2.

 

Fünf Mi­nu­ten vor der Lan­dung be­merk­te ich, daß der si­bi­ri­sche Win­ter an­ge­bro­chen war. Ich schau­te auf die Da­tums­mar­ke mei­ner Uhr. Wir schrie­ben den 5. De­zem­ber 2008.

Vor we­ni­gen Ta­gen war ich vom Raum­flug­ha­fen der GWA in Ari­zo­na ge­st­ar­tet. Nun flog ich in die Zo­ne der Schnee­stür­me und der klir­ren­den Käl­te hin­ein. Ich dach­te an die dün­ne Som­me­r­uni­form, die ich un­ter dem Raum­an­zug trug. Mei­ne Ab­be­ru­fung war et­was über­ra­schend ge­kom­men.

Ak­ti­ve Agen­ten wur­den stets vor vollen­de­te Tat­sa­chen ge­stellt. Ich leg­te auch kei­nen Wert dar­auf, ei­nem der vie­len Pla­nungs­stä­be der Wis­sen­schaft­li­chen-Ab­wehr zu­ge­teilt zu wer­den. Für die Schreib­tisch­ar­beit gab es ge­eig­ne­te­re Män­ner.

Ein To­sen riß mich aus mei­nen Über­le­gun­gen. Plötz­lich war auf den Bild­schir­men der Au­ßen­auf­nah­me nichts mehr zu se­hen. Wir wa­ren in dich­te Schnee­wol­ken vor­ge­sto­ßen.

Mit­su­to schal­te­te auf Re­li­e­fer­fas­sung und In­fra­or­tung um. Das Bild wur­de wie­der klar. Weit un­ter uns er­streck­ten sich die gi­gan­ti­schen Sumpf­ge­bie­te der West­si­bi­ri­schen Tiefebe­ne.

Au­gen­bli­cke spä­ter über­flo­gen wir das zu­ge­fro­re­ne Strom­ge­biet des Je­nis­sej. Ei­ne Bo­den­sta­ti­on mel­de­te sich mit ih­rem An­ruf­zei­chen. Mit­su­to drück­te auf den Knopf des au­to­ma­ti­schen Ko­de­ge­bers. Ein Ge­sicht wur­de auf dem Bild­schirm der BB-Ver­bin­dung er­kenn­bar.

»Ba­sis Tu­r­inss­ka­ja Kult­ba­sa, Kon­troll­turm. TES­CO-B-215-TET mel­den. Wir ha­ben Sie ge­or­tet.«

»Flug TET, TES­CO-B-215, Cap­tain Mit­su­to an Kon­trol­le Tu­r­inss­ka­ja Kult­ba­sa. Ich ver­ste­he Sie gut. Bo­den­sicht nur auf Re­li­ef­ba­sis. Ha­ben Sie An­wei­sun­gen?«

»Ich neh­me Sie auf, TES­CO-215. Schal­ten Sie um auf Fern­lenk-Au­to­pi­lot. Ha­ben Sie Ih­ren Mann an Bord?«

»TES­CO-215 an Ba­sis, mein Mann ist an Bord. Ich schal­te um. Be­ach­ten Sie Prall­fel­dio­ni­sa­ti­on und Aer­oru­der.«

»Ver­stan­den. TES­CO. Ich ho­le Sie auf Schub­pols­ter her­ein. Wind­ge­schwin­dig­keit ist für Nor­mallan­dung zu hoch. Las­sen Sie Ihr Ul­tra­plast-Trieb­werk lau­fen. Ro­tor­klap­pen ein­fah­ren und si­chern. Un­ter­stüt­zen Sie mich mit Krei­sel­sta­bi­li­sa­tor.«

»Klap­pen ein­ge­fah­ren und ge­si­chert, Fahr­werks­schäch­te of­fen, En­de.«

Die Ba­sis Tu­r­inss­ka­ja Kult­ba­sa, der größ­te si­bi­ri­sche Raum­ha­fen, nahm uns in Fern­steue­rung. Ich ach­te­te kaum auf das Dröh­nen un­ter mei­nem Sitz. Auf den Bild­schir­men der Nor­ma­ler­fas­sung zuck­ten blut­ro­te Par­ti­kel­strö­me auf. Es war ei­ne ge­spens­ti­sche Lan­dung.

Die Zen­tra­le ver­rin­ger­te die Fahrt, pen­del­te uns über dem Ha­fen­ge­län­de aus und brach­te uns si­cher zu Bo­den. Als das Trieb­werk aus­lief und das Ar­beits­ge­räusch des Scheu­ning-Um­for­mers erstarb, hör­ten wir das Heu­len des Stur­mes deut­li­cher.

Ich rief mir die geo­gra­phi­sche La­ge des rus­si­schen Raum­ha­fens ins Ge­dächt­nis zu­rück. Die Tu­r­inss­ka­ja-Fields la­gen in Nord­ost­si­bi­ri­en am Zu­sam­men­fluß der Flüs­se Nis­hna­ja Tun­gus­ka und Tem­bent­schi. Das Ge­biet ge­hör­te be­reits zur mitt­le­ren si­bi­ri­schen Hoch­ebe­ne. Wei­ter öst­lich durch­ström­te die ge­wal­ti­ge Le­na das Land.

Wir war­te­ten, bis der Schlep­per aus dem Schnee­trei­ben auf­tauch­te. Wir wur­den von dem Grei­fer am Bu­grad er­faßt und in einen Han­gar ge­zo­gen, den wir erst sa­hen, als wir be­reits durch die To­re roll­ten.

Das Fau­chen ei­nes Heiß­luft­ge­blä­ses emp­fing uns. Das Eis be­gann ab­zut­au­en und vom Rumpf der dis­kus­för­mi­gen Flug­schei­be zu per­len.

Ich dach­te an die ers­ten Jah­re mei­ner Tä­tig­keit zu­rück. Da­mals wä­re es un­denk­bar ge­we­sen, mit dem mo­d­erns­ten Jä­ger der US-Space-For­ce auf ei­nem si­bi­ri­schen Ha­fen zu lan­den. Nun war es selbst­ver­ständ­lich ge­wor­den.

