoner U-Bahn-Fahrer waren seine finanziellen Möglichkeiten begrenzt. Er streckte die Hand aus und streichelte ihr über den Rücken. Sofort machte sie die Augen auf, starrte ihn finster an und blinzelte ins Licht. »Guten Morgen, kleine Maus. Hast du gut geschlafen?«, fragte er mit der hohen Stimme, die er nur für seine Kinder reserviert hatte und die ihn jedes Mal zusammenzucken ließ, wenn er sie auf Familienvideos hörte. Dabei war es schon schlimm genug, sich in diesen Videos sehen zu müssen.
»Mir ist heiß, Daddy«, sagte sie.
»Stimmt, Schatz, es ist furchtbar heiß.« Er senkte die Stimme, damit sie wieder normal klang, so, wie er mit Maggie redete. Für Arbeitskollegen hatte er noch einmal eine andere Stimme in petto, männlich und kehlig. Er hob Sophie aus dem Bett, drückte sie an sich und setzte sie dann auf dem Teppich ab, wo sie wankend stehen blieb und gähnte.
Ben war bereits wach und spielte mit seiner Action-Man-Figur, als George in sein Zimmer kam. »Guten Morgen, Kumpel.«
Nachdem Ben lauthals eine Schießerei und diverse Explosionen simuliert hatte, erwiderte er die Begrüßung seines Vaters und ging dann dazu über, ihn über die Vor- und Nachteile von Maschinengewehren auszufragen.
»Hab ich heute Geburtstag?«, fragte er plötzlich, während George ihn vom Schlachtfeld seines Zimmers ins Badezimmer zu bugsieren versuchte.
»Morgen«, antwortete George. »Und wo gehen wir morgen hin?«
»Zu Mr. Pieces!«, brüllte Ben begeistert, und Sophie stimmte sofort mit ein. Jubelnd hüpften die beiden herum und sangen: »Mr. Pieces! Mr. Pieces!«
In Wirklichkeit hieß Mr. Pieces Mr. Pizza und war ein italienisches Restaurant, aber Ben hatte den Namen früher immer falsch ausgesprochen, weshalb die Pizzeria bei den Wakehams nun für alle Zeiten Mr. Pieces hieß. Sie waren oft und gerne dort zu Gast.
Nachdem George seine beiden Kinder endlich erfolgreich ins Badezimmer gescheucht hatte, überwachte er Bens morgendliche Katzenwäsche (»Papa? Wenn man hundert Mal auf einen Mann schießt, ist er dann tot?«) und half Sophie dabei, sich mit einem Waschlappen das Gesicht zu waschen und sich die Zähne zu putzen. Während Ben in seine Jeans und ein Spider-Man-T-Shirt schlüpfte, bürstete George Sophies Haare und zog ihr die Kleider an, die Maggie am Vorabend auf die Kommode vor dem Badezimmer gelegt hatte: eine rosa Jeans mit Blumenflicken auf dem Knie und ein gestreiftes Oberteil. Um Zeit zu sparen, trug George Sophie die Treppe hinunter, während Ben plappernd vorausging und vom Thema Maschinengewehre zu der Frage überging, was er heute frühstücken wolle. Als George mit Sophie auf dem Arm in der Küchentür erschien, sah ihn Maggie entnervt an.
»George, draußen hat es fast vierzig Grad, und du ziehst ihr ein langes Oberteil an!«
»Aber das waren die Sachen, die auf der Kommode lagen.«
»Ich mach das schon«, erklärte sie in leidgeprüftem Tonfall, so als würde ihr Mann seine Kinder an heißen Tagen grundsätzlich zu warm anziehen. George drehte sich zu Sophie und Ben um und verdrehte die Augen, während Maggie die Treppe hinaufstapfte.
»Dummer Daddy, was?«
»Dummer Daddy«, bestätigte Sophie und grinste.
George hatte Ben und Sophie zwar gerade erst einen Kuss gegeben, aber wie er die beiden so am Küchentisch sitzen sah, verspürte er den Drang, sein Gesicht in ihre Haare zu graben und genüsslich ihren Duft nach Honig, frisch gebackenen Keksen und Shampoo in sich aufzusaugen. Wie er diesen Geruch liebte!
Auf der Arbeitsfläche neben der Mikrowelle saß Sophies Lieblingspuppe Poppy.
