12
Die Städte der Schönen
Es gab tatsächlich eine Mauer, die Stonewall Dykes genannt wurde, doch sie diente eher dazu, Menschen am versehentlichen Betreten zu hindern, als jemanden aus- oder einzusperren. In der alten Zeit der Panik hatte sie eine ernsthaftere Funktion gehabt, nun aber handelte es sich eher um Retroviren-Chic – ein Quarantänelager. Der eigentliche Schutz des Gebietes – welches das Gay Ghetto, die Rosa Gemeinde und das Schwule Viertel umfasste – lag in den starken, sanften, erfahrenen Händen einer Miliz mit Namen Grobe Klötze.
Der Laster bog von der Schnellstraße in eine Nebenstraße ein, fuhr an einem Mauerabschnitt vorbei, auf dem zu lesen stand: ›Heute Sodom – morgen Gomorrha!‹, dann waren sie drin. Eine ganz normale Straße, bloß dass auf einmal keine Frauen mehr zu sehen waren. Ein Stück weiter gab es keine Männer mehr; noch ein Stück weiter, und es gab beide Geschlechter, bloß dass man vor lauter Fummel nicht erkennen konnte, wer welchem angehörte.
»Was ist der Unterschied zwischen dem Leben hier und dem draußen?«
»Es gibt keinen, das ist es ja. Nichts ist seltsamer als die Leute, wie man im Norden sagt…«
»Ach, sei doch still. Das habe ich nicht gemeint. Was ist der Unterschied zwischen diesen spezialisierten Gemeinwesen oder wie man die nennt und den Mini-Staaten?«
»Es gibt keine Kriege.«
»So einfach kann es wohl kaum sein.«
»Scheint aber so.«
»Die Zukunft, und sie funktioniert, wie?«
Kohn lachte. »Auf diese Weise haben Leute wie ich zu tun. In meiner Zukunftsgesellschaft stünde ich ohne Arbeit da. Keine Grenzkriege und keine Streitigkeiten um Privateigentum mehr…«
»Ja, ja…«
Kohn wies sie an, noch einige Male abzubiegen. Sie hielten vor einem Parkplatz eines quadratisch angelegten großen Wohnblocks: vor ihnen lag ein Eingang von drei Metern Höhe und fünf Metern Breite. Im Hintergrund sah man eine Wiese und Blumenbeete. Sämtliche Fenster der achtstöckigen Anlage hatten Vorhänge aus pfirsichfarbenem Rüschensatin und Stores aus Rüschengaze. Auf dem Parkplatz waren ein weiterer Truck sowie mehrere kleine Fahrzeuge und Fahrräder abgestellt.
Ein Mann trat aus dem Eingang hervor und näherte sich ihnen energischen Schritts. Er trug einen schlichten, weiten braunen Kittel und Hose und hatte kurzes blondes Haar. Er blieb kurz vor dem Laster stehen, dann näherte er sich der Fahrertür.
Kohn ließ das Fenster herunter. Er beschloss, die Tarnung einstweilen aufrecht zu erhalten. »Hi«, sagte er. »Ich bin der Sicherheitsberater…«
»Mr. Kohn? Ah, hallo. Ich bin Stuart Anderson. Ihre Agentur hat Sie angekündigt. Ich werde Sie gleich hereinbitten, zunächst aber würde ich gern mit der Dame sprechen.«
Janis beugte sich herüber. »Ja?«
»Es tut mir Leid, Madam, aber würde es Ihnen etwas ausmachen, draußen zu warten, während Ihr Begleiter sich umschaut? Das ist nicht bös gemeint – aber unsere Regeln sind eben so. Hier haben bloß diejenigen Frauen Zutritt, die hier leben oder mit uns liiert sind, und Sie…« Er lächelte bedauernd wie ein Ober, der einem sagt, das Lokal habe heute geschlossen. »Wenn Sie möchten, wird man Ihnen Erfrischungen herausbringen, oder Sie könnten einen Spaziergang machen.«
»Sehr liebenswürdig«, meinte Janis. »Welche frauenorientierte Gemeinschaft sperrt eigentlich normale Frauen aus und lässt Männer ein?«
»Feministinnen«, antwortete Anderson.
»Ah ja«, meinte Kohn. »Du hättest ein Kleid anziehen, dir die Poren mit Make-up zukleistern und falsche Wimpern ankleben sollen. Dann hätte man dir die öde Untersuchung des Wohnblocks gestattet, die jetzt allein mir obliegt.«
Anderson lachte amüsiert und freimütig.
»Nehmen Sie sich’s nicht zu Herzen, Ma’am. Es wird nicht länger als eine Stunde dauern, und wenn es Ihnen nichts ausmacht, den Laster ein Stück vorzufahren, damit wir ihn in der Zwischenzeit entladen und neu beladen können…«
Janis zuckte die Achseln und warf ihm mit finsterer Miene eine Kusshand zu. Kohn stieg aus.
»Bitte nehmen Sie keine Waffen mit«, sagte Anderson.
Kohn koppelte den Rechner ab und wuchtete den Rucksack in den Laster. Anderson hüstelte höflich. Kohn überlegte einen Moment, dann seufzte er und reichte Janis eine Pistole, ein Wurfmesser, ein Klappmesser und einen Schlagring aus Messing.
Sie durchquerten den Hof. Menschen schlenderten umher oder waren mit Gartenarbeiten beschäftigt. Wie Kohn erwartet hatte, waren die Frauen mit allen denkbaren Hilfsmitteln herausgeputzt. Die Männer waren vergleichsweise trist und konventionell gekleidet. Keine alten Menschen; keine Kinder.
