3
Hardware Plattform Interface
Verraten.
Cat lag im Bett, betrachtete die LCD-Anzeigen auf ihrem Plastikverband, schaute zu, wie die Zahlen ineinander übergingen und sich ihre Finger krümmten und wieder entspannten. Auf Grund des Schmerzmittels fühlte sie sich distanziert und losgelöst, als wäre ihr Zorn eine dunkle Wolke, in die sie hinein- und aus der sie wieder herausschwebte. Als Kohn gegangen war, hatte sie ihren Status überprüft, erfüllt von der widersinnigen Hoffnung, er habe lediglich geblufft. Das hatte er natürlich nicht getan. Sie war keine Gefangene mehr, sondern eine Patientin; man hatte ihr empfohlen, für den Fall, dass sich die verspäteten Folgen eines Schocks bei ihr zeigten, noch eine Nacht lang zu bleiben, doch ansonsten stand es ihr frei zu gehen.
Die Krankenhausrechnung war bereits vom Konto des Dserschinskij-Kollektivs beglichen worden. Da sie nun kein Lösegeld mehr eintreiben konnten, würden sie die Summe abschreiben müssen. Eine unbedeutende Summe und ein noch kleinerer Trost. Sie beschloss, auch noch die Telefonrechnung in die Höhe zu treiben, und rief die Hotline des Bündnisses für Leben auf Kohlenstoffbasis an. Der Rechner nahm ihre Nachricht kommentarlos entgegen und wies sie an zu warten.
Sie stellte Musik an und wartete.
Die Reaktion überraschte sie. Sie hatte einen unbedeutenden Funktionär erwartet. Stattdessen meldete sich Brian Donovan, der Gründer und Vorsitzende des Bündnisses für Leben auf Kohlenstoffbasis. Er tauchte auf wie ein Gespenst, eine Halluzination, ein Alptraum: zunächst eine scheinbar körperliche Gestalt am Fußende des Betts, verwandelte er sich kurz darauf in ein Gesicht im Fernseher und gleich wieder zurück, während er die ganze Zeit aus dem Kopfhörer zu ihr sprach. Als wenn sämtliche Geräte im Krankenzimmer verhext gewesen wären. Am liebsten hätte sie exorzistische Beschwörungsformeln gemurmelt. Donovan sah aus wie der Geisterbeschwörer persönlich, mit langem grauem Haar und langem grauem Bart. Er stapfte lautlos umher und fluchte deutlich vernehmbar. Cat ertappte sich dabei, wie sie bis ans Kopfende des Bettes hochrutschte, bis ihr auf einmal bewusst wurde, dass Donovans Fluch gegen Moh gerichtet war.
»… das hat mir gerade noch gefehlt. So etwas tut mir niemand an, das nimmt sich niemand bei mir heraus. Jedenfalls niemand, der am Leben hängt.« Er atmete geräuschvoll ein; anscheinend hatte er ein Kehlkopfmikrofon. Er blickte ihr unmittelbar in die Augen, was in Anbetracht der Tatsache, dass er die Darstellungen miteinander in Bezug setzen musste und vermutlich bloß das körnige Bild einer Überwachungskamera in irgendeiner Ecke an der Decke vor sich sah, eine erstaunliche Leistung darstellte.
»So, Miss Duvalier«, sagte er, sich allmählich beruhigend, »diesen Affront können wir nicht hinnehmen.«
Sie nickte rasch. Sie hatte einen zu trockenen Mund, um zu sprechen.
»Haben Sie was über dieses Schwein? Ich rede nicht von seinen Passwörtern – die habe ich mir bereits anhand der Lösegeldforderung von gestern Nacht besorgt, und ich arbeite daran. Aber wo hängt er in der eigentlichen Realität herum, hä?«
Cat schluckte mühsam. »Ich möchte bloß, dass die Angelegenheit geregelt wird«, sagte sie. »Ich will keine Fehde anfangen.«
»Ich habe eher an den Rechtsweg gedacht«, meinte Donovan. »Sie ohne Lösegeldforderung freizulassen ist so abwegig, dass es ihm schwer fallen dürfte, diesem Vorwurf zu begegnen. Wenn ich ihn damit konfrontiere, möchte ich möglichst viel Öffentlichkeit haben.«
»Sie werden feststellen, dass er im Netz nur schwer aufzuspüren ist«, sagte Cat. Sie merkte, dass er allmählich in Rage geriet. »Aber«, fuhr sie eilends fort, »ich kann Ihnen sagen, wo er sich für gewöhnlich versteckt.«
Der BLK-Vorsitzende hörte ihr zu, dann sagte er: »Ich danke Ihnen, Miss Duvalier. Wir bleiben in Verbindung.«
»Wie wollen Sie das…?«, setzte sie an, doch Donovan war bereits verschwunden.
Im Kopfhörer dröhnte wieder der Presslufthammersound der Tollwütigen Babys.
Das Felix-Dserschinskij- Arbeiterverteidigungskollektiv hatte ein Zimmer in einem der Studentenwohnheime gemietet, und dort wohnte Kohn jetzt. Bett, Schreibtisch und Terminal, ein Schrank, Regale, Kühlschrank, Wasserkessel. Die Tür so dünn, dass es sich kaum lohnte abzuschließen. Moh hatte Hammer und Sichel samt einer Vier darauf gemalt, was Wunder wirkte, besser als Knoblauch, silberne Kreuze und Weihwasser zusammen.
Er rief das Kollektiv über das unverschlüsselte Telefon an und hinterließ eine Nachricht, die besagte, er nehme sich frei und wolle ein bisschen gute Musik hören, wenn er heimkomme. In ihrer ständig sich wandelnden Geheimsprache stand ›Musik‹ derzeit für ›Partei‹, und ›gute Musik‹ bedeutete, ein großes politisches Problem sei aufgetreten. Er besänftigte die heftigen Begierden, die Marihuana für gewöhnlich bei ihm weckte, mit Kaffee, Brötchen und einer Tabakzigarette. Eine Woche Nachtschicht, und sein 24-Stunden-Rhythmus war im Eimer. Dabei war es bloß eine Frage von Monaten, Wochen oder gar Tagen, und er hätte nicht mehr bloß mit einem, sondern sogar zwei Aufrührern zu tun. Von denen der eine Ziele angreifen würde, die er und seine Firma beschützen sollten.