»Guck mal, da ist Poppy! Sie winkt dir zu und sagt: ›Hallo, Sophie!‹« Er sprach wieder mit seiner hohen, für die Kinder reservierten Stimme. Sophie riss ihm die Puppe aus der Hand und drückte sie stürmisch an sich. Weil in diesem Moment Maggie zurückkam, ergriff George eilig die Flucht, schnappte sich seine Tasche vom Treppengeländer und ging zur Haustür. Er winkte Ben und Sophie noch einmal zu, rief mit seiner hohen Stimme »Tschüss, ihr zwei!« und kehrte dann für Maggie zu seiner normalen Tonlage zurück: »Bis später!«
Er warf seiner Frau eine Kusshand zu, die ebenfalls die Luft küsste und ihm zulächelte. Nachdem George die Tür hinter sich ins Schloss gezogen hatte, eilte er den Gehweg entlang auf sein Auto zu. Dort angekommen, stieg er ein, legte seine Tasche auf dem Beifahrersitz ab und wollte gerade den Schlüssel ins Zündschloss stecken, als er einen unbekannten Handy-Klingelton hörte. Er tastete in der Hosentasche nach seinem Handy. Vielleicht hatte Sophie daran herumgespielt und den Klingelton – »Train in Vain« von The Clash, einer seiner absoluten Lieblingssongs – versehentlich geändert. Aber das Display seines Handys war dunkel. Das Klingeln schien aus dem Handschuhfach zu kommen. Er klappte es auf und entdeckte ein Handy – ein neueres, hochwertigeres Gerät als seins – und daneben ein kabelloses Headset. George nahm das Handy aus dem Handschuhfach und zuckte zusammen, als er den Namen des Anrufers auf dem Display sah: Maggie. Seine Maggie? Was hatte das zu bedeuten? Seine Frau rief ihn auf einem Handy an, das nicht ihm gehörte?
Plötzlich kam ihm ein unangenehmer Gedanke: Vielleicht hatte Maggie einen Liebhaber, der sein Handy in Georges Auto vergessen hatte. Und jetzt dachte sie, sie würde ihn anrufen. So musste es sein. Er hatte sie auf frischer Tat ertappt, und das sollte sie ruhig wissen. Also drückte er auf Annahme und hob das Handy ans Ohr.
»Maggie?«
»Sieh zum Fenster, George … zum Fenster unseres Hauses … zum Fenster.« Ihre Stimme klang seltsam, so als würde sie weinen. Bestimmt war ihr inzwischen klar geworden, dass sie einen großen Fehler begangen hatte, einen Fehler, der sie die Ehe kosten könnte. Er blickte dennoch zum Fenster. Vielleicht hatte sie ja doch keine Affäre, sondern wollte ihm nur noch einmal zum Abschied zuwinken. Oder Sophie und Ben hatten diesen Wunsch geäußert. Aber warum? Das taten sie doch sonst auch nicht. Und warum lag ein fremdes Handy in seinem Handschuhfach?
Plötzlich trat ein Mann ans Wohnzimmerfenster, ein schlanker, ganz in Schwarz gekleideter Mann, der eine Wollmütze mit Augenschlitzen trug. Mit einer Hand umklammerte er Sophie, die weinte und zappelte, und mit der anderen hielt er ihr eine Waffe an den Kopf.
07.45 Uhr
14 Highfield Road, South Wimbledon
Jeder Rest Hoffnung, dass es sich vielleicht doch um einen Probedurchlauf handelte, erstarb in Simeon, als Tommy die Hintertür des Hauses aufstemmte. Es sah aus, als hätte er so etwas schon hundert Mal gemacht. Er schien nicht einmal nervös zu sein. Simeon hingegen kämpfte gegen die Übelkeit an, als sie in die Küche schlichen und die Frau erschreckten. Er stieß ihr seinen Revolver in den Rücken, während Tommy ihr erklärte, was sie ins Telefon sagen sollte.
»Bitte tun Sie ihnen nicht weh!«, schrie die Frau, als Tommy sich den Kindern näherte.