»Sagen Sie mal, Stuart, worum geht es hier eigentlich? Wenn Sie mir die Bemerkung gestatten, wirken Sie nicht sonderlich feminin.«
»Natürlich nicht«, meinte Stuart. »Das ist nicht unser Ding. Unser Ziel ist es nicht, die Geschlechterrollen miteinander zu verschmelzen oder sie umzukehren, sondern das weibliche Geschlecht zum dominanten zu machen.«
Moh schüttelte den Kopf. »Ich hab’s immer noch nicht kapiert.«
»Vor allem geht es um den Frieden«, sagte Anderson ganz ernsthaft, während sie die Wohnanlage betraten und über einen hell erleuchteten Flur gingen. »Die Gewalt ringsumher erfüllt uns mit Abscheu, und die Feministinnen verfügen über eine Theorie, mit der sie sich erklären lässt. Die so genannten männlichen Tugenden haben sich überlebt. Aggressivität, Ehrgeiz, Poduktivität. Wir sind an einem Punkt angelangt, da sich die ganze Welt in ein Zuhause, einen Garten, eine Zuflucht verwandeln könnte. Stattdessen dient sie als Fabrik, als Jagdgebiet, als Schlachtfeld. Das meinen wir mit der Dominanz der männlichen Tugenden. Der Feminismus setzt sich für die längst überfällige Domestizierung der Spezies mittels der weiblichen Tugenden ein: dazu zählen neben der Häuslichkeit Sanftheit, Fürsorglichkeit, Selbstbescheidung: die Sublimierung der psychischen Energien in Kunst, Schmuck, Zierrat… Sämtliche umweltschonenden, fesselnden Aktivitäten. Wie zum Beispiel das Sticken, das viele als erfüllende Lebensaufgabe betrachten, während die eingesetzten materiellen Ressourcen dabei vernachlässigbar sind… außerdem ist das Produkt wertvoll, besonders für reiche Sammler.«
»Und wie passen da die Männer hinein?«
»Ach, sie versuchen gar nicht, uns einzupassen. Die Frauen gehen uns bloß mit gutem Beispiel voran. Und wir erbringen mit unseren Aktivitäten und Interessen einen untergeordneten, dienenden Beitrag, so wie früher die Frauenarbeit der männlichen Wirtschaft gedient hat – viele Frauen verdienen auf diese Weise draußen ihr Geld: als Lehrerinnen, Krankenschwestern, Sekretärinnen…«
»Und als Bankkassiererinnen?«
»Schon möglich.«
»Wirkt auf mich ein bisschen sexistisch.«
Anderson lachte. »Also, den Begriff habe ich schon lange nicht mehr gehört.«
Sie betraten einen großen, niedrigen Raum, der etwas von einer Fabriketage hatte. Mehrere Dutzend Frauen arbeiteten konzentriert an Nähmaschinen. Einige von ihnen fertigten offenbar Kleidungsstücke an, doch selbst Kohn konnte erkennen, dass die großen Seidenbahnen einem anderen Zweck dienten. Gleichzeitig hielt er Ausschau nach Cat, freilich vergeblich.
»Sonnenzelte, Baldachine«, erklärte Anderson. »Sind sehr beliebt bei Gartenparties der gehobenen Gesellschaft.«
Sonnenzelte? Moh prägte sich einige der Zuschnitte ein und überließ es seinem Unbewussten, sich weiter damit zu beschäftigen. Und noch etwas anderes passte hier nicht ganz. Andersons Vorstellungen waren zu dämlich und zu vernünftig zugleich: die Feministinnen gaben zwar einigen sehr altmodischen Vorstellungen einen subversiven Dreh, doch den von ihm dargelegten Grundsätzen mangelte es an der verführerischen, das Faktische negierenden Doofheit der Ideologie. (Männer sind frei. Männer sind gleich. Männer sind Schweine.) Aber vielleicht überschätzte Moh ja die menschliche Spezies: »Falls es eine Verrücktheit gibt, die noch nicht formuliert wurde«, pflegte sein Vater zu sagen, »wird ihr irgendwann eine kleine Sekte Ausdruck verleihen.«
Eine Frau schloss sich ihnen an. Sie stellte sich als Valery Sharp vor und bezeichnete sich als Hausverwalterin. Sie war klein – zierlich, verbesserte Kohn sich im Stillen – und hübsch, der Typ der verherrlichten Hausfrau aus einer alten Spülmittelreklame: Ginghamkleid, Schürze mit Blumenmuster, blonde Locken, die von einem gestärkten Baumwolltuch gebändigt wurden. Sie schickte Stuart für die Dame im Laster Kaffee holen und geleitete Kohn in ihr kleines Büro, das an die Werkhalle grenzte.
»Hübsch, nicht wahr?«, bemerkte sie munter und schloss die Tür. Sie nahm hinter einem Schreibtisch Platz und bot Kohn einen Sessel an. »Irgendwann werden alle Büros so aussehen.«
Der Schreibtisch wirkte eher wie ein Toilettentisch. Er war von einem gefransten Volant umgeben. Auch die Fransen hatten Fransen. Der Sessel war in ein mit Schleifen befestigtes Tuch gehüllt; die weiße Tapete war mit rosafarbenen Rosenknospen verziert; es roch durchdringend nach Jasmin. Kohn hatte das Gefühl, ihr Schlafzimmer betreten zu haben. Er wollte gar nicht wissen, wie es dort aussah.
»Das wäre mal etwas anderes«, meinte er aufrichtig. Er stellte sich vor, wie sich die ganze Welt diesem Stil zuwandte: Rosen um jede Haustür, jeder Lufthauch mit Parfüm geschwängert, Männer und Maschinen emsig damit beschäftigt, den Frauen das nötige Material zu beschaffen, damit sie sich unaufhörlich herausputzen, schön machen und aufdonnern konnten… Er sollte der Weltraumbewegung wirklich mehr von seinem Einkommen spenden.