Die Ver­ant­wort­li­chen in den Haupt­städ­ten der Län­der wa­ren durch die dro­hen­de Ge­fahr aus dem Welt­raum zu Ver­bün­de­ten ge­wor­den. Wahr­schein­lich hät­te es kei­nen bes­se­ren Weg ge­ben kön­nen, um die zahl­rei­chen Irr­tü­mer und ge­gen­sätz­li­chen Welt­an­schau­un­gen auf einen ge­mein­sa­men Nen­ner zu brin­gen.

Ich öff­ne­te den Mund, um den Druck­aus­gleich bes­ser er­tra­gen zu kön­nen. Das In­nen­schott der Mann­schleu­se glitt auf. Feucht­war­me Luft drang ein.

Zu­erst be­merk­te ich einen Helm mit ein­ge­bau­ter Funk­sprech­an­la­ge. Dar­un­ter wur­de ein stop­pel­bär­ti­ges Ge­sicht mit was­ser­blau­en Au­gen er­kenn­bar.

Der Uni­for­mier­te hob grü­ßend die Hand.

»Ma­jor Lu­di­now, vier­te Raum­jagd­grup­pe Kult­ba­sa. Oberst HC-9?«

Ich wink­te dem Ma­jor zu und zog die Pa­tent­ver­schlüs­se mei­nes Raum­an­zugs auf. Lu­di­now nick­te.

»Ja, las­sen Sie den Tau­cher­an­zug hier. Wir ha­ben bes­se­re Klei­der für Sie. Ein Hun­de­wet­ter, was?«

Neu­gie­rig be­trach­te­te er die kom­pli­zier­ten Kon­trol­lein­rich­tun­gen des Jä­gers.

»Sieht gut aus«, brumm­te der Rus­se in sei­nem har­ten Eng­lisch. »Zu­viel Po­li­tur für mei­nen Ge­schmack, aber sonst sehr or­dent­lich. Sa­gen Sie, Brü­der­chen – wie gut be­herr­schen Sie die Spra­che mei­nes ge­nia­len Vol­kes?«

»Je­der Ein­hei­mi­sche wird mer­ken, daß ich nicht hier ge­bo­ren bin.«

»Stimmt, man hört es. Das macht aber nichts. Die Haupt­sa­che ist, daß Sie sich un­ter­hal­ten kön­nen. Ha­ben Sie zu­fäl­lig einen Fa­mi­li­enna­men? HC-9 klingt zu sehr nach see­len­lo­ser Ma­the­ma­tik.«

»Ich ha­be zwar einen, aber den darf ich nicht ver­ra­ten.«

»Aha, das Üb­li­che. Ich soll Sie zu Ih­rem Ober­bä­ren brin­gen.«

»Zu wem?« frag­te ich ir­ri­tiert.

Der Ma­jor lach­te.

»Das ist un­se­re Be­zeich­nung für Ge­ne­ral Re­ling. Er hüll­te sich nach der An­kunft in di­cke Pel­ze und schimpf­te auf un­se­ren Win­ter. Die paar Grad un­ter Null sind ihm un­an­ge­nehm.«

»Wie kalt ist es denn?«

»Oh, noch harm­los. Knapp mi­nus fünf­und­drei­ßig. Der Schnee brach­te die Wär­me mit.«

»Ge­müts­mensch. Ge­hen wir?«

Er mus­ter­te mich noch­mals. Lu­di­now gab sich le­ger, aber sein Blick ver­riet mir al­les. Die­ser Mann ge­hör­te zu dem har­ten Typ des astro­nau­tisch ge­schul­ten Sol­da­ten.

Wir durch­schrit­ten die Hal­le und be­stie­gen ein ge­schlos­se­nes Fahr­zeug. Als wir hin­aus­fuh­ren, tob­te der Sturm im­mer noch.

Ich be­trach­te­te Lu­di­nows un­ter­setz­te Ge­stalt, die klar ge­form­te Na­se und die kräf­ti­gen Hän­de. Wes­halb hat­te er sich nach mei­nen Sprach­kennt­nis­sen er­kun­digt? Er muß­te wis­sen, daß je­der GWA-Agent das Rus­si­sche be­herrsch­te. Viel ner­vö­ser mach­te mich der Ge­dan­ke an den Chef. Was hat­te der Al­te hier zu su­chen?

Ich ver­zich­te­te auf Fra­gen, bis vor uns die Kon­tu­ren ei­nes Ge­bäu­des sicht­bar wur­den.

»Sie ha­ben Ner­ven«, stell­te Lu­di­now fest.

»Wie­so?«

»Ich an Ih­rer Stel­le hät­te nicht so lan­ge schwei­gen kön­nen. Kom­men Sie. Das Fest soll mit Ih­rer An­kunft be­gin­nen.«

 

Ich ver­miß­te al­les, was zu ei­nem großen Ein­satz ge­hör­te. Die we­ni­gen Män­ner in dem Ar­beits­zim­mer wa­ren mir bis auf Ge­ne­ral Re­ling und den Chef des rus­si­schen Ge­heim­diens­tes un­be­kannt.

Das ge­heim­nis­vol­le, ner­ven­zer­mür­ben­de Flui­dum des GWA-Haupt­quar­tiers fehl­te.

Re­ling trug die blauschwar­ze Uni­form der GWA. Gre­gor Iwa­no­witsch Gor­ss­kij war an­schei­nend oh­ne sei­nen Mit­ar­bei­ter­stab ge­kom­men. Ich war ent­täuscht. Wes­halb hat­te man mich nach Si­bi­ri­en be­foh­len?

»Freut mich, Sie zu se­hen«, mein­te Gor­ss­kij mit wis­sen­dem Lä­cheln. »Neh­men Sie bit­te Platz, Herr Oberst. Ich ver­mu­te, daß wir uns schon ein­mal be­geg­net sind.«

Er schau­te mich prü­fend an. Ich öff­ne­te für einen Au­gen­blick mein Se­pa­rat­ge­hirn, um zu ver­su­chen, Gor­ss­ki­js Ge­dan­ken­in­halt te­le­pa­thisch zu le­sen.

Mei­ne Aus­bil­dung war weit fort­ge­schrit­ten, nach­dem ich noch­mals drei Mo­na­te auf der Süd­seein­sel Hen­der­won ge­schult wor­den war. Mein durch die Ope­ra­ti­on ver­än­der­tes Groß­hirn hat­te sehr gut auf die pa­ra­psy­chi­sche Ak­ti­vie­rung an­ge­spro­chen.

»Un­ter­las­sen Sie das«, fuhr mich Re­ling an.

