Bei der Erwähnung der Terranischen Verteidigungsflotte dachte Jess besorgt an seine Schwester Tasia. Es war seine Pflicht gewesen, ihr die Nachricht vom Tod des Vaters zu schicken, aber sie hatte jetzt ihre eigenen Verpflichtungen. Die Tiwis oder ihr Clan – an wen fühlte sich Tasia jetzt mehr gebunden? Sie hatte sich anwerben lassen und einen Eid abgelegt, den sie nicht einfach ignorieren konnte, um nach Plumas zurückzukehren. Dazu war ein Tamblyn nicht imstande

– das wusste Jess sehr gut.

Er zweifelte kaum daran, dass seine Schwester allein zurechtkam. Wenn sie in eine Auseinandersetzung geraten sollte, so taten Jess vor allem die Leute Leid, die Tasia im Weg standen. Doch sie fehlte ihm sehr. Ihr fröhliches Wesen, ihre Schlagfertigkeit und sarkastischen Scherze – das alles wäre ihm auf Plumas sehr willkommen gewesen.

Jess musste sich um die Anliegen seines Clans kümmern, ohne Ross, seinen Vater oder Tasia. Er würde irgendwie damit fertig werden und versuchen, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Der einzige Ankerpunkt seines Lebens, der ihm Halt gab – seine Liebe zu Cesca Peroni – musste warten, auf unbestimmte Zeit.

Er beobachtete Cesca, ihre olivfarbene, glatte und perfekte Haut, das spitz zulaufende Kinn, voller Stolz und innerer Kraft gehoben. Die Roamer brauchten Cesca noch mehr als er. So sehr es auch schmerzte: Ihre Liebe würde die Zeit überdauern, die notwendig war, um diese Krise zu bewältigen, und anschließend konnten sie zusammen sein.

Schließlich gingen die Roamer auseinander – ihre Versammlung löste sich auf, wie eine vom Wind verwehte Rauchwolke. Einige Clan-Oberhäupter wiesen darauf hin, dass sie ihre Himmelsminen zurückziehen und die Ekti-Produktion einstellen wollten. Andere meinten, dass die fremden Wesen auch dann angreifen würden, wenn sich die Fabriken in der Umlaufbahn befanden. Welchen Sinn hatte es unter solchen Voraussetzungen, die Minen aus der Atmosphäre zurückzuziehen? Wieder andere Familien stellten in Aussicht, ihre Industrieanlagen und Werften für die Herstellung von Waffen umzurüsten, sobald entsprechende Produktionspläne vorlagen.

Nach der Versammlung ging Jess zu Cesca, um sich von ihr zu verabschieden, aber er brachte es nicht fertig, von den Dingen zu sprechen, die ihn so sehr belasteten. Sie sahen sich an, mit stummen Botschaften in den Augen, doch dann kamen andere Clanmitglieder, um mit Jhy Okiah zu reden. Jess zog sich stumm an Bord seines Raumschiffs zurück und flog fort vom blutroten Zwergstern namens Meyer.

Auf dem Weg nach Plumas, mitten im schwarzen Nichts des Alls, hatte Jess alle Zeit der Welt, um nachzudenken und Pläne zu schmieden. Er war davon überzeugt, mit seinem Wissen und genug Einfallsreichtum Gelegenheit zu finden, einen Schlag gegen die fremden Aggressoren zu führen – eine Möglichkeit, die bei der Versammlung niemand in Erwägung gezogen hatte. Er wollte den Feind dort treffen, wo es diesen besonders schmerzte.

Jess hatte nun Zugang zu allen Ressourcen und Einrichtungen der Tamblyn-Familie. Zwar fehlte ihm Tasia, aber beim Betrieb der Wasserminen konnte er auf die Hilfe zahlreicher tüchtiger Personen zurückgreifen. Plumas war seit Jahrzehnten autark, produzierte Wasser, Luft und konventionellen Treibstoff für die interplanetare Raumfahrt. Jess wollte das Potenzial seines Clans nicht für defensive Maßnahmen nutzen, sondern zu einem Vergeltungsschlag. Er hatte bereits eine Idee.

Die Angriffe der Fremden waren ohne Vorwarnung erfolgt.

Jess beabsichtigte, auf die gleiche Weise vorzugehen, um Rache zu nehmen. Tasia wäre sicher stolz auf ihn gewesen.

Das terranische Militär wusste nicht, wo es beginnen sollte.

Im Gegensatz zu Jess. Er saß in der Pilotenkanzel seines Schiffes und sah auf den Bildschirm, der ihm von Ross angefertigte detaillierte Karten des Golgen-Systems zeigte.

Die Fremden hatten gezeigt, dass ihnen etwas an dem Gasriesen jenes Systems lag. Jess wollte den Feind finden, der sich in Golgens Tiefen verbarg.

Er betrachtete die Darstellung von Asteroiden und einer ausgedehnten Kometenwolke, die einen Halo um Golgens Sonne formte. Vielleicht, so überlegte Jess, ließ sich das Sonnensystem selbst als Waffe gegen den Feind verwenden.

Seine Augen leuchteten. Ross wäre von dem kühnen, verrückten Plan begeistert gewesen – und hätte nicht daran gezweifelt, dass er funktionieren würde.

77 NIRA

Zwar gab es viel zu tun, aber Nira konnte sich kaum auf ihre Aufgaben konzentrieren. Die Saga der Sieben Sonnen lockte, ein faszinierendes, gewaltiges Epos aus erzählenden Gedichten, aber die Pracht des Prismapalastes, der Stadt Mijistra und, ja, auch die Aufmerksamkeiten des Erstdesignierten Jora’h lockten noch mehr.

Nach dem Besuch des ildiranischen Turniers hatte Jora’h Nira höflich, aber mit einem gewissen Nachdruck zum Essen eingeladen. Sie wusste, dass Botschafterin Otema von ihr Hilfe dabei erwartete, den Weltbäumen aus der Saga vorzulesen. Als sie den Erstdesignierten darauf hinwies, zeigte sein Gesicht eine solche Enttäuschung, dass es ihr fast das Herz brach – sie nahm die Einladung an.

Während des langen, köstlichen Essens sprachen sie über Theroc, die grünen Priester und die Waldkultur. Jora’h lächelte und hob ein Kelchglas, das grüne, honigsüße Flüssigkeit enthielt. »Zwar ist er nicht hier, aber ich möchte auf meinen Freund Reynald trinken, der mich sehr faszinierte. Ohne ihn hätte ich wohl kaum Gelegenheit bekommen, Sie kennen zu lernen, und dafür bin ich ihm sehr dankbar.«

Nira lachte höflich und wusste nicht recht, wie sie darauf reagieren sollte.

Zwar übte Otema keine offene Kritik an ihr, weil sie sich von ihren Pflichten ablenken ließ, aber Nira nahm sich am nächsten Tag vor, mindestes zwei Drittel ihrer wachen Zeit damit zu verbringen, den Schösslingen vorzulesen. Das Selbst des Weltwalds nahm die ildiranischen Geschichten auf, fügte sie seinem Wissen hinzu.

Als Nira glaubte, für diesen Tag genug Arbeit geleistet zu haben, gestattete sie sich, den Prismapalast zu erforschen.

Dabei wurde sie mit den wild und gefährlich aussehenden Angehörigen des Wächter-Geschlechts konfrontiert, die ihr den Zutritt zu bestimmten Orten verwehrten. Nira wollte sich umsehen und weitere Eindrücke sammeln, aber ihr lag nichts daran, den Weisen Imperator zu verärgern.

Sie wanderte durch Tunnel, die den Empfangssaal der Himmelssphäre umgaben, sah dabei fleißige Arbeiter und andere, seltsame Gestalten, die zu ihr unbekannten Geschlechtern gehörten, große und kleine, mit unterschiedlichen Körperstrukturen. Das granatrote Glas verwischte die Konturen und es fiel Nira schwer, Einzelheiten zu erkennen.

Stille herrschte in den Fluren. Der Weise Imperator gewährte derzeit keine Audienzen und hatte sich in seine Kontemplationskammer zurückgezogen. Die Himmelssphäre blieb zugänglich für Pilger und Besucher, aber das Oberhaupt des ildiranischen Volkes war dort derzeit nicht präsent. Nira presste die Nase ans rote Glas und versuchte, mehr zu erkennen, als sie plötzlich Schritte im Korridor hörte.

Ein hoch gewachsener Mann, der wie Jora’h zum Adelsgeschlecht gehörte, kam aus einem trüben Raum und starrte sie an. Seine Züge erinnerten Nira an die des Erstdesignierten und sie glaubte, eine gewisse familiäre Ähnlichkeit zu erkennen. Aber dieser Mann wirkte strenger.

Sein Haar war kürzer, sah fast wie ein Dornenhaube aus.

»Was machen Sie hier?«, fragte er. »Spionieren Sie?«

»Nein, ich… sehe mir nur alles an. Mein Name ist Nira. Ich stamme von Theroc.« Sie kam sich dumm vor, denn die grüne Haut und ihr menschliches Gesicht identifizierten sie auf den ersten Blick. »Sie sind… ein Designierter, nicht wahr? Ein Sohn des Weisen Imperators?«

»Was machen Sie hier?«, wiederholte der Mann. »Ich bin der Dobro-Designierte. Muss ich Ihre Aktivitäten meinem Vater melden?«

»Ich führe nichts Böses im Schilde. Erstdesignierter Jora’h hat mir erlaubt, mich hier nach Belieben umzusehen.«

Der Dobro-Designierte musterte sie argwöhnisch. »Ist unsere Saga der Sieben Sonnen so langweilig für Sie geworden, dass Sie etwas anderes brauchen, um sich zu beschäftigen?«

»Ganz und gar nicht!« Nira war beschämt und bestürzt. Sie verstand nicht, was sie falsch gemacht und womit sie den Zorn dieses Ildiraners geweckt hatte. Unsicher deutete sie aufs dicke rote Glas. »Ich habe nichts gesehen. Wenn dies ein Bereich mit Zugangsbeschränkung ist, so kehre ich besser in mein Quartier zurück.«

»Das wäre vermutlich am besten«, erwiderte der Dobro-Designierte scharf.

»Ich… habe es nicht böse gemeint«, sagte Nira.

Der Ildiraner kniff die Augen zusammen und maß sie mit einem durchdringenden Blick. »Nur wenige Leute meinen es böse.«

Nira fragte sich, was er damit meinte. Sie wollte sich schon umdrehen und in die Richtung zurückkehren, aus der sie gekommen war, als der Dobro-Designierte sie mit einer schroffen Frage überraschte. »Stimmt es, dass grüne Priester wie Sie über telepathische Fähigkeiten verfügen? Können Sie mithilfe der Bäume Gedanken und Informationen austauschen, ohne zeitliche Verzögerung selbst über große Entfernungen hinweg?«

»J-ja, das können wir«, stotterte Nira. »Der Weltwald ist groß und enthält viele Gedanken. Ein grüner Priester kann sie alle berühren. Wenn wir eine Verbindung zum Wald herstellen, haben wir Zugang zum Telkontakt.«

»Ist diese Fähigkeit genetisch bedingt?«, fragte der Dobro-Designierte und trat näher. »Wie ist so etwas möglich?«

»Es lässt sich nicht allein auf die genetische Struktur zurückführen«, sagte Nira. »Manche Theronen eignen sich besser für unsere Berufung als andere, aber letztendlich liegt die Entscheidung nicht bei uns selbst, sondern beim Weltwald

– er wählt die grünen Priester aus. Viele von uns wissen von Anfang an, dass sie dazu bestimmt sind, sich mit dem Wald zu verbinden. Wir kommunizieren mit den Bäumen und dienen ihnen.«

Der Designierte musterte sie auch weiterhin, kühl und abschätzend. Dann winkte er. »Das ist alles. Sie können gehen.«

Verwundert und desorientiert schritt Nira durch den Korridor.

Nach einigen Schritten verharrte sie, blickte über die Schulter und sah, wie der Dobro-Designierte in die entgegengesetzte Richtung ging. Der strenge Mann passierte mehrere Sicherheitstore, bewacht von grimmigen Angehörigen des Wächter-Geschlechts, und betrat dann die privaten Gemächer seines Vaters, des Weisen Imperators.

78 WEISER IMPERATOR

Die Tür der Kontemplationskammer schloss sich hinter dem Dobro-Designierten und die transparenten Wände trübten sich, hielten neugierige Blicke fern. Niemand konnte sie sehen. Und niemand konnte erahnen, worüber sie sprechen würden.

Der Designierte verbeugte sich förmlich vor dem gewölbten Chrysalissessel des Weisen Imperators. »Ich bin mit einem Bericht gekommen, wie von dir befohlen, Vater.«

Das massige Oberhaupt des ildiranischen Volkes setzte sich auf und die friedfertige Ruhe verschwand aus seinem Gesicht, wich begierigem Interesse. »Hast du die erstaunlichsten Beispiele deiner Experimente mitgebracht.«

»Ja, Herr«, sagte der Dobro-Designierte. Er war nach Jora’h der zweite Sohn des Weisen Imperators, dachte aber mehr in den Bahnen seines Vaters als der Erstgeborene. »Du wirst sie beeindruckend finden. Der Weitblick deines Vaters hat dem ildiranischen Volk eine Chance gegeben.«

Mit dicken Fingern betätigte der Weise Imperator einige Kontrollen. Der Chrysalissessel geriet in Bewegung. Die Rückenlehne richtete sich auf, während sich die Seiten aufeinander zu schoben und Griffe daran erschienen.

Er rief nach Bediensteten und sofort eilten kleine Helfer herbei. Sie stritten miteinander um das Recht, ihre Hände um die Griffe des großen Sessels zu schließen, der jetzt mehr einer Sänfte ähnelte. Levitatoren wurden aktiv und hoben den schweren Thron vom Boden. Der Weise Imperator strich über seinen langen, schlangenartigen Zopf und winkte mit der fleischigen rechten Hand. »Folgt meinem Sohn. Der Dobro-Designierte wird euch den Weg zeigen.«

Mit einem zuversichtlichen Lächeln trat der Designierte durch einen Torbogen in der gegenüberliegenden Wand. Er führte die Bediensteten aus der Kontemplationskammer über mehrere Rampen, die zu abgelegeneren, isolierteren Räumen führten. Er wusste, dass ihn der Weise Imperator für die harte und sehr unangenehme Arbeit belohnen würde, die er auf Dobro leistete. Die Endergebnisse jener Experimente würden alle Anstrengungen rechtfertigen.

Zwar vibrierte Aufregung im Designierten, aber er zwang sich, langsam zu gehen, als die Bediensteten den Chrysalissessel durch breite Passagen dirigierten. Es ging immer nach unten. Die Ildiraner in diesen Tiefen, vorwiegend Wächter und Angehörige des Erhalter-Geschlechts, rissen erstaunt und voller Ehrfurcht die Augen auf, als sie den unerwarteten Besucher sahen. Dann verneigten sie sich und wichen rasch zur Seite. Der Designierte verharrte auf einer Hover-Plattform, die sie mehrere Ebenen tiefer brachte, zu den gut erhellten Katakomben der Zitadelle. Überall standen leuchtende Glänzer.

Schließlich erreichten sie eine Tür, die von vier monströs aussehenden Angehörigen des Krieger-Geschlechts bewacht wurde. Die Wächter traten beiseite und gaben den Weg frei, sodass die Bediensteten den schwebenden Chrysalissessel durch den Zugang ziehen konnten. Der Weise Imperator sah sich interessiert um und reagierte mit Ungeduld auf alles, das Zeit kostete.

Sie gelangten in eine Galerie aus gläsernen Zimmern. In den transparenten Zellen befanden sich seltsame humanoide Geschöpfe verschiedener Arten. Es handelte sich um ungewöhnliche Mischungen aus Formen, Muskulaturen und Konfigurationen, einige von ihnen imposant, andere entsetzlich, manche jämmerlich.

»Wie du siehst, Vater, hat unser Zuchtprogramm zu unterschiedlichen Resultaten geführt, wie es zu erwarten war.

Wir sammeln Daten und versuchen, die gekreuzten Arten zu reproduzieren, die wünschenswerte Eigenschaften aufweisen.«

Der Weise Imperator wies die Bediensteten an, die Sänfte nach vorn zu neigen, damit er in die Zellen sehen konnte.

Interessiert betrachtete er nacheinander die sonderbaren Wesen. Einige von ihnen duckten sich vor der massigen Gestalt des Imperators, aber er sah nur Testergebnisse in ihnen, keine lebenden Geschöpfe. In seinem teigigen Gesicht zeigte sich nicht das geringste Mitleid.

Manche Mischlinge hatten Schuppen, andere struppiges Fell.

Manche waren sehr muskulös und bei dreien bemerkte der Weise Imperator besonders lange und dicke Gliedmaßen. Zwei Exemplare lagen in den Ecken ihrer transparenten Käfige: missgebildete Wesen mit geringem Überlebenspotenzial, von der Natur nicht vorgesehene genetische Kreuzungen. Alle Kreaturen wiesen eine gewisse Ähnlichkeit mit den bekannten ildiranischen Geschlechtern auf, aber bei den missgestalteten Exemplaren gab es auch noch etwas Fremdes, das nicht auf ildiranische Gene zurückzuführen war.

Der Weise Imperator lehnte sich zurück, mit Abscheu und auch Optimismus im breiten Gesicht. Er wandte sich an seinen zweiten Sohn. »Solche Arten-Kombinationen habe ich nie zuvor gesehen. Die neuen Linien bieten beträchtliches Potenzial für unsere Zwecke.«

Der Dobro-Designierte nickte mit Nachdruck. »Wir versuchen festzustellen, wie stark der menschliche Anteil sein muss. Unsere Testpopulationen sind noch zu klein und die Zeit… Es sind weniger als zweihundert Jahre vergangen, genug für eine Hand voll Generationen.«

»Natürlich, mein Sohn. Als mein Vater mir diesen geheimen Auftrag gab, und als ich ihn zu Beginn meiner Herrschaft dir überließ, wussten wir, dass es ein langfristiges Projekt mit wichtigen Konsequenzen für das Reich sein würde.«

Der Dobro-Designierte fuhr fort. »Manchmal erweist sich die dritte oder die vierte Generation als stärkste. Die Mischlinge aus Schwimmern und Architekten sind bisher die besten.«

»Gut.« Der Weise Imperator zuckte und die Bediensteten zogen ihn zurück von der Galeriewand, in die Mitte des Besichtigungsraums. »Denk vor allem daran, dass wir die ildiranischen mentalen und kommunikativen Fähigkeiten verbessern müssen. Ein Erfolg ist dringender als jemals zuvor nötig.«

»Ich erforsche neue Möglichkeiten, Vater«, erwiderte der Dobro-Designierte. »Allerdings könnten diese Forschungen einige Generationen in Anspruch nehmen, mindestens einige Jahrzehnte.«

Unruhe erfasste den Weisen Imperator und seine Miene verfinsterte sich. »So viel Zeit bleibt uns vielleicht nicht. Die Situation ist schlimmer als jemals zuvor. Die Gefahr ist zurückgekehrt und das Ildiranische Reich muss sich auf die Verteidigung vorbereiten. Wir wollen nicht so enden wie die Klikiss.«

Der schockierte Dobro-Designierte holte tief Luft, um sich zu beruhigen. »Bist du sicher, Vater? Nach all den Legenden und so vielen Jahrtausenden…«

»Es besteht kein Zweifel. Ich habe es selbst gesehen. Die Hydroger haben sich erneut gezeigt. Selbst das ganze Thism ist nicht stark genug für das, was getan werden muss. Ich hatte gehofft, dass die Mischlinge jene Merkmale verstärken. Nichts hat höhere Priorität, nichts ist wichtiger. Wir müssen planen und einen Erfolg erzielen, bevor alle anderen die Natur der Gefahr verstehen.« Der Weise Imperator ballte die Faust, so fest, dass ihm Blut aus dem Handballen rann. »Wir brauchen mindestens einen!«

Der Dobro-Designierte sammelte seine ganze Kraft. »Dann lass mich einen riskanten Vorschlag unterbreiten. Es gibt neue Informationen, Vater. Vielleicht hast du es selbst gesehen. Ich bin eben einem Menschen begegnet, einem grünen Priester von Theroc. Es handelt sich um eine junge und vermutlich fruchtbare Frau. Ihre biologische Verbindung mit den Weltbäumen deutet auf einige… sehr interessante genetische Möglichkeiten hin.«

Der Weise Imperator bedeutete den Bediensteten, seinen Chrysalissessel in den Korridor zu bringen.

»Ja, ich habe bereits daran gedacht«, sagte er. »Vielleicht müssen wir sie benutzen und uns das von ihr nehmen, was wir brauchen.«

79 ADAR KORI’NH

Die Kohorte ildiranischer Kriegsschiffe verließ den öden Planeten Dobro und Adar Kori’nh war froh, dass ihn ein neuer militärischer Auftrag erwartete. Unbehagen begleitete ihn, wenn er den trostlosen Planeten besuchte, obgleich er auf Geheiß des Weisen Imperators kam. Was der Dobro-Designierte auf jener Welt anstellte, erschien ihm schrecklich.

Nicht einmal Menschen verdienten eine solche Behandlung.

Durch das alles sehende Auge des Thism erfuhr und verstand der Weise Imperator viel mehr als der erfahrenste und aufmerksamste Adar. Ein Weiser Imperator war mehr als jeder andere Ildiraner. Er bildete gewissermaßen die Summe des gesamten Volkes, seinen Gipfel. Seine Gedanken, Entscheidungen und Maßnahmen bestimmten die Geschichte des Ildiranischen Reichs. Kori’nh konnte die Entscheidung nicht infrage stellen, was aber keineswegs bedeutete, dass er die dunklen Notwendigkeiten billigte. Der Weise Imperator wusste, was für alle Ildiraner am besten war, selbst wenn manche Personen einen grässlichen Preis bezahlen mussten.

Es stand Adar Kori’nh nicht zu, alles zu verstehen.

Er murmelte einen Fluch und sank im Kommando-Nukleus des Flaggschiffs in seinen runden Sessel. Selbst wenn es der Weise Imperator am besten wusste, selbst wenn das Ergebnis auf irgendeine rätselhafte Weise dem Wohl der Ildiraner diente

– Kori’nh glaubte nicht, dass die unheilvollen Experimente auf Dobro als heldenhafte Taten gelten konnten. Sie würden nie Eingang finden in die Saga der Sieben Sonnen.

»Wir haben Kurs auf das Hyrillka-System genommen, Adar«, sagte der Navigator, ein Septa, der für den Posten an Bord des Flaggschiffs auf das Kommando einer kleineren Schiffsgruppe verzichtet hatte. Er und die anderen Brückenoffiziere schienen erleichtert darüber zu sein, Dobro zu verlassen.