Valery lächelte gequält. »Bisweilen geht es mir auch auf die Nerven«, sagte sie.
Kohn blickte sie an, erstaunt über das Eingeständnis. Er zögerte, ihr gegenüber zu erkennen zu geben, dass er über ihre Verbindung zur ANR Bescheid wusste.
Valery blickte ihn offen an und setzte langsam und mit deutlicher Betonung hinzu: »Civis Britannicus sum.«
Kohn starrte sie verblüfft an. Der Satz war nicht gerade ein geheimes Passwort, kam einem solchen aber recht nahe: er hatte noch nie erlebt, dass ihn jemand ohne besondere Absicht zitiert hätte. Er bekräftigte die Zugehörigkeit zur alten Republik, und es gab Orte, wo man dafür erschossen wurde.
»Gens una summus«, erwiderte er. Er hatte einen trockenen Mund, seine Stimme klang belegt. »Wir sind ein Volk.« Dies zog eine schärfere Trennlinie, als sämtliche zusammengeschusterten Teilbereiche des Königreichs es vermochten, und platzierte den Sprecher auf die eine Seite.
»Was soll das alles?«, setzte er an.
Und dann auf einmal wurde es ihm klar: die Fragmente fügten sich zusammen – in einem ganz wörtlichen Sinn.
»Fallschirme!«, sagte er triumphierend. »Mikrolites, Hängegleiter…«
Valery kniff die Augen zusammen. »Ausgezeichnet«, sagte sie. »Wie sind Sie darauf gekommen?«
Kohn hob die Schultern. »Indem ich nachgedacht habe.«
Sie musterte ihn verwundert, schien ihm aber zu glauben.
»Okay, Kohn. Sie wissen, dass Cat hier ist?«
Er nickte. »Sie haben sich einen hübschen Umweg ausgedacht, um mich davon zu informieren.«
»Ja«, sagte Valery. »Dafür gab es einen triftigen Grund. Aus demselben Grund hält sich die ANR so weit wie möglich vom Netz fern: sie ist von der Sicherheit der Systeme nicht mehr überzeugt.«
»Wie das?«
»Ich weiß nicht«, erwiderte Valery ungeduldig. »Ich weiß bloß so viel: wir haben über bestimmte… Kanäle eine Nachricht erhalten, worin man uns drängte, Catherin Duvalier dazu zu überreden, zu uns zu kommen und hier zu bleiben, und Sie herzuholen. Donovan sei hinter Ihnen her, und nicht bloß wegen dieser dummen Lösegeldgeschichte. Nein, ich weiß nicht, was das alles bedeutet, aber ich soll Ihnen sagen, dass Donovan Ihren Aufenthaltsort kennt, und das gilt auch für die Stasis. Die arbeiten jetzt zusammen. Donovans Kampfansage war ein Versuch, Sie ins Krankenhaus zu locken und dort zu ergreifen – zum Glück haben wir Catherin rechtzeitig fortgeschafft. Wir haben ein Mädchen losgeschickt, doch es ist ihm nicht gelungen, einen sicheren Kontakt herzustellen.«
»Ah! Sie meinen, im Brent Cross Einkaufszentrum?«, schnaubte Kohn. »Die hat mich bloß paranoid gemacht.«
»Sie war unerfahren, und wir waren übervorsichtig«, räumte Valery ein. »Jedenfalls sind Sie jetzt hier, und wir können die Lösegeldgeschichte regeln. Das wird Donovan nicht aufhalten, doch zumindest wird er den Aufruf zu Ihrer Ergreifung widerrufen müssen.«
»Ist das machbar, ohne dass er meinen Aufenthaltsort erfährt?«
»Selbstverständlich«, antwortete Valery lächelnd. »Und zwar über die Körperbank, erinnern Sie sich? Wir benötigen bloß Ihre und Catherins digitale Signatur. Unsere Kassiererin wird den Vorgang beglaubigen, dann ist die Sache geregelt.«
»Sie haben eben gesagt, Sie würden den Netzen nicht mehr trauen.«
»Wir sprechen hier von unterschiedlichen Ebenen«, meinte Valery vage, vielleicht aber auch absichtsvoll unbestimmt.
»Okay. Uns was dann?«
Valery musterte ihn streng. »Die ANR«, sagte sie mit Nachdruck, »möchte unbedingt, dass Sie sich unverzüglich in eine kontrollierte Zone begeben. Mehr weiß ich nicht.«
»Das hat bereits jemand anders vorgeschlagen«, sagte Kohn. »Ich erzähle Ihnen später davon. In Anbetracht der Tatsache, dass die ANR den Hannoveranern eine Heidenangst macht, dürfte das schwierig sein.«
»Wir können sicheres Geleit verbürgen«, sagte Valery. »Ich erzähle Ihnen später mehr. Nehmen wir uns erst einmal dieses Schlamassels an, was meinen Sie?«
Kohn erklärte sich beinahe geistesabwesend damit einverstanden, denn er war noch immer damit beschäftigt, die neuen Informationen zu verarbeiten. Valery klappte ein Schreibtischterminal hoch – es ähnelte einem Schminkspiegel –, und Moh schloss seinen Rechner an und übermittelte seine digitale Signatur an das bereits vorliegende Dokument. Valery kontaktierte Cat, und kurz darauf lag auch ihre Signatur vor. Kohn beobachtete, wie die Körperbank die Transaktion bestätigte. Das Bündnis für Leben auf Kohlenstoffbasis schuldete ihm nun fünfhundert Mark, die er wahrscheinlich niemals einfordern würde.