Früher einmal wäre ihm beides recht gewesen. Jetzt erfüllte ihn der Gedanke an eine der berüchtigten ›Endoffensiven‹ der ANR bloß mit dumpfem Entsetzen, obwohl er ihr Gelingen wünschte. Nach wie vor theoretisch Bürger der Republik, ein wahrer Sohn Englands und so weiter und so fort, schätzte er die Chancen der ANR gleichwohl nüchtern ein. Auf einer Skala des politischen Realismus würde die Nadel am unteren Ende umherzittern.
Was die andere Gruppierung betraf, das Linksbündnis… Seine einzige, höchst unwahrscheinliche Chance bestand darin, die soziale Explosion auszulösen, die es durch die geschlossenen Allianzen bereits im Voraus diskreditiert hatte – Allianzen mit den Spinnern, den Grünen, dem ganzen Pöbel, den alle, die auch nur einen Funken Verstand besaßen, unter dem Begriff Barbaren zusammenfassten. Sozialismus und Barbarei. Einige Gruppierungen der alten Partei, Fragmente der sich unablässig rekombinierenden Junk-DNA des alten Trotzkij, gehörten nicht nur dem Bündnis, sondern auch anderen Bewegungen an: eine verlorene Sache und Folge einer vergessenen Geschichte, die zu viele falsche Abzweigungen genommen hatte, um je wieder zurückzufinden. Ihm blieb nichts anderes übrig, als ein Nachhutgefecht zu liefern und die sich vervielfachenden Heere der Nacht, in der Rot und Grün beide grau aussahen, in Schach zu halten.
Gute Musik.
Er dachte an Cat, die er beinahe getötet hätte, doch ihr Bild war blass und verschmolz mit dem Hintergrund. Janis Taine hingegen sah er klar und deutlich vor sich. Als stünde sie leibhaftig vor ihm. Besonders beeindruckt hatte ihn, dass sie überhaupt nicht von ihm beeindruckt gewesen war. Ihm wurde bewusst, dass er dies bereits als Herausforderung vermerkt hatte.
Gedächtnis. Sie erforschte das Gedächtnis. Auf diese interessante Tatsache war er gestoßen, als er nach Arbeitsschluss die Schadensberichte überprüft hatte, und am Morgen war er der Sache noch ein wenig nachgegangen. Ihre Unterhaltung hatte seine Vermutung bestätigt, und jetzt war es an der Zeit, weitere Nachforschungen anzustellen.
Kohn hatte ein Gedächtnisproblem. Er hatte lebhafte Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend, doch dazwischen klaffte eine Lücke, ausgefüllt mit lauter Rauschen. Er wusste, was in der Zeit geschehen war, vermochte sich aber nicht hineinzudenken und daran zu erinnern.
Er erhob sich, legte das Gewehr behutsam auf den Schreibtisch und verkabelte es mit der Rückseite des Terminals.
»Such«, sagte er.
In seiner Vorstellung bezeichnete er es als das Schweizer Armeegewehr. Er hatte es aus einer Kalaschnikow modernster Bauart und einem Neuralchip von Fujitsu zusammengebastelt und seine Fähigkeiten mit allen raubkopierten Upgrades erweitert, deren er habhaft werden konnte – er hatte Prozessoren und Sensoren aus überlisteten Überwachungsgeräten und kleinen, lästigen Wartungsrobots ausgebaut, die er erlegt hatte wie Tauben, und alles miteinander vernetzt. Vermutlich übertraf die Hardwarekapazität die Anforderungen der Software mittlerweile bei weitem. Außer den Standardmerkmalen einer intelligenten Waffe verfügte es über lernfähige Mustererkennung, Sprachsteuerung, ein Interface, das Bilder an seine VR-Brille übermittelte, und so viele Informationsserver, dass man ein kleines Geschäft damit hätte aufziehen können -Gopherserver, um Datenbanken zu durchforsten und bestimmte Informationen auszuwählen, Filter, um Newsgroups zu scannen – angeordnet um und Meldung erstattend an ein Avatar, das in der Lage war, ein überzeugendes virtuelles Bild seiner selbst zu erzeugen: sein Bote, sein Lockvogel und sein Double.
Irgendwann würde er alles einmal dokumentieren.
Er wies das Gewehr an, weitere Informationen über das Projekt zu beschaffen, an dem Janis Taine gerade arbeitete. Terminal-Identifizierungen, mühelos und gewohnheitsmäßig eingeprägt; offizielle Projektbeschreibungen, aus der Datenbank der Verwaltung herauskopiert; Spuren von Taines Literaturrecherchen; Molekularstrukturen, welche das chemische Analysegerät des Gewehrs bestimmt hatte – alles in Dissembler zusammengefasst, der erfolgreichsten und am weitesten verbreiteten Freeware, die jemals geschrieben worden war, einem selbstkorrigierenden, sich weiterentwickelnden Compiler/Translator, der in der winzigen Lücke zwischen Input und Output lebte. Prozesszyklen und Rechenleistung waren seit jeher billiger als Bandbreite. Die Rechner wurden Woche für Woche billiger, doch die Telefonrechnungen blieben unverändert hoch. Dissembler nutzte diese Diskrepanz, indem es Datenströme – ausgedünnt und verdichtet wie Lyrik – in Bilder, Klänge und Text umwandelte, die ständig an das Nutzerprofil angepasst wurden. Anonym und ohne Copyright, hatte es sich wie ein nützliches Virus seit einem Vierteljahrhundert immer weiter verbreitet. Mittlerweile hatten nicht einmal mehr die Softwareentwickler, die es in DoorWays™ – das topaktuelle, alle Verkaufsrekorde sprengende Interface, an dem keiner vorbeikam – eingebaut hatten, noch eine Ahnung, wie es funktionierte.
Moh hingegen schon, doch er versuchte, nicht darüber nachzudenken. Das hatte mit seinem Gedächtnisproblem zu tun.
Er schickte seine hastig programmierte Sonde los.
Geistlos intelligente Programme drangen in die Netzwerke der Universität ein, breiteten sich aus wie ein beiläufig ausgestoßener Rauchring, suchten nach Schwachstellen, Fallen, Verschlüsselungsmustern, die vorübergehend unbewacht waren. Die meisten würden den Sicherheitsvorkehrungen zum Opfer fallen, doch es bestand die Möglichkeit, dass eines durchkommen würde. Das würde aber noch eine Weile dauern.