Bei Hyrillka, am Rand des Horizont-Clusters, würden sie eine der traditionelleren Pflichten der Solaren Marine erfüllen: Himmelsparaden. Vor dem inneren Auge sah Kori’nh, wie seine prächtigen Kriegsschiff über das Firmament von Hyrillka zogen und komplexe Manöver flogen. Der joviale Hyrillka-Designierte liebte solche Spektakel und veranstaltete gern Feste, um ildiranische Leistungen zu feiern.

Seit einiger Zeit schickte der Weise Imperator die Solare Marine immer häufiger in solche Einsätze. Er hatte Adar Kori’nh sogar angewiesen, die nächste Luftparade selbst zu befehligen, aus Anlass seines Geburtstags. Nach vielen Jahren tadellosen Dienstes war der Adar dieser dummen Zurschaustellungen prahlerischen Wagemuts überdrüssig geworden. Er wollte Dinge leisten, die mehr Substanz und mehr Bedeutung hatten.

Doch nach dem scheußlichen Anblick auf Dobro war er froh, mit etwas beauftragt zu sein, das ihn in emotionaler Hinsicht weitaus weniger belastete.

Die Kohorte flog in perfekter keilförmiger Formation in Richtung Horizont-Cluster. Als der Sternenantrieb die Schiffe auf Reisegeschwindigkeit beschleunigt hatte, entschuldigte sich Kori’nh. »Ich suche mein Quartier auf, um mich dort mit militärischer Strategie zu befassen.«

Seine Crew kannte ihre Aufgaben und er rechnete nicht mit Problemen. Während seiner ganzen beruflichen Laufbahn hatte er nie Probleme erwartet. Die Solare Marine war eine prächtige Flotte, die beste, die es jemals im Spiralarm gegeben hatte.

Doch seit vielen langen ildiranischen Generationen gab es keinen Feind, gegen den sie kämpfen konnte. Es war Kori’nh immer ein Rätsel gewesen, warum die Weisen Imperatoren es über Jahrtausende hinweg für nötig gehalten hatten, eine so große Streitmacht zu unterhalten, obwohl keine Bedrohung von außen existierte.

Doch ein Weiser Imperator verstand mehr als alle anderen Ildiraner, wusste viel von der Galaxis und alles über die lebende Geschichte ihres Volkes.

Kori’nh saß in seiner Kabine und las in der Saga, einer privaten Kopie wichtiger Abschnitte, die er immer an Bord des Flaggschiffs hatte. Er war mehrmals in Versuchung geraten, einen Erinnerer für die Flotte einzustellen, einen Historiker, der den Soldaten in ihrer Freizeit heroische Geschichten erzählte. Aber Kori’nh vermutete, dass sich außer ihm niemand so sehr für Militärgeschichte interessierte.

Das ildiranische Volk war ein einheitlicher Organismus aus Milliarden von Personen, die durch die dünnen Fäden des Thism miteinander verbunden waren. Ildiraner hatten keine äußeren Feinde, kannten keinen inneren Hader und keine Bürgerkriege – mit einer Ausnahme. Jene Geschichte las Kori’nh erneut, nachdem er die Glänzer so aufgestellt hatte, dass ihr Schein dem der sieben Sonnen von Ildira ähnelte.

Ein Designierter hatte damals eine Kopfverletzung erlitten und nach der Rekonvaleszenz konnte er sich nicht mehr mit dem Thism verbinden. Er fühlte nicht mehr die Präsenz des Weisen Imperators, empfing keine Anweisungen von ihm. Er war allein… isoliert…

Der Designierte hatte eine Vision von Unabhängigkeit. Er führte seinen Planeten in einen Bürgerkrieg gegen den Weisen Imperator und versuchte, sich vom Ildiranischen Reich zu lösen und mit einer eigenen Geschichte zu beginnen. Den Bewohnern seiner Welt gegenüber behauptete der abtrünnige Designierte, noch immer Kontakt zum Thism zu haben, und sie glaubten ihm, folgten ihm in den Krieg. Doch seine Vision von Unabhängigkeit brachte nur Blutvergießen und Tod.

Schließlich wurde der wahnsinnige Sohn des Weisen Imperators ermordet und sein in die Irre geleitetes Volk zurückgeführt in die unbefleckte Gemeinschaft des Thism. Der grässliche Bürgerkrieg hatte tiefe Narben in der ildiranischen Psyche hinterlassen. Über Jahrhunderte hinweg sangen Erinnerer Balladen über die tragischen Ereignisse.

Kori’nh legte die Saga-Dokumente beiseite und fühlte sich immer mehr von Schwermut erfasst. Er öffnete Schubladen, holte die vielen Medaillen und Ordensbänder hervor, mit denen er über die Jahre hinweg ausgezeichnet worden war. Mit Tüchern und Creme begann er, alles auf Hochglanz zu polieren.

Leider hatte er die meisten glänzenden Orden für traditionelle Dienste bekommen: spektakuläre Manöver, militärische Paraden, erfolgreiche Rettungsmissionen wie bei Crenna oder Einsätze, bei denen seine Soldaten schwierige zivile Konstruktionsaufgaben bewältigt hatten.

Die Ildiraner waren nie mit einem großen Feind konfrontiert worden; in ihrer ganzen Geschichte hatte nie ein epischer Konflikt stattgefunden. Die Menschen waren beunruhigend, aber auch zu desorganisiert, um eine echte Gefahr darzustellen.

Die Klikiss existierten nicht mehr und die anderen Lebensformen im Spiralarm waren zu primitiv für die Raumfahrt.

Kori’nh hoffte, eines Tages bedeutsamen Ruhm zu erringen.

Bevor er starb, wollte er etwas Großartiges leisten, das ihm einen Platz in der Saga sicherte. Sein ganzes Leben lang hatte Adar Kori’nh auf einen würdigen Gegner gewartet.

Doch derzeit beschränkte sich seine Pflicht darauf, die Tüchtigkeit der Solaren Marine zu demonstrieren, zur Unterhaltung des Hyrillka-Designierten.

Adar Kori’nh beobachtete die Darbietungen stolz und neben ihm stand der rundliche Hyrillka-Designierte auf, um zu applaudieren. Auf einem anderen Platz der Tribüne saß Thor’h, erstgeborener adliger Sohn des Erstdesignierten; ihm schien das Spektakel ebenfalls zu gefallen. Zwar war Thor’h nicht viel jünger als sein Halbbruder Qul Zan’nh, aber der adlige Sohn wirkte unreif und verhätschelt. Ihm blieben noch mehr als hundert Jahre, bevor er damit rechnen musste, im Prismapalast die Verantwortung für das ildiranische Volk zu übernehmen – er genoss das Leben unbeschwert.

Am Himmel glänzten nahe Sterne wie Edelsteine, hell genug, um auch am Tag gesehen zu werden. Des Nachts füllte die Pracht des Horizont-Clusters das Firmament mit genug Licht für die die Dunkelheit fürchtenden Ildiraner.

Dicke Ranken aus bunten Blumen wuchsen büschelweise an den hohen Gebäuden und ihr süßer Duft strich über die Tribünen. Makellos gekleidete Vergnügungsgefährtinnen umgaben den Platz des Designierten und er richtete bewundernde Blicke auf sie, während Thor’h nur Augen für das Geschehen am Himmel hatte.

Zwei große Kriegsschiffe schwebten über der primären Stadt.

»Sie sollen das letzte Manöver wiederholen!«, rief Thor’h mit jungenhaftem Staunen in den Augen.

»Wie Sie wünschen, Designierter.« Der Adar sprach in ein Kommunikationsgerät an seinem Handgelenk.

Die schnellen interorbitalen Schiffe flogen in einem weiten Bogen fort und kehrten dann zur Hauptstadt von Hyrillka zurück. Sie zogen mehrere Kilometer lange Bänder hinter sich her, die aus reflektierendem Metall bestanden und sich schlangenartig hin und her wanden. Die Raumschiffe flogen so niedrig, dass sich die blühenden Nialias auf den weiten Feldern hin und her neigten. Blaue Blütenblätter flatterten. Die mobilen männlichen Komponenten der Pflanzenmotten lösten sich von den Stängeln und ergriffen die Flucht.

Der Hyrillka-Designierte und der junge Thor’h jubelten begeistert.

Rusa’h, der Hyrillka-Designierte, war der dritte Sohn des Weisen Imperators. Seine edlen Züge ähnelten denen Jora’hs, aber der jüngere Designierte war korpulenter als sein ältester Bruder und das rundliche Gesicht wies größere Ähnlichkeit mit dem des gottartigen Oberhaupts der Ildiraner auf. Noch vor dem Eintreffen der Kohorte hatte der Designierte einen Feiertag proklamiert, mit Festen und Tanz für alle Arten in der Stadt, von der Großen Zitadelle bis hin zu den Feldern und Äckern. Er wollte die Soldaten der Solaren Marine mit Musik, Festschmaus und erfahrenen Vergnügungsgefährtinnen willkommen heißen.

»Ihre Besatzungen sind unglaublich geschickt, Adar Kori’nh«, sagte der junge Thor’h. »Die Piloten und Waffenspezialisten… Es sind wahre Himmelsakrobaten!«

»Sie haben viel Zeit, um zu üben«, erwiderte Kori’nh und fühlte sich seltsam enttäuscht. »Einer meiner besten Piloten ist Ihr Bruder Qul Zan’nh.«

Erneut flogen die großen Schiffe über die Tribünen hinweg und zogen ihre glitzernden Bänder hinter sich her. Das Publikum applaudierte. Einige Zuschauer kletterten an den Blütenranken empor, in der Hoffnung, mehr zu sehen. Die Schiffe wendeten und beschleunigten dann zu einem letzten Überflug.

Es fiel Kori’nh sehr schwer, die Festlichkeiten auf Hyrillka zu ertragen – es wäre ihm lieber gewesen, in eine Schlacht zu ziehen. Schon nach einer Stunde langweilte er sich und es kostete ihn viel Kraft, sich nichts anmerken zu lassen. Der junge Thor’h und sein Onkel schienen alles sehr faszinierend zu finden.

Die Feiern gingen im Zwielicht weiter, im matten, bunten Schein der Sterne des nahen Clusters. Breite Bewässerungskanäle führten in geraden Linien zu den Nialiafeldern und die leuchtenden Gelfische im Wasser ließen sie silbrig schimmern. Der junge Thor’h wirkte müde und erschöpft, wollte sich aber nicht zurückziehen. Immer wieder konsumierte er Anregungsmittel, die aus Nialia-Samenkapseln gewonnen wurden und zu den wichtigsten Exportgütern Hyrillkas zählten.

Das Lachen, die Musik und das Trinkgelage schenkten Kori’nh keine Freude. Er verzichtete auf eine Vergnügungsgefährtin, obgleich der Designierte ihm mehrmals seine Lieblingsgefährtinnen anbot. Schließlich schickte der Sohn des Weisen Imperators die Frauen zu den Dampfbädern und versprach ihnen, sie für das mangelnde Interesse des Adars zu entschädigen.

Kori’nh geduldete sich noch etwas länger, bis er es einfach nicht mehr ertrug und dem Designierten höflich vorschlug, sich um seine Gefährtinnen zu kümmern. Dann ließ er sich von einem kleinen Shuttle zum fast leeren Flaggschiff zurückbringen.

Einige Stunden lang las er in seiner Kabine, aber diesmal galt seine Aufmerksamkeit nicht der Saga der Sieben Sonnen, sondern der menschlichen Militärgeschichte. Während der letzten zehn Jahre war Kori’nhs Interesse an den Kriegen und Katastrophen der Terraner immer mehr gewachsen. Die verzweifelten Strategien menschlicher Generale – geistige Kollegen des Adar – gingen weit über die Vorstellungskraft ildiranischer Soldaten hinaus.

Es erstaunte ihn immer wieder, dass ein einzelnes Volk, an einen Planeten gebunden, so viel Hader und Zwist hervorgebracht hatte. Im Verlauf weniger Jahrhunderte hatten die Menschen mehr Kriege geführt als die Ildiraner in ihrer ganzen aufgezeichneten Geschichte. Zwar beneidete Kori’nh die Erde nicht um ihr Blutvergießen, aber ihn faszinierten die

»Gedankenexperimente«, die er durchführen konnte, indem er sich mit Napoleon, Hitler und Hannibal befasste.

Während er darauf wartete, dass die Feiern auf Hyrillka endeten, nahm eine Idee Gestalt an. Adar Kori’nh beschloss, seine Subcommander zu einer wichtigen Besprechung zu versammeln, sobald die Kohorte der Solaren Marine den Horizont-Cluster verließ.

Der Adar wies seinen Navigator an, die Kohorte auf Relativgeschwindigkeit null zu bringen, mitten im interstellaren Raum, weit von allen Sternen und eventuellen Beobachtern entfernt.

Die Qul-Subcommander, Befehlshaber der sieben Manipel, und der Tal-Aufseher der ganzen Kohorte kamen der Anweisung des Adar verwundert nach und versammelten sich an Bord des Flaggschiffs. Kori’nh musterte sie in seinem privaten Konferenzzimmer, im Schein hell strahlender Glänzer.

Die meisten Manipel-Kommandanten saßen ruhig da und erwarteten Befehle. Doch Tal Aro’nh, verantwortlich für alle 343 Schiffe, reagierte beunruhigt auf die plötzliche Änderung der Pläne. »Aber Adar Kori’nh, wir müssen unsere Verpflichtungen wahrnehmen. In zwei Wochen erwartet man uns bei Kamin. Der dortige Designierte hat eine ganz neue Arena errichten lassen, um unsere Ankunft zu feiern.

Freiwillige aus sieben Geschlechtern haben Fahnen genäht und ein Willkommensballett vorbereitet…«

»Danke, Tal Aro’nh«, sagte Kori’nh scharf. »Ich werde Sie zu Rate ziehen, wenn es mir schwer fällt, über die Prioritäten der Solaren Marine zu entscheiden.«

Der konservative alte Tal schwieg verlegen.

Kori’nh musterte die Subcommander erneut und wartete, bis er ihre volle Aufmerksamkeit hatte. Durch das Thism verstand der Weise Imperator, was der Adar beabsichtigte, und er billigte es. Kori’nh spürte die Präsenz des Imperators: Er sah alles, beobachtete die Bewegungen der Flotte wie ein gutmütiger Gott.

Der Adar wusste, dass er aus einem Impuls heraus handelte, aber er hielt diese Sache für wichtig und war neugierig darauf, was die Solare Marine leisten würde. Gleichzeitig fürchtete er das Ergebnis.

»Ich habe mehrere militärische Strategiespiele von der Erde besorgt, Computersimulationen, die Menschen hauptsächlich für Unterhaltungszwecke verwenden.« Kori’nh verteilte Datenkarten, auf denen die Simulationen gespeichert waren, in einem für die Kommandosysteme der Kriegsschiffe lesbaren Format. »Sie haben einen Tag Zeit, um sich damit vertraut zu machen. Anschließend fördere ich Sie zu einem Spiel gegen mich heraus.«

Die versammelten Quls wussten nicht, was sie davon halten sollten. Tal Aro’nh wirkte verwirrt und auch besorgt. »Aber Adar, welche Bedeutung können menschliche… Spiele für unsere Pflichten in der Solaren Marine haben?«

Kori’nh richtete einen kühlen Blick auf den alten Mann. »Sie haben sehr wohl Bedeutung, Tal Aro’nh. Was ist, wenn der Weise Imperator den Menschen eines Tages den Krieg erklärt?

Wäre es nicht besser, rechtzeitig einen Eindruck von ihrer Strategie zu gewinnen?«

»Ein Krieg gegen die Menschen?«, murmelten die Quls.

In Tal Aro’nhs Gesicht zeigte sich jetzt Ärger. »Unmöglich, Adar! Eine solche Entscheidung würde der Weise Imperator nie treffen.«

Kori’nhs Stimme wurde noch schärfer und so drohend wie eine gezückte Klinge. »Wollen Sie jetzt behaupten, die Gedanken des Weisen Imperators zu kennen? Glauben Sie vielleicht zu verstehen, wie das Oberhaupt unseres Volkes die Entscheidungen trifft, die das ganze Reich beeinflussen? K’llar bekh! Soll ich Ihnen die Hoden abschneiden, um zu sehen, ob Sie dann Zugang zum Thism haben?«

Tal Aro’nh gab sofort nach. »Nein, Adar.« Er griff nach seiner Datenkarte. »Wir werden uns mit den Simulationen befassen und beim… Spiel gegen Sie antreten, ohne jede Verlegenheit.«

Kori’nh hatte die Spiele bereits ausprobiert und in seinem Quartier eigene Simulationen durchgeführt. Die meisten Szenarien waren einfach und naiv, präsentierten ein kindisch klares Ziel, für gewöhnlich die Eroberung einer Welt.

Er beendete die Besprechung und die Quls kehrten an Bord ihrer jeweiligen Schiffe zurück.

Zwei Tage später verwickelte Kori’nh die Subcommander in eine Raumschlacht nach menschlichem Stil, ohne Pomp und sorgfältig einstudierte Manöver, ohne einen Plan, den jeder Offizier im Voraus kannte.

Alle Subcommander versagten, und zwar so jämmerlich, dass selbst Tal Aro’nh in Verlegenheit geriet.

80 TASIA TAMBLYN

Alle TVF-Rekruten wurden in den Vortragssaal der Marsbasis gerufen. Tasia begleitete Robb Brindle in den kalten, grell erleuchteten Raum, der sich in einem von einer Kuppel überspannten Krater befand. Sie hatte ein flaues Gefühl in der Magengrube und ahnte nichts Gutes.

»Ich fürchte, uns erwarten schlechte Nachrichten«, sagte sie.

Robb sah sie aus großen honigbraunen Augen an. »In letzter Zeit gibt es keine anderen«, erwiderte er. »Was jetzt wohl passiert sein mag?«

Auch die anderen Rekruten waren unruhig und sprachen leise miteinander. Den letzten Monat hatten sie damit verbracht, unterschiedlich konfigurierte Angriffsjäger zu fliegen, in entlegenen Bereichen des Mars Bomben abzuwerfen und auf Ziele zu schießen, die man an mehrere Kilometer hohe Schluchtwände gemalt hatte.

Tasia bekleidete inzwischen den Rang eines Lieutenants und verdankte ihre rasche Beförderung auch dem Umstand, dass die TVF immer mehr Rekruten bekam. Vor allem bei Solo-Missionen leistete sie Hervorragendes. Sie flog ihr umgerüstetes Schiff schneller und entschlossener als die anderen. Instinktiv verstand sie die verschiedenen mechanischen und elektronischen Systeme, denn als Roamer war sie an Flexibilität gewöhnt.

Im Zuge der gewaltigen Mobilisierung gegen die geheimnisvollen Fremden blieb den Tiwis gar nichts anderes übrig, als alle Schiffe zu nehmen, die sie bekommen konnten.

Es entstand eine Flotte, die aus tausend verschiedenen und modifizierten Schiffstypen bestand. Viele der verwirrten Rekruten klagten über die mangelnde Standardisierung, aber Tasia erkannte die Unterschiede und das individuelle Potenzial der einzelnen Schiffe. Sie wahrte den Überblick und wusste, welches Raumschiff sich wofür am besten eignete.

In Schwierigkeiten geriet sie nur bei Bodenmissionen in Gruppen, wenn sie zu unsinnigen Märschen und Infanterieübungen gezwungen war, die ihr wie primitive Volkstänze erschienen. Tasias Leistungen ließen zu wünschen übrig, wenn sie als geistloses Teammitglied agieren sollte. Bei einem jener Einsätze hatte Robb Brindle scherzhaft gesagt:

»Mit deiner Einstellung und deiner Unabhängigkeit erwartet dich entweder das Kriegsgericht oder die Uniform eines Generals.«

Als alle Rekruten im Vortragssaal Platz genommen hatten, trübte sich das Licht. Die Kuppel gewährte Ausblick in die marsianische Nacht; Phobos und Deimos zogen über den dunklen Himmel.

Eine einzelne Lampe erhellte das Podium und der TVF-Verbindungsoffizier Admiral Stromo trat in ihren Schein.

Tasias Unbehagen verdichtete sich. Wenn sich der Admiral an die Rekruten wandte, musste es sich wirklich um eine ernste Angelegenheit handeln. Stille herrschte und die allgemeine Anspannung wuchs.

Admiral Stromo kam sofort zur Sache. »Wir haben neue Bilder, die unseren Feind zeigen«, sagte er. »Meine taktischen Berater untersuchen sie, um weitere Informationen zu gewinnen, aber ich möchte Ihnen allen Gelegenheit geben, die Aufnahmen zu sehen. Sie sollen einen Eindruck davon bekommen, womit wir es zu tun haben.«

»Wenn sich die Fremden jemals zeigen, bekommen sie von uns einen ordentlichen Tritt in den Arsch«, murmelte einer der Rekruten in Tasias Nähe. Die Freunde des jungen Mannes kicherten leise.

»Wir haben von drei weiteren Himmelsminen der Roamer erfahren, die während des vergangenen Monats vernichtet wurden. Insgesamt sind es jetzt fünf. Die Bilder, die Sie gleich sehen werden, zeigen die letzten Minuten einer solchen Anlage in der Atmosphäre des Gasriesen Welyr.«

Stumm beobachteten die jungen Soldaten eine Projektion in der Mitte des Vortragssaals. Wie kristallen wirkende, dornige Kugeln kamen aus Welyrs Tiefen, ohne den ausgedehnten Sturmgebieten Beachtung zu schenken, näherten sich der Himmelsmine.

Admiral Stromos Stimme hallte durch den Saal und fügte den Bildern einen Kommentar hinzu, der eigentlich gar nicht nötig war. »Die Kommandantin der Himmelsmine veranlasste sofort die Evakuierung und zahlreiche Scoutschiffe versuchten zu entkommen. Die Ekti-Tanks wurden separiert, ohne dass die Fremden Interesse daran zeigten.«

Die Soldaten beobachteten, wie sich die Tanks von der Himmelsmine lösten und in den Tiefen des Gasriesen verschwanden. »Die Roamer boten mehrmals ihre Kapitulation an, aber die Fremden reagierten nicht. Sie… griffen einfach an.«

Shareen Pasternak – Tasia erinnerte sich plötzlich an den Namen.

Die Welyr-Kommandantin hatte sich manchmal mit Ross getroffen. Jetzt waren sie beide Opfer des Feinds geworden.

Stromo schwieg, während die Aufnahmen zeigten, wie sich auch die Habitatkuppel von der Himmelsmine löste. Tasia wusste: Eine solche Maßnahme wurde nur dann getroffen, wenn es keinen anderen Ausweg gab, wenn der Chief jede Hoffnung verloren hatte.