Der Deal verbreitete sich in den Datenbanken, und kaum eine Minute später wurde Catherins Name gelöscht, und Donovans Anschuldigungen gegen Kohn wurden fallengelassen. Sogleich tauchten nörgelige, enttäuschte Anfragen in den zwielichtigen Newsgroups auf. Kohn schüttelte den Kopf und ertappte Valery bei der gleichen Reaktion. Sie lächelten einander ernüchtert an.
Valery machte Anstalten, das Terminal einzuklappen, als ihr auf dem Bildschirm etwas ins Auge fiel. Sie blickte Kohn mit hochgezogener Braue an.
»Offenbar würde Catherin Sie gern sprechen.«
Kohn spürte, dass er rote Ohren bekam. »Ja, ich schätze, sie hat mir ein paar Worte zu sagen.«
»Na schön«, meinte Valery. »Gehen Sie auf den Gang, dann durch die linke Tür in den Garten, bis zur ersten Balkontür. Ich komme in ein paar Minuten nach.« Sie lächelte eigenartig. »Ich nehme an, das Schlimmste ist dann bereits überstanden. Anschließend können wir das weitere Vorgehen besprechen.«
»Ich bin mit einer Begleiterin gekommen«, sagte Kohn. »Sie wartet im Wagen und sollte in die Entscheidungen einbezogen werden.«
»Selbstverständlich.«
»Okay. Bis gleich«, sagte Kohn.
Er ging in den Garten hinaus und gelangte durch eine Glastür in eine Art Salon mit dick gepolsterten Sesseln und großen Vasen. In einem der Sessel saß vorgebeugt eine Frau in einem weiten Kleid, den Kopf zur Hälfte unter einer Haube verborgen. Sie war damit beschäftigt, die Rückenseite einer Jeansjacke mit bunten Fäden zu besticken. Ein kreisförmiges Muster mit Schriftzug nahm bereits Gestalt an. Sie schaute bedächtig auf und hob sittsam die Wimpern.
Cats Lächeln ähnelte dem einer Katze.
Moh grinste sie an. »Calamity Jane«, sagte er.
Funkelnde Zähne.
»Alles im Lot?«, fragte sie.
»Ja«, antwortete Moh. »Dein guter Ruf ist wiederhergestellt. Du bist wieder eine richtige linke Kämpferin.«
»Wieder an vorderster Front. Gut.«
Die Jacke glitt zu Boden, als sie die darunter verborgene Pistole hochhob. Sie hielt sie in der Rechten und stützte das Handgelenk mit der Linken – der Plastikverband wurde sichtbar, als der weite, spitzenbesetzte Ärmel zurückrutschte. Sehr cool, sehr professionell.
»Jetzt hab ich dich, du Hurensohn«, sagte Catherin Duvalier.
Cat hatte das Gefühl, lange auf diesen Moment der Rache gewartet zu haben, eher Jahre denn Tage. Sogleich wurde ihr bewusst, dass sie von ihrer Trennung her tatsächlich einen starken Groll zurückbehalten hatte. Der Gedanke verblasste; zurück blieb die eiskalte Erinnerung daran, wie Moh aus dem Krankenzimmer hinausstolziert war.
Auf Grund des Ärgers verspannten sich die Muskeln ihres verletzten Unterarms und begannen zu schmerzen.
Sie hatte in der Sicherheitsabteilung mehr Besucher empfangen als jeder andere. Zunächst Moh, dann – wenn auch nur virtuell – Donovan. Und später hatte die Nachtschwester, die ihr das Abendessen gebracht hatte, den Kopf hinter die Trennwand gestreckt und lächelnd gesagt: »Eine Freundin von mir würde Sie gerne sprechen.«
»Wer denn?«
»Sie ist Kassiererin in der Körperbank. Sie hat erfahren, in welcher Lage Sie sich befinden, und würde Ihnen gern helfen.«
»Ich will nicht bei der Bank anheuern, vielen Dank.«
»Ach, darum geht es nicht. Überhaupt nicht. Deshalb will sie ja mit Ihnen sprechen. Ich glaube, es würde Sie interessieren.«
Catherin willigte achselzuckend ein. Kurz darauf trat die Bankkassiererin ein, mit klickenden Absätzen und untermalt vom Rascheln ihrer Kleidung. Sie setzte sich auf die Bettkante.
»Hallo«, sagte sie. »Ich bin Anette. Ich habe gehört, du suchst nach einer sicheren Bleibe, fernab des Kampfgeschehens.«
Anette brauchte nicht lange, um Catherin davon zu überzeugen, dass die Feministinnengemeinde hervorragend geeignet war, sie so lange zu verstecken, bis ihr Status als Kämpferin wiederhergestellt war. Dort hätte sie Ruhe, um sich ihr weiteres Vorgehen zu überlegen.
»Aber das ist auch schon alles«, erklärte Catherin hastig. »Das soll nicht heißen, dass ich mit euren Vorstellungen oder so konform ginge…«
»Natürlich nicht«, sagte Anette. »Aber sei dir nicht so sicher. Wir haben schon ein paar Kämpferinnen gewonnen, die der Jungenspiele überdrüssig waren.«
Cat lächelte. Ihr würde das nicht passieren. »Wann geht es los?«
»Gleich morgen früh?«
»Ist gut.«
»Schön. Dann wäre das geregelt.« Als sie sich erhob, nahm Anette Catherins Jeanssachen in die Hand und begutachtete sie geringschätzig.
»Wir müssen dir etwas Anständiges zum Anziehen besorgen«, meinte sie und machte Anstalten, das ganze Jeanszeug mitzunehmen.