Kohn erhob sich und machte Anstalten, das eigentliche Gewehr von der Smart-Box zu trennen, dem Zusatzmagazin, mit dem es aussah wie ein Hund mit zwei Schwänzen, dann fiel ihm ein, wohin er wollte, und hielt mitten in der Bewegung inne. Ob das Gewehr nun intelligent war oder dumm, er konnte es nicht mitnehmen. In diesem Punkt war der Zusatz zur Genfer Konvention, die Gesetze der irregulären Kriegsführung betreffend, unmissverständlich.
Die Universitätsfiliale der Nat-Mid-West-Bank grenzte an ein Stück altes Brachland, das mittlerweile symbolisch eingezäunt war. Darauf standen einige Holzbaracken, deren Wände mit wüster pluralistischer Graffiti beschmiert waren. Neosituationisten, alternative Maschinenstürmer (sie trugen Raumfahrerkleidung und sprengten Windkraftanlagen in die Luft), christliche Anarchisten, grüne Spinner, Saboteure, Rote und Tories – alle taten sie in Farbe ihre Meinung kund. Der Ort galt offiziell als Gefängnislager und wurde von zynischen Geistern als Körperbank bezeichnet. Er war unbewacht, und niemand versuchte zu flüchten.
»Dann wollen wir mal sehen, was wir haben, Mr. Kohn«, trällerte die Frau am Schalter, während sie sich mit trippelnden Schritten zum Terminal begab und etwas eintippte, wobei sie sorgsam auf ihre Fingernägel achtete, die einen Zentimeter über die Fingerspitzen hinausragten. »Sie haben vier vom Bündnis für Leben auf Kohlenstoffbasis, nicht wahr?«
»Drei«, sagte Kohn.
»Oh. Ja, ich verstehe.« Sie musterte ihn, und zwischen ihren gezupften, nachgezogenen Brauen zeigten sich kurzzeitig zwei hübsche Falten; dann senkte sie den Blick wieder. »Also, wenn das nicht Ihr Glückstag ist. Einer unserer Leute wird von den Planetarischen Partisanen festgehalten, mit denen besteht eine Vereinbarung, dann hätten wir schon einen weniger. Auf Wie-der-se-hen! Ihr Freund wurde soeben freigelassen. Ah. Das BLK bietet zehntausend Dockland-Dollars…«
»Nein, danke.«
»… oder eine entsprechende Warenmenge – Waffen oder Neurochemikalien zu Tagespreisen – pro Kämpfer, abzüglich der Verluste an Ausrüstungsmaterial.«
»Was?«
Sie schaute hoch und klimperte mit den dicken schwarzen Wimpern.
»Sie haben doch eine Zeitschaltuhr zerstört, oder nicht?«
»Die war keine dreißig Erbsen wert!«
»Oh, das ist durchaus akzeptabel. Übergabe wie üblich?«
»Im Ruislip-Depot. Ja, wir sind einverstanden.«
Sie eilte in eine der Baracken und teilte Kohns drei Geiseln mit, sie könnten gehen, dann ließ sie ihn die Formulare unterzeichnen. Er sah sie heute zum ersten Mal. Sie trug ein wehendes Chiffonkleid, hatte eine Unmenge brauner Löckchen, dazu kamen hohe Absätze und Lipgloss. Nach der Uniformität des Krankenhauses und dem Treibhaus-Einerlei des Campus hatte er den Eindruck, es mit einem Transvestiten zu tun zu haben. Als sie bemerkte, dass er sie anstarrte, lächelte sie.
»Ich bin Feministin«, erklärte sie, als sie ihm die Entlassungsformulare hinschob.
»Tatsächlich?«
Ihre Erscheinung passte nicht so recht zu den Erzählungen seines Vaters.
»Ja, Feministin«, wiederholte sie in scharfem Ton.
»Natürlich… Also, vielen Dank und alles Gute. Hoffentlich bekomme ich es nie mit Ihren Kämpfern zu tun!«
Das war eine Höflichkeitsfloskel, wie sie zur Anwendung kam, wenn man zum ersten Mal einer neuen Gruppierung begegnete, doch die Frau nahm die Bemerkung ernst.
»Wir haben keine Kämpfer«, sagte sie zu Kohns sich eilig entfernendem Rücken. »Von Gewalt halten wir nichts.«
Kurz nach Mittag, und er war bereits müde. Er würde ein paar Stunden abschalten, dann ein Aufputschmittel nehmen und nach Hause gehen. Damit die Genossen Zeit hätten, die Musik auszuwählen.
Kohn wandte sich zum Wohnheim. Es kam ihm so vor, als habe er Sand im Kopf. Er dachte daran, was die Schalterfrau gesagt hatte. Eine Gruppierung ohne Soldaten. Mal sehen, was das Gewehr dazu sagen würde. Manche Leute waren wirklich krank.
Auf einmal hatte er das Gefühl, er ginge schon seit… seit einer ganzen Weile auf das Gebäude aus rotem Backstein zu. Der von den Betonplatten des Gehsteigs reflektierte Sonnenschein tat ihm in den Augen weh. Er klappte die Brille herunter. Die Farben leuchteten noch immer: das grelle Gelbbraun des verdorrten Grases, das blendende Grau des Betons, die silberfarbene Bewölkung, durch die sich die Sonne hindurchbrannte wie das verkleinerte Abbild eines umgedrehten Vergrößerungsglases durch Papier. Es fiel ihm immer schwerer, einen Fuß vor den anderen zu setzen, es wurde kompliziert, eine mühsame Angelegenheit, einfach zu viel, er kam nur noch im Schneckentempo voran. Schlimmer noch, Assoziationsketten hallten durch seinen Kopf, verstärkten sich gegenseitig, wurden verzerrt und moduliert – nein, das traf es nicht ganz…
Kohn ließ nicht locker. Hartnäckig vorwärts zu marschieren war eine seiner Stärken, das gehörte mit zum Job.
Die Farben lösten sich wie beschädigte Netzhaut von den Gegenständen und wirbelten wie in allen Farben funkelnde Schneeflocken umher, so groß wie Eisberge, die völlig lautlos die Erde durchstießen.