»Die Kommandantin der Himmelsmine versuchte, ihre Crew in Sicherheit zu bringen, aber die Fremden verfolgten sie, ganz offensichtlich mit der Absicht, alle zu töten.«

Die Bilder zeigten, wie die Kugeln das Habitatmodul in eine Wolke aus heißen Splittern verwandelten. Dann machten sie in aller Ruhe kehrt und vernichteten auch den Rest der Himmelsmine. Ihre Trümmer fielen durch die Wolken des Gasriesen.

Die gesamte Crew war tot. Tasia schluckte und versuchte, ihren Zorn unter Kontrolle zu halten, den Drang, sofort etwas zu unternehmen. Sie verabscheute es, auf dem Mars zu sein, ohne direkt in das Geschehen eingreifen zu können.

»Einige Scoutschiffe der Roamer blieben eine Woche lang in den oberen Schichten der Atmosphäre von Welyr«, sagte Stromo. »Von ihnen stammen die Aufzeichnungen, die Sie gerade gesehen haben. Aber die Leistungsfähigkeit ihrer Lebenserhaltungssysteme war begrenzt und sie hatten nicht das Triebwerkspotenzial für interstellare Flüge. Als schließlich Rettung kam, gab es an Bord der kleinen Schiffe keine Überlebenden mehr.«

Robb Brindle sah Tasia an und wusste um ihren Schmerz. Er griff nach ihrer Hand und drückte sie, aber die junge Frau fühlte es kaum. Ihre Finger waren eiskalt.

Die Bilder verschwanden. »Das ist alles«, sagte Stromo.

»Einfache visuelle Informationen, mehr nicht. Unsere Fachleute analysieren die Aufnahmen. Falls sich dabei etwas ergibt, so werden wir Sie davon in Kenntnis setzen.«

Das Licht auf dem Podium verblasste. »Wegtreten.«

Tasia gab kaum einen Ton von sich, als sie zu den Kasernen zurückkehrten. Robb Brindle ging schweigend neben ihr und spendete ihr mit seiner Gegenwart Trost. Sie hoffte, dass er verstand, wie sehr sie es zu schätzen wusste. Inzwischen kannte er sie gut genug, um nicht zu versuchen, sie aufzumuntern oder mit einem harmlosen Gespräch abzulenken.

Als sie den Gemeinschaftsraum unweit der Spinde und Quartiere betraten, warf Patrick Fitzpatrick Tasia einen demonstrativen Blick zu, wandte sich dann an seine Kameraden und hob die Stimme. »He, wenigstens waren es nur Kakerlaken, die ums Leben kamen«, sagte er und schien jedes einzelne Wort zu genießen. »Aber beim nächsten Mal müssen vielleicht richtige Menschen dran glauben.«

Zorn erwachte in Tasia. Robb trat vor sie und bedachte den jungen Mann mit einem finsteren Blick. »Du Hohlkopf.

Vielleicht hast du die Besprechung verpasst, bei der man uns mitteilte, wer der eigentliche Feind ist.«

»Ach, halt die Klappe, Brindle«, sagte Fitzpatrick und ärgerte sich darüber, dass der junge Schwarze gegen ihn Position bezog.

Robb schüttelte den Kopf. »Deine Dummheit ist gefährlicher als jene Fremden.«

Mit übertriebener Geduld und einem stahlharten Lächeln berührte Tasia Robb an der Schulter. »Danke, Brindle. Es ist schön, einen kühnen Ritter zu haben, aber ich verfüge über meine eigene Rüstung und sie kann einiges aushalten.« Sie näherte sich dem arroganten Fitzpatrick. »Du hast zwei Möglichkeiten, Kleeb: Entweder entschuldigst du dich oder man bringt dich zur Krankenstation.«

Fitzpatrick lachte nur. Womit er sich für die Krankenstation entschied.

Tasia nutzte die geringe marsianische Schwerkraft aus, sprang, flog dem eingebildeten Narren entgegen und schlug mit beiden Fäusten zu – eine traf ihn am Kinn, die andere auf dem Kopf. Er taumelte an die Metallwand und sie stieß sich von seiner Brust ab, hörte dabei, wie einige Rippen knackten.

Die Decke gab Tasia neuen Schwung und sie griff erneut an, mit Knien und Ellbogen, Füßen und Fäusten.

Fitzpatrick setzte sich zur Wehr, aber sehr ungeschickt, denn er hatte immer Leute um sich herum gehabt, die ihn beschützten. Tasia versetzte ihm einen Schlag auf die Nase, der Blut spritzen und bei ihrem Gegner den letzten Rest des herausfordernden Benehmens verschwinden ließ.

Fitzpatricks Freunde mischten sich ein und griffen Tasia von hinten an. Sie wirbelte herum und dachte nicht einen Augenblick daran, den Rückzug anzutreten.

Als Robb Brindle sah, dass Tasia in Bedrängnis geriet, stürzte er sich ebenfalls ins Getümmel.

Sowohl Tasia als auch Fitzpatrick endeten auf der Krankenstation, mit Prellungen, Schnittwunden und einigen angeknacksten Knochen. Die junge Frau sah eine gewisse Ironie darin, dass sie von ihrem eigenen Kompi behandelt wurde, der mit einem Erste-Hilfe-Programm ausgestattet worden war, damit er sich in der Basis nützlicher machen konnte.

Beide Rekruten wurden mit einem offiziellen Verweis bestraft, der Tasia nichts bedeutete. Doch in Fitzpatricks Gesicht sah sie ein Unbehagen, das auf Folgendes hinwies: Er fürchtete seine Eltern mehr als eventuellen Schaden für die militärische Karriere.

Tasia konnte die Krankenstation zwei Tage eher verlassen als Patrick Fitzpatrick III. Ihre beiden Brüder wären stolz auf sie gewesen.

81 BENETO

Corvus Landing war so weit von dicht besiedelten Hanse-Kolonien entfernt, dass Benetos Reise mehr als einen Monat in Anspruch nahm. Diese Zeit gab dem alten Talbun Gelegenheit, alle Angelegenheiten seines Lebens in Ordnung zu bringen.

Beneto nahm einen kleinen Schössling mit, damit er während der langen Reise mit dem Weltwald in Verbindung bleiben konnte. Er flog mit drei verschiedenen Raumschiffen, erst mit einem Passagierschiff, dann an Bord eines Frachters und schließlich mit einem freiberuflichen Forscher, bevor er endlich sein neues Zuhause erreichte.

Er landete in Colony Town, begleitet von Frachtbehältern, Käfigen mit lautem Vieh, Versorgungs- und

Ausrüstungsgütern sowie einigen besonderen Dingen von Theroc. Mit einem zufriedenen Lächeln stieg Beneto aus, atmete die Luft des Planeten und nahm die besonderen Düfte einer ungezähmten Welt wahr, auf der sich die terranische Landwirtschaft nur langsam ausbreitete.

Corvus Landing war ein junger, geologisch ruhiger Planet mit mildem Klima und nur geringer einheimischer Vegetation.

Selbst die Meere waren seicht und die Landmassen größtenteils flach – es gab nur einige niedrige Hügelketten.

Beneto stand im hellen Licht, ohne die Schatten eines dichten Walds, nahm die Details in sich auf und spürte, wie der Sonnenschein seine grüne Haut prickeln ließ. Aus den Informationen, die er per Telkontakt aufgenommen hatte, ging hervor, dass es gelegentlich zu heftigen Stürmen kam, die mit der Gewalt von Orkanen über die Ebenen brausten. Er griff auf von Talbun übermittelte Erinnerungen zurück und erlebte eins dieser Unwetter, durch die »Augen« der lokalen Weltbäume gesehen.

Die Gebäude von Colony Town waren mit Rücksicht auf das Wetter niedrig und aerodynamisch geformt. Die Getreidepflanzen auf den Feldern zeichneten sich durch eine besondere Widerstandskraft aus. Der Zorn des Orkans presste sie an den Boden, aber später, wenn die dunklen Wolken verschwanden und die Sonne zurückkehrte, richteten sie sich wieder auf.

Beneto bedauerte es keineswegs, hierher gekommen zu sein.

Selbst der kleine Baum, den er mitgebracht hatte, schien sich zu freuen.

Als Talbun kam, um ihn zu begrüßen – die Haut dunkel und geziert von hundert Tätowierungen, Hinweise auf die beeindruckenden Leistungen im Laufe seines Lebens –, hatte Beneto das Gefühl, ihn seit vielen Jahren zu kennen. Talbun umarmte den jungen Mann mit dürren Armen. »Ich bin sehr dankbar, dass du gekommen bist. Und die Bäume danken dir ebenfalls.« Er berührte den kleinen Baum, den Beneto mitgebracht hatte, schien auch ihn zu begrüßen.

Beneto lächelte. »Die Siedler von Corvus Landing möchten nicht auf einen grünen Priester verzichten. Du hast sie verwöhnt.«

Talbun lachte. Selbst sein Zahnfleisch war grün. »Die Kolonisten greifen nicht oft auf meine Dienste zurück, aber Zugang zum Telkontakt und damit auch zu den neuesten Nachrichten zu haben… Das gibt dieser Welt einen gewissen Status in der Hanse.«

»Ah, Status. Ich bin der zweite Sohn der Regenten von Theroc. Glaubst du, die Siedler werden mit solcher Bedeutung fertig?«

Talbun führte den jüngeren grünen Priester fort vom kleinen Raumhafen der Kolonie. Eigentlich war dieser nicht mehr als ein gepflasterter Platz, der für den Flohmarkt oder als Versammlungsort diente, wenn keine Schiffe landeten.

»Sie werden sich schnell daran gewöhnen und dann sehnst du dich bestimmt nach deiner Pilzriff-Stadt zurück. Warum möchtest du ein einfacher Mönch sein, wenn du als König leben kannst?« Talbuns Frage war scherzhaft gemeint, aber in seinen Worten erklang auch eine gewisse Sorge. »Ich überlasse diese Leute deiner Obhut, Beneto.«

»Sei unbesorgt. Meine wichtigste Verpflichtung gilt den Bäumen. Ich möchte hier leben, den Bäumen vorlesen und den Hain gedeihen sehen. Ich habe nichts dagegen, mir die Hände schmutzig zu machen, um den Kolonisten zu helfen. Es freut mich einfach, nützlich zu sein.«

Talbun schwieg einige Sekunden lang, während sie den Weg fortsetzten. Dann erschien ein Lächeln auf seinem dunklen Gesicht und er sagte: »Ich weiß, Beneto. Alle Informationen, die ich von den Weltbäumen über dich bekommen habe, weisen darauf hin, dass der Hain und die Siedler bei dir in guten Händen sind.« Er ging schneller. »Beeilen wir uns. Der Bürgermeister und tausend Kolonisten wollen dich willkommen heißen, sich vorstellen und dir Geschichten über mich erzählen.«

»Dafür gibt es später noch Zeit genug«, erwiderte Beneto.

»Ich bin lange im All gewesen und würde gern die Bäume sehen, die du hier gepflanzt hast.«

Der alte Priester ging beschwingt und brachte Beneto fort von den in konzentrischen Kreisen angeordneten niedrigen Gebäuden. Sie folgten dem Verlauf eines Pfades, der in ein langes, flaches Tal führte. Dort wuchsen die von Talbun gepflanzten Weltbäume im Schein der Sonne Corvus. Beneto spürte sie, noch bevor er sie sah. Er hatte das Gefühl, nach langer Zeit einen alten Freund zu treffen.

»Als die ersten Kolonisten hierher kamen, fanden sie eine Welt vor, die Arbeit verlangte, um zu ihrer Heimat zu werden«, sagte Talbun. »Die Untersuchungen der Hanse zeigten, dass es im Norden Erze und Mineralien gab, ohne eine Vegetation, die den Tagebau behindert hätte. Der größte Teil des Geländes bestand aus frei liegendem Felsgestein, ohne irgendwelche Pflanzen.«

»Ich habe beim Landeanflug einheimische Vegetation gesehen«, meinte Beneto.

»Ein miteinander verflochtenes haariges Moos – es gibt hier nicht einmal Gras. Die Moose verbreiten sich mithilfe von Trieben. Die größten Pflanzen von Corvus sind einfache Farne, die mir höchstens bis zu den Schultern reichen.« Talbun stieg den Hang eines Hügels empor und atmete nicht schneller, als der Weg steiler wurde.

»Leider konnte unser Vieh zunächst nichts mit der einheimischen Vegetation anfangen. Schließlich versuchten es die Siedler mit genetisch modifizierten Ziegen. Jene Tiere konnten das Moos und seine Triebe verdauen, solange die Siedler ihre Nahrung ergänzten.«

Beneto lachte leise. »Es stimmt also, dass Ziegen alles fressen.«

»Ja«, sagte Talbun. »Und Menschen essen die Ziegen. Über Jahre hinweg kamen das einzige frische Fleisch und die Milch von den Ziegen. Beides galt als Köstlichkeit, denn größtenteils ernährten sich die Kolonisten von konservierten Lebensmitteln, die Handelsschiffe brachten. Wir waren sehr von regelmäßiger Versorgung abhängig.«

Von der Hügelkuppe am Rand des Tals aus blickten sie über die Felder und Äcker hinweg.

»Zuerst war der Boden von Corvus selbst für die anspruchslosesten irdischen Pflanzen unfruchtbar, bis die Kolonie-Investoren den größten Teil ihres Kapitals für Düngerlieferungen verwendeten. In der Hanse witzelte man darüber – man sprach von ›Dung-Konvois‹ nach Corvus Landing. Aber es wurde immer mehr Dünger auf den Ebenen ausgebracht, und allmählich veränderte sich dadurch die chemische Struktur des Bodens. Schließlich konnten die Siedler Weizen, Hafer und Gerste anpflanzen.« Talbun seufzte.

»Ich wünschte, es wären schon damals Weltbäume hier gewesen, um alles aufzuzeichnen. Man säte im industriellen Maßstab: Flugzeuge brachten die Saat überall auf den Ebenen aus.«

Der alte Priester wirkte wehmütig, als er Beneto über einen sanfter geneigten Hang hinabführte, dem Hain entgegen. »Ich kam nach drei Jahren hierher und die Siedler brauchten fünf, um auf Corvus Landing Fuß zu fassen. Jetzt sind wir fast autark und erwirtschaften erste Gewinne, obwohl wir nur wenig exportieren. Die Minen im Norden produzieren genug Mineralien und Metalle für unsere Konstruktionsprojekte.

Bürgermeister Hendy hat Colony Town in die aufblühende Stadt verwandelt, die du beim Raumhafen gesehen hast.«

Beneto und Talbun kamen an einem niedrigen Gebäude vorbei, in dem der alte Priester wohnte. »Die Frauen von Colony Town kochen für mich und bestehen darauf, bei mir sauber zu machen. Es ist ihnen wichtig. Sie lassen einen grünen Priester nie vergessen, wie sehr sie uns respektieren und schätzen.« Talbun lächelte müde und setzte den Weg in Richtung der flüsternden Blattwedel des Hains fort. »Um ganz ehrlich zu sein: Ich verbringe nur wenig Zeit in dem Haus. Ich schlafe lieber bei meinen Freunden, den Bäumen.«

Sie betraten den Hain und sofort spürte Beneto die wohlwollende Aura der Weltbäume, das halb schlummernde unendliche Selbst des Weltwalds. Er wusste, dass auch er hier ruhen würde, wo der Hain zu ihm sprechen konnte. Er stellte sich vor, wie die Bäume in seinen Träumen flüsterten und er ihnen antwortete.

Talbun berührte die schuppige Borke des nächsten Baums und Sehnsucht zeigte sich in seinem Gesicht, das plötzlich um Jahrzehnte jünger wirkte. »Jeden Tag komme ich hierher und erzähle den Bäumen von den neuesten Ereignissen. Auf Corvus Landing geschieht nicht viel, aber es scheint ihnen zu gefallen, wenn ich über philosophische Dinge rede.«

»Die Bäume freuen sich über alle Informationen, ganz gleich, worum es dabei geht.« Beneto stand neben dem alten grünen Priester im Hain und hatte das Gefühl, heimgekehrt zu sein.

Diese Weltbäume waren viel jünger als der alte Wald auf Theroc, aber sie präsentierten ihm doch das gleiche Bewusstsein.

Talbun musterte seinen jüngeren Kollegen mit offensichtlicher Erleichterung – er schien es kaum abwarten zu können, endlich zu ruhen. »Niemand denkt an Corvus Landing, wenn er sich das Paradies vorstellt, aber diese Welt ist die ideale Heimat für Leute mit dem richtigen Pioniergeist.

Ich hoffe, es gefällt dir hier.«

Gemeinsam gruben sie ein Loch in den weichen Boden und pflanzten den jungen Baum von Theroc. Beneto richtete sich auf, schloss die Augen und streckte die Hände aus, um die Weltbäume zu berühren. Er sprach laut, antwortete sowohl dem alten grünen Priester als auch dem Wald. »Talbun, dies ist genau der Ort, den ich mir immer erträumt habe.«

82 ERSTDESIGNIERTER JORA’H

Erstdesignierter Jora’h wurde seinen kulturellen Pflichten gerecht, indem er immer neue Partnerinnen in seinen privaten Gemächern empfing. Einige der Frauen waren exotisch, manche ätherisch und wunderschön, andere fremdartig und kräftig gebaut. Sie repräsentierten die verschiedenen Geschlechter des ildiranischen Volkes.

Doch während Jora’h auf die lange Liste der potenziellen Partnerinnen blickte, dachte er immer wieder an die bezaubernde Nira Khali. Er hatte die Namen der Bewerberinnen aus seinem eigenen Volk gelesen und entsprechende Bilder betrachtet, die ihm ein breites Spektrum ildiranischer Schönheit zeigten. Seine Assistenten führten Aufzeichnungen bezüglich der ausgewählten Frauen, sodass nicht der Eindruck entstand, er hätte eine Vorliebe für bestimmte Geschlechter. Jora’h musste allen seinen zukünftigen Untertanen gegenüber fair sein.

Doch er begehrte vor allem Nira. Die grünhäutige, betörende Frau von Theroc bestimmte seine Gedanken. Kein anderer Name auf der Liste übte einen solchen Reiz auf ihn aus.

Schließlich wählte der Erstdesignierte aufs Geratewohl, eine Sängerin, die aufgeregt und verzückt zu ihm eilte. Sie hatte große dunkle Augen und einen schlanken Leib, der bereit war, ihn zu erfreuen. Ihr Name lautete Ari’t, und als sie sich vorstellte, sprach sie diesen Namen nicht, sondern sang ihn.

Jora’hs Lachen klang scharf und kehlig im Vergleich mit Ari’ts melodischer, honigsüßer Stimme. Seine rauchigen Augen glitzerten, als er einen anerkennenden Blick auf die ätherische Sängerin richtete.

»Ich bin Ihnen zutiefst dankbar dafür, dass Sie mich gewählt haben, Erstdesignierter«, sagte Ari’t und fügte dem Satz eine wortlose Melodie hinzu. »Ich hoffe, Sie finden mich als Partnerin akzeptabel.«

Jora’h wünschte sich nichts mehr, als seine

Fantasievorstellungen in Hinsicht auf Nira zu vergessen. Er lehnte sich im gewölbten Sessel zurück und bewunderte die exotische Gestalt der Sängerin. »Sie sind sehr akzeptabel, Ari’t.«

Nervös und voller Ehrfurcht erwiderte sie seinen Blick, schien ihr Glück kaum fassen zu können. Jora’h senkte die Lider ein wenig und sah sie weiterhin an. Ohne die Liste zu konsultieren wusste er nicht, ob er schon einmal eine Frau aus dem Sänger-Geschlecht gewählt hatte.

Ari’ts Brustkorb war besonders groß, um ausreichend Platz für leistungsfähige Lungen zu bieten. Der breite Hals enthielt zahlreiche zarte Stimmbänder. Nie zuvor hatte Jora’h eine schönere Stimme gehört. Ari’ts Publikum lachte oder weinte, wenn sie ihren Gesang hörte, verliebte sich sogar in sie.

»Singen Sie zuerst für mich, Ari’t.« Jora’hs Stimme war heiser – er fürchtete sich fast vor den Dingen, zu denen diese Frau imstande sein mochte.

»Es ist mir eine Ehre, Erstdesignierter.« Und aus ihrem Mund kam ein Strom von Musik, Melodien und Tönen, die weder Worte noch Verse brauchten, nur kristallene Tonfolgen. Jora’h fühlte sich wie hypnotisiert.

Seit Jahrzehnten, seit er mündig geworden war, führten seine Assistenten Listen von Frauen, die sich darum beworben hatten, seine Partnerin zu werden. Er hatte seine Pflichten mit Fleiß erfüllt und sorgfältig gewählt, um seine Adel-Gene auch unter den niederen Geschlechtern zu verteilen. Er empfing Schwimmerinnen und Geschuppte. Er ehrte Frauen, die kaum mehr humanoid waren. Alle Geschlechter verfügten über erstaunliche Fähigkeiten und Jora’h fand überall Schönheit und Kraft, selbst dort, wo andere Adlige nur Hässlichkeit gesehen hätten.

Der Erstdesignierte brachte jeder seiner Partnerinnen Höflichkeit und Respekt entgegen, aber man erwartete nicht von ihm, sich zu verlieben. Auch bei unattraktiven Frauen achtete Jora’h darauf, dass sie sich nicht herabgesetzt oder unzulänglich fühlten.

Er erinnerte sich insbesondere an eine große, deforme Frau aus dem Krieger-Geschlecht, die er im vergangenen Jahr geschwängert hatte. Der Weise Imperator Cyroc’h hatte seinen ältesten Sohn immer wieder darauf hingewiesen, dass jede ildiranische Art eine einzigartige Rolle im Reich spielte, und Jora’hs Pflicht bestand darin, sie alle zu ehren. Außerdem konnte sich der Erstdesignierte an genug wunderschönen, exotischen Partnerinnen erfreuen, die ihn für solche Unannehmlichkeiten entschädigten. Was die Kriegerin betraf… Der Sex mit ihr hatte sich durch eine besondere athletische und anstrengende Komponente ausgezeichnet.

Ari’ts Gesang trug Jora’h durch Gedanken und Erinnerungen, bis er nicht mehr wusste, wo er war. Langsam und auf subtile Weise veränderten sich die Melodien; die einzelnen Töne wurden voller, bekamen immer größere erotische Ausstrahlungskraft. Jora’hs Erregung wuchs, was zweifellos der Absicht der Sängerin entsprach.