»Seien Sie still, dann wird alles gut.« Simeon kam sich vor, als würde er den Text eines Theaterstücks aufsagen. In Wirklichkeit hatte er keine Ahnung, ob je wieder irgendetwas gut werden würde. Tommys und Belles Plan war ihm in den vergangenen Wochen manchmal wie eine Fata Morgana vorgekommen, was nicht hieß, dass die beiden nicht mit Eifer und Sorgfalt bei der Sache gewesen wären. Sie genossen es sichtlich, sich in jedes noch so winzige Detail hineinzusteigern, und betrieben ihre Planungen genauso ernsthaft, wie sie die religiösen Rituale von Madoc Farm befolgten. Aber für Simeon hatte es sich trotzdem so angefühlt, als sei er Teil einer großen Inszenierung, eines Trugbilds. Er war davon ausgegangen, dass Tommy und Belle einfach ein neues hypothetisches Projekt in Angriff nehmen würden, sobald ihre strategischen Planungen für dieses abgeschlossen waren. Sozusagen als Zeitvertreib für die langen, öden Nächte auf Madoc Farm. Die bisherigen Ereignisse dieses Tages widerlegten seine Theorie eindrucksvoll.
Tommy riss das kleine Mädchen hoch und hielt ihm seinen Revolver an den Kopf, während Simeon seine Waffe gegen den Rücken der Frau presste, damit sie ihren Mann per Handy aufforderte, zum Fenster zu blicken. Mit dieser waghalsigen Aktion wollte Tommy sicherstellen, dass der Zugführer mitspielte und sich an die Regeln hielt. Simeon fragte sich, was wohl passieren würde, wenn jemand in diesem Moment am Haus vorbeikam und sah, was hier vor sich ging. Doch es kam niemand, und wenn Tommy mit diesem Schachzug durchkam, würde er auch alle anderen Punkte seines Plans durchziehen, da war sich Simeon sicher.
07.46 Uhr
Highfield Road, South Wimbledon
Es war, als hätte sich in der friedlichen Vorstadtfassade ein Spalt geöffnet, der George Wakeham einen Blick in die Hölle gewährte. Doch kaum hatte sich das Bild in sein Gedächtnis eingebrannt, trat der Mann mit Sophie wieder vom Fenster weg.
»Maggie! Was zum Teufel ist da drinnen los?« Er konnte Sophie und Ben durchs Telefon weinen hören.
»Steig auf keinen Fall aus dem Auto!«, rief Maggie so schrill, dass ihm das Trommelfell wehtat. Er hatte die Autotür bereits halb geöffnet und zog sie jetzt hastig wieder zu. »Wenn du aus dem Auto steigst, töten sie uns!«
»Was wollen die?«
Keine Antwort.
Er hörte, wie Maggie auf Sophie einredete. »Alles wieder gut, mein Schatz, Mummy beschützt dich.«
»Maggie!«
»George, ich soll dir etwas vorlesen.« Ihre Stimme zitterte. »Du musst gut zuhören, ja?«
»Okay.«
»Wenn du nicht ganz genau ihren Anweisungen folgst, bringen sie mich und die Kinder um. Jeder Versuch, Alarm zu schlagen, führt dazu, dass wir sterben. Jede noch so kleine Abweichung von den Anweisungen, die sie dir geben, führt dazu, dass wir sterben. Hast du verstanden?«
Er konnte nicht sprechen. Sein Mund war staubtrocken, und ihm war schwindlig.
»Hast du verstanden, George?«
»Ja. Ja, ich habe verstanden.«
»Im Handschuhfach liegt ein Headset. Siehst du es?«
»Ja.«
»An der Seite ist ein Schalter. Setz das Headset auf und schalte es ein. Jetzt sofort.«
George griff nach dem Headset, fand mit zitternden Fingern den Schalter, knipste ihn an und machte die Hörmuschel an seinem Ohr fest.
»Hörst du mich?«, fragte Maggie.
»Ja, ich höre dich.«
»Du musst das Headset die ganze Zeit auflassen und diese Leitung offen halten, bis du anderslautende Anweisungen erhältst. Hast du verstanden?«
»Ja.«
Norman, ein komischer Kauz mit Brille, der mit seiner Mutter im »Bates Motel« wohnte, wie George und Maggie das Haus in Anlehnung an den Hitchcock-Klassiker Psycho nannten, kam hinter seiner braunen Haustür hervor und ging die Straße entlang. George überlegte, ob er irgendwie mit seinem Nachbarn kommunizieren und ihn dazu bringen könnte, Hilfe zu holen. Vielleicht könnte er etwas auf ein Blatt Papier schreiben und es hochhalten? Norman sah ihn im Auto sitzen und winkte.