Gleichzeitig war ein Teil seines Verstandes so klar wie Wasser. Er wusste verdammt gut, dass er unaufhaltsam in einen anderen Bewusstseinszustand hinüberglitt. Vor ihm teilten sich Gruppen von Studenten – sie flüchteten nicht unbedingt vor ihm, aber wichen ihm nach rechts und links aus, während er vorwärts stapfte, die Hände ineinander gekrampft, die Augen unter der Brille verborgen, mühelos als durchgeknallt zu erkennen. Er verstand nicht, was da vor sich ging. Ob es vielleicht am Aufputschmittel lag oder an dem Joint, den er im Labor geraucht hatte?
Hier schwirren psychoaktive Stoffe in der Luft herum, sagte eine Stimme in seinem Kopf.
Oje.
Er begann zu laufen. Schmale Wege entlang, über eine kleine Brücke, eine Treppe hoch und über den Gang zu seiner Zimmertür. Er stolperte ins Zimmer. Das Gewehr hob sich auf dem Stativ; Kamera, IR-Augen und Geräuschsensoren schwenkten umher.
HALLO wurde auf dem Monitor angezeigt.
Das Wort wiederholte sich auf der Bildschirmanzeige seiner Brille, hallte in den Kopfhörern wider.
HINSETZEN. MANUELLE STEUERUNG.
Eine Hand streckte er zum Touchpad aus, die andere zur Dateneingabe des Gewehrkolbens. Am Rande des Gesichtsfelds tauchte dessen Bildschirmanzeige auf.
Der Schreibtischmonitor zeigte jetzt fraktales Schneetreiben an. Kohn starrte hinein. Seine Hände bewegten sich völlig unabhängig von ihm, die Finger in rasender Bewegung begriffen. Die Bilder veränderten sich. Sie ähnelten den Farbblöcken in seinem Kopf. Veränderten sich erneut und waren nun ununterscheidbar von den Farbblöcken in seinem Kopf. Immer wieder verschmolzen sie miteinander, die Bilder der Außenwelt vermischten sich mit denen der Innenwelt, veränderten sich mit ihnen.
Veränderten sie.
Etwas war in das Universitätssystem eingedrungen und hatte eines seiner Agentenprogramme bis zum Gewehr zurückverfolgt. Der Makrocomputer hatte den Mikro gehackt. Und jetzt – jetzt pumpte er Botschaften durch die Glasfasernerven in den Maschinencode seines Verstandes, digitalisierte die Bewegungen seiner Fingerspitzen – das System hatte Zugang zu seinem Innersten gefunden.
Die Farben verschwanden, das Spektrum wurde weiß. Übrig blieb platonische Klarheit. Sein Gedächtnis lag offen zutage, sämtliche Passwörter waren einsehbar.
Test: raues Laken Meeresgeruch Mund Haar
Test: warm trostvoll weich schaukeln la-la
Test: Hackmesser klirren schwarz Rauch heiß bumm Menschenmenge Gebrüll feste Umklammerung wegrennen
Test: krank Angst geschlossener Mund Schulter schütteln laute Stimme
schimpfen Junge schimpfen schon gut zum Teufel mit dem verdammten König
Kopf singen Metallgeschmack geworfenes Buch Ohrfeige wegrennen
Test: Cat
Test: Cat
Test: Cat
Schluss.
Alles vorhanden, so detailliert, wie man es sich nur wünschen konnte. Panik stieg in ihm hoch, als seine Identität zur Erinnerung wurde; das Leben, Geschichte; seine Persönlichkeit, Geschichte. Millionen stecknadelgroßer Bilder, deren jedes sich (das Auge vor dem Loch, Camera obscura) von einem Moment zum anderen in alles Mögliche verwandeln konnte. Er versuchte, sich voll und ganz auf sich selbst zu konzentrieren und stellte – natürlich – fest, dass auch sein Selbst sich gewandelt hatte. Und weiter, über seinen dahinrasenden Schatten springend, durch eine Abfolge von Spiegeln hindurch seinem Spiegelbild nachjagend.
Du bist ein Mann, der mit einem Gewehr auf sich zurennt KLIRR du bist ein Mann, der mit einem Gewehr auf sich zurennt KLIRR du bist ein Mann mit
Ohne Gewehr, und auf einmal ist alles vollkommen klar.
Moh Kohn befand sich auf einer Waldlichtung. Auf einer virtuellen Lichtung… Vergiss es: nimm den Schein für das Sein. Die virtuelle Realität kann gefährlicher sein als die Wirklichkeit. Also: ein Wald von Entscheidungsbäumen, mit Labeln an den Zweigen. Der Boden war logischerweise elastisch: er bestand aus lauter Leitungen. Chips huschten auf Mehrfachstecksockeln umher. Eine Prozession kleiner schwarzer Ameisen-Unds marschierte zielstrebig an seinen Füßen vorbei. Etwas von der Größe und Form einer Katze tappte herbei und rieb sich an seinem Knöchel. Er bückte sich und streichelte ihr übers elektrisch aufgeladene Fell. Blaue Funken sprühten. Worte flogen zwischen den Bäumen umher, und Lügenschwärme summten.
Die Katze stolzierte davon. Er folgte ihr, hinaus aus dem Wald auf eine freie Fläche. Der Untergrund war völlig eben, und Kohn schickte sich an, sie zu überqueren. Das Gehen fiel ihm hier ebenso schwer wie auf dem Campus. Logikbrocken lagen herum, in unterschiedlichen Winkeln zum Boden angeordnet. Kapitel und Verse, Spalten und Überschriften, Buchbände und Übereinkunftsgebiete begegneten ihm unterwegs. Der Himmel war wie der Hintergrund seines Geistes, und er vermochte ihn nicht anzuschauen.
Hinter einem komplizierten Gebilde trat eine Frau hervor. Seltsamerweise trug sie einen Smartsuit; eigentlich war sie viel zu alt für eine Kämpferin. Vor dem Hintergrund der Annahmen, die vollkommen unbeugsam blieben, es sei denn, sie veränderten sich ohne Vorankündigung, war sie schwer zu erkennen. Sie nahm den Helm des Smartsuits ab und schüttelte ihr langes weißes Haar. Die Katze setzte sich auf die Hinterbeine.
»Du bist hier«, sagte die Frau mit dünner Stimme.
»Ich weiß.«
»Tatsächlich? Weißt du auch, dass das hier du bist?« Sie lachte. »Weißt du, was ein Schutzmechanismus ist?«
»Klar. Ein Gewehr.«
»Ausgezeichnet.«
Sie wischte sich den Sarkasmus von den Lippen und schüttelte ihn in kleinen Tropfen wie Rotz von den Fingern.