Ich sah ihn er­staunt an. Seit wann war der Chef so un­vor­sich­tig, mei­ne neue Fä­hig­keit an­zu­deu­ten?

Der Al­te lach­te hu­mor­los auf.

»Ge­ben Sie sich kei­ne Mü­he. Die Her­ren sind in­for­miert. Das über­rascht Sie wohl, wie?«

»Das – das kann man sa­gen, Sir«, stot­ter­te ich.

Plötz­lich sah ich die An­ge­le­gen­heit in ei­nem an­de­ren Licht. Das ein­fa­che Ar­beits­zim­mer, das feh­len­de Flui­dum und die we­ni­gen Of­fi­zie­re ge­wan­nen an Be­deu­tung.

»Es war er­for­der­lich, HC-9«, warf Gor­ss­kij ein. »Wir ha­ben Sie nach Si­bi­ri­en ge­be­ten, weil wir kei­nen Agen­ten mit Ih­ren Fä­hig­kei­ten zur Ver­fü­gung ha­ben. Wir se­hen in Ih­nen den ge­fähr­lichs­ten Mann der Welt­ge­schich­te.«

»Aber, Sir, das ent­spricht nicht den Tat­sa­chen. Ich bit­te drin­gend dar­um, mich nicht zu über­schät­zen. Ich …«

»Doch, HC-9, Sie sind ge­fähr­lich, al­ler­dings in po­si­ti­vem Sin­ne. Ein Mann, der in der La­ge ist, die Ge­dan­ken an­de­rer Men­schen zu le­sen so­wie al­le Ge­fühls­re­gun­gen und Vor­ha­ben Drit­ter zu er­ken­nen – noch ehe die Be­tref­fen­den selbst wis­sen, was sie tun wol­len –, ist mei­ner Auf­fas­sung nach ent­schie­den ge­fähr­lich. Wir kön­nen dank­bar sein, daß Sie als Agent der GWA im In­ter­es­se der Mensch­heit ar­bei­ten. Wä­re dies nicht der Fall, oder be­stün­den nur die ge­rings­ten Zwei­fel an Ih­rer Loya­li­tät, wür­de ich Sie auf der Stel­le er­schie­ßen las­sen. Ein Mann wie Sie könn­te zum Welt­feind Num­mer eins wer­den.«

Das Lä­cheln des Ge­heim­dienst­chefs ließ mich er­schau­ern. Gre­gor Gor­ss­kij hat­te es ab­so­lut ernst ge­meint.

»Ich ver­ste­he Sie voll­kom­men, Sir«, ent­geg­ne­te ich. »Wenn Sie mich aus die­ser Sicht be­ur­tei­len, ha­ben Sie al­ler­dings recht, wenn Sie den Be­griff ›ge­fähr­lich‹ ge­brau­chen. Um so mehr über­rascht es mich, daß es Ge­ne­ral Re­ling für nö­tig ge­hal­ten hat, dar­über zu spre­chen. Ich bit­te drin­gend um ei­ne be­son­de­re Ver­ei­di­gung der hier an­we­sen­den Per­so­nen.«

»Das war ei­ne schar­fe Spit­ze, Gor­ss­kij. Ha­ben Sie es be­merkt?« warf Re­ling ein. »Co­lo­nel HC-9, die An­we­sen­den sind ver­ei­digt wor­den. Au­ßer­dem han­delt es sich um die zu­ver­läs­sigs­ten Män­ner des rus­si­schen Ge­heim­diens­tes. Nur Ma­jor Lu­di­now ist so­eben erst ein­ge­weiht wor­den.«

Ich war zu­tiefst be­stürzt. Was ging in dem Chef vor, einen wild­frem­den Of­fi­zier mit den be­deu­tends­ten Ge­heim­nis­sen der GWA ver­traut zu ma­chen?

Ich blick­te Re­ling ver­stört an, bis ich auf die Idee kam, sei­nen Ge­dan­ken­in­halt zu son­die­ren.

»Narr!« ver­nahm ich auf pa­ra­psy­chi­scher Ebe­ne. »Nach Ih­rem Ein­satz wer­den die be­tref­fen­den In­for­ma­tio­nen aus dem Ge­dächt­nis­sek­tor der Ein­ge­weih­ten ge­löscht. Wir ha­ben jetzt die Mit­tel da­zu. Vor­erst muß man es wis­sen. Nur Gor­ss­kij be­hält sei­ne Kennt­nis­se. Das kön­nen wir ver­ant­wor­ten.«

Lu­di­now mus­ter­te mich ein­ge­hend. Als ich mich auf ihn ein­stell­te, er­hasch­te ich einen Ge­dan­ken­fet­zen, der mich un­ver­mit­telt auf­la­chen ließ.

»Aber, Herr Ma­jor, man denkt doch nicht von an­de­ren Leu­ten, sie wä­ren ›al­te Gau­ner‹.«

Ich schüt­tel­te vor­wurfs­voll den Kopf.

Lu­di­now tas­te­te nach ei­nem Stuhl und nahm Platz. Sein Ge­sicht hat­te sich ver­färbt. Schließ­lich mein­te er:

»Jetzt weiß ich auch, warum Sie mich nichts frag­ten, Brü­der­chen; tun Sie mir den Ge­fal­len und las­sen Sie mich in Ru­he.«

»Mein Wort dar­auf.«

»Nen­nen Sie mich Ni­ko­lai – Ni­ko­lai Alex­an­dro­witsch, aber tas­ten Sie nicht in mei­nem Ge­hirn her­um.«

»Ich ha­be Ih­nen mein Wort ge­ge­ben.«

»Gut, ich muß Ih­nen glau­ben. Wenn ich Sie in die Wäl­der fah­re, kön­nen Sie mei­net­we­gen be­lau­schen, wen Sie wol­len. Nur las­sen Sie mir mei­ne klei­nen mensch­li­chen Ge­heim­nis­se.«

Ma­jor Lu­di­now war ehr­lich er­schüt­tert. Auch die an­de­ren Män­ner sa­hen mich scheu an. In die­sem Au­gen­blick er­faß­te ich zum ers­ten Ma­le in vol­ler Kon­se­quenz, daß ich auf nor­ma­le Men­schen wie ein Un­ge­heu­er wir­ken muß­te.