Ari’t sprach mit ihrer Musik zu ihm, verführte ihn mit ihrer Stimme. Atemlos näherte sich Jora’h ihr. Sie summte tief in der Kehle, selbst dann noch, als er sie küsste, als seine Lippen über ihre Wangen und den Hals strichen. Sein goldenes Haar knisterte und wogte, wie von einem Sturm aus statischer Elektrizität erfasst.

Zwar liebten sie sich mit großer Hingabe, aber Jora’h spürte, wie seine Gedanken erneut fortglitten, und vor seinem inneren Auge entstand ein Bild der schönen, bescheidenen Nira, die sich so sehr von allen ildiranischen Frauen unterschied.

83 BASIL WENZESLAS

Als Vorsitzender fand Basil Wenzeslas nie Ruhe.

Angesichts der Größe und Komplexität der Terranischen Hanse rechnete er ständig mit kritischen Situation und Notfällen. Immer wieder musste er Entscheidungen treffen, um Katastrophen zu vermeiden. In Momenten des Triumphes genoss König Frederick den Applaus und die Lobpreisungen; wenn etwas schief ging, bekamen anonyme, namenlose Bürokraten die Schuld. Basil blieb in jedem Fall hinter den Kulissen.

Die erbarmungslosen und unerklärlichen Angriffe der Fremden besorgten Basil seit Monaten, außerdem erforderte die massive Aufrüstung seine Aufmerksamkeit. Es dauerte eine ganze Weile, bis er wieder Gelegenheit fand, sich einen Eindruck von den Fortschritten des neuen Prinzen Peter zu machen – er musste dafür sorgen, dass sich im großen politischen Teppich kein Knoten löste.

Basil saß in einem privaten Alkoven des Flüsterpalastes, trank Kardamomkaffee aus einer Porzellantasse und betrachtete von Überwachungskameras übermittelte Bilder, die den jungen Raymond Aguerra bei seiner Ausbildung zeigten.

In einem fensterlosen Lehrzimmer mit mehreren Stühlen, Sitzbänken, Projektoren und Schreibtischen setzte der Kompi OX die Lektionen fort. Der Prinz wirkte unruhig und gelangweilt.

»Als die Ildiraner die Offiziere der Peary und mich zur Erde brachten, war die Überraschung groß«, sagte OX. »Nach hundertfünfundvierzig Jahren glaubten die Menschen auf der Erde, die Generationenschiffe wären für immer verloren. Als die Solare Marine der Ildiraner auftauchte – die erste fremde Zivilisation, mit der die Menschheit in Kontakt kam –, wusste die Öffentlichkeit zunächst nicht, wie sie reagieren sollte.«

Der alte Kompi ging auf und ab, während er seinen Vortrag fortsetzte. »Die ildiranischen Militäroffiziere trugen beeindruckende Uniformen und kreuzten mit ihren prächtigen Schiffen am Himmel.

Der Jubel war ohrenbetäubend!« OX klang fast wehmütig.

»An Bord der Peary hatte ich Gelegenheit, jeden Moment der ersten Begegnung zu beobachten und aufzuzeichnen. Ich konnte die Menschen an meinen Erfahrungen teilhaben lassen und die entsprechenden Dateien anderen Kompis zur Verfügung stellen, um die Neuigkeiten zu verbreiten.

Die Terranische Hanse nahm meine Dienste sofort in Anspruch. Damals regierte König Ben, aber er starb kurze Zeit später. Ich unterrichtete den jungen Prinz George, so wie ich dich heute unterrichte. Die Hanse stellte mir ein privates Quartier zur Verfügung, eine Art Büro, und so etwas war beispiellos für einen Kompi…« OX schweifte ab, was gelegentlich geschah, wenn er seine Erinnerungen mit jemandem teilte.

Raymond klopfte mit den Fingern auf den Schreibtisch und seufzte tief. »OX, wenn deine Datenbanken so voller Nostalgie stecken, so solltest du vielleicht einige deiner alten Erinnerungen löschen, um mehr Platz zu schaffen.«

Einige Sekunden lang schwieg der Lehrer-Kompi verblüfft.

»Es handelt sich um Aufzeichnungen von historischer Bedeutung! Ich muss die Integrität meines Gedächtnisses bewahren, Prinz Peter, denn ich lehre, indem ich mein eigenes Leben und meine Aktivitäten als Beispiel benutze.«

»Wenn ich lernen soll, indem ich mir an etwas ein Beispiel nehme, warum gibt mir der Vorsitzende Wenzeslas dann nicht die Möglichkeit, König Frederick gegenüberzutreten?«, fragte Raymond verärgert. »Es ist doch vorgesehen, dass ich irgendwann seinen Platz einnehme, oder?«

Basil sah auf den Bildschirm und schürzte die Lippen. Auf eine Begegnung mit dem König wirst du noch eine Weile warten müssen, Prinz. Sie würde erst dann stattfinden, wenn Basil sicher sein konnte, dass alle Beteiligten mit der Situation zufrieden waren.

Ein Team offizieller Biographen arbeitete im Auftrag des Vorsitzenden an einer malerischen »Geschichte« des jungen Prinzen: Segnung durch den Erzvater des Unisono; mehrere Aufnahmen, die Peter mit seinem Vater König Frederick zeigten; liebevolle Erinnerungen an seine Mutter, die vor langer Zeit gestorben war und die er sehr vermisste. Es sollte ein hübsches Paket daraus werden, mit all den Dingen, die zu einer königlichen Erziehung gehörten.

Pellidor betrat den privaten Alkoven und lenkte Basil ab. Der Vorsitzende seufzte. Jeder Moment der Ruhe war kostbar, ganz gleich wie kurz. Es dauerte nie lange, bis es zu einer Unterbrechung kam.

Der Sonderbeauftragte brachte Dokumente und einen elektronischen Bericht. Mr. Pellidor wirkte nicht unbedingt selbstgefällig, aber zumindest zufrieden. Er wartete, bis Basil nickte, sprach dann mit leiser Stimme, obwohl ihn der Prinz im schalldichten Lehrzimmer nicht hören konnte.

»Die letzten Kleinigkeiten in Hinsicht auf die Familie des jungen Mannes sind jetzt erledigt, Vorsitzender«, sagte Pellidor und reichte Basil die Unterlagen.

Wenzeslas legte sie auf einen niedrigen Tisch. Er nahm Pellidor beim Wort – der Mann hatte ihn noch nie enttäuscht.

»Gilt das auch für Esteban Aguerra?« Raymonds Vater hatte in der neuen Kolonie seinen Namen geändert und war zum Islam übergetreten. »Fiel es Ihnen schwer, ihn zu finden.«

Pellidor schüttelte den Kopf. »Meine Leute sind gerade von Ramah zurückgekehrt. Ein sehr friedlicher Planet, wie ich hörte. Sie meldeten keine besonderen Probleme.«

Basil trank einen Schluck Kaffee und genoss den scharfen Kardamomgeschmack. »Gut.«

Auf dem Bildschirm stritt sich Peter mit dem Lehrer-Kompi.

Basil runzelte die Stirn, bedeutete Pellidor zu schweigen und erhöhte die Lautstärke. Es stand viel auf dem Spiel und der Vorsitzende wollte alles genau beobachten, um sicher zu sein, dass die Ausbildung wie geplant vorankam.

Peter war ihre beste Hoffnung auf einen fähigen, zuverlässigen Nachfolger des Königs.

Raymond Aguerra hatte sich schnell an das Leben im Flüsterpalast gewöhnt. Zwar trauerte er noch immer um seine Mutter und Brüder, aber was mit ihm selbst geschehen war, musste ihm wie ein Wunder erscheinen. Doch in letzter Zeit zeigte Raymond immer deutlichere Anzeichen von Widerspenstigkeit, so als hätte ein Teil seines Unterbewusstseins begriffen, was ihn erwartete.

Basil behielt die Unterlagen, schickte Pellidor fort und wandte sich wieder dem Bildschirm zu. OX präsentierte gerade einen Text auf der Oberfläche des computerisierten Schreibtischs und projizierte ein Faksimile des betreffenden Dokuments an die Wand. »Dies ist die Charta der Terranischen Hanse, Peter. Du musst dich mit allen Bestimmungen, Klauseln und Erweiterungen vertraut machen.«

»Ich kenne die Charta schon aus der Schule«, erwiderte Raymond ohne Interesse.

»Ja, aber du musst sie auswendig kennen, die Worte und Konzepte verstehen, ihnen einen wichtigen Platz in deinen Gedanken einräumen. Dieses Dokument wird die Grundlage deiner Herrschaft als König sein.«

»Steht mir eine Prüfung bevor?« Mit gerunzelter Stirn blickte Raymond auf die Worte hinab.

»Nein, aber du musst den Text kennen, um gelegentlich aus ihm zu zitieren.«

Der junge Mann stand auf, wanderte unruhig durchs Lehrzimmer und fand nichts anderes, das sein Interesse weckte. »Du hast doch gesagt, dass andere Leute die Reden schreiben, die ich bei meinen Auftritten in der Öffentlichkeit halten werde.«

»Das stimmt«, räumte OX ein. »Was auch immer du in der Öffentlichkeit sagst – jedes Wort wird sorgfältig ausgewählt.«

»Dann sollen jene anderen Leute angemessene Zitate aus der Charta in den Text einfügen.«

Basil beobachtete Raymonds Verhalten und Sorge keimte in ihm. Er erinnerte sich an das Debakel mit dem vorherigen Kandidaten, Prinz Adam. Vor fünf Jahren schien jener junge Mann perfekt gewesen zu sein – er bestand jeden Test. Der Rat der Hanse hatte sich einstimmig für ihn entschieden, doch plötzlich war Adam aufsässig geworden und hatte sogar damit gedroht, Basil und die heimlichen Aktivitäten der Hanse zu entlarven – als ob sich jemand darum scherte! Wie dumm.

Basil hatte eine Dringlichkeitssitzung des Rates einberufen und dabei waren die Ratsmitglieder widerstrebend zu dem Schluss gelangt, dass Adam nicht mehr zu halten war.

Während seiner »Herrschaft« als König hätte er jederzeit eigensinnig werden können, und so etwas durfte nicht geschehen. Aus diesem Grund sorgte Basil für die unauffällige Eliminierung des jungen Mannes. Prinz Adam war nie in der Öffentlichkeit aufgetreten und in keiner einzigen Nachrichtensendung erwähnt worden.

Er hatte nie existiert.

Zweifel nagten an Basils Entschlossenheit, als er nun beobachtete, wie OX vergeblich versuchte, Raymond für den Unterricht zu interessieren. Wenn »Prinz Peter« nicht funktionierte, blieb der Hanse kaum genug Zeit, um noch einmal von vorn zu beginnen.

Der Vorsitzende trank den Kaffee aus und bemühte sich, nicht zu besorgt zu sein, als er Raymond Aguerras Versuch beobachtete, seinen Willen durchzusetzen. Einfache Gereiztheit konnte überwacht und kontrolliert werden. So etwas war schon einmal geschehen und Basil hätte dies erwarten sollen. »Ich muss aufhören, so optimistisch zu sein, wenn es um die menschliche Natur geht«, sagte er sich.

Die Prinzen glaubten immer, ihre eigenen Herren werden zu können – aber das schafften sie nie.

84 MARGARET COLICOS

Ein zweites Unwetter ließ Flutwellen durch die Schluchten von Rheindic Co strömen, aber Margaret staunte so sehr über die Klikiss-Stadt, dass sie das Donnern in der Ferne überhaupt nicht hörte.

Wind heulte und Regen prasselte an die Schluchtwand.

Erneut ergossen sich braune Schlammfluten dort über die Felsen, wo zuvor die drei schwarzen Roboter gestanden hatten.

Die Ruinen waren trocken und geschützt. Und faszinierend.

DD richtete das Licht einer Leuchttafel in die dunklen Tunnel, als Louis und Arcas tiefer in die sonderbaren Bauwerke vorstießen. Die beiden Männer grinsten jungenhaft und Margaret fügte ihr eigenes Lächeln hinzu. Dieser Ort war wie ein Grab, still und unberührt.

Margaret strich über die glatten Wände und ertastete einen alten Staubfilm. Sie fürchtete, die spröden Artefakte allein mit ihrem Atem zu beschädigen, aber die Klikiss-Bauten waren errichtet worden, um Äonen zu überstehen. Tief im Felsgestein versiegelt hatte diese Stadt Jahrtausende überstanden, ohne vom Wetter oder Eindringlingen gestört zu werden.

»Die Konstruktionsweise ähnelt der auf Llaro«, sagte Louis.

»Sieh dir die Wände an, die Bögen.«

»Ja, aber hier ist alles viel besser erhalten.« Margaret richtete einen triumphierenden Blick auf Arcas. »Dies sind die einzigen fast intakten Klikiss-Ruinen, die man bisher im Spiralarm gefunden hat.«

Der grüne Priester schien stolz auf seine Rolle bei dieser Entdeckung zu sein und freute sich über Margarets Lob.

»Schade, dass Sirix, Ilkot und Dekyk nicht hier sind, um dies zu sehen«, sagte DD. »Solche Details könnten ihre Erinnerungen stimulieren. Halten Sie es für möglich, dass sie das Unwetter heil überstanden haben? Jeder alte Klikiss-Roboter ist unersetzlich.«

»Eine solche Möglichkeit lässt sich nicht ausschließen, DD«, erwiderte Louis mit erzwungenem Optimismus. »Kopf hoch.«

Der Kompi nahm die Anweisung wörtlich und hob den Kopf.

Stundenlang erforschten die Archäologen das Labyrinth aus Gebäuden und Räumen. Die Klikiss hatten ihre Tunnel tief in den Fels des Tafellands getrieben, um anschließend alle Zugänge hinter einer Wand zu verbergen. Warum? Um nicht entdeckt zu werden?

»Ich frage mich, ob sich die Klikiss vor etwas fürchteten«, murmelte Margaret und betrachtete die Reste der vermeintlichen Schluchtwand. »Diente diese Mauer Verteidigungszwecken?«

»Wir haben noch immer keine Ahnung, aus welchem Grund die Klikiss verschwanden«, sagte Louis und diese Worte galten in erster Linie dem grünen Priester, nicht seiner Frau.

»Wissen Sie, wie die Klikiss aussahen?«, fragte Arcas.

Louis schüttelte den Kopf. »Nein. Selbst auf dem vermutlichen Schlachtfeld von Corribus, wo wir die Klikiss-Fackel entdeckten, fanden wir keine einzige Leiche.«

»Und bei den Schriftzeichen und Hieroglyphen an den Wänden fehlen bildliche Darstellungen der Klikiss«, fügte Margaret hinzu.

»Vielleicht finden wir hier etwas, Louis«, sagte der immer optimistische DD. »Ich helfe Ihnen bei der Suche.«

Louis hatte eine kurze Monographie in einer renommierten xeno-archäologischen Fachzeitschrift veröffentlicht und darin halb ironisch spekuliert, dass das Fehlen von Klikiss-Leichen vielleicht auf rituellen Kannibalismus bei dem verschwundenen Volk hindeutete: Die Klikiss hatten ihre Toten verspeist und nichts übrig gelassen. Um diese These zu erhärten, erinnerte Louis daran, dass bisher weder Friedhöfe noch Gräber oder irgendetwas anderes gefunden worden war, das auf Bestattungen und dergleichen hindeutete. Louis’

Behauptungen stießen auf Skepsis und lösten eine kurze Debatte aus, aber wegen seines hohen Ansehens wagte es niemand, ihn als Spinner zu bezeichnen.

Als sie die Erkundungen fortsetzten, wurden die steinernen Korridore breiter und neigten sich offenbar einem zentralen Platz der Stadt entgegen. DD ging mit dem Licht voraus und die drei Menschen folgten ihm in einen weiteren Raum. Dort schien die Luft mit einer sonderbaren Stille zu vibrieren, so als wären die Steinwände imstande, selbst Echos festzuhalten und zu absorbieren.

Wie in den meisten Klikiss-Räumen zeigten sich überall Muster, Symbole und mathematische Zeichen an den Wänden, als hätten sich die Insektenwesen damals dazu verpflichtet gefühlt, Gedanken und historische Ereignisse für alle deutlich sichtbar darzustellen. Erstaunlicherweise fehlten auch Bilder von Raumschiffen, obgleich die Klikiss Raumfahrt betrieben und Kolonien im All gegründet hatten.

Verkleidete Maschinen standen in einer Ecke des Raums und warfen rasiermesserscharfe Schatten. Als DD das Licht seiner Leuchttafel umherwandern ließ, stellte Margaret fest, dass ein großer Teil der primären Wand vollkommen leer war, wie eine jungfräuliche Leinwand aus Stein, die darauf wartete, bemalt zu werden. Die leere trapezförmige Stelle wirkte umso seltsamer im Vergleich mit dem dichten Durcheinander aus Hieroglyphen und Piktogrammen auf allen Seiten.

»Hier scheinen die Klikiss nicht fertig geworden zu sein«, sagte Louis. »Aber warum haben sie diesen Bereich ausgelassen? Liegt es vielleicht an der Qualität des Steins?«

Margaret schüttelte den Kopf. »Nein, alter Knabe. Sieh nur, es ist ein perfektes Trapezoid. Diese Stelle wurde absichtlich leer gelassen, vielleicht deshalb, weil man sie für etwas anderes brauchte. Wir haben so etwas schon einmal gesehen, in den anderen Ruinen.«

»Ja, jetzt erinnere ich mich. Aber wir haben noch nicht herausgefunden, was es damit auf sich hat, Schatz.«

Arcas ging in die Hocke und betrachtete das Trapezoid, das an der Basis drei Meter maß. »Für mich sieht es wie ein breites Fenster aus… oder wie eine Tür.«

Margaret widersprach nicht, denn sie hatte das gleiche sonderbare Gefühl. »Aber wohin führt das Fenster oder die Tür? Hier gibt es nur Stein.« Sie trat vor, neugierig auf die Symbole, die das Trapezoid umgaben. Die wenigen anderen bisher entdeckten »Steinfenster« waren von Schutt umgeben oder beschädigt gewesen. Dieses hingegen schien vollkommen intakt zu sein.

Aber sein Zweck blieb unklar.

»Entschuldigen Sie!«, rief DD und unterbrach damit Margarets Überlegungen. »Ich habe etwas Wichtiges gefunden!« Er stand bei den verkleideten Maschinen an der Wand und richtete das Licht seiner Leuchttafel auf die dunkle Lücke zwischen zwei klobigen Modulen.

Margaret sah dort einen reglosen Haufen, eine staubige Schale mit mehreren verdrehten Beinen und einen rundlichen Körperkern mit einem matten, staubigen Überzug – das Etwas sah aus wie ein großer, halb zerquetschter Käfer. Es wies eine gewisse Ähnlichkeit mit den Klikiss-Robotern auf, wirkte aber natürlicher und glatter.

Margaret schnappte verblüfft und aufgeregt nach Luft. Ein Adrenalinschub ließ sie erzittern. »Louis… Ist es wirklich das, was es zu sein scheint?«

Louis kam näher, sah in die Lücke und lachte triumphierend.

Margaret wusste genau, was der Haufen darstellte, noch bevor sich Louis ihr zuwandte und strahlend lächelte. »Der Erste!«, juchzte er. »Gute Arbeit, DD!«

Der Kompi richtete das Licht auf die mumifizierte Klikiss-Leiche und Margaret beugte sich vor. Sie achtete darauf, die Reste des fremden Geschöpfs nicht zu berühren, denn das hohe Alter hatte diese sicher sehr brüchig gemacht. »Der Körper ist so alt, dass er zu Staub zerfällt, wenn wir ihn zu bewegen versuchen.«

Louis deutete auf einen langen Riss im Rückenschild des Klikiss. »Er scheint zerdrückt worden zu sein. Ein Schlag von hinten. Oder vielleicht stürzte ein Teil der Decke auf ihn.«

»Wo liegt dann der Schutt?« Margaret wich zurück und nahm jedes Detail in sich auf. Der Klikiss ähnelte den großen schwarzen Robotern so vage wie der humanoide DD einem Menschen.

Louis war so unvorsichtig wie immer und berührte mit der Fingerkuppe das verdrehte Vorderbein des fremden Wesens –ein Teil des graubraunen Körperpanzers zerfiel zu Staub. »Ich schätze, eine Autopsie kommt nicht infrage, Schatz«, sagte er.

»Wir sollten möglichst genaue Bilder anfertigen.«

Margaret nickte. »Auch bei der Untersuchung des Staubs könnte sich etwas ergeben. Wir bekommen Aufschluss über die chemische Struktur und vielleicht finden wir sogar einige intakte Zellen.« Ihr Herz klopfte voller Aufregung. Derzeit erschien ihr alles möglich.

»Was ist das für ein Geräusch?« Arcas sah sich um.

Margaret hörte, wie sich in den äußeren Tunneln etwas bewegte: schwere Schritte, ein Klacken und Pochen. Von einem Augenblick zum anderen wurde ihr klar, wie allein und isoliert sie in dieser Geisterstadt waren. Sie hatten keine Waffen dabei, konnten sich nicht zur Wehr setzen.

Lebte hier noch etwas, nach all den Äonen?

In den Wüsten von Rheindic Co gab es nur einige kleine Eidechsen und Spinnen. Nichts deutete auf große Raubtiere hin. Draußen war das Heulen des Windes verstummt und dadurch erschien das Pochen der schweren Schritte noch lauter. Margaret schluckte und Louis trat näher an sie heran, wie um sie zu schützen.

DD schritt furchtlos durch den Raum und hob seine Leuchttafel. Wenige Sekunden später sagte der Kompi erfreut:

»Sirix und die beiden anderen Klikiss-Roboter – sie sind zurückgekehrt!«

Die schweren schwarzen Maschinen erreichten das Licht und passierten nacheinander die steinerne Tunnelöffnung. Margaret beobachtete sie verblüfft, denn sie hatte gesehen, wie sie von der Flut in der Schlucht fortgespült worden waren. Hier und dort klebten Schlammbrocken an ihren Außenhüllen. Einer von Ilkots scharlachroten optischen Sensoren war gesplittert und trüb. Beulen und Kratzer zeigten sich in der schwarzen Panzerung, aber abgesehen davon schien mit den Robotern alles in Ordnung zu sein.

»Wir sind… intakt«, sagte Sirix. Die drei schmutzigen Maschinen verharrten im Raum, sahen sich um, scannten und zeichneten alles auf.

»Eure Unzerstörbarkeit beeindruckt mich«, sagte Louis fröhlich. »Seht nur, was wir hier gefunden haben: eine mumifizierte Klikiss-Leiche, die erste, die jemals entdeckt wurde!« Er wirkte wie ein aufgeregter Schuljunge, der etwas Großartiges vorweisen konnte.