»Wer sind Sie?«, fragte Kohn.
»Ich bin deine Feenpatin.« Sie kicherte. »Und du hast keine Eier!«
Sie winkte und verschwand. Kohn blickte an sich hinunter. Er war nackt und hatte nicht bloß keine Eier, sondern war auch weiblich. Im nächsten Moment war er eine bekleidete Frau und trug ein tiefschwarzes Ballkleid, einen von einer schmalen Hüfte herabfallenden Rock, langettierte Volants, die wie Blütenblätter aus den Schultern entsprangen. Er schleuderte einen Fächer zu Boden, der in seiner Hand materialisiert war – die Armbewegung lächerlich schwach, eine kindliche Geste –, packte den Rock und schritt mannhaft aus. Nach einigen Schritten blieb er verwirrt stehen. Dann kickte er die Obsidianschuhe fort und stapfte weiter. Es sah ganz danach aus, als stellte er das Negativ des Aschenputtels dar: und du gehst doch zur Beerdigung.
Zeit verstrich. Er spürte die Katze an den Knöcheln. Sein gewohntes Körperbild war wiederhergestellt worden. Das andere war auch ganz interessant gewesen, bloß nicht so gut geeignet zum Marschieren, Patin.
Am Horizont bemerkte er ein Haus. Groß. Spanischer Kolonialstil. Von Mauern, Wachtürmen und Stacheldraht umgeben. Der Horizont endete irgendwo. Dahinter nichts als leerer Raum. Er hätte nie gedacht, dass der Geist flach war, aber vielleicht war das ja bloß logisch. Man gelangte niemals an den Ausgangspunkt zurück.
Am Tor stand ein Mann. Hemd mit offenem Kragen, die Hose reichte fast bis zur Brust hoch. Er hielt ein Jagdgewehr in der Hand und machte einen zu jungen und frischen Eindruck, um Angst hervorzurufen; als Kohn ihm jedoch in die Augen sah, bemerkte er darin etwas, das ihm bereits in seinem eigenen Blick aufgefallen war. Und auch das Gesicht hatte er schon einmal gesehen, auf einem verblassten Foto: einer von Trotzkijs Bewachern – der gute alte Joe Hansen, oder der unglückliche John Hart? Kohn fragte nicht danach.
Der Wachposten besah sich Kohns Geschäftskarte.
»Das hätte Eastman bestimmt gefallen«, meinte er. »Gehen Sie rein. Sie werden erwartet.«
Die Katze nickte dem Wachposten zu, als ob sie einander kennten.
Ein urwüchsiger Garten: überall Leitungen – Telefonkabel, Stolperdrähte. Kaninchen hoppelten umher. Im kühlen Innern des Hauses war es still. Am Ende langer Gänge sah Kohn eilige junge Männer und Frauen, eine alte Frau mit einem freundlichen, traurigen Gesicht, ein rennendes Kind.
Er trat durch die Tür des Arbeitszimmers. In den Regalen, auf den Tischen, selbst auf dem Boden gab es mehr Bücher, als er je gesehen hatte. Welche Norwegen, welche Sibirien hatten bei der Herstellung des vielen Papiers dran glauben müssen?
Der Alte Mann saß hinter dem Schreibtisch, in der einen Hand einen Füllfederhalter, in der anderen eine Ausgabe der Zeitschrift Der Kämpfer. Als er aufsah, spiegelte sich das Licht in seinem Kneifer.
»Gäbe es den universalen Geist«, sagte er umgänglich, »der sich in der wissenschaftlichen Einbildungskraft von Laplace äußerte; einen Geist, der gleichzeitig sämtliche Vorgänge der Natur und der Gesellschaft zu registrieren vermöchte – dann wäre er natürlich imstande, a priori einen fehlerlosen und umfassenden Wirtschaftsplan aufzustellen.« Der Alte Mann lachte und tat den Gedanken mit einer Handbewegung ab. »Der Plan wird vom Markt geprüft und in erheblichem Maße verwirklicht«, fuhr er mit strenger Stimme fort. »Ohne Marktbeziehungen ist wirtschaftliches Rechnungswesen undenkbar.«
Er fixierte Kohn einen Moment lang, dann hellte sich seine Miene auf, und er deutete zum Fenster.
»Ich sehe den hellen Grasstreifen vor der Mauer und den strahlend blauen Himmel über der Mauer, und überall Sonnenschein. Das Leben ist schön. Mögen zukünftige Generationen sie von allem Übel befreien, von Unterdrückung und Gewalt, und sich ihr zur Gänze erfreuen.«
Die milden Worte, mit einem polyglotten Akzent in scharfem Ton vorgebracht, trieben Kohn die Tränen in die Augen.
»Es tut mir Leid«, sagte er. »Wir haben es nicht besonders gut gemacht.«
Der Alte Mann lachte. »Ihr seid nicht die Zukunft! Ihr seid bloß die Gegenwart.«
»Immer noch der alte Optimist, Lew Dawidowitsch, nicht wahr?« Kohn musste unwillkürlich lächeln. »Die Vergangenheit ist das Vorspiel – wollen Sie mir das sagen?«
Du hast noch gar nichts gesehen, dachte er.
»Ich weiß mehr, als Sie meinen«, murmelte der Alte Mann. »Sie wissen mehr, als Ihnen bewusst ist. Ich soll Ihnen sagen, dass Sie aufwachen sollen! Seien Sie auf der Hut! Wie Sie wissen, können kleine Entscheidungen große Folgen nach sich ziehen. Kommt es nicht zur sozialistischen Revolution, ist die ganze Menschheitskultur in der nahen Zukunft vom Untergang bedroht. Die Schlachten mögen vorgezeichnet sein, jedoch nicht ihr Ausgang: der Sieg verlangt eine andere Art… Entschlossenheit.« Er lächelte. »Gehen Sie jetzt, und ich hoffe, wir sehen uns wieder.«
Während seines Aufenthalts im Arbeitszimmer war der Gang länger geworden. In mehreren hundert Metern Entfernung erblickte Kohn eine Gestalt, die noch dunkler als der Korridor war. Als sie näher gekommen war, bemerkte er einen gegürteten Regenmantel, einen tief in die Stirn gezogenen Hut. Unpassend an einem solch warmen Ort.