»Nein, nein«, sagte Catherin. »Ich will das behalten. Die Sachen sind noch gut.«
»Na schön… Ich nehme mal gerade deine Maße. Einen Augenblick.« Sie holte einen Scanner aus der Tasche und schwenkte ihn über Cat. »Bis morgen, Catherin.«
Am nächsten Morgen tauchte sie zu einer unchristlichen Zeit mit langen Papiertüten auf, die sie über der Schulter trug. Die Krankenschwester schob eine Trennwand vors Bett. Catherin warf einen Blick auf die Tüten.
»Modesty«, sagte sie. »Du meine Güte!«
»Du sollst was Hübsches tragen, wenn du entlassen wirst, Mädchen«, sagte Anette.
Man musste ihr beim Ankleiden helfen, nicht weil ihr gebrochener Arm geschient war, sondern weil sie sich mit den komplizierten Verschlüssen nicht auskannte. Es war schlichtweg unmöglich, diese Kleidung selbständig an- oder abzulegen. Als Anette und die Schwester fertig waren, traten sie zurück und lächelten sie an.
»Oh«, machte die Krankenschwester. »Oh. Sie sind wunderschön.«
Anette fasste Catherin bei den Schultern und drehte sie zu einem Wandspiegel um. Sie starrte ihr Spiegelbild an, ausstaffiert mit Haube und Korsett und einem Reifrock aus blauem Satin und weißer Spitze. Sie machte einen Schritt nach vorn, einen nach hinten, erstaunt über die schiere Masse wehenden, sich bauschenden Stoffs, die sie mit sich herumschleppte. Sie musste lachen und schüttelte den Kopf, so absurd kam ihr alles vor. Sie zupfte mit behandschuhten Fingern am Rock, ließ ihn wieder fallen.
»Ich komme mir blöd vor«, gestand sie. »Hilflos.«
»Nicht ganz«, meinte Anette grinsend. Sie reichte Catherin eine kleine Handtasche. »Da drin, meine Liebe, findest du neben einem auf deinen Hauttyp abgestimmten Make-up auch eine hübsche, damenhafte Pistole.«
Catherin lächelte und entspannte sich ein wenig. Dieses Überbleibsel der Art Schutz, auf den sie sich stets verlassen hatte, vermittelte ihr Sicherheit und ermöglichte es ihr, sich mit der anderen Art Schutz abzufinden, auf den sie sich nun verlassen musste: mit einer Macht, die nicht aus dem Lauf eines Gewehres kam. Das Gestell, das ihre Hüfte umschloss, und der darunter befestigte Stoffrahmen – sie waren kein Gefängnis, sondern eine Burg.
»Okay, Schwestern«, sagte sie. »Das war’s dann.«
Sie verließ die Krankenstation mit hoch erhobenem Kopf, den Blick starr geradeaus gerichtet. Im Fernsehen hatte sie einmal eine königliche Hochzeit gesehen, daher wusste sie, wie man das machte.
Moh musterte sie einen Moment lang schweigend.
»Hör mal, Cat, was ich getan habe, tut mir aufrichtig Leid. Und was ich nicht getan habe. Aber das ist jetzt Vergangenheit, das ist beigelegt…«
»Für mich gilt das, verdammt noch mal, nicht. Und darum geht’s. Jetzt, da ich wieder mit im Spiel bin, kann ich dich gefangen nehmen.« Sie grinste. »Und das habe ich soeben getan.«
»In wessen Auftrag?«, fragte Moh verdrossen, um Zeit zu schinden. »Solltest du dich auf das Linksbündnis beziehen, das haben wir bereits abgehakt…«
»Ach was«, meinte Cat. »In Donovans Auftrag. Als ich eingeloggt war, habe ich ihn angerufen, sobald mein Status geklärt war. Das BLK schickt ein paar Agenten vorbei…«
»Du hast was getan?«
Mit der kleinen Pistole konnte sie nicht viel ausrichten, überlegte er; er könnte sie töten, bevor er starb. Einen Moment lang fand er die Vorstellung trostreich. Dann wurde ihm klar, dass es einen Ausweg aus der Falle und der absurden Fehde gab, die er selbst ausgelöst hatte und die zu beenden Cat anscheinend entschlossen war. Er entspannte sich ein wenig, wartete ab und rang sich ein Lächeln ab.
»Offiziell«, sagte Cat, »kommen sie her, um das Lösegeld für mich zu bezahlen, was ihr gutes Recht ist. Und nichts und niemand kann mich daran hindern, dich ihnen zu übergeben.«
Moh hörte draußen auf dem Weg Schritte. Er blieb wie festgewurzelt stehen, bis Valery eintrat und sich neben ihn stellte. Cat warf ihr einen Blick zu, ohne die Pistole von Moh abzuwenden.
»Das wird dich hindern«, sagte Moh. »Valery, Miss Duvalier hat mich soeben im Auftrag des BLK gefangen genommen. In Kürze werden zwei ihrer Kämpfer eintreffen – wann genau?«
»Jeden Moment«, antwortete Cat. »Valery, das hat nichts mit dir zu tun.«
»Doch, hat es«, entgegnete Valery. »Erstens hältst du dich noch innerhalb unserer Gemeinde auf. Zweitens…« Sie zögerte und schaute unsicher zu Moh.
»Sagen Sie es ihr, verdammt noch mal«, meinte Moh.
»Wenn nicht gleich etwas passiert, werde ich…« Er brach ab, rang nach Atem, nach Worten, kämpfte gegen die Bilder an, mit denen sein überaktives Gehirn ihn konfrontierte. Bei der Vorstellung, dem BLK oder, schlimmer noch, der Stasis in die Hände zu fallen, wurde seine Haut ganz kalt, und der Raum verdunkelte sich.
»Sie wollen es tatsächlich tun?«, fragte Valery.