Margaret fühlte noch immer Unbehagen, als sie die drei großen käferartigen Roboter beobachtete. Sie dachte daran, wie schwer es ihnen, den Menschen, gefallen war, an der Schluchtwand emporzuklettern, trotz der von DD ins Felsgestein getriebenen Haken und bevor der Regen große Brocken aus der Schluchtwand gelöst hatte. »Wie seid ihr hierher gekommen, Sirix? Ich dachte, ihr wärt nicht in der Lage, an der steilen Wand hochzuklettern.«

»Wir haben es geschafft«, erwiderte Sirix schlicht.

Dann wandte sich der Roboter zur Seite und betrachtete die Klikiss-Leiche, die wie eingezwängt zwischen den beiden Maschinenblocken lag, teilweise zu Staub zerfallen. Die anderen beiden Roboter blickten auf das trapezförmige steinerne Fenster, als versuchten sie, sich zu erinnern.

85 OTEMA

Die alte Botschafterin von Theroc ging so in ihrer Arbeit auf, dass sie ihr kristallenes Quartier im Prismapalast kaum verließ.

Die Saga der Sieben Sonnen brachte sie weiter als jede Besichtigungstour. Otema hatte alles, was sie brauchte, mit Ausnahme von Zeit. Das Epos war so lang, dass sie in den ihr noch verbleibenden Jahren nur einen kleinen Teil davon lesen konnte.

Überall um sie herum gab es gefiltertes Licht, brachte ihrer photo-synthetischen Haut Wärme und Kraft. Die beiden in Töpfen wachsenden jungen Weltbäume gediehen prächtig in der hellen Umgebung – inzwischen waren sie schon ein Meter zwanzig groß.

Otema las laut, bis der raue Hals sie zu einer Pause zwang.

Sie griff nach dem Glas mit kühlem Wasser, das immer bereit stand, trank einen Schluck, um die trockenen Stimmbänder zu befeuchten, und lehnte sich zurück.

Nachdem sie den Botschafterposten der ehrgeizigen Sarein überlassen hatte, war Otema nicht sicher gewesen, ob sie nach Ildira reisen sollte. Voller Sorge hatte sie an die Veränderungen gedacht, die Sarein vielleicht herbeiführen wollte. Sie befürchtete, dass die junge Frau dem Drängen der Hanse nachgab und dadurch die Unabhängigkeit von Theroc aufs Spiel setzte.

Doch als sie auf Ildira das ungeheure Potenzial der Saga sah, begriff Otema, dass sie hier mehr für das Wohlergehen und Wissen des Weltwalds leisten konnte als beim politischen Tanz mit terranischen Politikern.

Manchmal fühlte sie sich von Nira enttäuscht, die in der Gesellschaft des Erstdesignierten Jora’h ebenso viel Zeit verbrachte wie mit dem Vorlesen aus der Saga. Jeden Tag besuchte Nira Turniere und Museen oder sah sich Himmelsparaden an. Nun, Otemas Assistentin war jung und von neuen Dingen leicht zu beeindrucken. Außerdem erlebte sie die ildiranische Kultur intensiver als die alte grüne Priesterin, und sie versäumte es nie, ihre Eindrücke mit den Weltbäumen zu teilen. Daher wurde das Wissen des Weltwalds auch auf diese Weise gemehrt.

Tief in ihrem Innern blieb Otema die Botschafterin, die sie viele Jahre ihres Lebens gewesen war, und immer wieder dachte sie voller Sorge an die politische Zukunft von Theroc und die Tätigkeit der grünen Priester auf Welten der Hanse.

Wenn sie nach endlosen Stunden des Lesens müde wurde, entspannte sich Otema, berührte die jungen Weltbäume und stellte den Telkontakt her, um Neuigkeiten in Erfahrung zu bringen.

Sie versuchte, Sareins Aktivitäten als neue Botschafterin bei der Hanse zu verfolgen, den Überblick über die von ihr unterzeichneten Abkommen und Dokumente zu wahren.

Bisher war es kaum zu wichtigen Veränderungen gekommen, aber das beruhigte Otema nicht. Vielleicht verfolgte Sarein ihre Pläne hinter verschlossenen Türen, abseits des Netzwerks der grünen Priester.

Oh, welchen Schaden sie anrichten konnte!

Otema hatte ihre Besorgnis dem Weltwald übermittelt und die anderen Priester würden wachsam sein, insbesondere die auf der Erde. Aber den Weltwald schien auch eine andere Sorge zu bedrücken, und sie betraf etwas, das viel schlimmer war als die terranische Politik. Noch wusste kein grüner Priester, worum es sich dabei handelte.

Otema und die anderen Priester hatten versucht, mehr über den Grund für das Unbehagen des Weltwalds herauszufinden, aber die Bäume gaben nichts preis, nicht einen einzigen Hinweis. Und so fuhr die alte Botschafterin damit fort, aus der Saga der Sieben Sonnen vorzulesen, spürte dabei die Faszination des Weltwalds.

Sie nahm sich nun einen anderen Teil des Epos vor und begann damit, den lauschenden Bäumen eine weitere ildiranische Geschichte vorzulesen.

Auch in Niras Quartier wuchsen zwei junge Bäume in Töpfen. Die übrigen waren liebevoll im Terrarium der Himmelssphäre gepflanzt worden, das über dem Empfangssaal des Weisen Imperators schwebte.

Otema hörte, wie Schritte vor dem Zugang ihres Quartiers verharrten, reagierte aber nicht darauf und las weiter. Die Geschichte betraf einen tauben Sänger, dessen Gesang so mächtig war, dass er die Herzen der Zuhörer aus dem Rhythmus bringen konnte – während es dem Sänger verwehrt blieb, die eigene Stimme zu hören. Traurigerweise blieb dem damaligen Weisen Imperator schließlich nichts anderes übrig, als den Sänger hinrichten zu lassen, nachdem zwei von tiefer Trauer erfasste adlige Zuhörer Selbstmord begangen hatten.

Otema seufzte, legte das Dokument beiseite und begrüßte den Erinnerer Vao’sh. Der Historiker kam mit vielen Schriftrollen und handschriftlichen Unterlagen. »Vermutlich sind Sie noch nicht für weitere Teile der Saga bereit, Botschafterin Otema, aber ich habe einige besonders interessante Geschichten ausgewählt. Sie werden Ihnen gefallen.«

»Und auch die Weltbäume werden ihre Freude daran haben… Ach, wenn ich doch nur mehr Zeit hätte.«

Vao’sh lachte und es klang so freundlich, dass es Otema das Herz wärmte. »Mit diesem Problem habe ich es zu tun, seit ich Historiker geworden bin. Für einen Erinnerer ist der tragischste Tod ein zu früher, denn dann kann er nicht das vollständige Epos lesen und stirbt unerfüllt.«

»Zum Glück kann der Weltwald gleichzeitig Informationen aus verschiedenen Quellen aufnehmen«, sagte die alte grüne Priesterin. »Es ist nicht meine Lebensaufgabe, die ganze Saga vorzulesen. Ich möchte nur dafür sorgen, dass der Weltwald das ganze Epos erfährt, wie auch immer.«

Vao’sh legte die neuen Dokumente auf Otemas Schreibtisch.

»Ich glaube, dabei können Ihnen die Erinnerer helfen, Botschafterin. Sie haben mir von großen Gruppen aus grünen Priestern und Akolythen erzählt, die den Weltbäumen auf Theroc vorlesen und ihnen Informationen übermitteln. Warum sollte sich das nicht auch hier bewerkstelligen lassen, mit anderen Lesern und anderen Teilen der Saga!«

Otema schöpfte Hoffnung. »Was schlagen Sie vor?«

»Der Weise Imperator hat mich angewiesen, Ihnen in jeder nur erdenklichen Weise zu helfen. In seinem Namen könnte ich andere Erinnerer, Sänger und selbst gewöhnliche Höflinge damit beauftragen, Teile der Saga den Bäumen vorzulesen.

Wenn ich es richtig verstehe, ist nicht unbedingt ein grüner Priester erforderlich, um dem Weltwald Informationen zu übermitteln. Wir könnten also eine große Aufgabe in viele kleine Aufgaben teilen.«

Otema war begeistert. Sie hatte bereits daran gedacht, die Aufgäbe an die grünen Priester auf Theroc zu delegieren, ohne die Möglichkeit zu berücksichtigen, dass auch Ildiraner den Weltbäumen vorlesen konnten. Für das Vorlesen war kein Telkontakt nötig – immerhin hatten die Akolythen auf Theroc noch nicht das Grün bekommen.

»Eine großartige Idee, Erinnerer Vao’sh. Mit Ihrer Methode ginge das Vorlesen der Saga viel schneller vonstatten.«

Mit einem zufriedenen Seufzen blickte Otema zu den neuen Dokumenten, die Vao’sh gerade gebracht hatte. Sie betrachtete die Symbole und stellte erstaunt fest, dass an einer Stelle die geheimnisvollen Klikiss-Roboter erwähnt wurden. Sie erinnerte sich daran, eine andere lange Stelle des Epos gelesen und darin nach Hinweisen auf das Insektenvolk gesucht zu haben, doch die Klikiss waren verschwunden, bevor die ildiranische Geschichtsschreibung begann.

Otema drehte sich rasch um, als Vao’sh das Zimmer verlassen wollte. Sie rief ihn zurück. »Ich habe eine Frage, Erinnerer. Mit ist klar, dass ich nur einen winzig kleinen Teil der Saga kenne, aber ich habe kaum etwas über die Klikiss-Roboter gefunden. Die ersten wurden doch von Ildiranern entdeckt, irgendwo auf einem Mond, nicht wahr? Hier in Mijistra habe ich mehrere jener Roboter gesehen und ich weiß, dass sie auch auf anderen Welten des Ildiranischen Reiches präsent sind.«

»Klikiss-Roboter haben auch die Terranische Hanse besucht«, sagte Vao’sh und die Hautlappen in seinem Gesicht verfärbten sich. Otema wusste diese Zeichen noch nicht zu deuten.

»Stimmt, aber das Ildiranische Reich ist viel älter. Gibt es bei Ihnen Geschichten darüber? Warum sind Informationen über die Klikiss so rar? Einst waren sie eine wichtige Zivilisation, so wie Ihre. Verschwanden sie vor der Entstehung des Ildiranischen Reiches?«

Vao’sh wirkte verwirrt und schien zu überlegen, wie er die Frage beantworten sollte. Seine Verwunderung deutete darauf hin, dass er nicht oft über diese Angelegenheit nachgedacht hatte.

»Die Klikiss und ihre Roboter sind Teil einer anderen Geschichte«, sagte der Erinnerer schließlich. »Ihrer eigenen.

Vielleicht spielen sie keine Rolle in unserer Geschichte oder in Ihrer.«

Er wich zurück, und seine Hautlappen zeigten ungewöhnliche Farben. »Oder vielleicht ist jener Teil der Geschichte noch nicht geschrieben.«

86 NIRA

Die kristallenen Balkone des Prismapalastes boten einen prächtigen Ausblick. Erstdesignierter Jora’h führte Nira zu einem Aussichtssims neben dem Plätschern und Rauschen nach oben fließender Bäche. Er ließ seine Leibwächter zurück, um für einige Momente mit der reizenden Frau von Theroc allein zu sein.

»Dies ist einer meiner Lieblingsorte«, sagte er.

Nira atmete tief durch. »Hier ist es… wunderschön.« Jora’h berührte sie am Arm, hielt dann ihre Hand. Nira zog sie nicht zurück.

Von seiner Hügelkuppe aus bot der Prismapalast einen weiten Blick über Mijistra. Wellenförmige gläserne Bauten reichten bis zum Horizont, wirkten wie die Oberfläche eines Teichs. Der Palast ragte weit auf, umgeben von den Kuppeln der einzelnen Ministerien. Der Boden des Aussichtssimses und seine gewölbten Streben bestanden aus transparentem Glas, deshalb gewann Nira den Eindruck, über der Stadt zu schweben, mit Jora’h an ihrer Seite.

Stufen aus Erdreich führten zu den Halbkugeln und Kuppeln des Palastes. Das Wasser von sieben Flüssen strömte durch absolut gerade Kanäle und traf sich an einer Stelle.

»Die Planer des Prismapalastes wollten zeigen, dass die Elemente dem alles sehenden und allmächtigen Weisen Imperator entgegenstreben, selbst den Naturgesetzen zum Trotz.« Jora’h senkte die Stimme, sah Nira an und lächelte.

»Aber ich muss dieses Konzept infrage stellen, denn alle meine Gedanken fließen in Ihre Richtung, Nira.«

Die junge grüne Priesterin lachte verlegen und drückte Jora’hs Hand. Am Tor hinter ihnen standen die wild und grimmig aussehenden Leibwächter. Ihre Haltung brachte Entspannung zum Ausdruck – offenbar rechneten sie nicht mit einer Gefahr für den Erstdesignierten.

»So weit über der Stadt zu sein…«, sagte Nira. »Es ist atemberaubend. Dies erinnert mich an Theroc, wo ich auf die Wipfel der hohen Bäume geklettert bin.«

»Reynald hat mir Ihre Welt beschrieben und es klang faszinierend.« Jora’hs rauchige Augen glänzten, als er sich den Waldplaneten vorstellte. »Eines Tages werde ich Theroc besuchen. Vielleicht mit Ihnen.«

»Und mit einer großen Gruppe von Bediensteten, Leibwächtern und Assistenten«, sagte Nira schmunzelnd.

»Nach dem Verlassen von Mijistra würden wir kaum Ruhe finden.«

»Ildiraner sind nicht gern allein.«

Sie standen dicht nebeneinander, obwohl der Aussichtssims genug Platz bot. Nira war sich der Präsenz des Erstdesignierten sehr bewusst und wollte nicht von ihm fortrücken.

Sie beobachtete die winzigen Gestalten tief unten. Ein endloser Strom von Ildiranern brachte eine Stufe des Zitadellenhügels nach der anderen hinter sich, um zum Prismapalast zu gelangen.

»Pilger«, sagte Jora’h, als er Niras Interesse bemerkte. »Sie kommen, um die Erhabenheit des Weisen Imperators zu sehen.«

Gruppen verschiedener Arten kletterten und verharrten an bestimmten Stellen entlang der Straße. Sie überquerten Brücken, wanderten um den Hügel herum und wuschen sich rituell im Wasser der sieben Flüsse, bevor sie die Eingangskuppel betraten. »Alle Bürger des Reiches haben Zugang zum Palast. Mein Vater hat angeordnet, dass seine Audienzgalerie immer für Besucher geöffnet ist. Jeder Pilger soll sein Gesicht sehen, das an die Himmelssphäre projiziert wird.«

»Befürchtet er keine Mordanschläge oder Gewalt?«

Jora’h richtete einen überraschten Blick auf Nira. »Durch das Thism erfährt der Weise Imperator sofort von entsprechenden Absichten. Mein Vater könnte ein solches Problem lösen, bevor der Attentäter den Prismapalast erreicht. Wir Ildiraner sind anders als die Menschen, Nira. Das müssen Sie verstehen.«

Schweigend standen sie Seite an Seite und beobachteten, wie sich die Pilgergruppen ehrfürchtig ihrem Ziel näherten.

Schließlich sagte Nira: »Die Unterschiede zwischen uns sind nicht so groß.« Sie schob sich noch etwas näher an den Erstdesignierten heran. »In gewisser Hinsicht sind wir durchaus… kompatibel.«

In den privaten Gemächern des Erstdesignierten fragte sich Nira, ob der charismatische Mann seine telepathischen Eigenschaften genutzt hatte, um sie zu verführen. Andererseits: Durch den Kontakt mit dem Weltwald war sie sich der Macht externer Gedanken bewusst und derzeit hatte sie nicht das Gefühl, gegen ihren Willen zu handeln. Alles fühlte sich richtig an. Dies war ihr erstes Mal, aber sie blieb ohne Furcht.

Niras Haut nahm das aus allen Richtungen kommende Licht auf und Jora’hs Berührungen erregten sie. Sie schlang die Arme um den Erstdesignierten und begehrte ihn immer mehr, so wie auch er sie begehrte. Langsam und mit großer Faszination zogen sie sich gegenseitig aus, jeweils ein Kleidungsstück nach dem anderen.

»Ich finde dich unglaublich interessant, Nira«, hauchte Jora’h und sein Atem strich ihr warm übers Ohr.

Sie brachte ihm die gleichen Empfindungen entgegen.

Nira hatte befürchtet, dass er nach so vielen Partnerinnen abgestumpft und übersättigt sein würde, aber als sie sich liebten, empfing sie Jora’hs volle leidenschaftliche Aufmerksamkeit.

87 ADAR KORI’NH

Es war ein alter Trick, den der Adar aus seinem Studium der terranischen militärischen Strategiespiele gelernt hatte. Er brachte zwei Kohorten von Kriegsschiffen zur Peripherie des Doppelsternsystems Qronha, in dem zwei der sieben Sonnen an Ildiras Himmel leuchteten. Das Qronha-System war dünn besiedelt und enthielt zwei bewohnbare, aber unbedeutende Planeten. Wichtig war es nur aufgrund der sehr alten, Ekti produzierenden Stadt, die in der Atmosphäre des lokalen Gasriesen schwebte. Es handelte sich um eine der wenigen noch von Ildiranern betriebenen Himmelsminen.

Adar Kori’nh hielt diesen Ort für geeignet, um ein lehrreiches militärisches Manöver stattfinden zu lassen.

Er teilte die beiden Kohorten in zwei gegnerische Flotten auf

– hunderte von Schiffen sollten gegeneinander antreten. Nach der menschlichen Tradition gab Kori’nh den beiden Gruppen die Bezeichnungen »Rot« und »Blau«. Der Adar hielt eine solche Übung für interessant. Es steckte mehr dahinter als nur ein Spiel.

Tal Aro’nh, ein Profi der alten Schule, leitete die blaue Kohorte. Der Tal führte alle Anweisungen so aus, wie man es von ihm erwartete, aber trotzdem besorgte er Kori’nh mehr als alle anderen. Innovation schien für jenen alten Offizier ein völlig fremdes Konzept zu sein. Immer wieder klagte Aro’nh darüber, mit unorthodoxen Übungen »Zeit zu vergeuden«.

Tal Lorie’nh führte den Befehl über die rote Kohorte. Der Adar hielt ihn nicht für einen besseren Kommandeur, aber Lorie’nh war vernünftig genug, sich zurückzuhalten und es seinen Quls, den Manipel-Subcommandern, zu überlassen, ihre Pflicht zu erfüllen. Lorie’nh wählte die Subcommander gut aus, was dazu führte, dass seine Kohorte oft bessere Leistungen erzielte als andere.

Kori’nh saß im Kommando-Nukleus einer kleinen Beobachtungsplattform, um von dort aus die »Konfrontation«

der beiden Flotten zu beobachten. Er aktivierte den Nahbereichs-Transkanal und sprach zu den beiden Tals.

»Aro’nh, Lorie’nh – beginnen Sie.«

Tal Lorie’nh bestätigte knapp, aber Aro’nh nutzte die Gelegenheit, um einen letzten Einwand zu erheben. »Adar, ich muss Sie erneut bitten, diese entzweienden Aktivitäten einzustellen. Die Solare Marine ist eine Einheit; alle ihre Schiffe arbeiten zusammen, um die Missionen zu erfüllen, mit denen uns der Weise Imperator beauftragt. Nie zuvor hat ein Manipel gegen einen anderen Manipel gekämpft, außer während des schrecklichen Bürgerkriegs vor langer Zeit.

Solche Übungen stören die militärische Disziplin und führen zu Verwirrung. Das Geschlecht der Soldaten gewinnt den Eindruck, dass Angehörige des eigenen Volkes zu Feinden werden könnten…«

Kori’nh brachte kein Verständnis für die starren Ansichten des alten Kommandeurs auf. »Tal Aro’nh, ich finde es weitaus störender und entzweiender zu hören, dass Sie meine Befehle infrage stellen. Ich bin Ihr Adar, vom Weisen Imperator gesegnet. Führen Sie die Anweisungen aus oder ich enthebe Sie des Kommandos.«

»Ja, Adar«, erwiderte der Tal und unterbrach die Verbindung.

Kori’nh lehnte sich zurück und beobachtete die Schiffsbewegungen. Die Kommandeure der beiden Kohorten durften ihre jeweiligen Strategien nicht miteinander absprechen. Das Ziel der Übung: Ein Asteroid, der den Doppelstern in großer Entfernung umkreiste, sollte von einer Gruppe erobert und besetzt werden.

Es überraschte Kori’nh nicht, das Aro’nh seine Schiffe in perfekter Formation fliegen ließ: eine Kugel innerhalb einer Kugel, ein Muster, das allen Beobachtern ildiranischer Himmelsparaden vertraut war. Die großen Kriegsschiffe bildeten die äußere Kugel, kleinere Einheiten die innere.

Aro’nh führte seine Flotte auf direktem Weg zum Asteroiden.

Wachschiffe umgaben die Kugel-in-einer-Kugel mit einem Patrouillenschild, umkreisten die Sphäre aus großen Kriegsschiffen. Diese Anordnung sollte der Verteidigung dienen, aber da die Wachschiffe in entgegengesetzte Richtungen flogen, ergab sich ein spektakulärer Anblick. Er diente vor allem dazu, Zuschauer jubeln zu lassen; in militärischer Hinsicht war seine Bedeutung gleich null.

Tal Lorie’nh ließ seine Schiffe in einer chaotischeren Konfiguration fliegen. Die sieben Manipel seiner Eskorte teilten sich in einzelne Gruppen aus neunundvierzig Raumern auf. Jeder Manipel flog einen eigenen Kurs und für das kritische Auge hatte es den Anschein, dass es dem Vorgehen der roten Flotte an Finesse und Eleganz mangelte. Schließlich lösten sich die Manipel in ihre jeweils sieben Septas auf und alle Schiffe rasten in einem wilden Haufen dem Ziel entgegen.

Nacheinander griffen sechs von Lorie’nhs sieben Manipel die Kugelformation der blauen Flotte an und brachen sie auf. Über den Transkanal gab Tal Aro’nh scharfe Befehle und forderte die Kommandanten der einzelnen Schiffe auf, zur ursprünglichen Konfiguration zurückzukehren. Die große Doppelkugel setzte ihren Flug zum Asteroiden fort, ohne auf die Gefahr zu achten, die von den roten Schiffen ausging.

Während sechs rote Manipel der zwar prächtigen, aber schwerfälligen Gruppe aus blauen Schiffen zusetzten, rückte Lorie’nhs siebter Manipel schnell zum Asteroiden vor. Er ließ sich nicht ablenken, war einzig und allein darauf konzentriert, das Ziel zu erreichen.