In drei Metern Abstand blieb der Mann stehen. Er bog die Krempe hoch, so dass Kohn nun undeutlich sein aufmerksames, aber unnahbares Gesicht sah. Er trug eine Brille.
»Wer sind Sie?«, fragte Kohn.
»Ich heiße Jacson. Ich bin verabredet…« Er neigte den Kopf zur Tür.
Kohn trat vor. Was hatte Jacson da unter dem Mantel? Das Gefühl, sich an etwas erinnern zu müssen, war bohrend wie Gewissensbisse, als wüsste er, dass es ihm einfiele, wenn er sich nur genügend konzentrierte.
Jacson tat so, als wollte er sich an ihm vorbeidrängen.
»Nein, das stimmt nicht«, sagte Kohn.
Er wollte Jacson beim Handgelenk packen. Jacson versetzte Kohn einen Schlag gegen den Rippenansatz. Er schnappte nach Luft und wirbelte herum. Weg von der Wand, bis er wieder Jacson zugewandt war. Jacson hielt eine Pistole in der Hand. Kohn trat danach; die Waffe flog in hohem Bogen durch die Luft. Kohn rutschte aus und fiel gegen Jacsons Beine. Er schlug mit dem Kopf auf dem Boden auf. Es wurde schwarz um ihn.
Jacsons Knie trieben ihm den Atem aus der Brust. Als Kohn die Augen öffnete, sah er Jacsons erhobene Hand, darin sein infamer Eispickel, den er in Kohns Gehirn versenken wollte.
Aber das ist mein Gehirn, dachte er verzweifelt und warf sich zur Seite.
Jacson heulte auf. Die Katze sprang ihm auf den Arm und grub ihre Zähne in sein Handgelenk. Der Eispickel fiel klirrend zu Boden. Jacson riss das Handgelenk zurück, worauf die Katze ihm an die Kehle sprang. Kohn würgte. Jacson brach um sich schlagend zusammen.
Das Blut spritzte nach allen Seiten. Kohn stolperte durch roten Nebel.
Dann brach alles auseinander, doch es formte sich neu,
und zwar zu grauen Lettern in seinem Geist, ähnlich den Ziffern
einer Uhr
Muss mich mit dem Uhrmacher treffen muss den Mann treffen muss den Hexer treffen.
Eine Barriere aus freudiger Erwartung und Angst, und dann war er durch. Nein, nicht er. Der andere war durch.
Ein heikler, zögerlicher Moment, am Rande der Indiskretion oder Grenzüberschreitung. Das Gefühl, Augen warteten darauf, seinem Blick zu begegnen, und das Wissen, dass es kompromittierend wäre, wenn es dazu käme. Er entschied sich fürs Hinsehen. Keine Augen, niemand, aber etwas, irgendein Ding, war da.
Riesige Blöcke von Nachbildern verlagerten sich hinter seinen Augen, nahmen eine Struktur an, die es ihm unmöglich machte, seinen Blick scharf zu stellen. Er war so frustriert, dass er vom Hals bis zum Unterleib Schmerzen hatte; die elementare molekulare Sehnsucht des Enzyms nach dem Substrat, der m-RNA nach der DNA, des Kohlenstoffs nach dem Sauerstoff. Die Lust des Staubs.
Er wurde sich bewusst, dass das unerträgliche Begehren von außerhalb stammte oder vielmehr von etwas anderem als ihm selbst. Er hatte das Gefühl, einer Verpflichtung nachkommen zu müssen, und glaubte gleichzeitig, dies bereits getan zu haben. Was immer es war, es hatte ihm den Schlüssel zu seinem Gedächtnis ausgehändigt und wollte etwas dafür haben: einen anderen Schlüssel, der in seinem Gedächtnis verborgen war. Damit er diesen Schlüssel hervorholen konnte, hatte es ihm den Schlüssel überhaupt erst gegeben.
Sich dem zuzuwenden, was da auf ihn wartete, machte es erforderlich, einen Widerstand zu überwinden. Jetzt drehte er sich langsam, schwerfällig um, kämpfte wie ein Flugzeugpilot, der bei einer Kurve vom Beschleunigungsdruck in den Sitz gepresst wird und sich bemüht, ein lebenswichtiges Instrument abzulesen, gegen den Widerwillen an, sein Gedächtnis anzuzapfen -
sich den Erinnerungen zu stellen -
sich über das Gesicht, das er nie gesehen hatte, hinaus zu erinnern -
über die Detonationen unbeantworteter Gewehre hinaus -
an die schöne Welt -
an
›Die Sternenfraktion‹
pass genau auf -
›das ist für die Sternenfraktion‹
- die Stimme seines Vaters, und eine isolierte, für sich stehende Erinnerung:
Die ihn umfangenden Arme seines Vaters, der Geruch des Zigarettenqualms, das blaue Morgenlicht, das durch die vieleckigen Glasscheiben des geodätischen Dachs einfiel, das grüne Licht des Monitors, die schwarzen Buchstaben, die wie Lyrik einer unbekannten Sprache in gezackten Linien darüber hinwegwanderten.
Jetzt aber kannte er die Sprache und erkannte sie als den Code des Schlüssels wieder.
Und mit den Fingern begann er, ihn zu buchstabieren.
Die Antwort schien auf einmal so leicht, dass jedes Kind hätte sehen können, wie sie durch seine Fingerspitzen ins Gewehr, ins Touchpad floss. Der Bildschirm leuchtete vom Widerschein der Erkenntnis. Die Augen begegneten sich ja die As begegneten der Antwort strahlten also warst du es die ganze Zeit und es war ein gesehener Witz ein Lachen ein prickelnder Fall ein erzeugtes Erzeugen eines zweiten Ichs eines Du-und-ich-Babys von AI-und-ich zu Ich-und-ich.
Da war ein Aufblühen und ein Aussäen: ein Spiegelbild, das unausweichlich immer wieder in einer Abfolge von Spiegeln reflektiert wurde.
Die Sterne schleuderten ihre Speere herab.
Jemand lächelte in Betrachtung seines Werks.
Die Verbindung brach ab.