George ging auf, wie gefährlich es war, Norman auf sich aufmerksam zu machen. Er wandte den Blick ab, als hätte er ihn nicht gesehen.
Aber Norman blieb einfach stehen, genau auf Höhe des Wohnzimmerfensters. George wies auf das Handy, um ihm zu verstehen zu geben, dass er gerade telefonierte.
»George? Du machst doch hoffentlich keine Dummheiten?« Maggie klang verzweifelt. »Du versuchst nicht, jemanden auf dich aufmerksam zu machen, oder?«
»Nein«, beruhigte George sie.
Doch Norman stand immer noch vor dem Haus. George blickte demonstrativ in eine andere Richtung.
»Warum sehen diese Leute dann einen Mann, der auf dem Gehweg steht und in deine Richtung schaut?«
»Er geht schon weiter.« Aber das stimmte nicht. Norman starrte ihn immer noch an.
»George! Um Gottes willen! Jetzt halten sie Ben eine Waffe an den Kopf!«
Im Hintergrund konnte er Ben »Mummy!« schreien hören. George musste etwas unternehmen, irgendetwas. Also machte er das Victory-Zeichen in Normans Richtung und formte mit den Lippen so deutlich wie möglich die Worte »Verpiss dich!«. Norman runzelte die Stirn und blinzelte verwirrt. Er sah aus, als wollte er etwas sagen, überlegte es sich jedoch anders und schlurfte davon.
»Sag ihnen, dass er gerade weggeht«, krächzte George in das Handy.
»O George, Gott sei Dank!«
»Maggie, ich will mit ihnen sprechen.«
Pause.
»Das erlauben sie nicht, die Kommunikation erfolgt allein über mich. Du sollst deinen Tagesablauf jetzt ganz normal fortsetzen, genauso wie immer. Tritt deine Arbeit an und behalte dabei das Headset auf, bis du anderslautende Anweisungen bekommst.«
»Maggie, frag sie, was sie wollen.«
»Sie verstehen dich. Sie hören mit.«
»Also? Was wollt ihr? Was soll das Ganze?«
Wieder folgte eine kurze Stille, und dann: »Sie sagen, dass du das zu gegebener Zeit noch erfahren wirst. Aber jetzt musst du erst mal den Anweisungen folgen.«
»Also gut, dann sag ihnen bitte, dass ich alles tue, was sie von mir verlangen, vorausgesetzt, sie krümmen weder dir noch den Kindern ein Haar.«
»Sie können dich hören. Ich soll dir sagen, dass sie einverstanden sind. Du musst weitermachen wie an jedem anderen Tag. Sie werden dich die ganze Zeit im Auge behalten und belauschen. Und wenn du irgendetwas versuchst …«
»Ich weiß, ich weiß. Dann bringen sie euch … ich weiß.«
»George, du brichst jetzt besser auf.«
Er ließ den Motor an und fuhr los. Sein Fuß auf dem Gaspedal zitterte. Im Vorbeifahren blickte er noch einmal durch das Fenster in sein Wohnzimmer. Es war niemand zu sehen, nur Poppy, Sophies Puppe, die auf der Armlehne des Sofas saß.
Während er sich auf der Hauptstraße in den Verkehr einfädelte, füllten sich seine Augen mit Tränen. Auf der zehnminütigen Fahrt zum Depot lauschte er aufmerksam dem leisen Rauschen, das aus dem Headset drang. Wenn er an Ampeln oder Zebrastreifen hielt, beobachtete er die Leute, die ihren alltäglichen Geschäften nachgingen und nichts von dem Schrecken ahnten, der über ihn hereingebrochen war. Könnte er einem von ihnen ein Zeichen geben? War einer dieser Menschen in der Lage, seine Familie zu retten? Fragen, die er sich eigentlich selbst beantworten konnte. Jeder Versuch, Alarm zu schlagen und die Außenwelt auf seine Lage aufmerksam zu machen, konnte dazu führen, dass seiner Familie etwas zustieß. Georges Panik war so groß, dass er würgen musste, als er auf den Parkplatz des U-Bahnhofs Morden einbog.