Rot ging mit einer einfachen – und in der Rückschau betrachtet auch offensichtlichen – Taktik vor. Als sich Aro’nhs langsame Doppelkugel umgruppierte und öffnete, um die Landungsschiffe in den Einsatz zu schicken, hatte der siebte rote Manipel den Asteroiden bereits erreicht und setzte kleinere Einheiten mit ildiranischen Bodentruppen ab, die das Symbol ihrer Kohorte auf den kleinen Himmelskörper trugen und das Siegessignal sendeten.

Die anderen sechs Manipel der roten Flotte setzten sich vom Gegner ab, wichen zurück, umgaben den Asteroiden und hinderten Aro’nhs Kohorte sogar daran, sich dem Ziel zu nähern. Blau musste eine völlige Niederlage einstecken.

Bevor die blaue Gruppe Gelegenheit bekam, auch nur einen einzigen Truppentransporter einzusetzen, nahm Adar Kori’nh Kontakt mit den beiden Flottenchefs auf, um Rot zum Sieger und das Manöver für beendet zu erklären.

Tal Aro’nh wirkte besonders alt, fast wie ein Fossil, als er im Kommando-Nukleus der Beobachtungsplattform vor Adar Kori’nh trat. Er nahm Haltung an und stand kerzengerade, die Uniform makellos, Insignien und Orden perfekt auf der Brust angeordnet.

Er hatte verloren.

Aro’nhs berufliche Laufbahn war ein Musterbeispiel für den Dienst in der Solaren Marine. Aber Adar Kori’nh hielt das nicht mehr für gut genug. Der alte Tal wartete stumm, während sein Gesicht deutliche Empörung zeigte.

Die Manipel-Subcommander der beiden Flotten warteten in den Vorzimmern. Kori’nh musterte die beiden vor ihm stehenden Tals und ließ die Stille andauern, während seine Miene keinen Hehl aus einer Enttäuschung machte, die ihnen beiden galt. »Nun, meine Herren? Wie schätzen Sie die Übung ein?«, fragte er schließlich.

Tal Lorie’nh wartete wie üblich darauf, dass jemand anders zuerst das Wort ergriff. Aro’nh schob das Kinn vor und schniefte. »Adar, ich muss gegen die von der roten Gruppe eingesetzte Taktik protestieren. Die militärischen Richtlinien der Solaren Marine sehen so etwas nicht vor. Nirgends in der Saga der Sieben Sonnen wird ein Kommandeur erwähnt, der von einer derartigen Taktik Gebrauch machte. Sie wurde nie zuvor benutzt! Ich finde es verachtenswert, dass sich Tal Lorie’nh mit dem Chaos verbündete. Wir sind Kohorten-Kommandeure der Solaren Marine. Unsere Soldaten sind keine ungeordnet umherlaufenden Herdentiere, die man veranlasst, wild loszustürmen.«

Kori’nh wartete, bis Aro’nh schwieg, bevor er in einem ruhigen und vernichtenden Tonfall sagte: »Aber der roten Gruppe gelang es, Sie zu schlagen.«

»Es ist ein ungültiger Sieg, Adar…«

Kori’nh schlug mit der Faust auf den Tisch und erhob sich. In seinen Augen blitzte es. »Es gibt keine ungültigen Siege!« Die Schärfe in seiner Stimme schockierte beide Tals. »Warum bestehen Sie darauf, dass die Solare Marine alte, vorhersehbare Methoden bei allen Gegebenheiten einsetzt? Was passiert, wenn wir einem Feind begegnen, der unsere Regeln weder versteht noch respektiert? Was dann?«

»Dies ist nicht unsere Art, Adar.« Aro’nh blickte finster.

»Wir Ildiraner haben eine Tradition der Ehre. Wenn Sie erlauben, dass dieser unzivilisierte Wahn andauert, so fordern Sie den Niedergang all dessen heraus, was die Solare Marine stolz und unbesiegbar gemacht hat.«

Kori’nh war zornig auf die eigene Unfähigkeit, den Panzer aus Versteinerung und Einfallslosigkeit des alten Kommandeurs zu durchdringen. »Das Ildiranische Reich wird nicht unbesiegbar bleiben, wenn wir darauf bestehen, unflexibel zu sein. Es existieren Feinde, von denen wir bisher nichts wussten.«

Er musterte den konservativen Tal und spürte einen Anflug von Mitleid. Aro’nh hatte nie erwartet, mit Aufgaben betraut zu werden, die Innovation verlangten. Er war stolz. Er hatte immer die Regeln beachtet und wusste nicht, was er ohne das Sicherheitsnetz aus Routine und Tradition machen sollte.

»Tal Lorie’nh…« Kori’nh wandte sich dem anderen Kommandeur zu. »Bitte erklären Sie mir, was Sie dazu bewogen hat, eine so ungewöhnliche Taktik zu verwenden.«

»Sie gaben der roten Gruppe ein klares Ziel, Adar«, erwiderte Lorie’nh. »Wir haben uns einfach überlegt, wie wir dieses Ziel am besten erreichen können. Da es sich nicht um eine öffentliche Vorstellung handelte und keine anderen Ildiraner unsere Vorgehensweise beobachteten, gelangte ich zu dem Schluss, dass es in erster Linie darum ging, den Asteroiden zu erobern, nicht darum, eine Schau zu veranstalten.«

Aro’nh schnitt eine finstere Miene. »Die blaue Gruppe hat keine ›Schau‹ veranstaltet…«

»Soll ich Ihnen die Aufzeichnungen zeigen, Tal Aro’nh?«, fragte Kori’nh. »Welchen Sinn hatte die Konfiguration mit einer Kugel im Innern einer Kugel, die Wachschiffe in gegenläufigen Umlaufbahnen, die blütenkelchartige Öffnung für die Einsatzschiffe? So etwas diente nur ästhetischen Zwecken, aber keinen militärischen, und ohne ein Publikum war es völlig sinnlos. Sie haben zumindest eine ungeeignete Standard-Gefechtsformation gewählt. Die Situation erforderte vor allem Geschwindigkeit.«

»Adar, vielleicht sollte ich Ihnen im militärischen Handbuch zeigen…«

»Genug!«, stieß Kori’nh voller Abscheu hervor. »Tal Lorie’nh, haben Sie Ihr Manöver selbst ersonnen? Wenn das der Fall ist, so lobe ich Sie dafür.«

Der verlegene Kommandeur war ehrenvoll genug, kein Verdienst in Anspruch zu nehmen, das ihm nicht gebührte.

»Nicht direkt, Adar. Ich erkannte sofort die Weisheit, als ich von dem Plan erfuhr, aber die ursprüngliche Idee geht auf Qul Zan’nh zurück, den Sohn des Erstdesignierten. Zan’nh schlug vor, die Kohorte in einzelne Manipel aufzuteilen, jede mit einem anderen Angriffsziel.«

Adar Kori’nh seufzte zufrieden. Schon als Septa-Kommandeur hatte Zan’nh immer wieder seinen

Einfallsreichtum bewiesen, daher überraschte es ihn nicht zu hören, dass der älteste Sohn des Erstdesignierten hinter dem Sieg der roten Gruppe steckte. »Er soll zu mir kommen«, sagte Kori’nh. »Sofort.«

Eine Nachricht wurde in die Vorzimmer übermittelt, wo die Kommandanten der Manipel warteten. Kurze Zeit später trat der junge Zan’nh ein, grüßte erst den Adar und dann die beiden Kohorten-Kommandeure. »Sie haben mich gerufen, Adar?«

»Qul Zan’nh.« Kori’nh trat näher und faltete die Hände vor der Brust, Zeichen dafür, dass er sich offiziell und förmlich an den jungen Mann wandte. »Als Oberbefehlshaber der Solaren Marine ist es mein Recht, Sie für exemplarischen Dienst und bemerkenswerten Einfallsreichtum zu befördern. Ihr innovatives Denken brachte der roten Gruppe beim heutigen Manöver den Sieg.«

Alle drei Zuhörer wirkten erstaunt. Zan’nh war erst vor kurzer Zeit zum Qul befördert worden und normalerweise bestimmte ein traditionelles Protokoll den Aufstieg durch die Ränge. »Angesichts der wachsenden Gefahr im Spiralarm braucht die Solare Marine intelligente und fantasievolle Offiziere wie Sie. Hiermit ernenne ich Sie zum Tal.«

Aro’nh konnte sich nicht beherrschen. »Das ist extrem irregulär, Adar! Es gibt allseits anerkannte Normen, die…«

Kori’nh schenkte ihm keine Beachtung. »Zan’nh, Sie werden Tal Aro’nh ersetzen, den ich zum Qul degradiere. Seine unangemessenen Kommando-Entscheidungen wären in einer echten Kampfsituation ein Risiko für seine Kohorte.«

Der alte Tal schnappte nach Luft und schwankte, als hätte man ihm gerade den Boden unter den Füßen weggezogen.

»Ich… ich würde mich lieber in den Ruhestand zurückziehen, Sir. Mein Rang ist…«

»Abgelehnt. Wir haben es mit einer möglichen militärischen Krise zu tun. Ich will keinen meiner erfahrenen Offiziere verlieren, aber der niedrigere Rang ist besser für Ihre starre Art geeignet. Sie haben Befehle immer gut ausgeführt.«

Aro’nh schien sich kaum mehr auf den Beinen halten zu können.

Er erweckte den Eindruck, nur von seiner steifen Uniform aufrecht gehalten zu werden. »Ich werde eine offizielle Beschwere einreichen, Adar.«

»Und ich werde sie zurückweisen. Ich habe den Segen des Weisen Imperators und bin vom ihm beauftragt, die Solare Marine in eine überlegene Streitmacht zu verwandeln.« Es blitzte in den Augen des degradierten Offiziers, aber Kori’nh ließ sich davon nicht beeindrucken. »Während Ihrer langen beruflichen Laufbahn haben Sie gute Dienste geleistet, Aro’nh, aber Sie lernen nicht mehr dazu. Sie können sich nicht anpassen und bei der Konfrontation mit einem externen Feind wäre das eine große Gefahr fürs Reich. Der Weise Imperator hat mich angewiesen, unsere Kampfbereitschaft zu verbessern.«

Der Sohn des Erstdesignierten stand völlig reglos, verblüfft von den jüngsten Ereignissen. Adar Kori’nh stellte zufrieden fest, dass der junge Mann keine zu große Freude über die Beförderung zeigte.

»Tal Zan’nh, Sie haben nun das Kommando über eine volle Kohorte. Von jetzt an steht eine Flotte aus

dreihundertdreiundvierzig Schiffen unter Ihrem Befehl.

Herzlichen Glückwunsch.«

Aro’nh wirkte gebrochen und schien innerhalb weniger Minuten um hundert Jahre gealtert zu sein. In Tal Lorie’nhs Gesicht zeigte sich Überraschung und Sorge – vielleicht befürchtete er ein weiteres Manöver. Er wusste, dass er bei der nächsten Übung gegen Zan’nh antreten musste, anstatt auf den Einfallsreichtum des jungen Mannes zurückgreifen zu können.

»Versammeln Sie die Schiffe«, sagte Kori’nh müde. »Ich möchte Tal Zan’nhs Beförderung bekannt geben und so schnell wie möglich mit der Siegeszeremonie beginnen. Vielleicht möchten die Ekti-Arbeiter von Qronha 3 ein Spektakel sehen.«

88 GENERAL KURT LANYAN

Das erste neue Kriegsschiff der verbesserten Moloch-Klasse glänzte im Raumdock, umgeben von festlichen Lichtern und Kontrollsensoren. Das riesige Schiff war fertig gestellt und wartete darauf, das Dock zu verlassen und mit seiner ersten Mission zu beginnen.

Die Entwicklungs- und Konstruktionstechniker waren sehr stolz auf ihr Werk. Zwölf weitere riesige Raumschiffe dieser Art gingen ihrer Fertigstellung entgegen, die Eckpfeiler einer schlagkräftigeren Flotte für den Kampf gegen die fremden Aggressoren.

General Kurt Lanyan und der Verbindungsoffizier von Gitter 1, Admiral Stromo – Captain des neuen Schiffes bei dessen erstem Flug –, waren zu der Zeremonie gekommen, mit einer Ehrenwache aus zwanzig kampfbereiten Remoras und einigen sorgfältig ausgewählten Medienrepräsentanten.

Lanyan fand, dass solche Feiern den reibungslosen Ablauf militärischer Operationen beeinträchtigten, aber Vorsitzender Wenzeslas vertrat einen anderen Standpunkt. »Solche Dinge beanspruchen nur wenig Zeit, finden aber viel Zuspruch in der Öffentlichkeit und bringen uns interplanetare Unterstützung ein, General«, hatte Wenzeslas betont. »Es ist eine Investition in Ihre langfristigen militärischen Möglichkeiten. Wenn Sie jetzt die Gunst der Öffentlichkeit gewinnen, so fällt es Ihnen später weniger schwer, Ihre Aktionen zu rechtfertigen –woraus auch immer sie bestehen.«

König Frederick höchstpersönlich war zu den Werften im Asteroidengürtel gekommen, um der erweiterten Terranischen Verteidigungsflotte seinen Segen zu geben. Er würde den ersten neuen Moloch auf den Namen Goliath taufen.

Der Name klang grimmig und mächtig, aber General Lanyan verband ein gewisses Unbehagen damit. Immerhin war der biblische Goliath vom viel kleineren und weit unterschätzten David besiegt worden.

Der König traf mit der üblichen Schar aus Beratern, Höflingen, Politikern und Leibwächtern ein. »Wundervoll«, sagte er und schritt mit wehenden Umhängen durch metallene Korridore zur Brücke. Die Statuslichter und glühenden taktischen Displays wirkten sehr eindrucksvoll.

Lanyan hatte die Crew in doppelten Schichten arbeiten und alles auf Hochglanz polieren lassen – nirgends sollte sich auch nur ein einziges Staubkorn zeigen. Der General sah darin nichts weiter als dumme Effekthascherei. Seiner Meinung nach hätte die Zeit viel besser für militärische Übungen oder ein Zielschießen mit den modifizierten Jazern und Projektilschleudern verwendet werden können.

König Frederick nickte anerkennend. »Dies ist wirklich ein sehr eindrucksvolles Kriegsschiff, General Lanyan.«

Die Medienrepräsentanten fertigten Aufnahmen von der Goliath an und zeigten sie ihrem Publikum.

Während der vergangenen Monate war die Terranische Verteidigungsflotte immer mehr gewachsen. Die Erweiterungen bestanden aus zwölf neuen Schiffen der Moloch-Klasse, jedes mit leistungsverstärkten Waffensystemen, neunzig mittelgroßen Manta-Kreuzern, 234

neuen Thunderhead-Waffenplattformen und Tausenden von Remora-Angriffsjägern. Man hatte sie in den Werften des Asteroidengürtels gebaut und neuen Geschwadern in den zehn taktischen Gittern zugeteilt. Sie waren bereit, sofort in den Kampf zu ziehen, sobald sich die Fremden zeigten.

Niemand zweifelte daran, dass der gnadenlose Feind erneut zuschlagen würde.

Abgesehen vom Bau der neuen Schiffe hatte Lanyan die Umrüstung von tausend privaten Schiffen beaufsichtigt, die für die TVF requiriert worden waren. Sie sollten als Kurierboote, Versorgungsschiffe und Aufklärungseinheiten verwendet werden. Als Kommandeur der Terranischen

Verteidigungsflotte erfüllte General Lanyan seine Pflicht, und er erfüllte sie gut.

Auf der Brücke der Goliath betätigte Admiral Stromo die Kontrollen einer taktischen Konsole und aktivierte die Jazer-Bänke. Mit ruhiger, sorgfältig modulierter Stimme erklärte er die Waffensysteme dem König, der fasziniert zu sein schien.

»Unsere neue Flotte ist den alten Einheiten, aus denen die ildiranische Solare Marine besteht, weit überlegen. Diese TVF-Schiffe haben eine größere Schlagkraft als die jeder bisher gebauten Kriegsflotte.«

»Das hoffe ich sehr, Admiral«, erwiderte König Frederick.

»Wir haben die Feindseligkeiten mit den geheimnisvollen Fremden nicht herausgefordert und ich möchte den Konflikt so schnell wie möglich beenden. Vielleicht sind sie jetzt bereit, mit uns zu verhandeln.«

»Das wünschen wir uns alle, Sir«, sagte General Lanyan und rang sich ein Lächeln ab. Leider hatte niemand auch nur den Hauch einer Idee, wie es jetzt weitergehen sollte. Die TVF

konnte die Fremden nicht finden. Wie sollte man die unergründlichen Tiefen gewaltiger Gasplaneten erkunden, die viele tausend Male größer waren als die Erde?

Gegen einen so exotischen Feind zu kämpfen und ihn innerhalb einer Hochdruck-Atmosphäre zu verfolgen – das unterschied sich völlig von der Kriegführung, die Lanyan immer wieder simuliert hatte. Die bei den Simulationen entwickelten Pläne wären bei einem Konflikt mit dem Ildiranischen Reich oder einer rebellischen Kolonie der Hanse sinnvoll gewesen. Aber in Hinsicht auf die Fremden aus den Gasriesen ließ sich nichts damit anfangen.

Bei diesem Krieg würden Infanterie und Bodentruppen nie eine Rolle spielen. Er konnte nicht durch Eroberung und Besetzung von Territorium gewonnen werden und vermutlich nützten auch Verhandlungen nichts. Wenn der Feind wirklich in den Tiefen riesiger Gasplaneten lebte, in denen der Druck so hoch war, dass Wasserstoff zu einem Metall komprimiert wurde – konnte es unter solchen Umständen eine Überlappung von Ansprüchen auf Ressourcen oder Territorien geben? Was wollten die Fremden?

Lanyan ahnte, dass ihnen ein Krieg bevorstand, bei dem es um völlige Vernichtung ging. Schwere Waffen würden ebenso zum Einsatz kommen – vielleicht sogar apokalyptische Bomben – wie große Raumschiffe. Individuelle Soldaten nützten nichts, Infanterie und Handwaffen waren vollkommen bedeutungslos. Stattdessen brauchte die TVF gut ausgebildete Navigatoren, Piloten und Kanoniere für die Waffensysteme der Schlachtschiffe.

Der König beendete die Besichtigungstour auf der Brücke der Goliath. Vermutlich hatte ihn Basil Wenzeslas angewiesen, die Dauer seines Besuchs auf eine Stunde zu beschränken. Es wartete noch viel Arbeit auf die Crew des Moloch.

»Meine Herren…«, sagte König Frederick. »Wir sind sehr beeindruckt und zufrieden. Ich halte die Goliath für ein ausgezeichnetes Schiff und erkläre sie hiermit für startbereit.

Dieser Moloch wird das Flaggschiff einer überaus starken neuen Terranischen Verteidigungsflotte sein.« Er lächelte und daraufhin bekam sein faltiges Gesicht etwas von der Frische der Jugend zurück. »Ich würde mich freuen, wenn Sie mir eines Tages die Ehre eines kurzen Flugs durchs Sonnensystems gewähren könnten.«

»Das lässt sich arrangieren, Euer Majestät«, erwiderte Lanyan und erinnerte sich dann an einen Rat, den Basil Wenzeslas ihm gegeben hatte. »Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, allen Bürgern der Terranischen Hanse meinen Dank auszusprechen. Ihre Unterstützung, ihre Opferbereitschaft und ihr fester Glaube werden uns dabei helfen, einen raschen, entscheidenden Sieg zu erringen. Wir Menschen sind ein starkes Volk. In Zeiten der Not halten wir zusammen, um letztendlich zu triumphieren.«

König Frederick strahlte. »Wohl gesprochen, General. Ich werde den königlichen Befehl geben, dass die neue, größere Flotte mit gebotener Eile aufbricht. Sobald wir die hinterhältigen fremden Wesen besiegt haben, die ohne Vorwarnung zuschlagen, können wir zu unserem normalen, angenehmen Leben auf den Welten der Hanse zurückkehren.«

Das Gefolge des Königs applaudierte und die

Medienrepräsentanten übertrugen alles.

Begeisterung und Zuversicht füllten General Lanyans Herz, aber der rationale Teil seines Selbst wusste, dass die Realität weitaus mehr Probleme bereithielt, als seine Worte vermuten ließen. Er sah sich auf der Brücke der Goliath um und begegnete Stromos Blick. Die beiden Männer verstanden sich wortlos und hatten die gleichen Bedenken.

Die neue terranische Kriegsflotte war allem überlegen, was Lanyan bisher kommandiert hatte. Ihre Schiffe waren zahlreicher und die Waffen verfügten über ein größeres destruktives Potenzial. Aber leider wussten sie nichts über Fähigkeiten und Absichten des Feinds.

Lanyan befürchtete, dass die Feiern und der Jubel auf nichts anderes hinausliefen als ein nervöses Pfeifen im dunklen Wald.

89 JESS TAMBLYN

Noch immer stach kalter Zorn in Jess’ Herz, aber die Entscheidung, etwas gegen den Feind zu unternehmen, brachte Erleichterung. Nie zuvor in seinem Leben hatte er den Leitstern deutlicher gesehen; er wusste ganz genau, welche Richtung es einzuschlagen galt.

Jess beabsichtigte nicht, den Rat der Roamer von seiner Absicht zu informieren. Er wollte weder Sprecherin Jhy Okiah noch Cesca Peroni darauf hinweisen. Zu deutlich erinnerte er sich an das Durcheinander, die Sorgen und die Unschlüssigkeit bei der letzten Versammlung in Rendezvous. Der Rat hätte nur alles komplizierter gemacht.

Es lief auf eine persönliche Rache hinaus und seine Onkel auf Plumas waren einverstanden. Caleb Tamblyn hatte sogar darauf bestanden, ihn zu begleiten, aber Jess betonte, dass er diese besondere Mission leiten musste. Es war die Angelegenheit seines Clans, seine Verantwortung. Und nachher sollte man nur ihm die Schuld geben können.

Zusammen mit einigen loyalen Arbeitern aus den Wasserminen von Plumas und mehreren Industrieschiffen, beladen mit allen notwendigen Ausrüstungsgütern, brach Jess auf. Die Freiwilligen hatten Ross gekannt und für Bram Tamblyn gearbeitet; sie würden alle Anweisungen durchführen, die Jess ihnen gab. Als Caleb den Arbeitern mitgeteilt hatte, was Jess plante, konnte sie keine Macht der Welt daran hindern, ihm zu helfen.

Die Schiffe trafen sich am Rand des Golgen-Systems, im eisigen Schleier des aus Kometen bestehenden Kuiper-Gürtels, hoch über der Ekliptik. Von dort aus beobachteten Jess und seine Begleiter den Gasriesen, der hell das Licht der Sonne reflektierte.