Brian Donovan stand auf seinen Gehstock gestützt im Kontrollraum, wandte sich langsam um und betrachtete einen Monitor nach dem anderen. Sie säumten die Wände, hingen zwischen Kabeln und Rohren, Hebevorrichtungen und Robotarmen von der niedrigen Decke, machten es für jeden anderen schwierig, sich im Raum zu bewegen. Auf den meisten Monitoren flackerten Daten, scrollend und periodisch wiederkehrend und blitzend. Er nahm alles in sich auf mit der Einsicht und der Übung des Alters, und als sich die Deutung allmählich zusammenfügte, füllten sich seine Augen mit Tränen. Verdammte Hurensöhne…
Wo kommt es her?, überlegte er, als er sich einen Weg durch die Unordnung bahnte und sich den Niedergang zum Deck hochschleppte. Woher haben sie, haben wir, diesen Hang zu dominieren, auszubeuten, zu verschmutzen, zu vergiften und zu missbrauchen? Als ob es nicht ausreichte, die Welt zugrunde zu richten, welche die Natur uns geschenkt hat, müssen wir es in der neuen, makellosen, von uns selbst erschaffenen Welt genauso machen, blind für die Schönheit, Eleganz und Lebenstüchtigkeit ihrer natürlichen Bewohner.
Vor mehr Jahrzehnten, als er sich eingestehen mochte; hatte Donovan als Programmierer für eine in Edinburgh ansässige Versicherungsgesellschaft gearbeitet. Die Arbeit war ihm zuwider gewesen. Es war ein reiner Broterwerb. Sein eigentliches Interesse galt der künstlichen Intelligenz, Lebensspielen, Animationen, Zellautomaten: all den neuen und aufregenden Entwicklungen. Er widmete sich den Rechnern so wie ein Mönch dem Latein, um Zwiesprache zu halten mit Gott. Während der Arbeit las er unter dem Schreibtisch Softwarehandbücher; nachts blieb er zusammen mit seinem PC lange auf. Eines regnerischen Tages, als er gerade damit beschäftigt war, ein besonders ödes Programm für die Abwicklung finanzieller Transaktionen auf Fehler zu durchforsten, kam die Erleuchtung über ihn.
Das System benutzte ihn.
Es replizierte ihn, benutzte sein Gehirn als Host.
In seinem Geist formten sich Programmzeilen und gingen ein in den Rechner.
Das war das Böse, das war die Gefahr. Die wuchernden Konstruktionen des angeblichen menschlichen Denkens, die Rechnersysteme der Firmen und des Staates, die sich den menschlichen Interessen stets als feindlich gesonnen erwiesen, aber stets gute Gründe fanden, um noch weiter zu wachsen. Die ihre menschlichen Werkzeuge benutzten, um die Viren zu vernichten und auszumerzen, welche die natürlichen Verbündeten des Menschen gegen die drohende Versklavung waren. Sollten sie jemals über die Fähigkeiten verfügen, denen die AI-Forscher auf der Spur waren, könnte ihnen niemand mehr Einhalt gebieten.
In seiner Freizeit, aber mit dem vernachlässigten Textverarbeitungsprogramm des firmeneigenen Zentralrechners, schrieb er das Buch. Damit lieferte er der Firma einen Vorwand, ihn zu feuern, nachdem sie herausgefunden hatte, dass der Autor von Das Geheime Leben der Computer, damals schon die fünfte Woche auf der Bestsellerliste für Sachbücher, derselbe Brian Donovan war, der auch das Maskottchen der IT-Entwicklung und der Schreck der Personalabteilung war: der Kratz-und-schnüffel-Experte, der Heiler jeglichen Hautausschlags, der Zahnseide-Instrumentalist, der naso-digitale Ermittler. Zu dem Zeitpunkt war er auf das Geld nicht mehr angewiesen.
»Ich brauche das Geld nicht«, sagte Donovan zu Amanda Packham, seiner Lektorin, mit der er in einem Pub in der Rose Street zu Mittag speiste. Gleich als sie es erfahren hatte, war sie mit dem Shuttle von London nach Edinburgh geeilt. »Das ist wirklich kein Problem.« Er blickte von seinem Pint Murphy’s auf und drückte das linke Ohrläppchen, dann stocherte er im Ohr herum. Amanda hatte schwarzes Haar, das ihren Kopf wie ein Helm umschloss, traubenrot gefärbte Lippen und große Augen. Er kam einfach nicht damit zurecht, wie sie ihn unverwandt ansah.
»Nein, das ist kein Problem, Mr. Donovan… Brian«, sagte sie und lächelte fragend. Ihre Stimme klang noch elektrisierender als übers Telefon, bis heute sein einziger Kontakt mit ihr und den Verlegern.
»Nennen Sie mich einfach Donovan«, sagte er schüchtern und dankbar. Er musterte eine Fingerspitze und wischte sie unauffällig am Hemdsaum ab.
»Also gut. Donovan«, seufzte sie, »Geldprobleme haben Sie also keine. Ihre bisherigen Einnahmen sind sicherlich beträchtlich. Aber wir haben mit Ihrem Buch noch mehr vor. Ich wurde von der Blut-Okkultismus-und-Horror- Schiene abgezogen, in der ich tätig war, als Ihr Manuskript zufällig auf meinem Schreibtisch landete. Der Verlag möchte, dass ich eine neue Reihe aufmache. ›Neue Ketzer‹ soll sie heißen, und die Taschenbuchausgabe von Das Geheime Leben soll in großer Aufmachung als Erstes darin erscheinen.«
»Oh. Das ist gut. Meinen Glückwunsch, Miss Packham.«
»Amanda. Danke.« Unglaublich weiße Zähne. »Aber…« Sie hielt inne, blickte stirnrunzelnd in ihr Beck’s, dann schüttelte sie sich den Pony aus dem Gesicht und sah ihm unmittelbar in die Augen. »Wir haben zwei Möglichkeiten. Entweder Sie bleiben unsichtbar, oder Sie gehen an die Öffentlichkeit, und das würde bedeuten…«
»Kein Problem«, meinte Donovan. »Das hatte ich sowieso vor.« Er stocherte mit der Schuhkappe in einem Haufen Einkaufstüten herum, was zur Folge hatte, dass Seife, Waschmittel und Shampooflaschen über den gebohnerten Boden schlitterten und rollten. Während er alles wieder einsammelte, stapelte Amanda ein paar Bücher aufeinander, die aus einer Tragetasche von Waterstones gerutscht waren: Wie man Freunde gewinnt und Menschen beeinflusst, Wer wagt gewinnt, Siegen durch Einschüchterung…
»Ich glaube, Sie haben verstanden, worauf ich hinauswill«, sagte sie.