»Es tut mir leid«, sag­te ich er­nüch­tert. »Bit­te glau­ben Sie mir, daß ich eben­falls einen Schock er­lit­ten ha­be. Kein Au­ßen­ste­hen­der wuß­te bis­her, wo­zu ich in der La­ge bin. Un­se­re Ex­per­ten be­ur­tei­len es an­ders. Für sie ist Te­le­pa­thie et­was Na­tür­li­ches. Ich ver­ste­he, daß Sie sich in­di­rekt be­droht füh­len. Ver­zei­hen Sie.«

Gor­ss­kij drück­te mich mit der Hand in einen Ses­sel.

»Ma­chen Sie sich dar­über kei­ne Ge­dan­ken. Wir hal­ten es für selbst­ver­ständ­lich, daß ein ver­ant­wor­tungs­be­wuß­ter Mann nur dann von sei­nen Ga­ben Ge­brauch macht, wenn es dienst­lich er­for­der­lich ist.«

»Na­tür­lich, Sir.«

»Na al­so. Spre­chen wir nicht mehr da­von. Herr Oberst, Ge­ne­ral Re­ling hat Sie auf mei­ne Bit­te hin nach Si­bi­ri­en ge­ru­fen. Wir sind in ei­ner Ver­le­gen­heit, die auch die gan­ze Welt be­trifft. Der Fall kann nur von Ih­nen ge­löst wer­den.«

Für einen Au­gen­blick wur­de es still im Raum.

»Es ist ei­ne klei­ne Sa­che«, be­gann Re­ling et­was zu gleich­mü­tig. »Vor vier Wo­chen et­wa wur­de ein ge­wis­ser Sta­na Imor­gin in die psych­ia­tri­sche Kli­nik von Olek­minssk ein­ge­lie­fert. An­schei­nend ein schwe­rer Fall von Geis­tes­s­pal­tung. Imor­gin ver­hielt sich fried­fer­tig, bis die Ärz­te ver­such­ten, die Be­hand­lung ein­zu­lei­ten. Da­nach kam es bei­na­he zum Selbst­mord.«

Re­ling be­ob­ach­te­te mich scharf. Ich dach­te un­will­kür­lich an den jun­gen Ther­mo­dy­na­mi­ker, der eben­falls den Frei­tod ge­wählt hat­te. Ich wur­de noch auf­merk­sa­mer.

»Sie ah­nen et­was, nicht wahr? Imor­gin er­schi­en den Ärz­ten ver­däch­tig. Die Be­hör­den wur­den be­nach­rich­tigt. Gor­ss­kij küm­mer­te sich per­sön­lich um den Fall. Die Sym­pto­me sind ein­deu­tig. Imor­gin ist nicht Herr sei­nes Wil­lens. Al­ler­dings scheint je­man­dem bei sei­ner Be­ein­flus­sung ein Feh­ler un­ter­lau­fen zu sein, denn er ver­lor au­ßer­plan­mä­ßig die Kon­trol­le über sei­nen Ver­stand. Das Ex­pe­ri­ment mit Sta­na Imor­gin ist wahr­schein­lich miß­lun­gen. Er sieht selt­sa­me Le­be­we­sen und spricht mit Zwer­gen, de­ren furcht­ba­re Au­gen ihn ban­nen. Nach den Vor­komm­nis­sen auf Ve­nus ha­be ich al­le Ab­wehr­chefs in­for­miert. Es ist an­zu­neh­men, daß frem­de In­tel­li­gen­zen die Hy­per­funk­sprü­che ge­hört ha­ben. Was auf der Er­de wirk­lich ge­schieht, weiß noch nie­mand. Wir ha­ben bis­her nur fest­ge­stellt, daß un­ta­de­li­ge Men­schen plötz­lich Ver­bre­chen be­gin­gen. Wur­den sie ent­larvt, schie­den sie frei­wil­lig aus dem Le­ben. Wir glau­ben an ei­ne rät­sel­haf­te psy­chi­sche Be­ein­flus­sung. Das wä­re die Vor­ge­schich­te.«

Ich nick­te und schwieg. Es bahn­te sich et­was Un­heim­li­ches an. Der Fall Dr. Taf­fit war nur ei­ner in ei­ner Ket­te ähn­lich ge­la­ger­ter Vor­komm­nis­se. Mög­li­cher­wei­se la­gen wir mit un­se­ren Ver­mu­tun­gen falsch. Seit­dem wir aber wuß­ten, daß es au­ßer uns noch an­de­re In­tel­li­gen­zen gab, wa­ren wir sehr vor­sich­tig.

Gor­ss­kij sprach mich an.

»Als der Be­richt des Chef­arz­tes vor­lag, ha­ben wir auf ein Ver­hör ver­zich­tet. Sta­na Imor­gin lebt. Er be­fin­det sich in gu­ter phy­si­scher Ver­fas­sung, nur sein Geist ist er­krankt. Ich ha­be mich an Ih­re Or­ga­ni­sa­ti­on ge­wandt. Sie soll­ten ver­su­chen, Imor­gin auf an­de­re Art an­zu­spre­chen.«

Ich ver­stand. Gre­gor Gor­ss­kij hat­te um­sich­tig ge­han­delt. Re­ling er­klär­te wei­ter:

»Imorg­ins Bru­der lebt als Jä­ger und Uran­pro­spek­tor in der si­bi­ri­schen Wild­nis. Er lie­fer­te Sta­na ein, als er sich nicht mehr zu hel­fen wuß­te. Sta­na Imor­gin ist Astro­in­ge­nieur, Fach­ge­biet Sa­tel­li­ten­bau. Er ge­nießt einen gu­ten Ruf als Astro­sta­ti­ker und lös­te un­ter an­de­rem die Fes­tig­keits­pro­ble­me des rus­si­schen Fern­mel­de­sa­tel­li­ten. Sein um­fang­rei­ches Wis­sen paßt in un­ser Sche­ma, denn bis­her wur­den nur Spit­zen­wis­sen­schaft­ler zu Sa­bo­teu­ren. Es ist – wie ge­sagt – an­zu­neh­men, daß im Fal­le des Sta­na Imor­gin ein Feh­ler un­ter­lief. Er er­krank­te an Schi­zo­phre­nie.«

»Wie kam er in die Wild­nis?« frag­te ich in­ter­es­siert.