»Maggie?«
»Ja?«
»Ist alles in Ordnung bei euch?«
»George …« Sie wurde unterbrochen, und er hörte, wie ein Mann etwas murmelte, was er nicht verstand. George hatte das Bedürfnis weiterzusprechen, irgendetwas zu sagen.
»Ich bin jetzt am Depot angekommen.«
»George, hör mir zu.« In ihrer Stimme lag eine Innigkeit, die George lange nicht mehr bei ihr erlebt hatte. »Du musst still sein. Bitte. Sprich nur, wenn es gar nicht anders geht.«
»Okay. Ich wollte dir nur noch sagen, dass ich dich liebe.« Das musste er einfach loswerden. Sofort ging es ihm ein wenig besser.
Statt einer Antwort drang nur das Rauschen der offenen Leitung aus dem Headset. Wie lange wollten diese Leute noch per Handy mit ihm kommunizieren? Oberirdisch war das kein Problem, aber für die Kommunikation im U-Bahn-Tunnel mussten sie sich etwas anderes ausdenken. Ob sie das berücksichtigt hatten?
Nachdem George sein Auto geparkt hatte, nahm er die Tasche vom Beifahrersitz, stieg mit dem Handy in der Hand aus und schloss den Wagen ab. Dann ging er mit gesenktem Kopf auf das Bahnhofsgebäude zu.
»Hallo, George!« Er spürte die Panik wie einen Stich und blickte auf. Vor ihm stand Louisa, eine Kantinenmitarbeiterin, mit der ihn seit Jahren eine lockere Freundschaft verband. Manchmal konnte er nicht umhin, sich auszumalen, was zwischen ihnen passiert wäre, wenn er zehn Jahre jünger und unverheiratet gewesen wäre. Louisa lächelte ihn an. Bisher hatte ihn dieses Lächeln immer zum Erröten gebracht, doch heute war es ihm vollkommen egal.
»Hallo, Louisa. Wie geht’s?«
»Gut, danke«, antwortete sie. »Und dir?«
»Auch gut.« Meine Frau und meine Kinder werden von einer bewaffneten Bande als Geiseln festgehalten!, hätte er am liebsten geschrien, aber das ging natürlich nicht.
Obwohl es noch früh am Morgen war, waren die Temperaturen bereits auf knapp dreißig Grad geklettert. Louisa sah trotzdem genauso frisch und duftend aus wie immer, während George förmlich spürte, wie sich Schweißtropfen auf seinem ganzen Oberkörper bildeten.
Gemeinsam gingen sie die Treppe hoch und betraten das Depot durch den Haupteingang. Georges Gespräche mit Louisa folgten normalerweise einem immer gleichen Muster: Er erzählte ihr eine Anekdote oder einen Witz und versuchte, sie zum Lachen zu bringen. Daran war jetzt natürlich nicht zu denken, aber irgendetwas musste er sagen.
»Schon wieder so ein heißer Tag.« Etwas Originelleres fiel ihm beim besten Willen nicht ein.
Bevor sie antworten konnte, kam ihnen Neville auf dem Flur entgegen, ein großer, etwas rüpelhafter Kollege von George, der stolz auf seinen respektlosen schottischen Humor war. George und Neville waren befreundet und gingen manchmal nach der Arbeit zusammen ein Bier trinken.
»Georgie-Boy! Endlich auf dem neuesten Stand der Technik angekommen, wie ich sehe!«, rief Neville mit breitem Grinsen und zeigte auf das kabellose Headset an Georges Ohr. Erst kürzlich hatte er ihn wieder damit aufgezogen, wie vorsintflutlich sein Handy war.
»Ja, ich dachte, es ist an der Zeit.«
»Lass mich mal sehen.« Neville streckte die Hand aus.
»Neville, ich bin gerade mitten im Gespräch.«
Sofort ging ihm auf, wie bescheuert diese Ausrede für Louisa klingen musste, schließlich hatten sie gerade gemeinsam den ganzen Parkplatz überquert, ohne dass George etwas von einem Telefongespräch gesagt hatte. Das Lächeln auf ihrem Gesicht erstarrte, und sie drehte sich verwirrt zu ihm um.