»Ja, ich tu’s.«
»Sie müssen es sagen«, meinte Valery sanft. »Sagen Sie es ihr. Für die Akten.«
Moh holte tief Luft. »Als Bürger der Vereinten Republik beanspruche ich den Schutz ihrer bewaffneten Streitkräfte und gelobe bei meiner Ehre, sämtliche damit einhergehenden Rechte und Pflichten einschließlich des Wahlrechts und der Zivilverteidigung auszuüben, wenn die rechtmäßige Autorität des Armeerates der Armee der Neuen Republik mich dazu auffordert. Richtig so?«
»Im Wesentlichen ja«, sagte Valery. »Und nun, Cat, schlage ich vor, dass du die Waffe niederlegst, es sei denn, du möchtest dich mit der ANR anlegen.«
Cat starrte beide an. »Ist das hier ein Stützpunkt der ANR?«
»Ja«, antwortete Valery.
Cats Schultern sackten herab. Sie senkte die Pistole.
»Du stehst immer noch in meiner Schuld, Moh.«
»Später«, knurrte Moh. Er beruhigte sich wieder, lächelte. »Du siehst wirklich gut aus«, sagte er – als würde das reichen, etwas ändern, alles andere ungeschehen machen – und stürzte ins Freie. Er rannte über den Rasen, übersprang Blumenbeete und Büsche, wich Menschen aus. Es wunderte ihn nicht, dass Valery Sharp mit ihm Schritt hielt. Unter dem Kleid, das gar nicht so unpraktisch war, wie es aussah, hatte sie straffe Muskeln, die sie sich wohl mit Aerobic antrainiert hatte.
»Tut mir Leid«, keuchte Valery. »Damit haben wir nicht gerechnet…«
»Schon gut. Ich auch nicht.«
Sie verharrten im kühlen Halbdunkel des Eingangs. Der Laster wurde gerade mit Kisten beladen. Nur noch ein paar standen auf der Straße.
»Also, was wollten Sie mir sagen?«
»Nehmen Sie den Laster«, sagte Valery.
»Wohin?«
»Möglichst weit nach Norden, dann zu einer kontrollierten Zone. Wir haben Zollpapiere für sämtliche Grenzen und Steuern in Naturalien geladen, aber… sollte sich jemand näher für die Fracht interessieren, müssen Sie ihn unter allen Umständen davon fernhalten. Notfalls verbrennen Sie die Container.« Sie schaute ihn an. »Werden Sie das tun?«
»Ja. Bitte rufen Sie bei meiner Co-op an, verlangen sie Jordan und sagen Sie ihm: Die Suche ist vorbei, kümmere dich um deinen eigenen Kram.«
»Mach ich. Und ich werde Cat eine Weile von Donovan fernhalten.«
»Okay. Ich hoffe, wir sehen uns mal wieder.«
Valery versetzte ihm lächelnd einen Schubs. »Los!«
Er rannte zum Heck des Lasters, packte die letzte Kiste und wuchtete sie hoch, sprang auf die Ladefläche, zog die Heckklappe zu und sprang im letzten Moment wieder hinaus. Ein Mann hantierte am Schloss. Kohn wartete quälend lange Sekunden, bis er fertig war, dann rannte er zum Führerhaus und stürzte sich geradezu hinein. Er blickte in den Lauf seines Gewehrs. Janis hockte unter dem Lenkrad, zielte auf die Tür und versuchte gleichzeitig, ein Magazin einzusetzen. Der peitschenartige Sensorfortsatz bemühte sich, auf einer Höhe mit der Windschutzscheibe zu bleiben.
»Runter!«, zischte sie.
Kohn warf sich keuchend auf den Beifahrersitz. Janis reichte ihm das Gewehr, als sei sie froh, es loszuwerden.
»Es redet«, sagte sie.
»Ja, ja, das hast du doch gewusst.« Kohn wälzte sich auf den Rücken und setzte das Magazin und den Rechner ein. »Was hat es denn gesagt?«
»Spinner. Sie haben es auf uns abgesehen. Das Gewehr hat Signale aufgefangen…«
»Helm.« Er schwenkte vor Janis die Hand, bis er den Helm darin spürte. Er hob den Oberkörper an, streifte den Helm über, klappte das Visier herunter, steckte das Kabel ins Gewehr und legte die Wiedergabe vom Monitor auf den Helm um. Die beiden Gewehransichten – die Zielansicht und das von der Peitschenoptik übermittelte Bild – überlagerten sich vor Mohs Augen wie Spiegelungen in einem Fenster. So stark verschieden waren sie noch nie gewesen.
»Was liegt an, Gewehr?«
Eine kurze Pause, als der Rechner den noch kleineren Speicher der Basissoftware befragte.
»Ein öffentlicher Telefonanruf, BLK-typische Verschlüsselung, ansonsten liegen keine Daten vor. Das fragliche Fahrzeug nähert sich dem Parkplatz aus…«
Und da war es auf einmal, mit blinkendem Rot umrandet: ein schwarzer Transporter mit dunklen Fenstern, der soeben um die Ecke bog. Er kurvte um den Parkplatz herum und hielt ein paar Meter vor dem Laster an. Kohn machte hinter der getönten Windschutzscheibe des Transporters mittels Infrarot zwei Gestalten aus.
Er ließ den Motor an und packte das Steuer mit der Linken. Janis schaute zu.
»Bitte anschnallen«, sagte der Laster.
»Stell den Scheiß doch ab.«
Janis klickte den Gurt ein, führte die Arme hindurch und zog kräftig mit beiden Händen daran, damit er das Gewicht spürte.