Irgendwo in seinen gelbbraunen Tiefen lauerten erbarmungslose fremde Wesen.

Jess glaubte, seinen Bruder dort zu spüren, zusammen mit den Geistern all jener, die den Fremden an Bord der Blauen Himmelsmine zum Opfer gefallen waren. Hatten jene Geschöpfe aus irgendeinem Grund Anstoß an der Ekti-Fabrik genommen? Oder sahen sie in den Roamern nicht mehr als lästige Insekten, die man einfach zerquetschte?

Fünf Himmelsminen waren bisher vernichtet worden, in den Atmosphären weit voneinander entfernter Gasriesen, zwischen denen keine Verbindung existierte. Es gab keine Überlebenden. Die Fremden hatten grundlos und ohne Gnade angegriffen. Jess wollte sie dafür bestrafen.

Viele von Besorgnis heimgesuchte Roamer-Clans hatten ihre unabhängigen Himmelsminen aus anderen Gasriesen zurückgezogen und sie in planetaren Umlaufbahnen gewissermaßen auf Eis gelegt. Die Ekti-Produktion war auf einen Bruchteil des Standes vor dem Angriff auf die Blaue Himmelsmine gesunken. Die Terranische Hanse hatte die Verknappung noch nicht zu spüren bekommen, aber bestimmt wussten der Vorsitzende Wenzeslas und König Frederick, dass es zu Engpässen bei der Lieferung des wichtigen Treibstoffs für den Sternenantrieb kommen würde. Diese Krise musste so bald wie möglich überwunden werden.

Jess öffnete einen Kommunikationskanal zu den anderen Schiffen und wandte sich an die Arbeiter. »Mein Bruder ist dort unten in der Atmosphäre von Golgen gestorben, zusammen mit vielen Angehörigen Ihrer Clans. Beim Leitstern, jetzt liegt es an uns, etwas gegen ihre Mörder zu unternehmen.«

Er atmete tief durch und suchte nach geeigneten Worten.

»Wir Roamer sind kein gewalttätiges Volk. Wir haben kein beeindruckendes Militär und uns stehen keine Massenvernichtungswaffen zur Verfügung. Aber wir lassen auch nicht mit uns spaßen. Wir werden dem Feind Widerstand leisten und alle verlorenen Familienangehörigen rächen.

Niemand von uns kann sich dieser Aufgabe entziehen. Ich beabsichtige das gewiss nicht.«

Stimmen drangen aus dem Lautsprecher, brachten Zustimmung und eine gewisse Entschlossenheit zum Ausdruck, die die Furcht verdrängte.

»Zum Glück bietet uns das Universum seine eigenen Waffen an«, sagte Jess. »Wir werden davon Gebrauch machen.«

Das Sonnensystem war umgeben von einer Schale aus potenziellen Kometen: Eisblöcke, die in Bomben verwandelt werden konnten. Noch auf Plumas hatte Jess genaue Karten des Kuiper-Gürtels studiert, Millionen von Kometen-Umlaufbahnen berechnet und die Ergebnisse entsprechender Manipulationen simuliert. Mehr als tausend Kandidaten kamen infrage, und jeder von ihnen würde Zerstörung auf Golgen herabregnen lassen.

Jess hatte eine besondere Intuition für Himmelsmechanik und Orbitalmanöver. Er war immer besonders gut gewesen bei den

»Sternenspielen« der Roamer: Man betrachtete Sternkonstellationen aus verschiedenen Blickwinkeln und versuchte dann, den Ort des Beobachters auf einer Sternenkarte des Spiralarms zu bestimmen. Als Jess jünger gewesen war, hatte er zusammen mit Tasia auf die Karten gesehen und sich vorgestellt, fremde Welten und rätselhafte Phänomene im All zu erforschen.

Jess biss die Zähne zusammen, als er die Karte des Golgen-Systems aus einem ganz anderen Grund betrachtete. Die zahllosen eingeblendeten Linien beschrieben Umlaufbahnen und in vielen Fällen brauchten die Kometen Jahrhunderte, um die Sonne einmal zu umkreisen. Für den Vergeltungsplan kamen nur jene großen Eisbrocken infrage, die auf steilen hyperbolischen Bahnen ins Innere des Sonnensystems rasten und sich dadurch in Geschosse verwandeln konnten, deren kinetische Energie sich mit der Zerstörungskraft von tausend Atomsprengköpfen vergleichen ließ. Achtzehn solche Kometen boten sich als Projektile an.

Die

Arbeiter von Plumas

– gewöhnliche

Wasserminentechniker, Pumpenspezialisten und Eisingenieure

– hatten automatische Schubmodule mitgebracht, die auf den Kometen verankert werden konnten, um sie über Wochen hinweg in eine bestimmte Richtung zu beschleunigen. Das veränderte die Umlaufbahnen der großen Eisbrocken und brachte sie auf Kollisionskurs mit Golgen.

»Sie kennen unsere Ziele. Bringen wir die Eisbomben in Bewegung, um den Fremden in den Tiefen von Golgen eine Lektion zu erteilen.« Knurrend fügte Jess hinzu: »Jene Wesen wissen noch nicht, worauf sie sich eingelassen haben.«

Die anderen Schiffe bestätigten, glitten fort und verschwanden im Labyrinth des Kometengürtels. Die Roamer an Bord verstanden sich auf Genauigkeit und Präzision; immerhin hatten sie für den anspruchsvollen Bram Tamblyn gearbeitet. Jeder Roamer, der sich Schlampigkeit oder Unaufmerksamkeit leistete, fand schnell den Tod und meistens nahm er viele Unschuldige mit ins Jenseits.

Jess überprüfte noch einmal seine Fracht, änderte dann den Kurs und flog sein ausgewähltes Ziel an, einen großen Kometen, der bereits zu den inneren Bereichen des Sonnensystems unterwegs war. Er verließ den Kuiper-Gürtel und näherte sich der Ekliptik.

Jess trug isolierte Arbeitskleidung, einen Overall mit Dutzenden von Taschen, Schlaufen und Werkzeuggürteln. Der bestickte Schulterumhang darüber, eine Kostbarkeit, war von seiner Mutter genäht worden. Er wies stilisierte Muster und die Namen von Ross, Jess und Tasia vor dem Hintergrund der Roamer-Kette auf. Kummer erfasste Jess, als er daran dachte, wie sehr seine Familie geschrumpft war. Aber die Dinge würden sich ändern.

Die einzelnen Schiffe erreichten ihre Ziele. Ihre Besatzungen verankerten Landeklammern, stiegen aus und installierten die Ausrüstung. Im Verlauf der nächsten Stunden erstatten die einzelnen Gruppen immer wieder Bericht und hielten Jess auf dem Laufenden. Die Schubmodule wurden aktiv, veränderten ganz langsam die Umlaufbahnen der Kometen – der lange Fall in Richtung des Gasriesen begann. Zeit und die Himmelsmechanik erledigten jetzt den Rest. Das Bombardement würde über Jahre hinweg andauern, ein Treffer nach dem anderen.

»Das dürfte den Fremden kaum gefallen«, erklang Calebs Stimme aus dem Kom-Lautsprecher.

Aber damit wollte sich Jess nicht zufrieden geben. Alles in ihm drängte danach, einen Schlag gegen die fremden Wesen zu führen, dessen Auswirkungen er schon bald beobachten konnte, solange noch der Zorn in ihm brannte. Für Ross.

Er steuerte sein Schiff nah an den Kometen heran, der auf einer langen Bahn der Sonne entgegenflog. Der gewaltige Eisbrocken war Golgen so nahe gekommen, dass sich seine ursprüngliche Umlaufbahn geändert hatte und nun weiter ins Innere des Sonnensystems führte. Das Licht des Zentralgestirns löste dünne Dunstwolken aus der eisigen Oberfläche, die sich verdichten und schließlich einen langen Schweif bilden würden.

Jess analysierte die Oberflächentopographie des Kometen, um einen Eindruck von seiner Struktur zu gewinnen. Mit Scannern maß er die inneren Inhomogenitäten und modifizierte seine Berechnungen. Wenn alles nach Plan lief, würde dieser Brocken Golgen in einem Monat erreichen.

Jess wählte eine geeignete Stelle aus und verankerte sein Schiff auf der Oberfläche; der Rumpf zermalmte einige zinnenartige Eisgebilde. Die Treibstofftanks und der Frachtraum waren mit Ekti gefüllt – genug für eine lange Phase des maximalen Schubs. Jess aktivierte das Triebwerk, hörte sein Donnern und fühlte, wie der kleine Raumer zu vibrieren begann. Zwei Wochen lang würde der Sternenantrieb aktiv bleiben, lange genug, um den Kometen in ein Hochgeschwindigkeitsgeschoss zu verwandeln, das auf Golgen zielte.

In einem Tag würde ihn eins der anderen Schiffe abholen.

Das Triebwerk blieb aktiv, schob den Kometen immer mehr aus seiner Bahn. Jess hatte viel Zeit zum Nachdenken. Es gab jetzt kein Zurück mehr und er bereute nichts. Er hatte seine Entscheidung in die Tat umgesetzt und eine Maßnahme ergriffen, die er für notwendig hielt.

Es war ihm gleich, was die Große Gans oder die Tiwis davon hielten. Zweifellos würde es auch Roamer geben, die den Vergeltungsschlag verurteilten, aber die meisten würden den Umstand begrüßen, dass jemand gehandelt hatte. Jess fragte sich, was er von Cesca erwarten konnte. Enttäuschung? Oder Applaus? Was auch immer der Fall sein mochte: Er fühlte sich nicht schuldig und hatte getan, was er für seine Pflicht hielt.

Niemand konnte behaupten, dass diplomatische Bemühungen sinnvoller gewesen wären – bisher hatten die Fremden auf keinen einzigen Kommunikationsversuch reagiert.

Jess blickte durchs Fenster des Cockpits auf den Gasplaneten, der bereits sehr viel näher zu sein schien und wie ein gestreiftes Auge wirkte.

Bevor er einen Schutzanzug überstreifte, um nach draußen zu gehen, legte er den Schulterumhang ab, der sowohl seinen Namen trug als auch den von Ross und Tasia. Er ließ ihn auf den Pilotensessel sinken, wandte sich dann um und trat zum Schrank mit den Raumanzügen.

Er sah nicht zurück, stellte auch keinen Moment infrage, was er in die Wege geleitet hatte.

Jess ließ sein Schiff auf dem Kometen verankert zurück, mit aktivem Triebwerk, das dem großen Eisbrocken immer mehr Bewegungsmoment verlieh. Er ging an Bord von Calebs Schiff und zusammen mit den anderen Roamern verließen sie das Sonnensystem.

Er überprüfte die Flugbahnen der achtzehn in kosmische Geschosse verwandelten Kometen. Als er sicher sein konnte, dass sie alle auf dem richtigen Kurs waren, nickte er zufrieden und gab den Befehl zur Rückkehr nach Plumas.

Das Bombardement hatte begonnen.

90 BRANSON ROBERTS

Als ein toller Job stellte sich dies heraus. Branson Roberts verabscheute es, das einzige menschliche Schiff in einem abgelegenen, gottverlassenen System zu fliegen, noch dazu an einem Ort, an dem sich die feindlichen fremden Wesen verbargen. Aber so lauteten seine Befehle. Schlimmer noch: Ihm blieb keine Wahl. Dafür hatte Basil Wenzeslas gesorgt.

Wenigstens hatte die TVF Roberts sein eigenes Schiff zurückgegeben, die Blinder Glaube, und es war gut, wieder an ihren Kontrollen zu sitzen. Im Cockpit schien sich nichts verändert zu haben, trotz der modifizierten Systeme, des verstärkten Triebwerks und der schweren Panzerung – damit hatte die TVF dem Ganzen die Krone aufgesetzt.

Aber als Roberts das Dasra-System erreichte und mit der Suche nach den Fremden begann, war er froh darüber, die Kontrollen selbst zu bedienen. Er und die Blinder Glaube hatten gemeinsam viel durchgemacht.

Vor einem Monat waren die fremden Wesen aus den Tiefen des Gasriesen Dasra gekommen, um die Roamer-Himmelsmine in der Atmosphäre zu zerstören – der fünfte Zwischenfall dieser Art. Der Angriff von Dasra spielte sich genau so ab wie die anderen: Große kugelförmige Schiffe eröffneten das Feuer, ohne zu versuchen, einen Kommunikationskontakt herzustellen; das

Kapitulationsangebot der Himmelsmine wurde einfach ignoriert. Die Fremden zerstörten die Ekti-Fabrik und ließen niemanden am Leben.

Damit hatten die Fremden bewiesen, dass sie in diesem System lebten, und Branson Roberts’ Auftrag bestand darin, sie zu finden. Wie viele andere Gasriesen bewohnten die Geschöpfe? Drohte bei allen Gefahr?

Roberts dachte an Rlinda Kett, an ihren üppigen Leib und ihre überschwängliche Art. Sie nannte ihn immer ihren Lieblings-Exmann, und er bezeichnete sie als seine Lieblings-Exfrau, obwohl er nur einmal verheiratet gewesen war.

Er hatte sich als schlechter Ehemann, dafür aber als guter Pilot erwiesen, deshalb behielt ihn Rlinda in ihrer kleinen Handelsflotte. Er hatte gute Gewinne erwirtschaftet, genug, um zufrieden zu sein und vorspiegeln zu können, das Leben eines Playboys zu führen, sodass Rlinda seine Einsamkeit nicht bemerkte und deshalb Mitleid mit ihm bekam.

Doch die Erfolge der kleinen Handelsflotte fanden ein jähes Ende, als die Probleme mit den Fremden begannen. Rlinda hatte die Große Erwartungen an Rand Sorengaard verloren und drei ihrer anderen Schiffe waren von der TVF requiriert worden. Um seine Pilotenlizenz zu behalten und ein Schiff zu haben, das er fliegen konnte, musste Branson Roberts in die Dienste von General Lanyan treten.

Der General hatte Roberts in das TVF-Hauptquartier auf dem Mars bestellt. In seinem privaten Büro, hinter verschlossenen Türen und mit breiten Oberlichtern, durch die man einen olivgrünen Himmel sah, hatte Lanyan seinen Vorschlag unterbreitet. Vor dem inneren Auge sah Roberts Erinnerungsbilder jener Begegnung. Lanyan war nicht aufgestanden, als er das Büro betrat, blieb an seinem Schreibtisch sitzen, auf dem Dutzende von Datentafeln mit Berichten lagen. Bildschirme zeigten Truppenverteilungen und Kampfübungen.

Nach einigen wenigen Worten begriff Roberts, dass der General seine Personaldateien eingesehen und sich auch über seine Laufbahn als Pilot informiert hatte. Lanyan wusste mehr über Branson Roberts, als diesem lieb war.

Und bestimmt erwartete ihn ein Angebot, das er nicht ablehnen konnte. Daran zweifelte er kaum.

»Aus Ihrem Dossier geht hervor, dass Sie ein recht wagemutiger Pilot sind, Captain Roberts. Mir ist aufgefallen, wie gut Sie die Ruhe bewahrten, als meine Leute Sie als Köder für Rand Sorengaard benutzten. Sie haben auch andere gefährliche Einsätze hinter sich: Lieferungen für den Schwarzmarkt, riskante Navigation…«

Roberts spürte, wie sich kalte Schweißperlen an seinem Nacken bildeten. »General, Sir, ich versichere Ihnen, dass ich nie wegen irgendeiner illegalen Sache verurteilt worden bin.

Man hat nicht einmal entsprechende Anklagen gegen mich erhoben. Wenn Sie im Vorstrafenregister nachsehen, werden Sie nichts finden…«

Lanyan bedeutete ihm, Platz zu nehmen. »Schon gut, Captain. Mit solchen Dingen verlieren wir nur Zeit und Zeit haben wir nicht.«

Roberts setzte sich, faltete die Hände im Schoß und wartete stumm.

»Ich möchte ganz offen sein, Captain. Ich beabsichtige, Ihre Fähigkeiten auszunutzen. Es ist besser, jemandem mit Ihrem Geschick zu rekrutieren, als unter enthusiastischen Trotteln einen Kadetten mit nur einem Bruchteil Ihrer Erfahrungen auszuwählen. Ich weiß, dass Sie aufgrund von König Fredericks neuen Anweisungen Ihr Schiff dem Militär überlassen mussten. Derzeit sind Sie ohne Beschäftigung, oder?«

Der General wusste bereits Bescheid und das war beiden Männern klar. »Die Hanse befindet sich in einer schwierigen Lage, und wie der König schon sagte: Wir alle müssen Opfer bringen.« Roberts lächelte schief und zuckte mit den Schultern.

»Mit der Entschädigung, die ich erhalten habe, komme ich ein oder zwei Monate lang über die Runden.«

Lanyan musterte ihn mit einem kühlen Blick und schließlich lächelte er wissend. »Aber ich wette, Sie langweilen sich.«

Die Blinder Glaube war als Handelsschiff und Frachter konzipiert, aber sie hatte eine schnittige Form und ein leistungsfähiges Triebwerk. Die Umrüstung durch die TVF gab dem Schiff bessere Manövrierfähigkeit und eine größere Reichweite. Roberts wusste nicht, ob ihn die Modifikationen vor einem direkten Angriff der Fremden schützen würden, aber sie stimmten ihn ein wenig zuversichtlicher.

Seine Mission hatte ihn bereits nach Welyr und Erphano geführt, bekannten Verstecken der feindlichen Wesen. Roberts ging immer auf die gleiche Weise vor. Mit hoher Geschwindigkeit flog er ins System und ließ eine Ladung aus automatischen Sonden und Kommunikationsbojen in die Atmosphäre des Gasriesen fallen. Die Geräte verschwanden in den Tiefen und übermittelten der Blinder Glaube Daten. Von den Bojen gingen Signale aus, die die Fremden aufforderten, ihre Angriffe einzustellen und mit Verhandlungen zu beginnen.

Jedes Mal wurden die Mitteilungen ignoriert und die Sonden zerstört.

Branson Roberts steuerte mit der Blinder Glaube nun Dasra an, ohne die Geschwindigkeit zu verringern, näherte sich dem Nordpol. Dicke Ringe umgaben den Äquatorbereich des grünlichen Gasriesen, wie eine glitzernde Ansammlung alter phonographischer Datenträger.

Roberts wusste, dass es auf Schnelligkeit ankam, und deshalb suchte er sich keinen Weg durch die Ringe. Er flog in den oberen Schichten der Atmosphäre von Norden nach Süden, passierte die Lücke zwischen dem Planeten und seinem Ringsystem. General Lanyan hatte ihn angewiesen, lange genug zu bleiben, um die von den Sonden übermittelten Daten zu empfangen, aber es lag Roberts nicht daran, in Schwierigkeiten zu geraten.

Über den gewaltigen Sturmwolken des Gasriesen öffnete er die Ladeluken der Blinder Glaube und schleuste robotische Sonden, automatische Kommunikationsmodule und Sensoren aus. Als sie fielen, sendeten die Kom-Module Signale auf verschiedenen Frequenzen. Die Sonden sammelten Informationen, während sie durch die Atmosphäre des Gasriesen sanken, und übermittelten sie dem Schiff.

Roberts zeichnete alles sorgfältig auf. Er würde die Daten selbst ins Hauptquartier der TVF bringen, um sie dort dem General und seinen Analytikern zu übergeben. Vielleicht konnte er bei jener Gelegenheit auch mehr Geld für sich herausschlagen.

Er lauschte aufmerksam, während er über den stummen Wolken flog, Pasras Äquator hinter sich zurückließ und über die südliche Hemisphäre glitt. Der von den anderen Gasriesen vertraute Vorgang wiederholte sich auch hier: Als die Sonden eine gewisse Tiefe erreichten, verwandelte sich das Piepen des von ihnen übertragenen Datenstroms plötzlich in statisches Rauschen, dann herrschte von einem Augenblick zum anderen Stille. Die Sondierungssonden wurden früher zerstört, als man es aufgrund der besonderen Umweltbedingungen erwarten durfte.

Zweifellos steckten die Fremden dahinter.

Es gab viele Gasriesen im Spiralarm und andere Piloten wie Roberts untersuchten sie. Wenn die Zerstörungen der Sonden tatsächlich einen Hinweis boten, so waren die fremden Wesen verblüffend weit verbreitet. Die TVF und auch die menschliche Bevölkerung begriffen allmählich, wie zahlreich der Gegner war, wie groß sein bisher verborgenes Imperium.

Die Fremden schienen praktisch überall zu sein.

Als der Signalstrom der letzten Sonde abbrach, bereitete sich Roberts auf einen würdevollen, aber schnellen Rückzug vor, so wie bei den anderen Gasriesen, die er zuvor besucht hatte.

Doch diesmal bemerkte er pulsierende Lichter in den Tiefen des Planeten; sie schienen der Blinder Glaube zu folgen.

Roberts beobachtete die Wolken und das heller werdende Glühen darunter, und in seiner Magengrube schien sich ein Klumpen Eis zu formen. Es sah nach mehreren Gewittern aus, die emporstiegen, den oberen Bereichen der Atmosphäre entgegen. Blitze zuckten und eine riesige, strudelartige Struktur entstand.

Als die Lichter anschwollen und immer unheilvoller wirkten, beugte sich Roberts zur Konsole vor. Er deaktivierte die Sicherheitsprotokolle und leitete volle Energie in die von den Militärtechnikern installierten Systeme. »Es wird Zeit, von hier zu verschwinden.«

Er zündete die Turbolader des Sternenantriebs, raste fort von Dasras Ringen und verließ das Sonnensystem mit Höchstgeschwindigkeit.

91 ADAR KORI’NH

Während die Sorge bei den Menschen wuchs und das Rätsel der fremden Wesen weiterhin ungelöst blieb, beschloss Adar Kori’nh, einen Manipel seiner Flotte in der Nähe von Qronha 3

zu lassen. Der Weise Imperator gab ihm die ausdrückliche Anweisung, eine Schutzflotte bei der alten ildiranischen Ekti-Stadt zu stationieren, und Kori’nh blieb bei den neunundvierzig Schiffen, die zuvor von Aro’nh – inzwischen zum Qul degradiert – befehligt worden waren. Allein die Präsenz der Kriegsschiffe linderte die irrationale Furcht der Arbeiter, die in der Atmosphäre des Gasriesen Ekti produzierten.

Die anderen Schiffe, unter dem Kommando von Tal Zan’nh und Tal Lorie’nh, kehrten heim, bereit dazu, auf einen echten Notfall zu reagieren.