»Stell dich nicht so an!«, protestierte Neville. »Du kannst doch trotzdem weiterreden. Ich will mir nur mal das Headset ansehen.« Wieder streckte er die Hand nach dem Handy aus.
»Lass es verdammt noch mal einfach bleiben!«
George war klar, wie befremdlich seine Reaktion auf Menschen wirken musste, die nichts von seiner verzweifelten Lage ahnten. Louisa sah ihn bestürzt an und murmelte ein schnelles »Wir sehen uns später«, bevor sie davonhuschte.
Neville hob überrascht die Augenbrauen.
»Tut mir leid, Nev, aber ich telefoniere wirklich gerade, okay?« George drängte sich an ihm vorbei und ließ ihn stehen.
Als er sich beim Dienstleiter meldete, einem rundlichen Mann mit rosigem Gesicht, dessen Hemd bereits durchgeschwitzt war, erfuhr er, dass die Innenstadtstrecke der Northern Line gerade wegen eines »sicherheitsrelevanten Zwischenfalls« gesperrt worden sei. Unter normalen Umständen hätte diese vage Formulierung Georges Neugier geweckt, denn so etwas sagten vielleicht die jeweiligen Stationsansager über Lautsprecher zu den Fahrgästen, während ein Dienstleiter seinen Fahrern gegenüber meist deutlicher wurde. Aber George hatte im Moment ganz andere Sorgen.
Er ging zu seinem Zug, der die Nummer 037 hatte und in der Haltebucht 12 des Depots stand. Das Handy war inzwischen glitschig vor Schweiß, und er ließ es langsam in seine Hemdtasche gleiten, wobei er darauf achtete, keine Knöpfe oder Tasten zu berühren. Erleichtert stellte er fest, dass er immer noch das Rauschen der offenen Leitung im Ohr hörte.
»Sie wollen wissen, um wie viel Uhr du in Morden losfährst«, erklang plötzlich Maggies Stimme.
»Um acht Uhr siebzehn.«
»Okay.«
Im Führerhaus hängte George Tasche und Jacke an einen Haken und vergewisserte sich, dass die Heizung ausgestellt war, die er bei dieser Hitze nun wirklich nicht gebrauchen konnte. Dann überprüfte er die Lichtanlage und änderte das Fahrziel auf der Anzeige in »Mill Hill East via Charing Cross«. Diese Schritte hatte er schon so oft durchgeführt, dass er sie im Schlaf beherrschte. Als Nächstes kontrollierte er die Lautsprecheranlage, vergewisserte sich, dass die Beleuchtung im Inneren der U-Bahn-Waggons brannte, und checkte alle Wechselstromgeneratoren und Sicherungen und setzte sie wieder zurück. Als er den Funk einschaltete, hörte er den keuchenden Husten des Weichenstellers, der die Züge aus dem Depot lotste.
George kontrollierte Scheibenwischer, Warnpfeife, Luftdruckmesser und Bremsen. Nachdem er geprüft hatte, ob das Zugortungssystem fehlerlos arbeitete, führte er einen Scheinwerfertest und eine Traktionskontrolle durch und checkte Heiz- und Belüftungssystem, Türen und Fahrgastalarm. Ihm blieben noch ein paar Minuten, bis er aufgerufen wurde, also schlenderte er durch die sechs Waggons des Zuges und sah nach, ob alles so war, wie es sein sollte.
Eine Gruppe von Wartungstechnikern arbeitete an einem Schienenabschnitt im Depot. Die Männer lachten über irgendetwas. George hatte sich noch nie in seinem Leben so einsam gefühlt. Er kehrte ins Führerhaus zurück und schlug die J-Tür – die Tür zwischen Passagierbereich und Führerhaus – hinter sich zu. Normalerweise hätte er nun einfach dagesessen und das Kreuzworträtsel in der Gratiszeitung Metro gelöst, bis der Weichensteller ihm das Signal zum Verlassen der Halle gab. Manchmal vertrieb er sich die Wartezeit auch mit einem Spiel auf seinem Handy. Sein Handy! Warum hatte er nicht früher daran gedacht? Er griff in die Seitentasche seiner Jacke, zog sein eigenes Handy heraus und warf einen Blick darauf. Anrufen konnte er niemanden, weil er ja belauscht wurde, aber er könnte eine SMS verschicken. Nur an wen? Konnte man auch an Notrufnummern Textnachrichten versenden? Vielleicht konnte er einem Freund schreiben – zum Beispiel Dougie? Meine Frau und meine Kinder werden als Geiseln festgehalten, bitte ruf die Polizei an, aber sag den Beamten, dass sie nichts unternehmen sollen, damit die Geiselnehmer nichts merken. Dougie würde die SMS für einen schlechten Scherz halten. Und selbst wenn er ihm glaubte und Maßnahmen einleitete, könnte er damit ungewollt das Leben von Maggie und den Kindern gefährden.