»Gut«, sagte Kohn wie ein psychopathischer Fahrlehrer. »Es wird einen Ruck geben. Und jetzt löse die Handbremse und gib Gas.«
Er stemmte die Beine gegen den unteren Rand des Armaturenbretts. Der Truck machte einen Satz nach vorn. Mit einem ermutigenden Krachen rammte er die Metallstoßfänger gegen das dünne Blech und das Hartplastik des Transporters. Janis schrie auf, jedoch bloß vor Schreck – der Aufprall war nicht besonders hart gewesen.
Kohn schnellte hoch und sprang aus dem Führerhaus, prallte auf den Teerbelag der Straße und stürzte sich auf die Tür des Transporters, das Gewehr an sich gepresst. Mit dem Schaft schlug er das Seitenfenster ein und stieß den Gewehrlauf hindurch. Ein junger Mann und eine junge Frau, beide langhaarig, mit schmierigen Jeans, übersät mit Glassplittern und noch immer zitternd von der Wucht des Zusammenstoßes. Der Mann langte unter das Armaturenbrett. Kohn schoss über seinen Handrücken hinweg in den Winkel unter dem Lenkrad. Die Hand wurde zurückgerissen, während gleichzeitig irgendeine Hydraulik aussetzte.
»Raus«, sagte Kohn und trat vom Trittbrett herunter.
Sie stiegen aus. Die Frau hatte die Hände auf den Kopf gelegt. Der Mann hielt sich die blutende Hand an den Mund.
»Hattet ihr’s auf mich abgesehen?«
Die Frau schüttelte den Kopf, der Mann nickte.
»Tja, das habt ihr wohl ver…«
Kohns Worte gingen in einem lauten Dröhnen und einem durchdringenden Quietschen unter.
Er wandte den Kopf – das Gewehr ruckte ebenso wenig wie ein Treppengeländer – und erblickte eine sachte schaukelnde aufgemotzte Honda aus den Dreißigern, die in ein paar Metern Abstand gehalten hatte. Der Fahrer war entsprechend gebaut und von den Stiefeln bis zur Kappe ganz in Leder gekleidet. Als er abstieg, stellte sich heraus, dass das, was zunächst wie ein Zusatztank ausgesehen hatte, in Wahrheit ein gepanzerter Hosenbeutel war. Seine Arm- und Brustmuskeln hätten auch ohne die holografischen Zusätze Angst und Schrecken verbreitet.
Er hielt eine Marke hoch. »Grobe Klötze«, sagte er. »Gibt es Probleme?«
Kohn senkte das Gewehr und sagte: »Eine Meinungsverschiedenheit.«
»Möchte jemand Anklage erheben?«
Die jungen Leute schüttelten den Kopf.
»Ich auch nicht«, sagte Kohn. »Allerdings verlange ich Lösegeld für eine Geisel und hatte Mühe, die beiden von der Rechtmäßigkeit meiner Forderung zu überzeugen. Ich nehme an, sie haben entsprechende Unterlagen dabei.«
Die beiden nickten enthusiastisch. Kohn entspannte sich ein wenig. Er hatte gehofft, dass Donovan die Tarnung werde aufrecht erhalten wollen.
»Wie viel?«
»Fünfhundert Mark«, sagte die Frau, die ihre Sprachlosigkeit endlich überwunden hatte. Sie hielt einen schmuddeligen Geldschein hoch. Kohn scannte ihn mit beleidigender Gründlichkeit (der Sensor seines Gewehrs bestätigte erwartungsgemäß, dass keine größere Ansammlung beweglichen Metalls vorhanden war) und stellte eine Empfangsbestätigung über den Betrag für die Freilassung Catherin Duvaliers aus. Der Mietbulle beglaubigte den Vorgang, und der junge Mann nahm mit der Linken das Original entgegen.
»Bitte sorgen Sie dafür, dass dies der erwähnten Person ausgehändigt wird«, sagte Kohn und reichte den Durchschlag dem Groben Klotz. »Sie hält sich derzeit in dieser Wohnanlage auf.«
»In Ordnung.«
Als Kohn wieder in den Truck kletterte, stellte er fest, dass Janis ihm mit der Pistole, die er zuvor abgelegt hatte, Deckung gegeben hatte. Lächelnd warf er ihr eine Kusshand zu und schnallte sich an. Der Grobe Klotz betrat soeben die Wohnanlage; die Spinneragenten sprachen in ihrem fahruntüchtigen Transporter in ein Mikrofon. Lachend lenkte Kohn den Laster vom Parkplatz in eine schmale Straße hinein, wobei er einen unglaublich breiten pinkfarbenen Cadillac zwang, auf den Gehsteig auszuweichen. Bald darauf hatten sie die Schnellstraße wieder erreicht.
»Zeit für eine Erklärung«, sagte Janis.
»Fallschirme«, antwortete Kohn.
»Häh?«
»Die Wohnanlage gehört zur ANR. Diese Feminismus-Geschichte ist bloß Tarnung.« Beide lachten. »Sie stellen dort mit Handnähmaschinen Fallschirme und Stoffbahnen für Mikrolites und Hängegleiter her. Keine Software, verstehst du? Nichts, was im Netz Spuren hinterlässt. Großbestellungen über den Schwarzen Plan, genau wie Jordan es geschildert hat. Offenbar bereiten sie eine große Sache vor. Und all diese puppenhaften Sekretärinnen und so weiter geben bestimmt gute Spione ab.«
»Was ist mit denen, die wirklich daran glauben?«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass es viele sind, und die kann man mit harmlosen Beschäftigungen abspeisen. Vor allem darum ging es ja bei dieser Handarbeitsscheiße, wenn ich mich aus meinen sozialgeschichtlichen Büchern her recht erinnere.«
Janis schien sich wieder gefasst zu haben.