»Ur­laub«, warf Gor­ss­kij ein. »Sein Bru­der ist we­sent­lich äl­ter als er. Fe­dor Imor­gin mei­det die Zi­vi­li­sa­ti­on. Er ist ein ver­schlos­se­ner, arg­wöh­ni­scher Mensch, der sei­nen Bru­der ab­göt­tisch liebt. Zu­sam­men mit Ma­jor Lu­di­now fah­ren Sie in den großen Le­na-Bo­gen. Sie ret­ten Fe­dor das Le­ben, ge­win­nen sein Ver­trau­en und war­ten ab, bis der geis­tes­kran­ke Sta­na er­scheint. Er wird aus der Kli­nik flie­hen und von mei­nen Leu­ten bis zu sei­nem Bru­der ge­steu­ert wer­den. Wenn er an­kommt, sind Sie schon ei­ni­ge Ta­ge da. An­schlie­ßend be­gin­nen Sie mit dem Ver­hör auf Ih­re Art. Wir hof­fen, daß Sie den ers­ten Er­folg er­rin­gen. Ver­mei­den Sie je­de of­fe­ne Fra­ge. Ha­ben wir uns ver­stan­den, HC-9?«

Ich nick­te. Der Plan war ein­fach und für mich ge­fahr­los.

»Sie kön­nen die Sa­che in we­ni­gen Ta­gen er­le­digt ha­ben. An­schlie­ßend keh­ren Sie ins Haupt­quar­tier zu­rück. Be­ei­len Sie sich ge­fäl­ligst«, sag­te Re­ling schroff.

»Sie star­ten in ei­ner Stun­de. Sie gel­ten als der ame­ri­ka­ni­sche Waf­fen­phy­si­ker Dr. Ralf Gun­nar­son, der mit sei­nem Freund Ni­ko­lai Alex­an­dro­witsch Lu­di­now Er­ho­lung bei der Jagd in Si­bi­ri­en sucht. Sie lie­ben den kal­ten, tro­ckenen Win­ter die­ses Lan­des. Lu­di­now gilt als das, was er ist. Sein Na­me ist un­be­kannt. Ih­re Aus­rüs­tung fin­den Sie in dem Luft­trans­por­ter. Noch Fra­gen?«

Auf die­se ste­reo­ty­pe Re­de­wen­dung hat­te ich nur ge­war­tet. Der Chef be­en­de­te häu­fig sei­ne An­wei­sun­gen mit den bei­den Wört­chen »noch Fra­gen«.

Na­tür­lich hat­te ich noch Fra­gen; sehr vie­le so­gar! Ich woll­te wis­sen, was den Geis­tes­kran­ken wohl be­we­gen wür­de, nach der Flucht sei­nen Bru­der auf­zu­su­chen. Er hät­te sich auch nach Wes­ten wen­den kön­nen. Sei­ne Dienst­stel­le lag am Aral-See.

»Er kommt«, be­lehr­te mich Gor­ss­kij. »Wir sor­gen da­für. Sta­na ist jetzt auf be­son­de­re Art in­tel­li­gent. Wir las­sen ihm nur einen Flucht­weg of­fen.«

An­schlie­ßend er­kun­dig­te ich mich, wie ich sei­nem Bru­der das Le­ben ret­ten soll­te. Bei der Ant­wort be­wun­der­te ich die ex­ak­te Ar­beit der Rus­sen.

»Fe­dor Imor­gin liegt seit drei Ta­gen in ei­nem ver­schüt­te­ten Berg­werkss­tol­len. Ein Son­der­kom­man­do brach­te den Gang zum Ein­sturz, als Imor­gin nach Uran­erz such­te.«

Gor­ss­kij sah auf die Uhr und run­zel­te die Stirn.

»Nun flie­gen Sie aber los, HC-9! Bis Sie dort an­kom­men, dürf­te der Mann tat­säch­lich dem To­de na­he sein. Sein Brenn­holz­vor­rat schrumpft zu­sam­men. Er spal­tet die al­ten Gru­ben­höl­zer auf. Sie, Herr Oberst, wer­den von mei­nen Leu­ten er­war­tet. Wenn Sie Imor­gin aus der Fal­le be­freit ha­ben, brin­gen Sie ihn in sei­ne Hüt­te. Sie liegt vier­zehn Ki­lo­me­ter von dem Berg­werk ent­fernt.«

Re­ling be­glei­te­te mich bis zum Aus­gang. Be­vor ich mich von ihm ver­ab­schie­de­te, er­klär­te er mir noch lei­se:

»Be­ei­len Sie sich. Ich konn­te Gor­ss­ki­js Bit­te nicht ab­schla­gen, ob­wohl ich nicht glau­be, daß der Ir­re wich­ti­ge Kennt­nis­se hat. MA-23 und Man­zo sind seit sechs Ta­gen ver­schwun­den.«

Ich blick­te den Al­ten ver­stört an. Han­ni­bal war ver­schwun­den?

»Fra­gen Sie nicht«, sag­te Re­ling has­ti­ger. »Nie­mand weiß hier, daß wir noch an­de­re Te­le­pa­then ha­ben. Man­zo und Han­ni­bal sind bei ei­nem Ein­satz im Atom­kraft­werk von Se­al Rocks auf Neu­fund­land ver­schol­len. Sie jag­ten zwei oder drei Sa­bo­teu­re, die vom Si­cher­heits­dienst nicht ge­fun­den wer­den konn­ten. Da­bei kam es zu ei­ner Ex­plo­si­on, die große Tei­le des Wer­kes zer­stör­te.«

»Wie­so er­fah­re ich das jetzt erst?«

»Ih­re Auf­ga­be war eben­falls wich­tig. Scout I darf nicht ver­nich­tet wer­den. Die Te­le­pa­thin Ki­ny Ed­wards ist be­reits auf dem Sa­tel­li­ten ein­ge­schleust wor­den. Sie wird die Be­sat­zung über­wa­chen. Nach dem Aus­schei­den von MA-23 und Ser­geant Man­zo sind Sie der ein­zi­ge Mann, den ich noch mit Son­der­auf­ga­ben be­trau­en kann. Keh­ren Sie al­so schnells­tens zu­rück. Der Fall Sta­na Imor­gin dürf­te nicht wei­ter schwie­rig sein. Mitt­ler­wei­le wer­de ich die ge­plan­te Groß­ak­ti­on vor­be­rei­ten. Ich er­war­te stünd­lich neue Nach­rich­ten. Al­le Dienst­stel­len der In­ter­na­tio­na­len-Ab­wehr-Ko­ali­ti­on ha­ben die An­wei­sung er­hal­ten, Sa­bo­ta­ge­fäl­le so­fort zu mel­den. Wir müs­sen we­nigs­tens einen At­ten­tä­ter le­bend ins Haupt­quar­tier brin­gen. Zu­sätz­lich läuft ei­ne Über­prü­fungs­ak­ti­on. Al­le be­kann­ten Wis­sen­schaft­ler der Er­de wer­den ge­tes­tet. Wir wis­sen noch nicht, wer von ih­nen eben­falls ver­schwun­den ist.«

Ich hielt den Atem an.