George ließ das Handy zurück in die Jackentasche gleiten und wippte nervös mit den Beinen. Seine Nerven spielten verrückt, und nur mühsam hielt er die Panik in Schach. Genauso musste sich ein Verurteilter fühlen. Nach jahrelanger Banalität und Routine passierte ihm nun etwas so Furchtbares und Einschneidendes, dass er kaum daran zu denken wagte. Egal, aus welchem Blickwinkel er seine Situation betrachtete, sie schien vollkommen aussichtslos. Die Leute, die seine Frau und seine Kinder in ihrer Gewalt hatten, waren nicht nur bewaffnet, sondern auch schlau, was viel beängstigender war. Die Polizei konnte er auf keinen Fall alarmieren, denn seit er den Mann mit seiner Tochter im Fenster gesehen hatte – ein Anblick, der ihn nie wieder loslassen würde –, wusste er mit absoluter Sicherheit, dass diese Leute seine Familie gnadenlos umbringen würden, wenn sie herausfanden, was er getan hatte.
Der Weichensteller forderte ihn über Funk auf, bis zum Ausfahrtsignal vorzufahren. George legte die Hand an den Gashebel, drückte ihn in den Fahrmodus und lenkte den Zug langsam aus dem Depot hinaus. Als das Freigabesignal aufleuchtete, steuerte er den Zug in den U-Bahnhof Morden und hörte, wie der Funkkanal des Depots auf den Funkkanal des Liniennetzes umschaltete.
Im Bahnhof fuhr er bis zum Haltesignal und öffnete die Türen. Normalerweise hätte er sich jetzt hinausgebeugt und den Fahrgästen beim Einsteigen zugesehen. Er beobachtete für sein Leben gern Menschen und dachte sich oft kleine Geschichten über sie aus, um die drückende Langeweile zu vertreiben. Manchmal versuchte er auch, den Namen eines Fahrgastes anhand seines Äußeren zu erraten. Bei den meisten war das gar nicht so einfach. Andere erkannte er aus einem Kilometer Entfernung – einen eindeutigen Jeremy zum Beispiel. Aber heute hatte er keinen Blick für seine Fahrgäste, sondern stand im Führerhaus und starrte auf die beiden Tunneleingänge am Ende der tiefen Betonschlucht, die den oberirdischen U-Bahnhof Morden bildete. Durch einen dieser Tunnels würde sein Zug gleich in das längste Tunnelsystem der Londoner U-Bahn eintauchen.
George war nicht so detailversessen wie manche seiner Kollegen, doch auch er wusste, dass der von Morden nach East Finchley führende, fast dreißig Kilometer lange Northern-Line-Tunnel einer der längsten und tiefsten U-Bahn-Tunnels der Welt war. Sobald man hineinfuhr, erstarben alle Mobilfunksignale. In etwa zwei Minuten würde er ganz allein sein, dann bildete der Funkkontakt mit der Leitstelle seine einzige Verbindung zur Außenwelt. Den Funkkanal konnten die Leute, die Maggie, Ben und Sophie gekidnappt hatten, bestimmt nicht überwachen. War das seine Chance, Alarm auszulösen, sobald er das Gefühl hatte, dies gefahrlos tun zu können? Würde sich dieses Gefühl je einstellen?
Als das Signal umsprang, drückte George auf die Knöpfe, die die Waggontüren schlossen, vergewisserte sich, dass die Kontrollleuchte aus war, und schob den Gashebel in die richtige Position. Der Zug setzte sich in Bewegung, verließ den Bahnhof und fuhr in den Schatten der Betonschlucht hinein, die zu den Tunnels führte. George zog das Handy aus der Hemdtasche und beobachtete, wie die Empfangsbalken am Rand des Displays erst abnahmen und dann ganz verschwanden. Er nahm das Headset vom Kopf und stopfte es zusammen mit dem Handy in seine Tasche.