»Ja, aber was ist da drinnen passiert?«
Er erzählte es ihr: dass die Zuschnitte nicht gepasst hätten und was Valery ihm anvertraut hatte; wie er mit Catherin zusammengetroffen war und wie und warum sie ihn reingelegt hatte. Janis wusste über seine frühere Beziehung zu Catherin bereits Bescheid – in den vergangenen Tagen und Nächten hatten sie Stunden damit zugebracht, einander alles zu erzählen. Trotzdem regte sie sich auf.
»Ach, Moh!« Janis blickte starr geradeaus.
»Ich weiß, ich hätte…«
»Nein, es ist bloß – warum hast du das überhaupt getan? Weshalb hat sie versucht, sich an dir zu rächen? Das macht auf mich den Eindruck, als hättet ihr es darauf abgesehen, einander wehzutun. Wie bei einem hässlichen Streit unter Liebenden.«
»So habe ich es noch nicht betrachtet«, meinte er und überlegte kurz. »Dabei ging es ums Geschäft, um Politik. Ich hatte das Gefühl, sie habe unsere Ziele verraten, sie habe es, verdammt noch mal, verdient, weil sie für diese Höhlenmenschen gearbeitet hat, nachdem… nachdem…«
Er schwenkte hilflos die Hand.
»Nachdem ihr Seite an Seite für den wissenschaftlich-technischen Sozialismus gekämpft habt?«
Kohn schnitt eine Grimasse, um auszudrücken, dass es der Erklärung an Überzeugungskraft mangele. »So ungefähr.«
Sie presste ihm das Knie. »Schon gut. Ich bin nicht eifersüchtig. Also, eigentlich doch. Aber ich weiß, womit ich es zu tun habe.«
»Ja«, sagte Kohn. »Du stehst nicht in Konkurrenz.«
»Weshalb hat sie dich entkommen lassen?«
»Für Situationen wie diese gibt es eine Formel«, antwortete Kohn, »ein Passwort. Das geht ein bisschen weiter als das alte Civis Britannicus sum. Sagt man es der richtigen Person, ist man ein Bürger der Republik. Und das habe ich getan, als mir klar wurde, dass wir keine andere Möglichkeit mehr hatten. Die Republik, die ANR, die geben einen Scheißdreck auf den Verhaltenscodex der Milizen. Das heißt, die Lage sieht jetzt ein wenig anders aus.«
»Soll heißen?«
»Also, jedes kleine Geplänkel, in das wir hineingeraten, ist ab sofort Krieg. Das ist etwas anderes, wie als Söldner zu kämpfen oder sich zu verteidigen, wie wir es gerade eben getan haben.«
»Willst du damit sagen, du wärst der ANR beigetreten?«
»Nicht direkt, aber ich habe gelobt, als Bürger der Republik ihre Befehle zu befolgen.« Er hatte das Gefühl, Janis eine weitergehende Erklärung schuldig zu sein. »Es ging nicht bloß darum, von Cat wegzukommen. Ich habe drüber nachgedacht. Die Republik ist der einzige Ort, wo ich erfahren kann, was mit mir geschehen ist. Logan hatte Recht, dort wären wir am ehesten in Sicherheit. Und auch die Daten, die im Gewehrrechner gespeichert sind. Und was deren Politik angeht, Scheiße, wenn Josh damit klar kam, dann kann ich es auch.«
Janis schwieg einen Moment lang. Dann sagte sie: »Ich möchte ebenfalls beitreten. Eine Bürgerin der Republik werden. Wie stelle ich das an?«
»Als das Thema zum ersten Mal aufkam, habe ich dir gesagt: du bist immer noch Bürgerin der Republik. Noch von der Schule her, erinnerst du dich? Wenn du aktive Bürgerin sein möchtest, nimmst du mit jemandem Kontakt auf und meldest dich als Freiwillige. Genau wie ich.«
»Mist, ich hätte es gerade eben tun können, jetzt muss ich warten, bis wir…« Sie schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn und sagte: »Civis Britannicus sum, nicht wahr? Dann bin ich dabei?«
Sie wirkte so begeistert und zufrieden mit sich, dass Kohn sich seines Widerstands schämte, doch er musste die Frage stellen.
»Bist du sicher, du…?«
Janis brach in Gelächter aus. »Ich mag es, dass du mich ständig warnst – entweder es ist charmant, oder du hältst mich für einen Schwachkopf. Hör mal, Kohn, ich weiß, wir stecken in Schwierigkeiten. Ich habe nur dann eine Überlebenschance, wenn ich die brennenden Brücken hinter mir lasse.« Sie boxte ihm gegen den Arm, ganz so, als wolle sie im Moment über kameradschaftliche Gunstbeweise nicht hinausgehen. »Mein Land ist dort, wo ich lebe, wo immer das sein mag.«
»Du weißt, wo das ist«, sagte er. »Das Land der fünften Farbe. Gens una summus.«
Sie ließen die Stonewall Dykes und dann auch Norlonto hinter sich; sie fuhren nun über den königlichen Highway, eine öffentliche Straße. Auch diesmal wieder verspürte Kohn ein kurzes Unbehagen, als er auf staatliches Gebiet überwechselte. Ein emotionaler Wegezoll. Sie kamen an einem großen blau-weißen Schild mit einem vertikalen Pfeil und einem einzigen Wort darauf vorbei: ›Norden‹. Die Schnellstraße mündete auf eine achtspurige Autobahn. Der Diesel schaltete sich ein. Janis kuschelte sich in den Sitz wie ein glückliches Kind.
»Ich liebe dieses Schild«, sagte sie.
»Oje«, meinte Kohn.
Janis richtete sich auf. »Was ist?«
Kohn deutete auf den Rückmonitor. Weit hinter ihnen war ein pinkfarbener Klecks mit einem breiten Chromgrinsen zu sehen.