»Wie – Sie glau­ben an …«

»Ja­wohl«, un­ter­brach er mich. »Wir glau­ben an Ent­füh­run­gen. Sie ah­nen nicht, was in den we­ni­gen Ta­gen Ih­rer Ab­we­sen­heit ge­sche­hen ist. Die GWA-Ex­per­ten sind im Tief­punkt­zen­trum in Si­cher­heit ge­bracht wor­den. Die Ak­ti­on läuft un­ter der Tarn­be­zeich­nung ›Of­fen­si­ve Mi­no­tau­rus‹. Sie er­fah­ren mehr, wenn Sie wie­der in den Staa­ten sind. Ich wie­der­ho­le noch­mals: Be­ei­len Sie sich!«

Re­ling drück­te mei­ne Hand. Ich wink­te Gor­ss­kij von der Tür her zum Ab­schied zu und folg­te Ma­jor Lu­di­now, der so­eben den Wa­gen be­stieg.

Das Sin­gen der Ga­stur­bi­ne war kaum zu hö­ren. Die brei­ten Ket­ten des Fahr­zeu­ges wühl­ten sich durch die Schnee­we­hen vor den Ge­bäu­den. Als wir das of­fe­ne Ge­län­de er­reich­ten, schal­te­te Lu­di­now die Funk­meß­or­tung ein. Das Bild war scharf.

»Der Trans­por­ter steht auf Pis­te drei, ganz in der Nä­he«, er­klär­te er. »Es tut mir leid, was ich über Sie ge­dacht ha­be.«

»Ver­ges­sen Sie es, Ni­ko­lai. Wir müs­sen uns ab so­fort du­zen. Nen­nen Sie mich Ralf. Sind Sie über mei­nen an­geb­li­chen be­ruf­li­chen Wer­de­gang in­for­miert?«

»Ich stu­die­re Ihr Pseu­do­le­ben seit zwei Ta­gen. Sie glei­chen dem ech­ten Gun­nar­son aufs Haar. Er ist ein gut aus­se­hen­der Nord­land­hü­ne.«

»Vie­len Dank für das Kom­pli­ment.«

»Be­dan­ken Sie sich nicht zu früh. Dr. Gun­nar­son ist ei­ne Ka­pa­zi­tät. Was wis­sen Sie über mo­der­ne Waf­fen­tech­nik? Wenn Ih­nen je­mand auf den Zahn fühlt, dann …«

»Laß das mei­ne Sor­ge sein, Freund. Du mußt mich du­zen. GWA-Schat­ten sind mit zahl­rei­chen Din­gen ver­traut. Wie wer­den wir aus­ge­rüs­tet?«

»Erst­klas­sig. Sie sind …«

»… du bist!«

»In Ord­nung, du bist ein ver­mö­gen­der Mann, der es sich leis­ten kann, ein Spe­zi­al­fahr­zeug mit al­lem Kom­fort zu mie­ten. Ich bin dein lang­jäh­ri­ger Freund Ni­ko­lai Alex­an­dro­witsch. Wir lern­ten uns auf dem Mond bei Schieß­ver­su­chen mit ei­ner La­ser-Ka­no­ne ken­nen. Ich bin an­geb­lich ein Ge­heim­nis­trä­ger der eu­ro­päi­schen Lan­des­ver­tei­di­gung und Chef ei­nes Spe­zi­al-Jagd­ver­ban­des im Be­fehls­be­reich der in­te­r­eu­ro­päi­schen Raum­flot­te. Wir dürf­ten für neu­gie­ri­ge Leu­te sehr in­ter­essant sein. Die an­de­ren Da­ten wer­den Sie … wirst du bes­ser durch­le­sen.«

Ich ach­te­te kaum auf sei­ne Er­klä­run­gen. Lu­di­now fand an­schei­nend an sol­chen Un­ter­neh­men Ge­fal­len. Ich wun­der­te mich, daß die rus­si­sche Ab­wehr einen ak­ti­ven Jä­ge­r­of­fi­zier ab­ge­stellt hat­te, und er­kun­dig­te mich nach dem Grund.

»Ei­ne be­rech­tig­te Fra­ge, Brü­der­chen. Gor­ss­kij woll­te einen er­fah­re­nen Astro­nau­ten in dei­ner Be­glei­tung wis­sen.«

»Na­nu?«

Er lach­te tro­cken.

»Et­was selt­sam, nicht wahr? Ich ha­be für die Ab­wehr ei­ni­ge Ein­sät­ze ge­flo­gen. Ich war auch da­bei, als auf dem Mond die De­ne­ber-Höh­le aus­ge­ho­ben wur­de. Der Chef meint, ich müß­te al­so im Um­gang mit Frem­den ver­traut sein, aber das sind sei­ne Spe­zia­lis­ten auch. Mög­li­cher­wei­se glaubt er, wir be­kämen es nicht nur mit ei­nem re­la­tiv harm­lo­sen Geis­tes­kran­ken zu tun. Weißt du mehr?«

Ich schüt­tel­te den Kopf.