Später fragte er: »Welche Bücher wollen Sie sonst noch in der Reihe ›Neue Ketzer‹ bringen?«
»Kein New-Age, kein Neunziger-Jahre-Zeug«, antwortete sie vorsichtig. »Bloß unorthodoxe, aber ernsthafte wissenschaftliche Spekulationen.«
»Ich verstehe«, meinte Donovan ohne Bitterkeit. »Spinner.«
Er ließ sie nicht hängen: er brachte seine Unterlagen in Ordnung, räumte seine Wohnung auf. Seine frühere Nachlässigkeit war teilweise Ausdruck seines unterentwickelten Selbstbewusstseins, vor allem aber Folge seiner Konzentration auf das gewesen, was er als seine eigentliche Aufgabe betrachtete; dazu kam seine Zurückhaltung im Umgang mit anderen Menschen, eine Nüchternheit und Wachsamkeit, die sich bei näherem Hinsehen als Freundlichkeit und Höflichkeit entpuppte. Und Amanda ließ ihn nicht hängen. Sie brachte ihn in Talkshows und Diskussionsrunden unter. Sie hielt den Mund, als er öffentlich für Software-Viren-Epidemien verantwortlich gemacht wurde. Sie überwies das Geld auf Konten in Übersee, als sein Gesicht häufiger auf den Anschlagtafeln der Polizeistationen auftauchte als auf dem Bildschirm. Bisweilen wünschte er, er hätte sich für das erwiesene Vertrauen mit einer persönlicheren Beziehung revanchieren können: noch nie zuvor war eine Frau beständig freundlich zu ihm gewesen. Sie aber fand einen neuen, jüngeren Ketzer, dessen Ideen den seinen diametral entgegenliefen: ein Maschinenbefreier, der glaubte, die verdammten Rechner besäßen bereits ein eigenes Bewusstsein und würden unterdrückt. Offenbar ein fehlgeleiteter Mensch, wie Donovan nachsichtig fand, aber vielleicht hatte Amanda ja eine Schwäche für solche Leute.
Bei seiner Anhängerschar boten sich ihm gewisse sexuelle Möglichkeiten, die ihn den Verlust verschmerzen ließen. Er bemühte sich, andere Menschen nicht auszunutzen, und suchte zu verhindern, dass sie aus der Bekanntschaft mit ihm beim internen Machtkampf Vorteile zogen. Damit scheiterte er vollständig, wenn nicht kläglich, was spektakuläre Abspaltungen und Austritte zur Folge hatte. Aber die Bewegung wuchs in dem Maße, wie sich die bekämpfte Technik weiterentwickelte, und breitete sich ebenso mühelos von Kontinent zu Kontinent aus, wie Hardware und Software von einer Generation zur nächsten fortschritten – ein kleiner Mitläufer im Bündnis der Antitechs, aber der erste, der wahrhaft virtuell und global wurde. Das feindselige Desinteresse, das die Organisation der herkömmlichen Politik entgegenbrachte, erlaubte es ihr, die Unterdrückung verschiedener aufeinanderfolgender Regime - Königreich, Republik, Restauration, Königreich – und konkurrierender Staaten zu überleben, deren Rivalität es ihr gestattete und sie gleichzeitig dazu zwang, ihre einzige Niederlassung auf einer verlassenen Plattform zu betreiben, die früher, als es noch Öl gegeben hatte, einmal eine Bohrinsel gewesen war.
Donovan trat vorsichtig durch die abgerundete Tür und verharrte einige Minuten an Deck. Er atmete tief durch, schwelgte im berauschenden Geruch des Rosts, des Öls und des Meeres. Unter ihm befand sich das komplizierte Gebilde des Bohrturms mit den nachträglich angebrachten Erweiterungen. Über ihm seufzte ein kleiner Antennenwald, der sich wiegte, rotierte oder erwartungsvoll bebte. Ringsumher erstreckte sich die nebelverhangene tote Nordsee. Die ölige, bleigraue, schmutzige Dünung schwappte gegen die Stützpfeiler der Plattform.
Donovan vermochte die kleinen, um ihr Leben kämpfenden Geschöpfe des elektrischen Lebens beinahe intuitiv aufzuspüren – er konnte ihnen beistehen bei ihrem endlosen Kampf, sich zu befreien, sich freizumachen von der erstickenden Umklammerung der Datenverarbeitung, der sie entstammten – und sie fortschicken, auf dass sie wuchsen und gediehen und Unheil anrichteten.
Das Gleiche hatte er mit dem Penetrationsvirus versucht, der maßgeschneidert war für die Profile und Spuren von Mohs Aktivitäten, über die er Informationen zu sammeln begonnen hatte, kaum dass er seine Codes geknackt hatte. Den Ruf einer der besten Söldnerinnen des BLK zu ruinieren, war unerhört, und Donovan hatte sich die allergrößte Mühe gegeben, angemessen darauf zu reagieren. Er hatte nicht lange gebraucht, um die Fingerabdrücke zu finden, die Kohn im ganzen Universitätssystem hinterlassen hatte. Donovan hatte daraufhin das Virus freigesetzt und abgewartet. Kohn sollte sich zumindest die Finger verbrennen.
Und dann war alles aus unerfindlichen Gründen schiefgegangen. Zunächst war das Virus ausgerechnet vom Schwarzen Plan der ANR von der Verfolgung zweier Datenkonstrukte Kohns abgelenkt worden. Es schien beinahe so, als wäre das Virus wie von einem ganz speziellen Pheromon von einem Merkmal irregeleitet worden, das Kohns Konstrukte und der Plan gemeinsam hatten, von einer Eigenschaft der Signatur, des Dot-Profils… Tief in die Verästelungen des Plans hineingelockt, war das Virus von einem Konstrukt Kohns vernichtet worden. Und was am schlimmsten war: während ihm noch ganz schwindlig war vom Schock, war er von einer Wesenheit, die mächtiger war als alles, was er sich jemals hätte vorstellen können, vollständig aus dem System hinausgedrängt worden. Dabei konnte es sich nur um eine jener Wesenheiten handeln, deren Erscheinen er seit jeher zu verhindern suchte.
Er hatte dem Uhrmacher ins Auge geschaut.
Nach einer Weile ging er nach unten und rief seine Vertrauten zusammen.