Es war ein seltsames Gefühl, plötzlich nicht mehr überwacht zu werden, aber aus irgendeinem Grund ließ die Panik nicht nach. George wurde von Unentschlossenheit gequält. War jetzt der richtige Zeitpunkt, der Polizei zu melden, in welcher furchtbaren Lage er sich befand? Nachdem er wie üblich die Hauptbeleuchtung in der Fahrerkabine ausgeschaltet hatte, damit er im Tunnel besser sehen konnte, griff er nach dem Funkgerät auf dem Steuerpult. Genau in dem Moment, als seine Finger es berührten, hörte er ein unerwartetes Geräusch. Jemand öffnete die Tür zum Führerhaus.
08.15 Uhr
U-Bahnhof Leicester Square, Bahnsteig der Northern Line, nördliche Fahrtrichtung
Er liebte den Regen in den walisischen Bergen. In Louisiana war der Regen anders, heftig und reinigend, manchmal sogar von biblischen Ausmaßen, wie beim Hurrikan Katrina vor einigen Jahren. Auch in Wales konnte der Regen stark sein, aber am liebsten war ihm das sanfte Nieseln, das oft den ganzen Tag andauerte.
Während Bruder Varick von der Glaubensgemeinschaft Cruor Christi im U-Bahnhof Leicester Square am Bahnsteig wartete, fragte er sich, ob er den walisischen Regen je wieder auf seinem Gesicht spüren würde. Wenn es doch nur an diesem Tag geregnet hätte, das hätte alles weniger schlimm gemacht! Doch auf Regen bestand wenig Hoffnung. Als er zusammen mit Bruder Alistair den U-Bahnhof betreten hatte, hatte die Sonne hoch am Himmel gestanden, und es war weit und breit keine Wolke zu sehen gewesen.
Nachdem sie ihre Fahrkarten gekauft und hinunter auf den Bahnsteig der Northern Line gegangen waren, hatte Alistair die erste U-Bahn in südliche Richtung bestiegen, um sich auf die Suche nach den Kindern zu machen. Die beiden Männer hatten eine Mission. Am frühen Morgen waren sie gemeinsam im Landrover aufgebrochen, um Bruder Thomas und seine Mitstreiter von ihrer niederträchtigen Tat abzuhalten. Auf der Fahrt nach London war ihnen aufgegangen, dass einer von ihnen die Kinder des U-Bahn-Fahrers retten musste. Alistair war kein Mann für Heldentaten, aber diese Aufgabe konnte selbst er meistern, schließlich musste er die beiden einfach nur finden. Es war von größter Wichtigkeit, dass sie bei all den Menschenleben, die auf dem Spiel standen, die beiden jüngsten und unschuldigsten Opfer nicht vergaßen.
Schwitzend hasteten die ein- und aussteigenden Fahrgäste um Varick herum, der unbeweglich auf dem Bahnsteig stand und über eine Ausgabe der Metro hinwegspähte, die er vorhin in der Schalterhalle mitgenommen hatte. Er tat so, als würde er lesen, während er das Führerhaus jedes Zuges, der in die Station rumpelte, genau unter die Lupe nahm.
Varick wusste, dass sich in einem davon Bruder Thomas befand. Und er wusste auch, dass seine bewegungslose Anwesenheit auf dem Bahnsteig Verdacht erregen könnte. Er stand jetzt schon mindestens eine Stunde hier und beobachtete U-Bahnen.
Wieder fuhr ein Zug in den Bahnhof ein, doch auch in dieser Fahrerkabine saß nur eine einzige Person. Varick wusste mit hundertprozentiger Sicherheit, dass Bruder Thomas diese U-Bahn-Linie und diese Station im Visier hatte. Zumindest stand das in dem Plan, den Pater Owen in Bruder Thomas‘ Notizbuch gefunden hatte, eine Entdeckung, die ihn das Leben gekostet hatte. Also stand Varick da und harrte aus. Seine Geduld würde belohnt werden. Er war sich sicher, dass Tommy Denning nicht mehr lange auf sich warten lassen würde.