»Hmm«, brumm­te Ni­ko­lai vor sich hin. »Dann wol­len wir uns den un­er­forsch­li­chen Über­le­gun­gen ei­nes großen Man­nes un­ter­wer­fen. Es wird ei­ne Vor­sichts­maß­nah­me sein. Der zwei­te Grund, warum ich dich be­glei­ten soll, ist klar. Ich bin in Le­nicha an der obe­ren Le­na ge­bo­ren und ken­ne die Ge­gend so, wie man ei­ne un­weg­sa­me Wild­nis ken­nen kann. Mei­ne Ur­lau­be ver­brin­ge ich im­mer bei der Jagd und beim Fisch­fang. Mein Bart ist ein Wahr­zei­chen für den Ken­ner. Kein ›ver­nünf­ti­ger‹ Mann geht im Win­ter mit nack­ter Ge­sichts­haut nach Si­bi­ri­en.«

Ich lach­te noch, als wir be­reits vor dem Trans­por­ter hiel­ten. Es war ein äl­te­rer Senk­recht­star­ter mit mäch­ti­gen Kom­bi­trieb­wer­ken, die in schwenk­ba­ren Flä­chen­gon­deln un­ter­ge­bracht wa­ren. Zwei Staustrahl­trieb­wer­ke am Heck un­ter­stütz­ten den Vor­trieb. Mehr als die drei­fa­che Schall­ge­schwin­dig­keit konn­te die Ma­schi­ne nicht er­rei­chen.

Wir stie­gen aus, kämpf­ten uns durch den ei­si­gen Wind vor­an und be­tra­ten die aus­ge­fah­re­ne Heck­la­de­platt­form, die mit uns nach oben schwenk­te. Der In­nen­raum war er­leuch­tet. Ei­ni­ge Uni­for­mier­te der rus­si­schen Luft­waf­fe grüß­ten.

»Paw­lik«, stell­te sich ein Oberst vor. »Mit­ar­bei­ter im Stab der Ab­wehr. Ich bin für Ih­re Aus­rüs­tung ver­ant­wort­lich. Zie­hen Sie erst ein­mal die dün­ne Uni­form aus. Sie sind ja naß wie ei­ne Kat­ze.«

Die Ein­satz­be­spre­chung war kurz. Ich be­gut­ach­te­te Klei­dungs­stücke, Jagd­waf­fen, Ver­pfle­gung, ein im Han­del er­hält­li­ches Bild­sprech­ge­rät und an­schlie­ßend ein plum­pes Ket­ten­fahr­zeug, das als Zug­ma­schi­ne für den großen Wohn­schlit­ten diente.

»Kern­che­mi­scher Ato­man­trieb«, er­klär­te Paw­lik. »Einen MHD-Ge­ne­ra­tor zur Di­rek­tum­wand­lung dür­fen wir Ih­nen nicht mit­ge­ben. Sie wer­den aber mit dem Tur­bo­ag­gre­gat ver­traut sein. Die Mei­l­er­fül­lung ist frisch. Die Ab­schir­mung der hei­ßen Zo­ne wur­de über­prüft. Wenn Sie nicht in den Ener­gie­raum hin­ein­krie­chen, kom­men Sie mit hei­ler Haut da­von.«

Die Män­ner lach­ten mich an. Ein Ge­fühl der Ge­bor­gen­heit über­flu­te­te mich. Es war schön, von Freun­den um­sorgt zu wer­den.

Der Start ge­sch­ah mit ei­ner ge­wal­ti­gen Ge­räusch­ent­wick­lung. Ich saß an­ge­schnallt im Schwenk­ses­sel, bis der Trans­por­ter die Schnee­front pas­siert hat­te. Auf den Bild­schir­men der Au­ßen­bor­d­op­tik wur­de es hell. Wir durch­s­tie­ßen die Schall­mau­er und stie­gen bis auf zwan­zig Ki­lo­me­ter. Von da an ver­lief der Flug er­schüt­te­rungs­frei.

Paw­lik setz­te sich zu uns. Auf der Kar­te zeig­te er uns das Ein­satz­ge­biet.

»Der Bo­gen zwi­schen Wil­juj und un­te­rer Le­na ist kaum be­sie­delt. Sie kom­men in ei­ne ech­te Wild­nis, die jetzt im Win­ter ih­re be­son­de­ren Rei­ze hat. Wir lan­den in Agy­nt­jan, ei­ner Berg­werks­sied­lung mit vier­tau­send Ein­woh­nern. Von da aus fah­ren Sie mit dem Trak­tor. Nach un­se­ren Be­rech­nun­gen kann Fe­dor Imor­gin noch et­wa fünf Ta­ge in dem ver­schüt­te­ten Stol­len aus­hal­ten. Den Hun­ger wird er über­ste­hen. Wenn er sei­ne Höh­le aus­rei­chend be­heizt, wer­den Sie ihn ge­schwächt, aber bei re­la­tiv gu­ter Ge­sund­heit an­tref­fen. Wir über­las­sen es Ih­nen, die zu­fäl­lig vor­bei­ge­kom­me­nen Ret­ter zu schau­spie­lern. Dar­in dürf­ten Sie ja Er­fah­rung ha­ben.«

Lu­di­now sah mich prü­fend an. Ich wuß­te, daß er mich ver­däch­tig­te, den Ge­dan­ken­in­halt der Män­ner zu kon­trol­lie­ren.

Nach der Lan­dung stell­te er fest, daß der Flug­platz von Agy­nt­jan ver­las­sen war. Die lan­ge Nacht des si­bi­ri­schen Win­ters war an­ge­bro­chen.

Ei­ne Stun­de spä­ter hat­ten wir uns um­ge­zo­gen und den Ket­ten­trak­tor über die Heck­ram­pe ins Freie ge­rollt. Zwei Män­ner kup­pel­ten den Last­schlit­ten an. Um 23.11 Uhr ver­ab­schie­de­ten wir uns. Ein ein­sa­mer Pos­ten wies uns den Weg. Man hat­te die Um­zäu­nung ge­öff­net. Hin­ter dem Platz be­gann der Ur­wald.

Lu­di­now fuhr schnell und si­cher. Das Sum­men der star­ken E-Mo­to­ren in den Ket­ten­lauf­rä­dern stör­te kaum. Der Re­ak­tor ar­bei­te­te oh­ne­hin laut­los.

Ei­ne ver­schnei­te Schlucht nahm uns auf. Ich dach­te an Han­ni­bal und Man­zo, Freun­de und Ge­fähr­ten aus zahl­rei­chen Un­ter­neh­men.

Wie, so frag­te ich mich, konn­ten zwei Te­le­pa­then ver­schwin­den? Han­ni­bals pa­ra­psy­chi­sche Ga­ben wa­ren noch nicht voll ent­wi­ckelt, aber der Mu­tant Man­zo war un­schlag­bar. Was hat­te ihn über­wäl­ti­gen kön­nen?