Kein anderer Gasriese war Ildira näher als Qronha 3 – man konnte den riesigen Planeten mit einem Teleskop am ewig hellen Himmel über Mijistra sehen. Vor langer, langer Zeit hatten die Ildiraner dort ihre erste Ekti-Fabrik gebaut. Über Dutzende von Jahrhunderten hinweg waren die Anlagen in Betrieb gewesen, um das Wasserstoffallotrop zu produzieren, obwohl der hergestellten Menge während der letzten Jahre nur noch symbolische Bedeutung zukam.

Die Roamer hatten den größten Teil der Ekti-Industrie übernommen und stellten den Treibstoff für den Sternenantrieb im großen Maßstab her, lieferten ihn sowohl dem Ildiranischen Reich als auch der Terranischen Hanse. Doch der Weise Imperator Cyroc’h und seine Vorgänger hatten dafür gesorgt, dass die Ekti-Fabrik von Qronha 3 unter ildiranischer Kontrolle blieb, um zu zeigen, dass die Ildiraner ihr Ekti auch selbst produzieren konnten, wenn sie wollten.

Jetzt befürchtete der Weise Imperator Gefahr für die alte Ekti-Stadt in der Atmosphäre von Qronha 3. Deshalb hatte er die Solare Marine mit einer offiziellen Mission beauftragt – sie sollte bei dem Gasriesen ihre Macht demonstrieren. Ein solcher Einsatz erforderte keine Innovationen und eignete sich bestens für Qul Aro’nh. Vielleicht würde der alte Offizier dadurch begreifen, dass er immer noch ein nützlicher Angehöriger der Solaren Marine war.

Die ängstlichen Roamer drosselten die Ekti-Herstellung und den Export, und deshalb hatte der Weise Imperator angeordnet, das volle Produktionspotenzial der Himmelsmine von Qronha 3 zu nutzen. Das Reich brauchte einen ununterbrochenen Nachschub an Treibstoff. Erst jetzt trat eine Schwäche der ildiranischen Wirtschaft deutlich hervor: die Abhängigkeit von den Roamern, soweit es den Treibstoff für den Sternenantrieb betraf.

Damals, als die Ildiraner den Roamern ihre Ekti-Fabriken überlassen hatten, waren jene Menschen bereit gewesen, langfristige Anleihen für den Erwerb der Anlagen aufzunehmen. Angesichts der ökonomischen Veränderungen hatte der Weise Imperator die Roamer davor gewarnt, mit ihren Zahlungen in Verzug zu geraten. Überraschenderweise fuhren die Roamer damit fort, ihre Raten pünktlich zu bezahlen, griffen dabei auf unvermutete finanzielle Reserven zurück. Niemand im Reich wusste, woher die Roamer dieses Geld nahmen und wie lange sie die regelmäßigen Zahlungen fortsetzen konnten.

Die Ekti-Lieferungen an das Ildiranische Reich waren um dreißig Prozent zurückgegangen, daran konnte selbst der Weise Imperator nichts ändern. Durch das Thism fühlte Adar Kori’nh die Sorge des Oberhaupts aller Ildiraner. Die veraltete Fabrik von Qronha 3 konnte nicht annähernd genug Ekti produzieren, um den Mangel auszugleichen, aber die Arbeiter unternahmen eine symbolische Anstrengung.

In einer von Qul Aro’nh angeführten Keilformation flogen die neunundvierzig Kriegsschiffe und Eskorten durch das Sonnensystem – sie sollten sowohl den Arbeitern der Himmelsmine als auch potenziellen Feinden die gewaltige Macht der Solaren Marine demonstrieren. In einem hohen Orbit über dem Gasriesen schleusten sie kleinere Schiffe aus, Kampfboote und Angriffsjäger, die am Himmel des gewaltigen Planeten patrouillierten.

Mit einer Eskorte flog Adar Kori’nh zur Ekti-Stadt. Als Oberbefehlshaber der Solaren Marine bestand seine Pflicht auch darin, sichtbar zu sein, sich den Arbeitern zu zeigen, um sie zu beruhigen.

Die alte Kolonie von Qronha 3 hatte einen festen Platz in den ildiranischen Überlieferungen und wurde nicht weniger als tausendmal in der Saga der Sieben Sonnen erwähnt. Die Stadt glitt hoch über den Wolken und Stürmen des Gasriesen durch die Atmosphäre; Destillatoren und Reaktoren ragten in alle Richtungen. Die industriellen Systeme waren längst überholt und ineffizient, aber die Produktion des Wasserstoffallotrops dauerte an.

Die Ekti-Stadt hatte genug Bewohner, um als echte Splitter-Kolonie zu gelten. Zwar waren die dortigen Ildiraner von ihrer Heimat getrennt, aber sie waren dicht genug beisammen, um sich wohl zu fühlen. Außerdem bedeutete die Nähe zu Ildira, dass sie nach Hause zurückkehren konnten, wenn Ersatzmannschaften eintrafen, die die Arbeit fortsetzten.

Als Kori’nh die Größe der Ekti-Stadt sah und die Anzahl der Arbeiter, die nötig waren, um die minimale

Bevölkerungsdichte für das Thism zu bilden… Da begriff er, warum die Roamer wesentlich effizienter arbeiten konnten. Sie brauchten nicht so viele Personen, konnten sich auf wenige Techniker beschränken.

Fünf Kampfboote landeten auf den Dockplattformen, nachdem der Adar ausgestiegen war. Die Arbeiter und ihre Angehörigen begrüßten das Militär mit großer Freude. Kori’nh sah ihre Nervosität – offenbar befürchteten sie, dass die fremden Wesen auch in den Tiefen von Qronha 3 lauerten, obwohl während der vergangenen Jahrhunderte nichts auf sie hingewiesen hatte. Die Solare Marine gab ihnen das Vertrauen, das sie brauchten.

Einen Tag nach dem Eintreffen der Flotte erfolgte der Angriff.

Ganz plötzlich erschienen helle Lichter in den Wolken unter der großen Ekti-Stadt. Kori’nhs Patrouillenschiffe bemerkten die Veränderung praktisch sofort und gaben Alarm. Der Adar kannte die Bilder, die die Terranische Verteidigungsflotte von Oncier und der bei Welyr zerstörten Himmelsmine bekommen hatte, und daher wusste er, dass ein Angriff bevorstand. Seine Soldaten hatten gut geübt und reagierten angemessen schnell.

Kori’nh wies die Eskorten an, sofort zur Stadt zu fliegen und mit der Evakuierung zu beginnen. Alarmsirenen heulten in der großen Himmelsmine und ildiranische Arbeiter eilten zu den Sammelpunkten, standen dort Schlange, um von den Schiffen aufgenommen und in Sicherheit gebracht zu werden.

Adar Kori’nh überließ es einem Septar, sich um die Evakuierung zu kümmern, und ging an Bord des ersten startenden Kampfboots. »Ich muss zu meiner Flotte zurück«, sagte er und dachte besorgt an Tal Aro’nhs mangelnden Einfallsreichtum angesichts einer Krise. Er wollte selbst das Kommando über den Manipel übernehmen.

Als das Kampfboot die Atmosphäre des Gasriesen verließ und die Leere des Alls erreichte, sah Kori’nh aus dem Fenster und beobachtete, wie das erste gewaltige Kugelschiff aus den Tiefen von Qronha 3 kam. Energetische Entladungen flackerten zwischen den aus der Hülle ragenden stumpfen Vorsprüngen. Besatzungsmitglieder schrien und der Pilot des Kampfboots aktivierte die Notbeschleunigung. Einige Sekunden starrte der Adar voller Ehrfurcht auf die Kugel der Fremden, dann schaltete er das Kommunikationssystem ein.

Der alte Qul Aro’nh wandte sich bereits mit Drohungen an die unheilvollen Wesen. »Wagen Sie es nicht, die Stadt anzugreifen. Sie müssten mit ernsten Konsequenzen rechnen.«

Adar Kori’nh wusste, dass solche Warnungen nichts nützten.

Bisher hatten die Fremden jeden Kommunikationsversuch ignoriert. Doch diesmal bekamen sie es mit mehr zu tun als nur einer hilflosen Roamer-Himmelsmine – die gut bewaffnete ildiranische Solare Marine stand ihnen gegenüber.

»Bringen Sie mich zum Flaggschiff!«, rief Kori’nh dem Piloten zu. »Ich muss das Kommando übernehmen!«

Der Pilot des Kampfboots flog noch schneller und kühner.

Die Entfernung zum riesigen Flaggschiff der Solaren Marine schrumpfte rasch.

Während Qul Aro’nh seine Warnungen an die Fremden wiederholte, stieg das gewaltige Kugelschiff weiter auf, und die blauen Entladungen zwischen den stumpfen Dornen nahmen zu.

Kori’nh stellte eine Kom-Verbindung zum Flaggschiff her.

»Vergeuden Sie keine Zeit, Qul Aro’nh. Die Fremden haben oft genug ihre feindlichen Absichten bewiesen.« Er holte tief Luft und traf eine wichtige Entscheidung für sich selbst und die Solare Marine. »Eröffnen Sie das Feuer!«

Eskorten glitten der Ekti-Stadt entgegen, um so viele Bewohner wie möglich zu evakuieren. Ein zweites Kugelschiff stieg auf, und tief unten, in den Wolken, bemerkte der Adar das Glühen eines dritten.

»Wie Sie befehlen, Adar«, bestätigte Qul Aro’nh. Die ersten Kriegsschiffe wandten sich dem Feind zu und schickten ihm einen ganzen Schwarm kinetischer Raketen entgegen. Sie explodierten an der Außenhülle des Kugelschiffes, hinterließen dort nur leichte Verfärbungen. Dann setzte Aro’nh hochenergetische Strahlen ein, Lanzen aus orangerotem Feuer, das schwarze Brandspuren verursachte.

Ein Kriegsschiff näherte sich weiter, offenbar in der Absicht, sich in eine gute Schussposition zu bringen. Die beiden Kugelschiffe reagierten. Blaue Blitze zuckten ins All, vereinten sich, trafen den ildiranischen Raumer und verwandelten ihn in eine Wolke aus Myriaden glühender Fragmente.

Eine energetische Druckwelle trieb die anderen Kriegsschiffe der Solaren Marine zurück.

Entsetzen breitete sich bei den Ildiranern aus. Adar Kori’nh glaubte, seinen Augen nicht trauen zu können – der Feind hatte mühelos eins der mächtigsten Schiffe der ildiranischen Flotte vernichtet!

Qul Aro’nhs Stimme drang aus den Lautsprechern. Er befahl den Manipel-Schiffen, sich neu zu gruppieren.

Eskorten mit Flüchtlingen an Bord stiegen von der Ekti-Stadt auf, während andere Transporter landeten. Die Arbeiter der großen Anlage gerieten in Panik und das

Kommunikationssystem übertrug ihre Hilferufe. Aber der Adar sah keine Möglichkeit, die Evakuierung zu beschleunigen, denn auf den Dockplattformen der Stadt gab es nur begrenzten Platz.

Kleine, private Schiffe flogen fort von der Himmelsmine, Jachten und Versorgungseinheiten, für den Pendelverkehr zwischen Ildira und der Ekti-Stadt bestimmt. Aber jene Schiffe konnten nur wenige Personen transportieren. Sie genügten nicht, um alle Ildiraner der Splitter-Kolonie in Sicherheit zu bringen.

Eine dritte Kugel kam aus den Wolken des Gasriesen und gesellte sich den beiden anderen hinzu. Auch bei ihr gleißten Entladungen zwischen den Dornen und gemeinsam nahmen sie die Ekti-Stadt unter Beschuss. Der erste Blitz zerstörte eine Reaktorkuppel und pulverisierte ein Wohnmodul. Hunderte starben und Flammen breiteten sich aus.

Der Adar fühlte ein Stechen im Herzen, einen Schmerz, den das Thism übermittelte und vom Tod vieler Ildiraner kündete.

»Bringen Sie mich zu meinem Flaggschiff!«

»Wir sind fast da, Adar.«

Hoch im Orbit griff Qul Aro’nh die Fremden mit fünf Kriegsschiffen an und es wurden alle zur Verfügung stehenden Waffen eingesetzt: hochenergetische Strahlen, kinetische Projektile, sogar verheerende Planetenbrecher.

Wieder gleißten die blauen Blitze der Kugeln und trafen sechs der unbewaffneten Eskortenschiffe, die mit zahllosen Flüchtlingen an Bord ins All zu entkommen versuchten – die Raumer platzten auseinander. Eine stärkere Entladung traf die Stadt und vernichtete einen weiteren Teil der Ekti-Fabrik. Die große Anlage geriet ins Trudeln und war bereits unrettbar verloren.

Als das Kampfboot schließlich am Flaggschiff andockte, sprang Adar Kori’nh auf und lief zum Kommando-Nukleus.

An Bord seines eigenen Schlachtschiffs setzte Qul Aro’nh den Kampf gegen die Fremden fort, ohne bei den Kugelschiffen erkennbare Schäden zu verursachen.

Die Piloten der Eskorten hatten gesehen, dass der Feind auch nicht davor zurückschreckte, unbewaffnete Rettungsschiffe zu zerstören. Sie beschworen den Adar, die Evakuierung abzubrechen. Doch davon wollte Kori’nh nichts wissen. »Die Rettungsmission wird fortgesetzt«, sagte er scharf.

Zwanzig Eskortenschiffe voller Flüchtlinge schafften es zurück, landeten in den Hangars der Kriegsschiffe und gaben dort ihre lebende Fracht frei. Hunderte von Arbeitern waren gerettet, aber ihre Anzahl entsprach nur etwa einem Drittel der gesamten Bevölkerung der Splitter-Kolonie. Inzwischen brannte die ganze Ekti-Stadt. Ihre Habitatkugeln waren geborsten, die industriellen Anlagen, Kondensationstürme und Destillatoren qualmende Ruinen.

Kori’nh verlangte einen Situationsbericht von allen Raumschiffkommandanten. Fünf weitere Eskorten verließen die Himmelsmine. Mehr als fünfzig kleine private Schiffe waren aus der Atmosphäre von Qronha 3 geflohen und baten darum, von den Kriegsschiffen aufgenommen zu werden.

Die drei Kugelschiffe schenkten der ildiranischen Solaren Marine keine Beachtung und näherten sich der brennenden Ekti-Stadt. Mit einem vereinten Strahl verwandelten sie die ganze Anlage in einen Glutball, aus dem einzelne Trümmer wie Meteore in die wolkigen Tiefen des Gasriesen fielen.

Alle nicht evakuierten Ildiraner waren tot.

Kori’nh wandte sich an die noch intakten Schiffe seines Manipels. »Nehmen Sie so viele Flüchtlinge wie möglich auf.

Die Eskorten kehren unverzüglich zu den Kriegsschiffen zurück.« Er glaubte zu spüren, wie ihm etwas den Hals zuschnürte. Nie zuvor in seinem Leben hatte er eine so schändliche Niederlage hinnehmen müssen – sie war einzigartig in der ganzen langen und glorreichen Geschichte des Ildiranischen Reiches! Sie würde in die Saga der Sieben Sonnen eingehen, auf dass sich auch zukünftige Generationen an sie erinnerten. »Wir müssen uns zurückziehen und die Gefahrenzone verlassen.«

»Aber Adar!«, ertönte Aro’nhs Stimme aus den Kom-Lautsprechern. »Die Solare Marine flieht nicht. Eine solche Schande…«

»K’llar bekh!

Wir haben Arbeiter und ihre

Familienangehörigen aus der Ekti-Stadt gerettet und bringen sie jetzt an Bord unserer Kriegsschiffe. Ich will nicht, dass unser Stolz sie tötet. Unsere erste Pflicht besteht darin, die Zivilisten nach Ildira zu bringen und dem Weisen Imperator Bericht zu erstatten.«

Kommentarlos wies Qul Aro’nh sechs der sieben Kriegsschiffe in der vordersten Septa an, zum Gros des Manipels zurückzukehren. Doch das Schlachtschiff des alten Kommandeurs setzte den Flug in Richtung des Feindes fort.

Der Adar saß im Kommando-Nukleus und entnahm den Anzeigen der Sensoren, dass der konservative alte Qul das energetische Niveau des Sternenantriebs so erhöht hatte, dass es zu einer Kaskaden-Überladung kommen musste. Das Schlachtschiff stürzte den drei Kugeln entgegen, die noch immer dort schwebten, wo sie eben die Ekti-Stadt zerstört hatten.

»Was haben Sie vor, Qul Aro’nh?«, fragte Kori’nh scharf.

»Wie Sie uns bei der Übung rieten, Adar: Ich versuche, unkonventionelle Taktiken einzusetzen. Vielleicht wird dieses Manöver einmal zu einem Standard in verzweifelten Situationen.«

Aro’nh unterbrach die Verbindung. Er hatte sich entschieden und sah seinen Weg klar vor sich. Kori’nh konnte nur hilflos beobachten, wie die Triebwerksöffnungen am Heck des Schlachtschiffs kirschrot glühten. In wenigen Sekunden würden die Reaktoren explodieren.

Alle Personen an Bord, die ildiranische Crew, die Soldaten und Techniker… Kori’nh fühlte ihr Entsetzen, aber auch ihre grimmige Entschlossenheit – sie waren bereit, sich zu opfern.

Der Adar stand auf und wusste, dass er letztendlich die Verantwortung trug für die Entscheidung des Quls. Er hatte Schande über Aro’nh gebracht, ihm den Boden unter den Füßen weggezogen. Andernfalls wäre er vermutlich nicht zu einer so extremen Maßnahme bereit gewesen.

Hoffentlich hat er Erfolg…

Qul Aro’nh ließ das Schlachtschiff der ersten Kugel entgegenfallen. Während des Anflugs setzte er alle noch verbliebenen kinetischen Projektile und Planetenbrecher ein, ließ gleichzeitig die hochenergetischen Strahlkanonen feuern.

Kori’nh sah, dass die Wirkung nicht ausblieb – an der Außenhülle des Kugelschiffes schien es zu Schäden zu kommen. Die beiden anderen Kugeln stiegen auf und die blauen Entladungen zwischen ihren Dornen loderten heller.

Aber bevor die Fremden das Feuer eröffnen konnten, rammte Aro’nhs Schiff die erste Kugel. Gleichzeitig kam es zur Entladung der Sternenantrieb-Reaktoren. Über den Wolken von Qronha 3 schien eine neue Sonne zu entstehen.

Kori’nh empfand die Explosion wie einen Dolchstoß ins Herz. Aber nachdem die Fremden so viele Leben ausgelöscht hatten… Die Märtyrer an Bord des Schlachtschiffs hatten wenigstens einen Erfolg erzielt. Qul Aro’nh hatte ihr Schicksal bestimmt, und wenn es nach dem Adar ging, würde ihre Selbstaufopferung für immer Eingang finden in die Saga der Sieben Sonnen.

Als sich die automatischen Helligkeitsfilter nach dem Lichtblitz deaktivierten, sah Kori’nh: Die erste Kugel war ein schwarzes Wrack, das, von der Gravitation erfasst, durch die Wolken des Gasriesen in die Tiefe stürzte.

Die enorme Explosion schien auch die beiden anderen Kugelschiffe beschädigt zu haben. Hier und dort entwich unter Hochdruck stehendes Gas durch Risse in der Außenhülle.

Doch das schlingernde Bewegungsmuster der beiden Kugeln stabilisierte sich schnell.

Kori’nh begriff, dass dem Rest des Manipels und den Geretteten Verderben drohte, wenn er nicht sofort etwas unternahm.

Das Leben der Ildiraner stand an erster Stelle. Der Adar öffnete einen Kommunikationskanal und befahl seinen siebenundvierzig besiegten Schlachtschiffen den sofortigen Rückzug.

Kori’nh war schockiert. Er hatte gerade die Niederlage seiner Kampfflotte miterlebt und zu einer solchen Demütigung kam es zum ersten Mal in der Geschichte der Ildiraner. Doch abgesehen von diesem schmachvollen Debakel und dem hohen Verlust an unersetzlichem Leben regte sich auch noch eine tiefere Verzweiflung in dem Adar. Er wusste, dass dies wahrscheinlich nur der Anfang war.

Die feindlichen Wesen hatten jetzt auch dem Ildiranischen Reich den Krieg erklärt.

92 WEISER IMPERATOR

Der Weise Imperator lehnte sich in seinem Chrysalissessel unter der Himmelssphäre des Prismapalastes zurück und genoss den Sonnenschein, der durch die gewölbten Wände glänzte. Über ihm flatterten Vögel und bunte Insekten in dem großen offenen Terrarium, von Sperrfeldern gefangen gehalten. Versprühtes Wasser bildete eine Wolke und darauf glühte ein Hologramm, das die wohlwollenden Züge des Weisen Imperators zeigte. Es präsentierte sich am Ende einer Lichtsäule, die vom großen Sessel ausging. Wie eine Gottheit blickte das Gesicht des Oberhaupts aller Ildiraner auf die Pilger und Bittsteller, die kamen, um ihn zu sehen und zu verehren.

So sollte es sein.

Durch das Thism fühlte der Weise Imperator das komplexe Netz aus wichtigen Ereignissen überall im Reich. Die weit verstreuten Gedanken und Empfindungen waren am deutlichsten, wenn er sie durch seine Söhne empfing, die Designierten der ildiranischen Kolonien. Aber er sah auch die mentalen und emotionalen Lichter anderer wichtiger Personen im Reich, die von militärischen Kommandeuren, Forschern, Architekten und manchmal sogar von Liebenden, wenn ihre Leidenschaft so stark wurde, dass sie aus dem Hintergrundglühen von Milliarden ildiranischer Seelen heraustrat. Der Weise Imperator sortierte die Gefühle unbewusst, während er sich seinen wohlwollenden Pflichten im Prismapalast widmete.

Nur er verstand die Prioritäten, die unangenehmen Notwendigkeiten. Alle anderen konnten im Dunkeln bleiben, soweit es ihn betraf. Das ildiranische Volk diente ihm, welche Entscheidungen auch immer er traf. Er war das Zentrum des Reiches; alle Lebenslinien gingen von ihm aus.

Eine aus fünf Geschuppten bestehende Delegation näherte sich ihm, mit gesenktem Kopf und krummem Rücken. Diese Ildiraner hatten kantige Gesichter und lange Schnauzen und sie bewegten sich mit einer fließenden Schnelligkeit, die etwas Reptilienartiges zum Ausdruck brachte. Die Geschuppten waren ein ildiranisches Geschlecht, das in Äquatorzonen arbeitete und dort unter einem immer grellen, heißen Himmel schimmernde Sonnenkollektoren wartete. Sie bauten Windräder in schmalen Schluchten, die den Wind kanalisierten.