Die brei­ten Ket­ten der Zug­ma­schi­ne glit­ten mü­he­los über den me­ter­tie­fen Schnee. Wir folg­ten dem Lauf ei­nes zu­ge­fro­re­nen Bachs. Lu­di­now hat­te er­klärt, die ver­eis­ten Was­ser­stra­ßen des Lan­des eig­ne­ten sich vor­züg­lich für ei­ne schnel­le Fahrt. Wir fuh­ren nach Süd­os­ten. Das Ziel lag et­wa hun­dert­fünf­zig Ki­lo­me­ter ent­fernt.

»Du bist ziem­lich ein­sil­big, Freund«, mein­te Lu­di­now. »Die Wöl­fe sind lau­ter als du.«

»Sie ha­ben auch we­ni­ger Sor­gen.«

Er run­zel­te die Stirn. Ich blick­te auf sei­ne kräf­ti­gen Hän­de nie­der, die die He­bel der Ket­ten­kupp­lung be­dien­ten.

»Meinst du? Sie ha­ben im­mer Hun­ger, be­son­ders jetzt. Der Win­ter kam früh in die­sem Jahr. Die Grau­en ha­ben um ihr Le­ben zu kämp­fen.«

»Nur um ih­res, Ni­ko­lai Alex­an­dro­witsch. Wir kämp­fen um die Mensch­heit. Hast du den Geis­tes­kran­ken be­ob­ach­ten kön­nen?«

Er lä­chel­te selt­sam.

»Jetzt weiß ich, daß du wirk­lich nicht mei­ne Ge­dan­ken liest, denn ich dach­te lau­fend an Sta­na Ser­ge­je­witsch Imor­gin. Ich ha­be ihn auf ei­nem Film der Ab­wehr ge­se­hen. Das reich­te mir. Ich scheue mich vor je­nen, die im Dun­keln kla­gen.«

»Vor je­nen, die im Dun­keln kla­gen«, wie­der­hol­te ich be­klom­men. »Freund, muß man in die­sem wei­ten Land ge­bo­ren sein, um sol­che Sät­ze zu sa­gen?«

Lu­di­now schwieg. Ich schau­te auf die Bord­uhr, an­schlie­ßend nach hin­ten. Der Atom­kraft­schlep­per be­saß ei­ne hoch­lie­gen­de Ka­bi­ne vor dem kas­ten­för­mi­gen Auf­bau des Ener­gie­rau­mes. Mit die­sem Wa­gen konn­te man ans En­de der Welt fah­ren.

»Wie mü­de bist du, Ni­ko­lai?«

»Über­haupt nicht. Und du?«

»Mir fal­len die Au­gen zu. Ich bin sechs­und­drei­ßig Stun­den lang nicht zur Ru­he ge­kom­men.«

»Du warst ›drau­ßen‹?«

Ich lä­chel­te über den Aus­druck. »Drau­ßen« – wie das klang. Nur Astro­nau­ten spra­chen so vom kos­mi­schen Raum.

»Ja, auf Scout I. Ich ha­be einen Sa­bo­teur ver­haf­tet.«

»Sieh mir nicht in die Au­gen, Brü­der­chen. Ich kämp­fe noch mit mir. Es fällt mir schwer, in dir einen Mann zu se­hen, wie ich ei­ner bin. Wenn du von ›fas­sen‹ oder ›ver­haf­ten‹ sprichst, schlägt mein Herz schnel­ler. Ist das Feig­heit?«

»Nein«, er­klär­te ich ru­hig. »Ich ver­ste­he dich voll­kom­men. Du soll­test nicht dar­an den­ken.«

»Wie er­langt man sol­che Ga­ben?«

»Durch Zu­fall. Ich wur­de vor Jah­ren ope­riert. Es han­del­te sich um einen Ge­hir­n­ein­griff, bei dem ei­ne wich­ti­ge Ner­ven­bahn durch­trennt wur­de. Mei­ne Ein­sät­ze wa­ren im­mer ge­fähr­lich. Un­se­re Chir­ur­gen woll­ten mich ge­gen Ver­hör­dro­gen, hyp­no­ti­sche Ein­flüs­se und De­tek­tor­be­fra­gun­gen un­emp­find­lich ma­chen.«

»Und …?«

»Es ge­lang. Vor et­wa ei­nem Jahr stell­ten un­se­re Ex­per­ten fest, daß sich in mei­nem Groß­ge­hirn et­was ver­än­dert hat­te. Ich wur­de ge­schult. Die Fol­ge­er­schei­nun­gen des Ein­grif­fes äu­ßer­ten sich in ei­ner so­ge­nann­ten Ak­ti­vie­rung bis­her brach­lie­gen­der Hirn­tei­le. Un­se­re Psi-Dia­gno­s­ti­ker und Pa­ra­psy­cho­lo­gen be­haup­ten, al­le Men­schen sei­en von Na­tur aus te­le­pa­thisch ver­an­lagt. Je­des Hirn sen­det be­stimm­te Schwin­gun­gen aus. Die­se Zell­strah­lung kann emp­fan­gen wer­den.«

»Von dir emp­fan­gen wer­den«, kor­ri­gier­te Ni­ko­lai. »Schön, schwei­gen wir dar­über. Warum fragst du, ob ich mü­de sei?«

»Könn­test du die Nacht durch­fah­ren?«

»Hmm, warum nicht? So ei­lig soll­test du es aber nicht ha­ben. Sta­na Imor­gin wird heu­te noch flie­hen. Es ist al­les vor­be­rei­tet. Vor drei Ta­gen kann er nicht bei der Hüt­te sei­nes Bru­ders ein­tref­fen. Wir schaf­fen die Stre­cke be­quem in vier­und­zwan­zig Stun­den.«

»Quer durch die Wild­nis?«

»Du sitzt in ei­nem Spe­zi­al­fahr­zeug, Brü­der­chen. Wenn es dar­auf an­kommt, le­ge ich im Schnitt vier­zig Ki­lo­me­ter in der Stun­de zu­rück. Wir fol­gen aus­schließ­lich den Fluß­läu­fen. Da gibt es kei­ne Hin­der­nis­se.«

Ich über­leg­te. Dann ent­schloß ich mich, Lu­di­now zu bit­ten, doch nicht zu ras­ten.

»Wie du willst. Mach es dir auf der zwei­ten Sitz­bank be­quem. Du wirst dei­ne lan­gen Bei­ne an­zie­hen müs­sen.«